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Dieses eBook: "Der Mann von Eisen (Historischer Roman aus Ostpreußens Schreckenstagen)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Fritz Skowronnek (1858-1939) war ein deutscher Schriftsteller, ein Heimatdichter aus Ostpreußen. Er befasste sich mit der Landeskunde Masurens und schrieb auch unter den Pseudonymen Fritz Bernhard und Hans Windeck. Aus dem Buch: "Dort wird eben eine Nachricht bekannt, die ich seit einer Stunde kenne. Der österreichische Thronfolger ist in Sarajevo von einem Serben ermordet worden. Das bedeutet Krieg, Herr Graf. Krieg zwischen Österreich und Serbien. Krieg zwischen Österreich und Russland. Krieg zwischen Russland und Deutschland. Krieg zwischen Deutschland und Frankreich. Der Weltkrieg steht vor der Tür. Der Funke ist in das Pulverfass gefallen." Der Graf schüttelte den Kopf. "Nein, Herr Stutterheim, so leicht entschließt sich mein Vaterland nicht, gegen Deutschland und Österreich zu kämpfen. Ich kenne seine Verhältnisse besser als Sie und sage Ihnen ganz offen, dass wir noch lange Jahre brauchen, um die Folgen unserer Niederlage im Osten zu beseitigen. Ich würde es für ein Verbrechen halten, wenn die in jedem Lande vorhandene Kriegspartei bei uns die Oberhand gewinnen sollte." "Mir scheint, Herr Graf, Ihr Urteil ist zu sehr von einem Wunsch beeinflusst." "Das will ich zugeben", erwiderte der Russe lächelnd, "ich habe den sehr lebhaften Wunsch, dass es mir vergönnt sein möchte, mit der Familie Brettschneider in freundschaftlichen Beziehungen zu bleiben."
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Seitenzahl: 241
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Aus der Zeit um den Ausbruch des ersten Weltkrieges
Stürmisch wie ein siegreicher Eroberer war der Frühling ins Land eingebrochen. Lang genug hatte ihm der Winter getrotzt. Auf den Bergen Masurens hatte er sein Reich aufgerichtet und mit einem meterhohen Schneewall umschanzt ... und die tiefen Seen hatte er mit einer fußdicken Eisschicht belegt. Unruhig zogen die Fische in der Dämmerung hin und her und warteten voll Sehnsucht auf den Helden, der die Decke über ihren Häuptern wegfegen sollte. Aber die treuen Diener des Eisriesen, der kalte Nordwind und der scharfe Ostwind, hielten gute Wacht. ... Da endlich stürmte es von Süden heran ... ein warmer, feuchter Südwest bedeckte den Himmel mit schweren, dunklen Wolken ... Unter seinem Hauch erwachte das Wasser zu neuem Leben ... Der Schnee wurde seinem Meister abtrünnig und schlug sich zu dem neuen Gebieter.
Zuerst rieselten nur handbreite Rinnsale von den Bergen herab bald waren die Gräben gefüllt und wurden zu strömenden Bächen ... Gurgelnd und schäumend schoss die trübe Flut talwärts und staute sich in den Mulden des Ackers zu Weihern ... Es dauerte nicht lange, da kam auf den Bergkuppen der schwarze Boden zum Vorschein, und am nächsten Morgen schon trippelte dort die Lerche umher, schwang sich in die Luft und sang dein Befreier des Landes ein Loblied...
Was der Südwest übergelassen, verzehrte ein warmer Regen ... und das lebendig gewordene Wasser sank hinab zu den Wurzeln der Bäume und Sträucher und stieg in ihnen empor zu den Knospen, dass sie sich dehnten und wuchsen ... Dann kam die Sonne hinter den Wolken hervor und freute sich über den Eifer, mit dem ihr Töchterchen sich für den Geliebten schmückte...
An der Grenze zwischen Andreaswalde und Dalkowen hielt ein Reiter auf stattlichem Ross ... ein schmucker, junger Mann mit blauen Augen und hellem Haar. Die kaum mittelgroße Gestalt schien nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen; die selbstbewusste Ruhe und Sicherheit, die von dem Reiter ausging, hatte sich auch seinem Ross mitgeteilt. Wie eine Bildsäule stand der prächtige Goldfuchs. Nur ab und zu warf er mit einer kurzen Bewegung den Kopf auf...
Der Reiter bog sich vorn über und strich ihm liebkosend über die glatte Seite des Halses.
»Ein Weilchen wollen wir noch warten, mein alter Potrimpos, vielleicht kommt sie doch noch ... Was habe ich gesagt? Da kommt sie auch schon...«
Eben bog aus dem Tor von Andreaswalde eine Reiterin ... eine zierliche, elegante Erscheinung. Mit einem glücklichen Lächeln sog Wolf Stutterheim das Bild in sich ... die schlanke Gestalt auf dem edlen Ross, das unter ihr tänzelte ... Nun ließ er auch seinen Fuchs angehen und ritt ihr entgegen.
»Guten Morgen, Hanna, ich dachte mir, dass der warme Sonnenschein dich herauslocken würde...«
»Guten Morgen, Wolf ... wie geht es deinem Mütterchen?«
»Danke, gut ... sie hat nur einen großen Zorn auf eine gewisse Hanna Brettschneider, die sich seit vierzehn Tagen bei ihr nicht hat sehen lassen.«
»Hinter dem Vorwurf wird wohl auch ein Wölflein stecken.«
Er lachte sie mit einem Anflug von Verlegenheit aus seinen treuen Augen an wie ein großer Junge, der auf einer heimlichen Zigarette ertappt wird.
»Du bist ja gefährlich klug, Hanna, aber diesmal habe ich ausdrücklichen Befehl von meiner Mutter, mich in Andreaswalde zu erkundigen, ob du noch lebst...«
»Das ist etwas anderes. Na, dann will ich heute Nachmittag meine Unterlassungssünde wieder gutmachen und mich in Dalkowen zum Kaffee einfinden.«
Im Schritt gingen die Pferde nebeneinander...
»Ach, wie habe ich mich diesmal nach dem Frühjahr gesehnt!«, sagte Hanna so recht warm aus tiefster Brust.
»Der Winter war auch zu abscheulich. Übrigens, Wolf, wie gefällt dir meine Odaliske?«
»Gut, ausgezeichnet! Der Kopf ist wie vom Bildhauer gemeißelt; nur das Gangwerk ist doch vielleicht etwas zu feinknochig.«
»Du, die hat Knochen wie Elfenbein.«
Wolf nickte.
»Das wollen wir hoffen. Weißt du aber auch, wieviel sie gekostet hat?«
Hanna lachte laut auf...
»Selbstverständlich! Viertausend Gulden hat der Vater bezahlt ... Das ist sie unter Brüdern wert. Aber einem geschenkten Gaul sieht man bekanntlich nicht ins Maul.«
Über das Gesicht des Reiters flog wie eine leichte Wolke ein ernster Schein. Nur das Auge leuchtete daraus so herzlich warm.
»Nein, Hanna. Und ich verstehe es vollkommen, dass du dich über das kostbare Geschenk deines Vaters von Herzen freust ... aber du hättest dich gewiss über eine Trakehnerin für tausend Gulden ebenso gefreut...«
»Was soll das heißen, Wolf? Willst du mir die Freude an dem edlen Tier vergällen, oder«, sie stockte ein wenig, »willst du damit sagen, dass mein Vater nicht in der Lage ist, mir solch ein teures Pferd zu kaufen?«
Wolf streckte seine Hand aus und strich ihr leise über den Arm.
»Hanna, darf ich wie ein älterer Bruder zu dir sprechen? Ich liebe und verehre deinen Vater, als wenn er mein eigener wäre. Ich bin mit euch und zwischen euch wie ein Bruder aufgewachsen.«
»Das sind doch bekannte Tatsachen. Wozu die Vorrede, Wolf? Willst du etwa meinen Vater tadeln, dass er mir ein so wertvolles Geschenk gemacht hat?«
Mit einem leichten Druck trieb sie ihr Pferd zum Trab an. Schweigend ritt Wolf an ihrer Seite, bis der nasse Weg die Pferde wieder in Schritt fallen ließ.
Jetzt begann Wolf wieder zu sprechen, und seine Stimme klang ruhig, aber stahlhart.
»Du machst es mir schwer und willst, wie es scheint, nicht hören, was ich dir zu sagen habe. Ich muss dich aber bitten, mich anzuhören, weil mich die Pflicht meines Gewissens treibt, dir die Augen zu öffnen ... Ich habe lange gezaudert und bin mit mir zu Rate gegangen, ob ich es tun soll oder nicht. Ich muss es tun, selbst auf die Gefahr hin, dass du mir zürnst.«
»Na, dann schieß’ schon los.«
»Du willst es mir augenscheinlich schwer machen, aber ich kann wirklich keine Rücksicht nehmen. Du bist die Älteste, bist vor wenigen Wochen zwanzig Jahre alt geworden und trägst als die Älteste ein gut Stück Verantwortung für deine jüngeren Geschwister. Ich möchte dir deshalb nahelegen, dich um die Meierei zu bekümmern.«
Hanna lachte laut auf.
»Und dazu hast du die feierliche Einleitung gebraucht?«
»Bitte, Hanna, lass’ mich ausreden. Ich bin drei Jahre als Eleve und Wirtschaftsführer in eurem Hause gewesen. Ich weiß, was die Meierei unter tüchtiger Leitung bringt und bringen muss. Und gestern sagte mir dein Vater, dass die Meierei im Monat fünfhundert Mark weniger bringt als früher. Ich bin mir über die Ursache nicht im Zweifel. Eure Meierin ist ein dickes, faules Frauenzimmer, das aufgehängt zu werden verdient...«
»Sollte die Strafe nicht etwas zu hart sein?«
Die leichte Ironie der Antwort ließ Wolf auflachen.
»Nein, Hanna! Gevierteilt müsste sie werden, weil die berühmte Maiblüte von Andreaswalde durch ihre Schuld so weit heruntergekommen ist, dass der Zentner zehn Mark weniger bringt als gewöhnliche Tischbutter.«
»Das ist allerdings sehr betrübend. Aber weshalb dringst du nicht bei meinem Vater darauf, dass er die unfähige Person entlässt und eine bessere annimmt?«
»Ach was, einen Deuwel lässt man laufen und zehn bekommt man wieder. Nein, du musst dich darum kümmern, dass die Milch richtig ausgeschleudert wird, dass die Gefäße sauber sind, dass die Butter nicht zwei Tage liegt, ehe sie in Fässer geschlagen wird...«
»Ich, Wolf? Ich?«
»Ja, du, die älteste Tochter...«
Mit einer komischen Miene zog Hanna die Schultern bis zum Kopf hinauf.
»Weißt du auch was du von mir verlangst? Dass ich des morgens um vier oder noch früher aufstehen müsste...«
»Ist das zu viel, Hanna, wenn es sich um das Wohl und Wehe deiner Familie handelt?«
»Lieber Wolf, du schießt diesmal, wie ich glaube, mit Kanonen nach Sperlingen.«
»Die Sperlinge sind so groß, dass es sich schon lohnt, nach ihnen zu schießen ... und es wäre auch für dich, als zukünftige Frau eines Landwirts, wünschenswert, wenn du in dem Gebiet, das der Frau untersteht, Bescheid wüsstest...«
Jetzt lachte Hanna laut auf.
»Wie kommst du darauf, dass ich einen Landwirt heiraten werde? Nein, Wölflein, das ist eine ganz falsche Voraussetzung von dir. Ich denke nicht daran, mich für mein ganzes Leben auf dem Lande zu vergraben. Du weißt, ich liebe die Musik, ich liebe alle schönen Künste, ich will in der Stadt leben, wo ich alles genießen kann, was mein geistiges Leben befruchtet ... an der Seite eines hochgesinnten Mannes, der mich versteht und mich meinen Neigungen folgen lässt...«
Wolfs Gesicht hatte einen eisernen Ausdruck angenommen. Er nickte, während sie sprach, als würde ihm etwas bestätigt, was er schon längst wusste...
Als sie schwieg, nickte er noch einmal.
»Was du unter dem Ausleben verstehst, weiß ich nicht. Das ist mir zu hoch und zu modern. Du müsstest aber für diesen Zweck mindestens einen höheren Beamten heiraten oder einen Offizier.«
»Das will ich, und das werde ich hoffentlich auch ... Ich bin hübsch, das hat man mir oft genug gesagt, und habe viele Verehrer...«
»Ja, Hanna, du bist nicht nur hübsch, sondern bist ein schönes, reizendes Mädchen. Du wirst umschwärmt wie eine blühende Linde von den Bienen, aber hast du mit deinen zwanzig Jahren schon einen ernsthaften Bewerber gehabt? ... Soviel ich weiß, noch nicht... Ich werde dir auch den Grund sagen. Was denkst du denn, dass ihr vier Schwestern jede an Mitgift zu erwarten habt?«
»Was soll das heißen, Wolf? Die Mutter hat allein zweihunderttausend mitgebracht, und eben soviel wird doch aus Andreaswalde herauskommen.«
»Es tut mir leid, dass ich dir diesen Glauben zerstören muss. Deshalb habe ich heute auf der Grenzscheide auf dich gewartet. Hanna, ich habe das Zutrauen zu dir, dass du als älteste Tochter, wenn ich dir die Augen öffne, eingreifen und selbst für deine Zukunft und die Zukunft deiner Geschwister sorgen wirst. Die Mitgift deiner Mutter ist nicht auf Andreaswalde eingetragen. Stattdessen sind mehrere kleine Hypotheken aufgenommen und eingetragen worden. Gerade jetzt hat dein Vater wieder fünfzig Mille aufgenommen...
Das Geld wird verläppert ... Da wird an der Stelle der alten Mühle eine Turbine gebaut, die für das Gut Kraft, aber in erster Linie elektrische Beleuchtung liefern soll. Auch dein Reitpferd ist von geborgtem Geld gekauft.«
»Weshalb musst du mir das alles sagen, und gerade heute, wo ich mich zum ersten Mal an dem herrlichen Pferd erfreuen will?«
»Es muss sein, Hanna. Wenn Andreaswalde heute günstig verkauft wird, können hundert Mille Überschuss bleiben. Die Zinsen würden gerade hinreichen, um in einer Kleinstadt sehr bescheiden zu leben.«
»Und du meinst ... ich nehme an, dass das alles wahr ist, was du mir sagst, dass ich durch die Meierei diese Entwicklung aufhalten könnte...?«
»Nein, Hanna, aber du könntest bremsen ... Ihr habt jeden Tag Gäste im Hause, das kostet Geld.
Ihr habt ein halbes Dutzend Reitpferde im Stall, ihr habt ein Auto ... Jawohl Hanna, eins kommt zum andern. Dein Vater ist ein guter und fleißiger Wirt, aber wenn die Ausgaben fortdauernd die Einnahmen übersteigen dann kann die Herrlichkeit hier nicht mehr lange dauern.«
Hanna schüttelte den Kopf und warf die Arme nach hinten, als wollte sie alles von sich werfen, was sie eben gehört hatte...
»Ach Wolf, mach’ mir das Herz nicht schwer! Glaubst du, dass sich der Zuschnitt unserer Wirtschaft von heute auf morgen ändern lässt? Sprich mit meinem Vater darüber ... oder sprich nicht ... mich wirst du nicht umkrempeln ... Ich kann nicht und ich will nicht im groben Hauskleid morgens um drei zum Melken gehen ... Damit lass’ mich ungeschoren ... Ich bin jung und will mein Leben genießen...«
»Und dann?«
»Dann heirate ich einen guten Menschen, der mich auch ohne Mitgift nimmt. Ich glaube, es gibt solche Männer auf der Welt...«
Ein schalkhafter Blick streifte den Reiter neben ihr, der jetzt nicht nur ernst, sondern auch traurig aussah.
»Mach’ nicht solch ein Gesicht wie ein strafender Schulmeister. Mir prickelt heute das Blut in den Adern ... heute ist heut’! Los! Greif’ mich, Wölflein...«
Sie gab ihrem Pferd den Sporn und schnalzte mit der Zunge. Wie ein Pfeil schoss die Stute mit ihr davon, dass aus dem grasbewachsenen Weg das Wasser aufspritzte. Wolf hatte seinen Fuchs aus dem nassen Wege hinter ihr auf den Grasstreifen gelenkt. Jetzt griff auch sein Gaul aus ... und mit der Bewegung kam ihm die Lust.
Sein Auge haftete mit Wohlgefallen an der schlanken Gestalt, die vor ihm dahinflog ... Was er noch eben empfand an trauernder Missbilligung, war im Augenblick geschwunden ... Er· sah nur das herrliche Mädchen, getragen von der Lebenslust ihrer jungen Jahre ... das Mädchen, das er treu im Herzen trug schon von den Jahren an, wo sie als Backfisch mit langen Hängezöpfen munter vor ihm herumsprang...
Er brauchte seinen Fuchs gar nicht aufzumuntern ... von eigenem Ehrgeiz getrieben, stürmte er der Stute nach...
Jetzt machte der Weg eine scharfe Biegung nach links. Geradeaus lag ein breiter Graben, bis zum Rande mit Wasser gefüllt. Dahinter ein Stangenzaun, mannshoch, um das Vieh, das zur Weide getrieben wurde, von dem Acker abzuhalten...
»Vorsicht, Hanna!« rief er, so laut er vermochte.
Aber sie schien das Hindernis nehmen zu wollen. Zur Antwort hob sie die Hand mit der Rute ... ein leichter Schlag, ging auf das. Pferd nieder ... Mit einem heftigen Ruck parierte Wolf seinen Gaul. Sein Herzschlag setzte für einen Augenblick aus ... Hannas Stute verlor, wie er deutlich sah, schon im Ansprung von dem weichen Boden an Kraft ... Mit einem Vorderbein kam sie noch über den Zaun, das andere schlug hart gegen die oberste Stange ... Die Reiterin flog in weitem Bogen aus dem Sattel in den weichen Acker ... Das Pferd überschlug sich und blieb stöhnend liegen.
Wolf hatte das Unheil kommen sehen. In demselben Augenblick war er vom Gaul gesprungen, hatte mit kurzem Anlauf den Graben überflogen und sich über den Zaun geschwungen. Mit zwei Sätzen war er bei Hanna, die regungslos und ohne Bewusstsein· auf dem Gesicht lag. Ohne zu zögern, schob er seinen Arm unter ihre Brust und hob sie etwas empor. Unwillkürlich strich seine linke Hand zärtlich liebkosend über ihr reiches, schwarzes Haar, von dem sich das Hütchen gelöst hatte.
»Hanna, du leichtsinniges Mädchen! Hast du dir weh getan?«
Sorgsam, aber schnell betastete er ihre Arme, sie schienen heil zu sein. Dann zog er sein Taschentuch und wischte ihr das Gesicht ab... Voll scheuer Zärtlichkeit sah er auf das liebe Gesicht, das im jähen Schreck erstarrt zu sein schien. Neben ihm bewegte sich das Pferd und stöhnte jammervoll. Er wandte den Kopf.
Das edle Tier hatte den rechten Vorderfuß über dem Knie gebrochen. Ein spitzes Knochenende hatte die Haut durchbohrt... Mit menschlichem Ausdruck in den schönen Augen schien die Stute seine Hilfe anzuflehen.
Er biss die Zähne zusammen, dass sie knirschten.
»Auch das noch ... armes Tier! Das ist ein teurer Spaß geworden, Hanna! Ach was! Wenn du dir nur nichts geholt hast.«
Nun schob er auch seinen linken Arm unter ihren Körper und hob sie auf. Schritt für Schritt rang er sich durch den zähen, weichen Boden, in den er fast bis zu den Knien einsank, am Zaun entlang, bis zu einer kleinen Bohlenbrücke, die über den Graben führte. Gehorsam wie ein Hund ging Potrimpos auf dem Wege mit ihm mit und stand still, als Wolf mit seiner Last auf ihn zutrat.
Vorsichtig hob er Hanna auf und schob ihren Oberkörper über seine linke Schulter. Dann suchte er mit dem Fuß den Bügel und hob sich mit seiner Bürde in den Sattel.
»Trab, Potrimpos ... wir müssen machen, dass wir nach Hause kommen...«
Jetzt erst fühlte er die Schweißtropfen auf seiner Stirn und gleichzeitig die Nässe und Kälte, die von Hannas Kleidern auf ihn eindrang. Der Fuchs schnob und kochte.
»Hilft nichts, mein Alter, wir müssen uns beeilen.«
Der Gaul warf den Kopf auf, als hätte er seinen Herrn verstanden und schlug eine schärfere Gangart an.
Auf dem Gutshof herrschte geschäftiges Leben.
Ein Dreschsatz war in voller Tätigkeit ... dabei stand gerade die jüngste der vier Schwestern, ein kraushaariger Blondkopf von zwölf Jahren. Sie kam über den Hof gelaufen, als Wolf vor der Veranda hielt.
»Wolf, was ist mit Hanna geschehen?«
»Nichts Schlimmes, Gretel, wie ich hoffe. Ein ungefährlicher Sturz in den weichen Acker. Mach’ mir schnell die Tür auf, und nun spring’ in die Küche und hol’ ein paar Margellen, bringt auch eine Schüssel warmes Wasser mit.«
Auf der Diele trat ihm Christel entgegen, die zweite Tochter, größer und stattlicher als ihre ältere Schwester.
»Frag’ nicht, Christel, führ’ mich zu Hannas Zimmer...«
Er hatte seine Bürde auf einen Diwan niedergelegt und strich ihr sanft mit der Hand über das kalte Gesicht...
»Kleide sie aus, wasch’ sie ab und bringe sie zu Bett. Hoffentlich ist nichts gebrochen. Wenn sie aufwacht, gebt ihr heißen Fliedertee. Ich bleibe unten, bis du mir Bescheid bringst, ob alles in Ordnung ist...«
Der Gutsherr saß gemütlich mit Pfeife und Schlafrock in seinem Arbeitszimmer und las die Zeitungen.
»Wolf, mein Junge, wie siehst du aus? Hast du dich im Dreck gewälzt?« rief er dem Eintretenden entgegen.
»Nein, Onkel, ich habe mich von Hanna abgefärbt, die sieht noch etwas dreckiges: aus.«
»Wieso? Weshalb?«
»Weil sie vom Gaul in den knietiefen Sturzacker hinter dem Roggenschlag gefallen ist. Da habe ich sie aufgelesen und nach Hause gebracht...«
»Wolf, doch nichts Schlimmes?«
»Ich hoffe nicht, Onkel, die Christel hat sie schon oben in Behandlung... Aber die schöne Stute ist zum Deuwel. Sie hat den rechten Vorderfuß gebrochen. Der Inspektor muss sofort rausreiten und sie durch einen Schuss erlösen...«
Der Gutsherr schüttelte langsam den Kopf hin und her.
»Wie ist das gekommen?«
»Aus reinem Übermut, Onkel. Hanna wollte den Graben mit dem Zaun dahinter nehmen. Die Stute kam im Sprung schlecht ab und schlug gegen die oberste Stange...«
»Warst du denn dabei?«
»Freilich... Wir ritten gemütlich nebeneinander, da jagte Hanna plötzlich los, und ehe ich es hindern konnte, war das Unglück geschehen.«
Kopfschüttelnd ging der Gutsherr vor die Tür, um den Inspektor zu rufen. Wolf ging unruhig im Zimmer auf und ab. Nach einer Weile tat sich die Tür auf und die Gutsherrin trat herein. Eine stattliche Dame, die ihren Gatten um gut einen halben Kopf überragte.
»Was ist das für eine dumme Geschichte mit der Hanna? Warst du nicht dabei?«
»Allerdings, Tantchen. Ich habe sie ja nach Hause gebracht.«
»Wie kann denn das in deiner Gegenwart passieren? Konntest du der Stute nicht in die Zügel fallen?«
»Wenn das ein Vorwurf sein soll, liebe Tante Adele, dann muss ich ihn ablehnen. Ich denke, du weißt, dass ich Hanna jederzeit behüten möchte wie meinen Augapfel.«
»Ein tolles Mädel ... Zur Strafe werde ich sie acht Tage nicht reiten lassen.«
»Das wird sich von selbst verbieten, die Stute hat das Bein gebrochen und muss erschossen werden.«
»Auch das noch!«
»Möchtest du nicht nachsehen, Tante, ob Hanna unverletzt ist, damit im Notfall sofort nach dem Arzt geschickt werden kann?«
»Nein, Wolf, das besorgt die Christel viel besser als ich.«
»Aber die tiefe Bewusstlosigkeit, Tantchen, ist die nicht bedenklich?«
Frau Brettschneider lächelte und zuckte die Achseln.
»Du musst deine Ungeduld schon etwas zügeln, lieber Wolf. Wie geht es deiner Mutter?«
»Wie immer, Tantchen ... Sie fährt mit ihrem Stuhl im ganzen Hause umher und kommandiert das Ganze. Du weißt doch, dass die Lähmung nur die Folge einer starken Erkältung ist, die sie sich um diese Zeit im Frühjahr durch einen Sturz in den Graben zugezogen hat?«
Die Frau sah dem jungen Mann lächelnd in das ehrlich bekümmerte Gesicht.
»Ja, Wolf. Das ist aber ein sehr seltener Ausnahmefall, und du kannst dich darauf verlassen, dass für Hanna alles getan wird, was nötig ist.«
Erwartungsvoll schauten beide nach der Tür, durch die eben Christel eintrat.
»Alles in Ordnung«, rief sie schon von der Tür aus. »Einen gräulichen Schnupfen wird sie sich geholt haben, weiter nichts. Sie niest schon ganz tapfer und trinkt gehorsam heißen Fliedertee ... Sie lässt dir vielmals für deine Hilfe danken und fragt nach ihrer Odaliske.«
»Die ist leider bei dem Sprung verunglückt und muss erschossen werden.«
Über Christels Gesicht flog ein Schatten von Zorn, und ihre dunkelblauen Äugen blitzten auf.
»Ach ... das ist aber doch entsetzlich. Wie kann Hanna bloß so leichtsinnig sein?«
»Du würdest solch einen tollen Streich nie fertig bekommen«, meinte die Mutter mit leisem Spott im Ton.
»Nein, Mutter, das würde ich wirklich nie fertig bekommen. Dazu bin ich, obwohl ich jünger bin, viel zu bedachtsam — — ich hätte sicherlich daran gedacht, wie teuer das Pferd ist...«
Sie drehte sich kurz um.
»Wolf, mach’, dass du nach Hause und in trockne Kleider kommst ... Grüß’ dein Mütterchen herzlich von mir...«
Sie reichte ihm die Hand und ging hinaus.
»Nun wird Hanna eine gründliche Strafpredigt bekommen«, lachte Frau Brettscheider.
»Das schadet nichts, Tantchen, die hat sie reichlich verdient ... Grüß’ den Onkel, er wird wohl selbst aufs Feld geritten sein ... Ich muss wirklich machen, dass ich nach Hause komme, mir wird auch kalt...«
Geduldig wartend stand Potrimpos vor der Tür.
Wolf klopfte ihm, ehe er aufstieg, den Hals...
»Es ist alles in Ordnung, mein Alterchen, und du hast auch dazu beigetragen. Das war ein tüchtiges Stück Arbeit, was du geleistet hast ... Nun wollen wir nach Hause.«
Eine halbe Stunde später trat Wolf, nachdem er sich umgezogen, in das Wohnzimmer, wo seine Mutter in ihrem Rollstuhl am Fenster saß. Zärtlich beugte er sich zu ihr, küsste ihr den eisgrauen Scheitel und die fleißige Hand, die emsig an einem Deckchen stickte. Ein wunderbar durchgeistigtes Gesicht hob sich ihm entgegen. Darauf stand neben scharfer Klugheit die mild abgeklärte Ruhe des Alters und ganz leise angedeutet ein Schein von sanfter Ergebung in das Schicksal, das sie der Bewegungsfreiheit beraubt hatte. Jetzt leuchtete darauf nur die Mutterliebe...
»Na, wie steht es draußen, mein Sohn?«
»Gut, Mutterchen, gut! Sonne und Wind werden in wenigen Tagen mit der Nässe fertig werden, und dann geht’s an die Arbeit ... Ich habe eben die Nachricht vorgefunden, dass die russischen Schnitter heute ankommen. Ich muss nachher in das Schnitterhaus gehen.«
»Es ist alles vorbereitet, mein Sohn, aber es ist gut, wenn du noch mal nachsiehst ... Weshalb hast du dich aber umgezogen?«
Wolf lachte.
»Du siehst aber auch alles, Mutter. Ich war etwas nass geworden ... Brauchst mich nicht so forschend anzusehen, ich bin ja schon dabei, dir alles zu erzählen. Also: Hanna ist mit ihrer Stute gestürzt. Es ist alles gut abgelaufen, sie fiel in den weichen Sturzacker und wurde wohl infolge des Schrecks und der Nässe ohnmächtig. Da habe ich sie aufgehoben und nach Hause gebracht ... Jetzt schwitzt sie und trinkt Fliedertee...«
Die Mutter hatte die fleißigen Hände in den Schoß sinken lassen und ihm schweigend zugehört ... Mit einem missbilligenden Kopfschütteln nahm sie ihre Arbeit wieder auf...
Wolf ging unruhig vor ihr auf und ab. Er empfand das Schweigen der Mutter schärfer als ein tadelndes Wort. Erst nach einer langen Pause sagte er leise:
»Du hast recht, Mutter, es war bei ihr ein Ausbruch unbesonnenen Übermutes, der ihr den Unfall zuzog.«
»War das der Erfolg deiner Unterredung mit ihr?«
Wolf nickte.
»Leider, ja!«
Auch Frau Stutterheim nickte.
»Ich habe mit Absicht dich davon nicht zurückgehalten, obwohl ich es wusste, wie dein Versuch ausfallen würde. Du solltest selbst die Erfahrung machen.«
Wolf blieb vor ihr stehen.
»Ja, Mutter, und sie hat mir sehr wehgetan Aber was kann ich dafür, dass ich sie so lieb habe, von klein auf schon.«
Aus dem Schweigen der Mutter hörte er alles, was sie ihm damals gesagt hatte, als er ihr seine Absicht mitteilte, sich um Hanna zu bewerben...
»Mein Sohn, du wirst gut tun, diese Neigung zu unterdrücken. Hanna passt nicht für dich. Sie ist wohl klug und liebenswürdig, aber zu oberflächlich. Jeder junge Mann tut gut, wenn er sich um ein Mädchen bewerben will, sich erst die Mutter anzusehen.«
Da hatte er lachend geantwortet:
»Aber liebste Mutter, wenn ich mich nun in die Christel, deinen Liebling, verliebt hätte...«
Mit einem feinen Lächeln hatte sie geantwortet:
»Auch für Christel gilt mein Wort, denn die habe ich erzogen. Von klein auf hat sie sich wie eine Tochter an mich angeschlossen und alles befolgt, was ich gesagt habe...«
Seine Gedanken flogen wieder zurück in die Jugendzeit. Schon als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen. Und wie oft hatten die Eltern im Scherz gesagt und im Ernst gemeint, dass aus den beiden ein Paar werden sollte. Wie ein schweigendes Einverständnis war es zwischen ihnen geblieben ... Auch später, als er in Andreaswalde seine Lehrjahre durchmachte. Da war Hanna stets und überall seine Begleiterin gewesen.
Selbst, wenn er mit der Flinte aufs Feld ging, ein paar Hühner oder einen Küchenhasen zu schießen, war sie mit ihm gegangen.
Später, als er auf die landwirtschaftliche Hochschule ging und dann bei den Dragonern in Eyck sein Jahr abdiente, war das kindlich-herzliche Einvernehmen plötzlich zu Ende gewesen. Hanna war ein Jahr in einem Pensionat der französischen Schweiz gewesen, und als sie zurückkam, war aus dem lustigen Kind eine erwachsene junge Dame geworden, die ihr ausgesprochenes Talent für Musik eifrig pflegte und mit „Essig und Öl“, wie ihr eigener Vater spöttisch zu behaupten pflegte, schreckliche Bilder malte ... Aber schön war sie geworden, bildschön mit ihrer schlanken und doch so vollen Gestalt, den dunklen, großen Augen, dem überreichen, schwarzen Haar und dem rosigen Mund, der so übermütig lachen konnte ... Wie die Bienen um den Honig schwärmten die unverheirateten Offiziere der großen Garnison um sie herum, und auf jedem Fest war sie die unbestrittene Königin ... Verwöhnt und gefeiert...
Wie oft hatte er sie in Gedanken mit seiner Mutter verglichen, in der er mit Recht das Ideal einer Mutter und klugen Hausfrau verehrte. Und ebenso oft hatte ihm sein Verstand gesagt, dass Hanna nie, auch nur im Geringsten, seiner Mutter gleichen würde. Aber was vermochte der kühl erwägende Verstand gegen das heiße Begehren seines Herzens?
Er war das, was man eine gute Partie nennt... reich, unabhängig, er galt trotz seiner Jugend für einen Musterwirt. Nur die Rücksicht auf seine Mutter hatte ihn noch immer abgehalten, das entscheidende Wort zu sprechen. Sie hatte ihm einmal angedeutet, dass sie das Haus verlassen würde, wenn er Hanna heiratete. Und das war für ihn ein unübersteigbares Hindernis...
Es war ausgeschlossen, dass er durch seine Heirat die über alles geliebte Mutter aus ihrem Heim vertrieb, an dem ihr Herz mit allen Fasern hing.
Jetzt hatte er gehofft, dass Hanna die tiefere Absicht seiner Aufforderung verstehen und die Gelegenheit ergreifen würde, sich die Zufriedenheit seiner Mutter zu erringen ... oder war er ihr so völlig gleichgültig, dass sie ihn nicht verstehen wollte? Das war doch heute eine deutliche Abweisung seiner Bewerbung gewesen...
Als seine Gedanken bei diesem Punkt angelangt waren, griff er mit einem Seufzer nach seiner Mütze und ging hinaus auf den Hof ... Ihm war, als hätte er ein langes Gespräch mit seiner Mutter gehabt ... und doch war es nur ihr mitleidsvoller Blick gewesen, der ihm sagte, dass ein treues Mutterherz um ihn sorgte ... es war keine Voreingenommenheit gegen Hanna, das wusste er, sondern ehrlich sorgende Mutterliebe, die den wackeren Sohn vor einer Ehe bewahren wollte, in der nach einem kurzen, heißen Rausch eine Ernüchterung und Entfremdung eintreten musste...
Gleich nach Mittag ritt Wolf nach Bialla, um seine aus Russland ankommenden Schnitter in Empfang zu nehmen. Er hatte einen alten, starkknochigen Gaul unter sich, der seines hohen Alters wegen das Gnadenbrot erhielt, es sich aber noch reichlich verdiente; denn im Sommer zog er das kleine Wägelchen, in dem Frau Stutterheim fast täglich ins Feld fuhr. Beim Einfahren des Getreides musste er ins Scheunenfach und unablässig hin und her wandern, um es fest zu trampeln. Und wenn er lange untätig gestanden hatte, wurde er auch zu einem kurzen Ritt in Anspruch genommen. Für große Schnelligkeit war er nicht zu haben, aber die verlangte man ja auch von ihm nicht.
Und da er noch reichlich Zeit hatte, machte Wolf den kleinen Umweg über Andreaswalde, um sich nach Hannas Befinden zu erkundigen. Christel hatte ihn aus der Giebelstube kommen sehen und stand schon vor der Tür, als er auf den Hof ritt.
»Es geht Hanna nicht sehr gut, sie hat hohes Fieber und heftige Kopfschmerzen. Wir haben schon ein Fuhrwerk nach dem Arzt geschickt...«
Sie trat an sein Pferd heran und streichelte ihm den Hals.
»Das wäre so ein Pferd für Hanna, wenn sie noch einmal Lust verspüren zu reiten«, meinte sie mit einem schelmischen Lächeln. »Du würdest nicht springen, alter Groneberg?«
»Nein«, erwiderte Wolf, »dafür ist er nicht mehr zu haben. Für Hanna ist doch keine Gefahr?«
Christel zuckte die Achseln.
»Mit solch einer schweren Erkältung ist nicht zu spaßen. Da kommt jetzt immer gleich die neumodische Krankheit, die Influenza, dazu, und vor der habe ich allen Respekt. Nun mach’ dir bloß keine Gedanken, lieber Wolf, ich werd’ sie schon zum Schwitzen bringen.«
Er reichte ihr Vom Pferd herab die Hand.