Der Mann, der auf Bäume klettert - James Aldred - E-Book

Der Mann, der auf Bäume klettert E-Book

James Aldred

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Beschreibung

Das Glück in den Baumkronen

Schon als kleiner Junge war James Aldred fasziniert von der majestätischen Schönheit der Bäume, und nichts konnte ihn am Boden halten. Aus seiner Leidenschaft hat der Abenteurer einen Beruf gemacht: Er erklettert als Fotograf und Filmemacher die höchsten Baumwipfel der Welt und verbringt manche Nacht in einer Hängematte in schwindelnden Höhen – auf würgenden Feigenbäumen in Borneo, Brüllaffenbäumen in Costa Rica, monumentalen Moabibäumen im Kongo und auf kolossalen australischen Berg-Eschen. Eine faszinierende Reise um die Welt und zugleich ein zutiefst persönliches Bekenntnis: über die Liebe zur Natur und den Zauber, den Boden der Tatsachen zu verlassen und emporzusteigen in eine grüne Welt zwischen Himmel und Erde...

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Seitenzahl: 414

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Das Glück in den Baumkronen

Schon als kleiner Junge war James Aldred fasziniert von der majestätischen Schönheit der Bäume, und nichts konnte ihn am Boden halten. Aus seiner Leidenschaft hat der Abenteurer einen Beruf gemacht: Er erklettert als Fotograf und Filmemacher die höchsten Baumwipfel der Welt und verbringt manche Nacht in einer Hängematte in schwindelnden Höhen – auf würgenden Feigenbäumen in Borneo, Brüllaffenbäumen in Costa Rica, monumentalen Moabibäumen im Kongo und auf kolossalen australischen Königs-Eukalyptus-Bäumen. Eine faszinierende Reise um die Welt und zugleich ein zutiefst persönliches Bekenntnis: über die Liebe zur Natur und den Zauber, den Boden der Tatsachen zu verlassen und emporzusteigen in eine grüne Welt zwischen Himmel und Erde …

JAMES ALDRED

DER MANN,

DER AUF

BÄUME KLETTERT

Einblicke in einen verborgenen Kosmos

zwischen Himmel und Erde

Aus dem Englischen von

Sabine Lohmann und Andreas Gressmann

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel The Man Who Climbs Trees bei WH Allan, einem Imprint von Random House Group Limited, 20 Vauxhall Bridge Road, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright 2017 © by James Aldred

First published as The Man Who Climbs Trees by WH Allan, an imprint of Ebury. Ebury is part of the Penguin Random House group of companies.

© der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Ludwig Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Bertram, Gelsenkirchen

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Umschlagsfoto: © James Aldred

Fotos Kapitelaufmachung: © James Aldred

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-22720-3V001

www.ludwig-verlag.de

Für dich, Yogita

Mera pehla, mera aakhiree,

mera sachcha pyaar

Noch nie war er sich so plötzlich und so deutlich bewusst geworden, wie sich die Haut eines Baumes anfühlte und wie viel Leben in ihm steckte. Eine Wonne überkam ihn beim Anblick und Berühren des Holzes, nicht wie sie ein Förster oder Zimmermann empfunden hätte; es war die Wonne des lebendigen Baumes selbst.

J. R. R. TOLKIEN, DER HERR DER RINGE

Bäume sind Gedichte, die die Erde auf den Himmel schreibt.

KHALIL GIBRAN, SAND UND SCHAUM

PROLOG

Anfänge

1988

Der Morast saugte sich an meinem linken Stiefel fest, brachte mich aus dem Gleichgewicht. Ich spürte, wie die morastige Suppe durch die Schnürlöcher eindrang. Vor mir entdeckte ich ein festes Grasbüschel und wälzte mich darauf. Ich griff nach einem über mir hängenden Zweig und zog mein Bein aus dem Sumpf, rappelte mich auf und krabbelte auf festen Boden. Knochentrockene Laubbrösel klebten auf den schwarzen Schlammspuren an meinen Hosenbeinen.

Trügerische Moore sind eine echte Spezialität des New Forest in Südengland. Am selben Tag hatte ich schon einmal einen Fuß auf scheinbar festen Boden gesetzt, der aber sofort zu schwanken und zu federn begann wie die dünne Haut eines Schlauchboots. Wenn man durch die Decke aus Moos und Gräsern auf der Oberfläche eines Regenmoores bricht, kann man innerhalb von Sekunden bis zum Hals drinstecken. Ich hatte schon eine Menge grünbemooste Tierknochen gesehen, die aus solchen Sümpfen ragten – eine schauerliche Mahnung, einen weiten Bogen darum zu machen. Doch als 13-Jähriger musste ich noch lernen, wie man eine Landschaft liest, und manchmal gewann meine Ungeduld die Oberhand über die Vorsicht. Ich atmete tief durch und wischte mir die Hände ab. Beim nächsten Mal würde ich lieber einen Umweg von zehn Minuten in Kauf nehmen und den Sumpf umgehen, so viel war sicher.

Ich zog meine Karte hervor: Stinking Edge Wood, stinkender Waldrand. Das passte. Als ich mich setzte, um mit einer Socke den Dreck zwischen meinen Zehen zu entfernen, hallte in der Ferne dumpfes Getrappel und das scharfe Knacken von Ästen durch den Wald. Ich war einem Rudel von Damhirschen gefolgt, doch diese Geräusche waren zu heftig und zu laut, als dass sie von ihnen herrühren konnten. Ich zog meinen Stiefel wieder an und bewegte mich langsam zwischen den Bäumen voran. Der Boden war übersät von großen toten Ästen, abgeworfen aus den dichten Baumkronen über mir. Die Nachmittagssonne strömte in den offenen Raum zwischen den Bäumen, und ein staubiger Dunst hing in der Luft.

Die Hufschläge kamen näher, und ich vernahm ein Wiehern. Ein tiefes Trommeln erschütterte den Boden, dann brach eine Herde Ponys zwischen den Bäumen hervor und hielt direkt auf mich zu. Ein Dutzend Stuten, mit geblähten Nüstern und wilden Mähnen, in denen sich Farne und Ranken verfangen hatten.

Eine fieberhafte Erregung ging von ihnen aus, eine gefährliche Energie lag in der Luft. Sie galoppierten in einer Spirale mit den Köpfen nach innen gerichtet, und hinter ihnen erblickte ich zwei weiße Hengste, die in einem wilden Sturm von Zähnen, Hufen und Geifer umeinander wirbelten. Verdrehte Augen, aufgeblähte rosa Nüstern, gebleckte Zähne. Sie bockten, schlugen aus und wandten sich die Kehrseite zu, um einander heftige Tritte mit den Hinterbeinen zu verpassen. Die Stuten schrien fast vor Erregung, stießen ein lang gezogenes Wiehern aus. Wieder erbebte der Boden, und mir wurde plötzlich bewusst, dass die ganze Herde trotz der großen Nähe meine Anwesenheit noch gar nicht bemerkt hatte. Die Luft war erfüllt von ihrem scharfen Geruch, und es bestand die reale Gefahr, dass ich in das Getümmel hineingeriet, niedergetrampelt und überrannt wurde. Mit einem Mal bekam ich Panik, als mir klar wurde, dass mir nur wenige Augenblicke blieben, um Schutz zu finden.

Die Stuten setzten sich wieder in Bewegung, sie umkreisten in wilder Hatz die beiden Hengste und kamen bedrohlich näher. Rennend konnte ich ihnen nicht entkommen. Ich trat zurück und spürte einen Baumstamm hinter meinem Rücken. Eine dicke Eiche, doch es waren zu viele Ponys, als dass sie mir echten Schutz hätte bieten können. Die untersten Äste saßen hoch über mir außer Reichweite am Stamm. Mir schlug das Herz bis zum Hals, und meine Beine fingen an zu zittern. Als ich mit den Händen verzweifelt über die Rinde fuhr, spürte ich einen alten Eisenhaken, der aus dem Stamm hervorstand. Er steckte schon so lange dort, dass der Baum ihn fast überwuchert hatte, ragte jedoch gerade genug hervor, um als Stütze zu dienen. Über ihm fand ich einen zweiten, dann einen dritten, vierten und fünften – und im Handumdrehen lag ich bäuchlings auf einem breiten Ast und blickte hinunter auf die muskulösen Rücken der Hengste, die zwei Meter unterhalb von mir umeinander wirbelten. Die Eiche stand im Mittelpunkt einer wogenden Masse außer Rand und Band geratener Ponys.

Die Luft war von Staub und Lärm erfüllt, und ich klammerte mich fest an die knorrige Rinde, in meinem Kopf drehte sich alles, mein Puls raste, das Adrenalin schoss durch meinen Körper. Einer der Hengste stob davon, worauf die ganze Herde ihm nachsetzte und zwischen den Bäumen verschwand. Ich lauschte auf das sich entfernende Getrommel der Hufe auf dem trockenen Boden und atmete tief durch, dankbar, dass mir das Schicksal zur rechten Zeit diese Zuflucht geschenkt hatte. Im Wald kehrte wieder Frieden ein, und nach und nach legte sich der Staub.

Erst jetzt betrachtete ich meine Umgebung und stellte fest, dass ich auf einer alten Kopfeiche saß. Die Eisenhaken zeugten davon, dass jemand, vielleicht ein Forstaufseher oder auch ein Wilderer, den Baum vor vielen Jahren regelmäßig benutzt hatte. Vielleicht als Ausguck oder auch als Versteck, lange bevor ich selbst auf ihm Zuflucht gesucht hatte.

Die breiten Äste dehnten sich von der Mitte waagerecht aus und bogen sich an den Enden nach oben, wie die Finger einer riesigen, gekrümmten Hand. Ich rutschte zurück in das Zentrum dieser schutzbietenden Handfläche und wartete, bis mein Puls sich beruhigte. Nach einer Weile tauchte zwischen den Bäumen die kleine Damwildherde auf, der ich gefolgt war, suchte sich sorgfältig einen Weg durch das aufgewirbelte Laub und zog auf den Spuren der Ponys unter mir vorbei. Die Tiere waren die ganze Zeit über in der Nähe gewesen, und es verblüffte mich, dass offenbar kein einziges mich gesehen oder gewittert hatte, obwohl ich direkt über ihnen in den Armen der Eiche kauerte.

Einmal in den Ästen dieses Baumes, hatte ich eine riesige Erleichterung verspürt. Ich wusste sofort, dass ich mich in Sicherheit vor dem Kampfgetümmel unter mir befand, und das Schauspiel der vorbeiziehenden Damhirsche hatte das Gefühl noch verstärkt, mich an einem entrückten Zufluchtsort zu befinden. Darüber hinaus fühlte ich eine uralte Verbundenheit mit demjenigen, der irgendwann diese Eisenhaken eingeschlagen und auf denselben Ästen gesessen hatte, auf denen ich jetzt saß, als sei die seither verflossene Zeit vollständig eingedampft.

Ich habe diese Eiche am Rande des Stinking Edge Wood später noch viele Male aufgesucht. Diese Eisenhaken sind eine greifbare Erinnerung daran, dass Bäume einem anderen Zeitmaßstab folgen, dass das Leben eines Baumes ohne Weiteres Dutzende von menschlichen Generationen umfassen kann. Wenn ich auf seine Riesenarme klettere, entsinne ich mich jedes Mal jenes aufregenden Tages im Jahr 1988, als ich als 13-jähriger Junge zum ersten Mal entdeckte, dass Bäume Zufluchtsorte sind und neue Aussichtspunkte bieten, von deren Warte aus man auf unsere Welt hinabblicken kann. Auch heute noch, fast 30 Jahre später, grüble ich zuweilen darüber nach, wie es sich fügen konnte, dass er einfach dort für mich bereitstand. Am richtigen Ort zur richtigen Zeit, als ich ihn am dringendsten benötigte.

EINLEITUNG

Wie ich zu meinem Beruf kam

Ein plötzlicher Luftzug, der meine Hängematte sanft zum Schwingen brachte, hatte mich geweckt. Auf der Seite liegend starrte ich in schlaftrunkener Verwunderung auf den prähistorisch aussehenden Vogel, der soeben in meiner Nähe gelandet war. Ich befand mich in 60 Metern Höhe über dem Erdboden im Wipfel eines Baumes auf Borneo, und ich hatte noch nie einen Rhinozerosvogel aus so großer Nähe gesehen. Er hatte mich noch nicht bemerkt und war damit beschäftigt, sein Brustgefieder mit seinem langen Schnabel zu putzen. Auf seinem Scheitel saß ein feuriger, nach oben gebogener Helm, wie ein knallbunter türkischer Pantoffel – grelle Rot- und Gelbtöne, die im Halbdunkel der Dämmerung aufleuchteten. Ich war wie verzaubert.

Ein paar Sekunden später erstarrte er, dann hob er seinen Flugsaurierkopf, musterte mich mit einem rubinroten Auge, um sich gleich darauf von seinem Ast gleiten zu lassen. Riesige schwarze Flügel entfalteten sich, um sein Gewicht aufzufangen, und im nächsten Augenblick war er verschwunden, vom dichten Morgennebel verschluckt.

Ich rollte mich wieder auf den Rücken und starrte hinauf in das ungeheure Astwerk. Eine lange Nacht lag hinter mir. Der Schweiß vom gestrigen Klettern war schon längst zu einer klebrigen Schmiere geronnen, die meinen ganzen Körper bedeckte. Meine Kleidung war feucht, sandig und aufgerissen, und beißende Ameisen krabbelten über meine Haut. Irgendetwas hatte einen brennenden Ausschlag auf meiner Brust verursacht, und um Mitternacht herum war ich zweimal von einer nachtaktiven Wespe im Gesicht gestochen worden. Aber das war es mir wert. Eine solche Begegnung mit einem Rhinozerosvogel – das war es, wonach ich im Grunde genommen suchte. Mit einem Mal fühlte ich mich in meine ureigene Traumwelt aus wabernden Nebelschwaden und märchenhaften Geschöpfen versetzt. Es gab keinen Ort, an dem ich lieber gewesen wäre.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Borneo war mir kalt, eine angenehme Abwechslung zu der in diesen Regenwäldern normalerweise herrschenden drückenden Hitze. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufging, doch einstweilen genoss ich den Zustand, auf dem Rücken zu liegen und zu beobachten, wie die einzelnen Wassertröpfchen vorbeischwebten. Sie wirbelten in den sichtbaren Luftströmen umher und kondensierten auf dem Metall meiner Kletterausrüstung zu glänzenden Perlen. Ich hatte in meinem Klettergurt geschlafen, der an einem Seil befestigt war, meine einzige direkte Verbindung zu der anderen Welt weit unter mir.

* * *

Der gestrige Kletterakt hatte schon fast etwas von einer Mission gehabt. Borneo ist von dem größten tropischen Regenwald dieser Erde bedeckt, und viele der hiesigen Laubbäume sind weit über 70 Meter hoch, mit Stämmen, an denen erst in fast 50 Metern Höhe die ersten Äste entspringen. Hohe gerade Pfeiler aus Holz, die in großer Höhe umfangreiche Schirme aus Ästen tragen. Ein Seil dort oben anzubringen war oft schier unmöglich.

Aus Erfahrung wusste ich, dass mein Katapult einen 200-Gramm-Wurfbeutel in eine Höhe von etwa 50 Metern befördern konnte. Doch immer wieder verfehlte der Beutel den angepeilten Ast, und die an ihm befestigte dünne Schnur trudelte erneut abwärts und blieb schlaff und leblos im Unterwuchs hängen. Der Ast war offensichtlich deutlich höher als ich angenommen hatte. Entnervt befestigte ich schließlich das Katapult an einer drei Meter langen Stange und zog unter Einsatz meines Körpergewichts das ächzende Gummiband bis zum Boden hinunter. Meine Muskeln zitterten, als ich in die Hocke ging und auf den Ast hoch über mir zielte. Als ich losließ, schnalzte das Gummi wie eine Peitsche und zog sich zu einer schlaffen Schlaufe zusammen. Ich ließ die Stange zu Boden fallen. Der Beutel schoss durch die Lücke im dichten Unterwuchs und erreichte den angepeilten Ast, den er nur um Zentimeter überflog. Dann sauste er wieder abwärts, die Schnur zischte mit einem hohen Pfeifton hinterher, bevor der Beutel sich schließlich mit einem dumpfen Schlag in das am Boden verstreute Laub bohrte. Danach kehrte wieder Stille ein. Mit dem beschlagenen Feldstecher versuchte ich den Verlauf der dünnen Schnur gegen den hellen tropischen Himmel über mir zu verfolgen. Endlich doch noch ein gelungener Versuch.

Mit Hilfe der Schnur zog ich mein Kletterseil zu dem Ast empor und wieder zurück zum Boden, wo ich es um den Fuß eines benachbarten Baumes schlang und festknotete.

Der Beginn einer Kletterpartie in die Krone eines solchen Baumriesen ist immer eine langsame und mühselige Sache. Die meiste Energie wird von der Elastizität eines derartig langen Seils aufgesaugt. An die 120 Meter Seil waren im vorliegenden Fall im Einsatz, daher hüpfte ich unfreiwillig auf und nieder, wenn sich das Nylon dehnte und wieder zusammenzog. Immer wieder stolperte ich zwischen die riesigen Brettwurzeln, und erst als ich schon ein gutes Stück weit hinaufgekommen war, konnte ich beide Füße gegen den Stamm stemmen und einen festeren Halt gewinnen. Mit Hilfe von zwei Steigklemmen, einer Technik, die unter Kletterern auch »Jümarn« genannt wird, arbeitete ich mich Stück für Stück an dem dünnen Nylonseil nach oben. Rhythmus ist beim Klettern entscheidend, und dabei lohnt es sich, die eigenen Bewegungen mit dem natürlichen Auf- und Abschwingen des Seils zu synchronisieren. Dennoch stand mir ein langer Aufstieg am freien Seil bevor. Meine Arme waren bereits erschöpft von dem Kraftakt, den es mich gekostet hatte, den Wurfbeutel in die Höhe zu katapultieren, daher stemmte ich mich, um meine Armmuskeln zu entlasten, in erster Linie mit Hilfe meiner Beine aufwärts.

Die nächste Herausforderung bestand darin, sich durch das Gestrüpp des Unterwuchses nach oben zu arbeiten. Ranken umschlangen mich wie Tentakel, Blätter wischten mir über das verschwitzte Gesicht, hinterließen Staub und Algen in Augen und Ohren. Die ungeheure Menge an biologischem Abfall, auf die man in diesen unteren Bereichen stößt, ist unglaublich. Aufgefangen von einem Netz aus Blätterwerk, stauen sich dort die Ablagerungen von Jahrzehnten, tote Äste und verrottende Pflanzenteile, und warten nur darauf, befreit zu werden. Die ersten 15 Meter waren ein Kampf mit dem Dreck. Pflanzlicher Abfall fiel in Minilawinen auf mich herunter, um sich an meinen schweißnassen Kleidern festzusetzen, und bei jedem Ruck des Seils regnete feiner schwarzer Kompost auf mich herab. Aber es gab nur diesen einen Weg nach oben: die vorgegebene Linie des gespannten Seils über mir. Als ich endlich in den offenen Raum oberhalb des Unterwuchses vorstieß, war ich über und über mit Schmutz bedeckt.

Obwohl es spät am Nachmittag war, traf mich die tropische Sonne mit voller Wucht, als ich mit dem Kopf aus dem Unterwuchs auftauchte. Auf den folgenden 30 Metern gab es nichts als den offenen Raum und den monolithischen Baumstamm neben mir. Diese astlose Region ist ein merkwürdiges Zwischenreich, in der ein Kletterer vollkommen der gefährlichen Situation ausgesetzt ist, in großer Höhe über dem Erdboden an einem Nylonfaden zu baumeln. Indem ich mich ganz auf die braune schuppige Borke vor meinen Augen konzentrierte, arbeitete ich mich Stück für Stück weiter hinauf zur Baumkrone, die Sicherheit verhieß.

Zehn Stockwerke über dem Erdboden, befand ich mich jetzt auf halbem Weg nach oben, und der Baumstamm hatte immer noch einen Durchmesser von eineinhalb Metern. Diese Laubbäume auf Borneo sind, was ihre Dimensionen betrifft, mit keinen Laubhölzern der Welt vergleichbar. Ich hielt inne und schwang mich herum, um die Aussicht zu genießen. Ich hatte mir diesen Augenblick bis zu dem Zeitpunkt aufgespart, an dem ich schon ein gutes Stück über den Unterwuchs hinausgelangt war, damit es sich auch lohnte. Doch während des Kletterns hatte ich die ganze Zeit ihre Präsenz hinter meinem Rücken gespürt. Eine fast greifbare, brütende Wachsamkeit, als bohrten sich Tausende verborgener Augenpaare aus dem umliegenden Dschungel in mich.

Langsam kreiste ich an meinem Seil und wurde von einer der atemberaubendsten Aussichten begrüßt, die ich je gesehen hatte. Dichter Regenwald breitete sich vor mir aus, fiel steil von der Bergkante ab, um in der Tiefe in eine reizvolle Landschaft aus Baumriesen überzugehen. Gegen den Horizont, viele Meilen entfernt, stieg der Wald wieder an und überwucherte eine Kette von hohen, zerklüfteten Hügeln. Ein weiter Ozean von unerforschtem, jungfräulichem Dschungel. Welche Wunder warteten in jenen Bäumen dort drüben auf ihre Entdeckung?

Ich war jetzt an meinem Seil der brennenden Sonne voll ausgesetzt und spürte, wie mir der Schweiß zwischen den Schulterblättern den Rücken hinunterlief. Die Luft war von Feuchtigkeit gesättigt, und in der Ferne hörte ich Donnergrollen. Als ich die Arme ausstreckte, um den nächsten Klimmzug in Angriff zu nehmen, war mein Hemd bereits durchnässt und klebte mir wie Frischhaltefolie am Körper. Ich stemmte mich weiter hinauf in den gesprenkelten Schatten der Baumkrone über mir. Bald erreichte ich meinen Ast, 60 Meter über dem Boden, und nachdem ich mich keuchend hinaufgeschwungen hatte, nahm ich den Helm ab, um die überschüssige Körperwärme zu verringern.

Die folgenden 20 Minuten verbrachte ich damit, meine Hängematte zwischen zwei waagerechten Ästen aufzuspannen. Als ich mich schließlich hineinrollen ließ und mein erschöpfter Körper zu einem Bündel Knochen und Fleisch zusammensackte, schwand bereits das Tageslicht. Die Donnerschläge, weit entfernt zunächst, wurden immer lauter und folgten immer dichter aufeinander. Nicht lange danach öffneten sich die Himmelsschleusen, und süßer, schwerer Regen fiel in meine hohlen Hände, als ich mir den Schmutz aus dem Gesicht wusch. Das Wasser schmeckte metallisch und prickelnd. Fast elektrisch, so rein und frisch war es. Der Regen dauerte nur etwa eine halbe Stunde an, doch bis er aufhörte, hatten sich einige Zentimeter Wasser in der Hängematte angesammelt. Daher wälzte ich mich auf eine Seite und kippte es über die Kante auf den Waldboden weit unter mir. Noch bevor es gänzlich dunkel wurde, sank ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Abgesehen von dem Zwischenfall mit den Wespen um Mitternacht, hatte ich gut geschlafen. Der Nebel löste sich allmählich auf, und weit über mir entdeckte ich die ersten Anzeichen von Blau. Ein klarer Sonnenaufgang kündigte sich an. Ich kam mir dekadent vor, wie ich einfach so dalag und nichts anderes zu tun hatte, als auf den langsamen Beginn eines neuen Tages zu warten. Eingekapselt in meiner nebligen Umgebung, fragte ich mich, warum ich dieses tiefe Bedürfnis verspürt hatte, unbedingt eine Nacht in diesem Baum verbringen zu müssen.

Komfortabel und gemütlich war es nun wirklich nicht. Ich hatte in meinem Klettergurtzeug geschlafen und schon vor einer Ewigkeit meinen gesamten Proviant verspeist, sodass ich jetzt hungrig war wie ein Wolf. Außerdem war ich von so vielen Insekten gestochen und gebissen worden, dass mein Körper sich wie ein großer Klumpen Histamin anfühlte. Und dennoch war ich mit mir im Reinen. Vollständig mit mir und der Welt um mich herum im Reinen. Doch warum? Was war es, was das Klettern auf Bäume so anziehend machte und eine so starke Wirkung auf mich ausübte? Und wie hatte ich es bloß geschafft, mir meinen Lebensunterhalt damit zu verdienen?

* * *

Ich war nach Borneo gereist, um Wissenschaftlern beizubringen, wie man auf Bäume klettert, sie in den Gebrauch der Seile und Klettergeräte einzuweisen und ihre ersten Übungen zu begleiten, bis sie sicher in eigener Regie klettern konnten. Sie waren hier draußen, um die Beziehung zwischen unserem Planeten und seiner Atmosphäre zu untersuchen, eine ungemein wertvolle Tätigkeit, bei der sie Daten gewannen, um den Klimawandel zu bekämpfen. Ihre Forschungsarbeit war anregend und wichtig.

Doch obwohl ich sie gern unterrichtete, war ich nicht in erster Linie deswegen in Borneo. Eigentlich brauchte ich keinen Anlass, um hierherzukommen und zu klettern. Meine Leidenschaft für das Baumklettern ist mehr als nur beruflich bedingt, sie gründet sich auf etwas, das ich zum ersten Mal gespürt habe, als ich als Junge in die Krone jener Eiche im New Forest kletterte. Bäume haben einfach etwas an sich, das mich fesselt und mich immer wieder dazu bringt, ihre Nähe zu suchen und mich in ihnen aufzuhalten.

In vielerlei Hinsicht verkörpern sie für mich das wahre Wesen der Natur. Sie verschaffen uns eine lebendige Verbindung zu unserem Planeten, überbrücken gewissermaßen die Kluft zwischen unserer eigenen Vergänglichkeit und der Welt, die uns umgibt. Ich habe das Gefühl, einen flüchtigen Blick auf eine uralte, halb vergessene Welt zu erhaschen, wenn ich sie erklettere, und aus irgendeinem Grund gibt mir das ein gutes Gefühl. Es hilft mir dabei, mich daran zu erinnern, welcher Platz mir im Getriebe der Welt zukommt.

In erster Linie jedoch entspringt mein Glücksgefühl einem tief verwurzelten Glauben, dass jeder Baum eine einzigartige Persönlichkeit besitzt, die zum Kletterer spricht, sofern dieser gewillt ist, ihr zuzuhören. Sei es das sanft schimmernde Leuchten einer Buchenkrone im Frühling oder das umfangreiche, von der Sonne gesengte Blätterdach eines tropischen Riesen, jeder Baum hat einen einzigartigen Charakter, und es ist das beglückende Gefühl, sie ein wenig besser kennenzulernen – sich physisch mit ihnen zu verbinden, wenn auch nur für kurze Zeit –, das mich immer wieder auf ihre Äste hinauftreibt. Als lebende Botschafter der Vergangenheit verdienen sie meiner Meinung nach unseren tiefen, bleibenden Respekt, und ich möchte wetten, dass die meisten von uns irgendwann in ihrem Leben eine emotionale Bindung zu ihnen entwickelt haben.

* * *

Meine Leidenschaft für das Baumklettern entsprang auch dem heftigen Wunsch, die wunderbaren Dinge zu entdecken, die sich in ihrem Geäst verbergen. Schon in der Krone des kleinsten Baumes sind ganze Welten enthalten, und dies gilt natürlich erst recht für die gewaltige Krone eines Waldgiganten wie demjenigen, auf dem ich mich gerade befand. Die Baumkronenregion beherbergt Myriaden von Lebewesen, die niemals den Erdboden berühren, ihr gesamtes Leben dort oben verbringen. Jagen, Nahrung suchen, sich fortpflanzen, leben und sterben in einem unerforschten Reich unter den Baumwipfeln. Eingebettet in einen endlosen Kreislauf aus verborgenen Dramen, die sich seit Millionen von Jahren immer wieder abgespielt haben.

Eine Begegnung Auge in Auge mit einem Orang-Utan 20 Stockwerke über dem Boden des Regenwaldes ist ein bewegendes Erlebnis. Doch auch von den heimatlichen Bäumen geht für mich noch immer dieselbe Faszination aus wie ehedem. Ich erinnere mich noch lebhaft an das zarte, durchscheinende Grün der ersten Laubheuschrecke, die ich in den Baumkronen des New Forest gesehen habe, und an die Art, wie sie von einem Blatt hüpfte, durch die Lüfte segelte und dabei ihre unglaublich langen Fühler ausbreitete wie ein winziger Fallschirmspringer.

Es war der Wunsch, diese Erfahrungen mit anderen zu teilen und meinen Beitrag zur Erschließung dieser unbekannten Welt der Baumkronen zu leisten, der mich zum Naturfilm geführt hat. Fotografie und Baumklettern gingen Hand in Hand, und so war ich mit 16 Jahren fest entschlossen, Tierfilmer zu werden.

Doch als ich schließlich College und Universität verließ, wurde mir schnell klar, dass ein Diplom keinen Ersatz für praktische Kameraerfahrung war und ich noch eine Menge zu lernen hatte. Daher nahm ich jeden Job als Kameraassistent an, der mir angeboten wurde, und arbeitete ohne Bezahlung, nur um Erfahrungen zu sammeln. Ich schob Nachtschichten in Fabriken und machte alles Mögliche andere, um über die Runden zu kommen. Es gibt kaum einen trostloseren Job als vom Winde verwehten Müll im Umkreis einer Deponie von den Zäunen zu pflücken, daher war ich extrem erleichtert, als man mir schließlich meinen ersten bezahlten Assistentenjob bei einer Produktion in Marokko anbot. Einige Jahre später hatte ich genug Geld gespart, um versuchsweise nach Bristol – dem Standort der naturwissenschaftlichen Abteilung der BBC – zu ziehen, wo meine Fähigkeiten als Baumkletterer und Assistent allmählich nachgefragt wurden. Es sollte noch lange dauern – ungefähr zehn Jahre –, bis ich schließlich vom Assistenten zum Kameramann aufstieg, doch es war ein unglaublicher Weg, und ich habe jeden Schritt genossen.

Und obschon für mich heute nicht mehr ganz nachvollziehbar ist, wie ich es letztlich dahin gebracht habe, wo ich heute stehe, empfinde ich unter dem Strich tiefe Dankbarkeit und kann mir einfach nicht vorstellen, etwas anderes zu tun. Und immer wenn ich einen Anflug von mürrischer Laune verspüre, wenn ich gerade von Insekten gestochen und gebissen werde, während ich im Dschungel 30 Meter über dem Boden aus einem Kameraversteck heraus filme, sehe ich es als meine Pflicht an, mir eine metaphorische Ohrfeige zu verpassen, nur für den Fall, dass ich in Versuchung gerate, selbstzufrieden zu werden und alles für selbstverständlich zu halten.

So sehr ich die Arbeit mit der Kamera liebe, die Basis von allem ist nach wie vor meine ungeschmälerte Leidenschaft für Bäume. Und selbst wenn ich einen ganz anderen Beruf gewählt hätte, würde ich heute, dessen bin ich mir ganz sicher, immer noch auf Bäume klettern, um ihnen so nahe wie möglich zu sein.

Meinen ersten großen Baum habe ich mit Seilen erklommen, als ich 16 war. Die Jahre dazwischen sind in einem Durcheinander aus Ästen und Laub vorbeigerast, und mittlerweile dürfte ich auf genug Bäume geklettert sein, um einen ganzen Wald damit zu füllen. Doch obwohl ich mich an viele nicht mehr deutlich erinnern kann, gibt es einzelne, die aus dem Nebel der Erinnerung herausragen – besondere Bäume, die ich so deutlich vor mir sehe, als hätte ich erst gestern in ihrer Krone gesessen. Wie sich ihre Rinde anfühlte, wie ihr Holz roch, wie ihre Äste geformt waren, ganz zu schweigen von den wunderbaren Tieren und Menschen, denen ich in ihren Kronen begegnet bin.

* * *

Zurück nach Borneo, wo sich die Luft mit den ersten Sonnenstrahlen erwärmt hatte und der Nebel im Verlauf von wenigen Minuten nach unten ins Tal gedrückt wurde, wo er einen weiten Ozean von Weiß bildete. Zu meiner Rechten war die Sonne gerade über die Hügel aufgestiegen und ließ das Tal in Flammen aufgehen. Der Dunst begann sofort in zarten Schlieren aufzusteigen, die für einen kurzen Augenblick rosa, orange und golden aufleuchteten, bevor sie sich vollständig auflösten.

Binnen einer Viertelstunde stand die Sonne an einem klaren tropischen Himmel und Segler sausten über das Blätterdach, auf der Jagd nach Insekten. Der neue Tag war angebrochen, und ich machte mich bereit, wieder zur Erde hinabzusteigen, hinunter in das Dunkel des Waldbodens, wo noch die Nacht verweilte.

KAPITEL 1

Goliath – England

1859

Ein grauer feuchter Wintertag im Herzen des New Forest. Kissen aus verwelktem kupferbraunen Farn säumen einen matschigen Pfad. Zwei Männer in einfacher Försterkleidung, grobe Nagelstiefel an den Füßen, machen sich abseits des Weges zu schaffen. Der eine stützt sich auf einen langen Spaten, neben ihm ein frisch ausgehobenes Loch. Sein Begleiter kniet neben einem buschigen, etwas mehr als einen Meter langen Bäumchen, das zu seinen Füßen liegt. Er entfernt das verschnürte Sackleinen, mit dem der Wurzelballen umwickelt ist, worauf ein kompakter Klumpen dunkler Erde sichtbar wird, der die weichen, empfindlichen Wurzeln des jungen Baums enthält. Er hebt das Bäumchen am Stamm hoch und streift etwas von der Erde ab, um die Wurzelspitzen freizulegen. Dann wird das Bäumchen vorsichtig in das vorbereitete Loch gesenkt und gerade gehalten, während der erste Mann das Loch wieder zuschaufelt. Dabei zerkleinert er mit dem Spaten vorsichtig die dicken Lehmbrocken, um die Lücken zwischen Boden und Wurzeln gleichmäßig zu verfüllen. Am Ende verteilt er sorgfältig die Deckerde und verdichtet sie nur so stark, dass sie dem Bäumchen einen festen Stand gibt, andererseits aber durchlässig für Luft und Regen bleibt.

Als die beiden Männer sich entfernen, um den Vorgang mit einem zweiten gleichartigen Bäumchen zu wiederholen, welches auf der anderen Seite des Weges auf dem Farnkraut liegt, nähert sich aus der Richtung eines Bachlaufs ein dritter Mann mit zwei Eimern Wasser. Er kniet neben dem frisch gepflanzten Bäumchen und gräbt mit den Händen eine kleine Mulde rings um den Stamm, die er danach mit Wasser füllt. Er wartet, bis der Boden es vollkommen aufgesogen hat und die Mulde wieder trocken liegt, bevor er nachfüllt und wieder nachfüllt, bis das Wasser auf der Oberfläche stehen bleibt und er darin sein Gesicht gegen den Himmel gespiegelt sieht.

Als er mit den wieder aufgefüllten Eimern zurückkehrt, sind die anderen mit dem Setzen des zweiten Bäumchens fertig. Er wässert es sorgfältig, während seine Begleiter Bündel von Pfählen aus gespaltenem Kastanienholz aus einem in der Nähe stehenden Karren holen. Binnen weniger Stunden sind beide Bäumchen von einem anderthalb Meter hohen Zaun umgeben, der das Erdreich zu ihren Füßen schützt und ihr Laub vor dem winterhungrigen Rotwild abschirmt. Die Männer wissen nur zu gut, dass die ersten Jahre für diese jungen Bäume entscheidend sein werden, und mit dem zufriedenen Gefühl, ihnen die bestmögliche Chance gegeben zu haben, sammeln sie ihre Werkzeuge ein und kehren zu dem Karren zurück. Das Geräusch ihrer Stimmen und das Poltern und Quietschen des Karrens flauen allmählich ab, die beiden zurückgelassenen Bäume bewachen jetzt still den Pfad.

In ihrem Rücken liegt eine riesige Schonung mit jungen Stieleichen. Doch im Gegensatz zu den anonymen, blätterlosen Allerweltsbäumen, deren Reihen sich in der Ferne im Nieselregen verlieren, sind diese beiden Bäume Botschafter der Neuen Welt, frisch aus Kalifornien eingeführt. Aus Samen gezüchtet und aufgezogen, die sechs Jahre zuvor in der Sierra Nevada gesammelt wurden, stammen sie von einem exotischen Geschlecht von Baumriesen ab, die das Gesicht der britischen Landschaft für die kommenden Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende verändern wird.

Der Niesel verwandelt sich schon bald in Regen, doch während die Skelettarmee der jungen winterlichen Eichen sich durch die Nässe verdüstert, fängt das saftgrüne Blätterwerk der jungen immergrünen Bäume an zu leuchten.

1991

Aus den Boxen dröhnten nacheinander AC/DC und Aerosmith, während wir in Paddys altem verbeulten Vauxhall über die einspurigen Straßen im New Forest bretterten. Ich war 16 und mir war ziemlich schlecht. Es war zu früh am Morgen, nach der vorausgegangenen Nacht, und Steven Tylers Gesang war auch nicht hilfreich, genauso wenig wie Paddys Fahrkünste. Die abgesehen von dem einen oder anderen Pony, das mitten auf dem Asphalt stand, absolut leere Straße schien Paddy zu animieren, das Äußerste aus seinem bemitleidenswerten Wagen herauszuholen. Matt hatte es sich auf dem Rücksitz hinter mir bequem gemacht. Ich wandte den Blick von der Straße ab, öffnete das Fenster und schaute auf die vorbeihuschenden Bäume. Die vordersten bewegten sich zu schnell, als dass ich sie mit einem Blick hätte erfassen können, doch dahinter, in den Tiefen des Waldes, sah ich die hoch aufragenden, silbern-glatten Stämme alter Buchen.

Paddy war in seinem Element auf diesen Straßen, doch gerade als ich ihn bitten wollte, etwas langsamer zu fahren, wenn er nicht wolle, dass ich ihm in seinen Wagen kotze, riss er das Lenkrad nach rechts, zog die Handbremse und katapultierte uns über einen Weiderost. Das hintere Ende des Wagens schlitterte zur Seite, bevor die Räder urplötzlich wieder auf dem Asphalt einer kleinen Seitenstraße griffen. Paddy verlangsamte die Fahrt und stützte sein Kinn auf die Hände am Lenkrad. Die Musik war jetzt ausgeschaltet, er spähte durch die Windschutzscheibe in den Himmel hinauf. Matt war von dem Weiderost wach geworden und streckte seinen Kopf vollständig zum Fenster hinaus. Alle drei schauten wir ehrfürchtig und aufgeregt nach oben. Endlich waren wir angekommen.

Ich lehnte mich aus dem Fenster und atmete tief durch. Wir glitten langsam durch eine schnurgerade Allee von Bäumen, den höchsten, die ich je im Leben gesehen hatte. Reihen riesiger gerader Stämme, deren dunkle Borke runzelig wie alter Kork war und tiefe Risse aufwies, säumten die schmale Straße. Darüber stützten die Äste das grün gesprenkelte Blätterdach wie die gewölbte Decke einer Kathedrale. Licht drang hindurch in schrägen Strahlenbündeln, die beinahe so körperlich wirkten wie die Stämme selbst. Nach wenigen Minuten stellten wir das Auto am Straßenrand ab.

Die Luft war erfüllt von würzigem Zitrusduft, den das Harz der Nadelbäume verbreitete. Es war früh am Morgen, doch die Thermik über der umliegenden Heide hatte bereits eingesetzt und saugte kühlere Luft von der nahe gelegenen Küste an, es roch nach Meer. Hoch droben, unsichtbar im dichten Grün, ließ sich das Gezwitscher von Goldhähnchen hören. Die lebende Kolonnade, an der wir entlanggefahren waren, war eine Doppelreihe von hohen – sehr hohen – Douglasien, aus Oregon eingeführt. Angesichts ihrer Größe gehörten sie vermutlich zu den ältesten in ganz Großbritannien. Eine edle Baumgattung, wahre Aristokraten. Doch waren es offenbar nicht die Bäume, derentwegen wir gekommen waren. Paddy und Matt hatten andere Pläne.

Beide blickten über die Straße hinweg in das Dickicht auf der Suche nach etwas, das in der Tiefe des Waldes liegen musste. Als ich selbst hineinspähte, bemerkte ich zwei riesenhafte Schatten im grünen Zwielicht. Ich hatte keine Zeit, genauer hinzuschauen, denn schon hatte Paddy mit Schwung den Kofferraumdeckel hochklappen lassen. Darunter kam ein Gewirr von alten Seilen, Schnallen und Lederriemen zum Vorschein. Paddy und Matt waren beide Kletterer. Doch während Matt auf Felsen in seinem Element war, machte Paddy eine Ausbildung zum Baumchirurgen und war ausschließlich auf Bäumen unterwegs. Matt hatte seine eigene Ausrüstung dabei, ziemlich schick aussehendes Klettersportgerät: ein knallbuntes Seil, glatt und geschmeidig wie eine geölte Schlange, dazu ein Haufen schimmernder Metallteile.

Ein größerer Unterschied zu der Ausrüstung, die Paddy uns beiden zugedacht hatte, war nicht denkbar: zwei wirre Knäuel uraltes Kletterseil, zwei zerschlissene Klettergurte und ein bunter Haufen klirrender Karabiner – einige davon sichtlich selbst gefertigt. Die Seile waren dunkelgrün verfärbt von Moos, Baumsaft und Kettensägenöl, die geflochtenen Stränge glatt und glänzend gerieben von den unzähligen Händen, durch die sie gegangen waren. Ausgemusterte Ware, zu alt und verschlissen, um noch für die Arbeit zu taugen.

Damals sollte es noch Jahre dauern, bis der Gesetzgeber Vorschriften über den ordnungsgemäßen Zustand von Kletterausrüstungen erließ. Wenn daher im Jahr 1991 ein Baumchirurg ein Seil ausmusterte, dann gab es im Allgemeinen gute Gründe dafür. Kettensägen und Seile vertragen sich nicht so gut, und als ich das Seil prüfend durch die Hände gleiten ließ, spürte ich die ausgefransten Stellen, an denen die Fasern in Mitleidenschaft gezogen worden waren, eine Anhäufung von Kerben und Schnitten, die dem Ganzen ein mottenzerfressenes Aussehen verliehen. Doch wenn auch die Seile nicht viel hermachten, so war es um die Klettergurte noch viel schlimmer bestellt. Beide Sets bestanden aus zwei weiten Gurten aus zerschlissenem Leinen und Leder. Ein Gurt wurde um die Taille gelegt, der andere lief unter dem Gesäß hindurch wie bei einer Schaukel. Keines der beiden Sets wies Beinschlaufen auf, und beide rochen nach harter Arbeit und Angst, eine beißende Mischung aus altem Schweiß, Öl, Benzin und Baumsaft.

Wir schulterten die Ausrüstung, überquerten die Straße und betraten den Wald. Ich sprang über einen Graben und atmete tief durch, saugte die in der Luft liegende pfefferige Würze in meine Lungen. Nach der nervenaufreibenden Autofahrt entspannten sich meine Muskeln allmählich. Paddy und Matt marschierten schweigend voraus, geradewegs auf etwas zu, das tiefer im Wald lag. Ich folgte ihnen und trat aus dem Schatten des Eichenhains auf einen offenen, grasbewachsenen Waldweg hinaus. Als sich die Zweige lichteten, erblickte ich staunend zwei der schönsten und gewaltigsten Bäume, die ich je gesehen hatte. Sie unterschieden sich von sämtlichen Bäumen in der Umgebung und standen wie zwei Wächter zu beiden Seiten des Weges. Lebendige Obelisken, an die 50 Meter hoch, ragten sie mindestens 30 Meter über die Eichen unter ihnen hinaus. Das obere Drittel ihrer kegelförmigen Kronen badete im morgendlichen Sonnenschein, während ihre gewaltigen, am Fuß äußerst breiten Stämme noch in Schatten gehüllt waren. Der Baum zur Rechten schien etwas kürzer zu sein, mit einem schärfer gezeichneten, weniger vom Wetter abgestumpften Wipfel als sein Geselle zur Linken. Dieser jedoch war ein wahrer Riese. Unwillkürlich malte ich mir aus, wie grandios die Aussicht von dort oben sein müsste, säße man auf seiner Schulter. Ich wusste, dass wir hergekommen waren, um auf einen Baum zu klettern, doch da ich noch nie zuvor mit Seilen geklettert war, kam mir das als Einstieg hammerhart vor. Es bei meinem allerersten Klettergang mit einem der größten Mammutbäume Großbritanniens aufzunehmen, das hieß wahrhaftig ins kalte Wasser zu springen. Ich hoffte nur, dass die beiden eine deutliche Ahnung davon hatten, wie man so etwas angehen musste, denn ich selbst hatte keinen blassen Schimmer.

Paddy und Matt hatten inzwischen den Stamm fast erreicht. Ihre Silhouetten verschwammen mit den Schatten am Fuße des Riesen. Sie wirkten winzig – wie Astronauten, die sich der Startrampe einer Apollorakete näherten. Als ich zu ihnen stieß hatte Paddy sein Seil aufgeschnürt, das in offenen Schlaufen zu seinen Füßen lag. Er versuchte das eine Ende über einen etwa zehn Meter über seinem Kopf befindlichen Ast zu werfen. Immer wieder klatschte das kleine Seilbündel mit einem hohlen Geräusch gegen den Baum, bevor es auf den Boden zu seinen Füßen zurückfiel.

Ich strich mit der linken Handfläche über die Rinde. Sie war weich und ließ sich eindrücken. Eine dicke, faserige Schicht, die ein Trommelgeräusch erzeugte, als ich darauf klopfte. Etwa von Kopfhöhe bis zum Boden verbreiterte sich der Stamm stark, sodass er mit einem Umfang in der nackten, verdichteten Erde verschwand, der mindestens doppelt so groß war wie der des Stamms in sieben Metern Höhe. Einige wenige Wurzeln durchbrachen in einem starren Geflecht die Oberfläche des Bodens, doch war nicht abzusehen, wie tief der Rest in die Erde hinabreichte.

Paddy hatte weiterhin keinen Erfolg mit seinen Würfen, und allmählich schwante mir, dass unser Abenteuer schon an der ersten Hürde scheitern könnte, als Matt in seinem Rucksack kramte und ein Paar Eispickel zum Vorschein brachte. Grinsend schwenkte er sie hin und her. Offenbar hatte er von Anfang an vorgehabt, sie zu benutzen, doch ich betrachtete sie mit einiger Skepsis.

»Meinst du wirklich?«

»Hast du eine bessere Idee?«, sagte er.

Hatte ich nicht. Doch es schien ein irrwitziger Plan zu sein, der damit enden könnte, dass Matt zerschmettert zu Füßen des Baumes landete. Hier ging es nicht um einen Klettergang im Eis. Weder verfügte er über ein Toprope, das ihn sicherte, noch hatte er die Möglichkeit, Haken in den Stamm zu schrauben. Bis er die untersten Äste erreicht hätte, wäre er ganz auf sich gestellt und müsste sich auf Gedeih und Verderb auf die unbekannte Festigkeit der Baumrinde verlassen. Die polierten, aggressiven Metallstacheln schienen mir in scharfem Gegensatz zu unserer sanften organischen Umgebung zu stehen. Es erschien mir einfach nicht richtig – und zwar nicht, weil die Pickel, obwohl spitz und scharf, den Baum in irgendeiner Weise hätten schädigen können. Dafür war die Borke viel zu dick und wulstig. Nein, es hatte in meinen Augen mehr mit Respekt zu tun. Dieser Baum war ein Lebewesen, etwas Organisches, nicht irgendein unbeseelter Gesteinsbrocken, den man beliebig mit Löchern versehen konnte. Eine abstrakte Ehrfurcht vor dem Baum vermischte sich mit dem abergläubischen Wunsch, das Schicksal nicht herauszufordern, und meiner Nervosität, weil ich bislang noch nie geklettert war. Doch damals konnte ich all diese Gefühle natürlich nicht angemessen formulieren. Und selbst wenn ich es gekonnt hätte, die anderen hätten mich als Schwachkopf bezeichnet und weitergemacht, ohne sich davon berühren zu lassen.

Matt hatte sicherlich keine solchen Bedenken, als er jetzt beide Pickel mehrere Zentimeter tief in den Baum schlug, bevor er sich hinunterbeugte, um ein Paar Steigeisen anzuschnallen. Dann trat er an den Stamm heran und grub die Frontalzacken in die Rinde. Und los ging’s. »Zack!«, »zack!«, Schritt, Schritt. »Zack!«, »zack!«, Schritt, Schritt. Die schräg geneigte Stammoberfläche, die immer steiler wurde, ließ seine Lage immer gefährlicher erscheinen, je höher er kam. Irgendwann wird er noch abstürzen, dachte ich. »Wenn er abrutscht …«

Doch es passierte nichts. Eins musste ich ihm lassen – er hatte eine knifflige Aufgabe flink und mit Stil gelöst. Es ist eine Technik, die meines Wissens von keinem anderen Baumkletterer benutzt wird. Vermutlich, weil sie ohne eine um den Stamm führende Seilsicherung, die einen notfalls daran hindert, nach hinten zu kippen, geradezu selbstmörderisch anmutet. Doch eine ganze Menge bekloppter Dinge kommen einem ganz vernünftig vor, wenn man 16 Jahre alt ist.

Matt gelangte glücklich hinauf. Die untersten Äste waren alle tot, daher kletterte er weiter bis in die lebende Krone, bevor er sich mit dem Seil sicherte, die Steigeisen abstreifte und die Eispickel zu Boden fallen ließ. Einer von ihnen bohrte sich bis zum Griff in das am Boden verstreute Laub.

Paddy war als Nächster dran. Er knotete das Ende seines Seils an das von Matt. Matt zog es hinauf, legte es über den Ansatz eines dicken Astes und ließ das Ende wieder zu ihm hinuntergleiten, wobei es sich wie eine Schlange über die rissige Rinde bewegte. Paddy war im Handumdrehen oben. Er stemmte die Füße gegen den Stamm und zog sich abwechselnd mit der rechten und linken Hand wie ein Affe hinauf. Mir war klar, dass ich mich bei meiner ersten richtigen Baumkletterpartie unter keinen Umständen mit diesen beiden messen konnte. Paddy zog jetzt mein Seil nach oben und warf es über einen Ast, der sich drei Meter über ihm befand. Das Ende fiel zu mir hinunter, und ich befestigte es an den beiden Triangelringen an der Vorderseite meines Klettergurtes. Ich war jetzt mit einem Ast verbunden, der sich 15 Meter über mir befand.

»Was mache ich jetzt?«, rief ich hinauf.

»Nimm diese kleinere Seilschlaufe und wickle sie zwei Mal um das Hauptkletterseil, dann steck das Ende durch. Wie ich’s dir gezeigt habe«, rief er von oben runter. Er wackelte mit dem Seil, und ich befolgte seine Anweisung. Ich hatte soeben einen Klemmknoten, den sogenannten Prusikknoten, geknüpft.

»Mach das andere Ende mit einem Karabiner an deinem Gurt fest. Nein, nicht da; vorne: hier!«, rief er und steckte einen Daumen durch die Ringe an seinem Gurt.

Dies war das schlichte, uralte Klettersystem, das Paddy und alle anderen Baumchirurgen tagtäglich verwendeten. Die Technik des Baumkletterns hatte sich seit den 1960er-Jahren keinen Millimeter weiterentwickelt, doch für mich war alles brandneu. Ich war immer noch zu sehr damit beschäftigt, die Folgen einer durchzechten Nacht abzuschütteln, um gründlich darüber nachdenken zu können, was ich als Nächstes zu tun hatte. Ich packte das Hauptseil und schob mit der Rechten den ausgefransten Knoten etwa einen halben Meter nach oben.

Als ich mein Körpergewicht vom Boden auf das Seil verlagerte, zog dessen Elastizität mich auf die Zehenspitzen. Ich stand taumelnd da und versuchte, mein Gleichgewicht wiederzufinden. Mir blieb nichts anderes übrig als mich der Sache ganz anzuvertrauen. Während ich also vorwärtstänzelte bis zum Stamm, schob ich den Knoten weiter am Seil hinauf, bis ich beide Füße fest gegen den Stamm gestemmt hatte. Nun schwebte ich zwar nur wenige Zentimeter über dem Boden, hing aber vollständig am Seil. Bis ich den ersten Ast erreichte, musste ich mich ganz darauf verlassen, dass dieser eine, von Kettensägen angenagte Faden mein Körpergewicht aushalten würde. Ich ruckelte mit den Hüften hin und her, um einen bequemeren Sitz im Klettergurt zu erreichen. Ohne Beinschlaufen, die den Gurt daran hindern, bis unter die Achseln hochzurutschen, musste ich mich voll zurücklehnen, fast in die Horizontale, um das Gleichgewicht zu halten. Ich holte tief Luft und krümmte den Rücken. Da ich nichts anderes zum Festhalten hatte, hing ich an dem Seil wie eine tollpatschige Spinne an ihrem Faden und pendelte mal hierhin, mal dorthin. Ich musste nur hinaufklettern. Kinderleicht. Jedenfalls theoretisch.

Nach einem langsamen Beginn fand ich allmählich einen Rhythmus, bei dem ich beide Füße gegen den Stamm stemmte, während ich den Knoten nach oben verschob und so ein paar Zentimeter an Höhe gewann. Ich wiederholte diesen Vorgang immer wieder, bis ich trotz der morgendlichen Kühle ordentlich ins Schwitzen kam. Jedes Mal, wenn ich mich an dem Kletterseil hochzog, rutschte es ein Stück über den Ast hoch oben und erzeugte eine Wolke aus feinem grünen Staub, der durch das Morgenlicht nach unten schwebte. Er erfüllte die kühle Luft mit einem weichen, erdigen Aroma.

Als ich weiter hinaufgelangte, spürte ich, wie das Seil klebrig vom Baumsaft wurde. Das verschaffte mir einen festeren Griff, und auch der Klemmknoten hielt besser, wodurch mein Gewicht effektiv reduziert wurde. Ich befand mich jetzt oberhalb des schrägen Baumfußes und hing vollkommen parallel zum Stamm. Wieder staunte ich, wie weich und elastisch seine Rinde war. Sie fühlte sich hart an, wenn man sie berührte, gab aber nach, wenn man darauf drückte. Mit einem Mal hatte ich den Wunsch, Schuhe und Socken auszuziehen und die Haut des Baumes an meinen Füßen zu spüren, zu spüren, wie seine Lebendigkeit durch mich hindurchfloss. Das hätten mir Paddy und Matt allerdings niemals durchgehen lassen, daher beugte ich mich stattdessen vor und drückte meine Wange gegen den Baum. Die Borke war schon von der Sonne aufgewärmt, sie fühlte sich weich und angenehm an, wie die Borsten eines riesigen prähistorischen Tieres, das mir erlaubte, auf seinen gewaltigen Rücken zu klettern. Ich schickte mich an, ein neues Reich zu betreten, einen Ort der Sicherheit und der Zuflucht, ich durchlebte eine Art Taufe – mein erstes Eintauchen in die Krone eines Baumriesen.

Ich kam nur langsam voran – nicht ganz freiwillig. Meine Technik war stockend, ihr fehlten das Selbstvertrauen und der Rhythmus, die sich erst mit der Erfahrung einstellen. Neun Meter über dem Boden erreichte ich die ersten Äste, ein Dickicht aus hellbraunen trockenen Stümpfen. Sie erzeugten ein dumpfes Geräusch, als ich dagegen klopfte. Obwohl sie brüchig wirkten, erwiesen sie sich als überraschend stark, als ich einen Fuß auf ihren Ansatz setzte, sodass ich sie als Leiter benutzen konnte. Vorsichtig begann ich den Baum selbst zu erklettern. Ich verlagerte mein Gewicht von dem Gurt auf die Aststümpfe und verließ mich darauf, dass mein Seil mich auffing, falls einer der Äste brechen sollte.

Paddy und Matt waren jetzt nur noch drei Meter über mir. Matt balancierte wie ein Turner auf einem Ast, die Brust gegen den Stamm gedrückt, und spähte hinauf, um die beste Route auszuwählen. Er hängte sich mit dem linken Arm an einem Ast ein, warf mit dem rechten ein Seilbündel nach oben, und kurz darauf war er unter Karabinergerassel auf und davon. Paddy hockte auf einem großen Ast zu meiner Linken und nahm die letzten Züge aus einem schrumpeligen Joint. Statt ihn am Baumstamm auszudrücken, zwickte er die Glut mit seinen Nägeln ab und steckte das angekokelte Mundstück in seine Socke. Ich kletterte zu seinem Ast, setzte mich neben ihn und blickte nach oben, wo immer weniger von Matt zu sehen war, der behände wie ein Eichhörnchen von Ast zu Ast huschte.

Schließlich geriet er ganz und gar außer Sicht. Die einzigen Lebenszeichen waren eine gelegentliche Dusche aus feinem Staub, der im gestreuten Sonnenlicht langsam herabschwebte, und das ständige Zucken seines Seils, das neben mir herabhing. Auf der anderen Seite saß Paddy. Er war hier in seinem Element. Bei seiner Arbeit musste er tagtäglich klettern, ob es regnete, hagelte oder die Sonne schien, und normalerweise führte er noch eine Kettensäge mit sich, die an seinem Gurt festgeschnallt war. Das hier war für ihn wirklich ein Kinderspiel. Wenn ich ihm beim Klettern zuschaute, wurde mir nur allzu bewusst, wie übertrieben fest meine Griffe und wie angespannt meine Muskeln im Vergleich waren. Mir schmerzten die Hände von meinem Klammergriff am Seil, und mein Nacken und meine Schultern waren verkrampft. Ich versuchte meine Muskeln zu entspannen und meinen Körperschwerpunkt abzusenken. Ich spürte, dass die Spannung etwas nachließ und ich tiefer in den Ast sank. Doch es bedurfte einer ständigen bewussten Anstrengung, und je stärker ich mich bemühte, je mehr schien es mir wieder zu entgleiten. Von Zeit zu Zeit verkrampfte sich mein ganzer Körper in einem Greifreflex, als würde ich jeden Moment einschlafen. Meine Muskeln zogen sich zusammen und umklammerten den Ast mit einem heftigen Ruck, den ich nicht unterdrücken konnte. Paddy brach das Schweigen mit einem Räuspern:

»Gut. Okay – alles gut?« Mehr eine Feststellung als eine Frage, und ich antwortete, dass ich gerne noch eine Weile allein auf dem Ast sitzen bleiben würde.

»Keine Sorge – komm einfach nach, wann du Lust hast, und wenn nicht, sehen wir uns in einer halben Stunde, wenn wir wieder runterkommen.«

Und schon machte er sich an die Verfolgung von Matt. Unter keinen Umständen konnte er zulassen, dass ein Felsenkletterer vor ihm an die Spitze eines der höchsten Bäume Englands gelangte. Bei Paddy und Matt wirkte alles so einfach.

Ich war hin- und hergerissen. Etwa 20 Meter über dem Boden befand ich mich jetzt etwa auf einer Höhe mit den Kronen der Eichen ringsherum, und ich spürte, dass nur wenige Meter höher, dort, wo sich die mit Zapfen beladenen Äste des Mammutbaums träge im Wind wiegten, eine tolle Aussicht auf mich wartete. Doch ich war immer noch damit beschäftigt, meine neue Umgebung im wahrsten Sinne des Wortes in den Griff zu bekommen, und die Vorstellung, mich über die gewohnte, Sicherheit verheißende Ebene der Eichen hinauszuwagen, flößte mir gehörige Angst ein. Daher blieb ich, wo ich war. Auf einem Ast hockend, ein Drittel des gesamten Aufstiegs bis zum Wipfel hinter mir, spürte ich, wie sich die gewaltige Masse des Baums fast unmerklich im Morgenwind bewegte.