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In 'Herd und Schwert', einem historischen Roman von Fritz Skowronnek, der im 17. Jahrhundert im Herzogtum Nassau spielt, werden die Schicksale zweier Familien miteinander verwoben. Der Autor beschreibt mit lebendiger Sprache und detaillierten historischen Fakten die politischen Intrigen und familiären Konflikte dieser Zeit. Skowronnek's Schreibstil ist fesselnd und lässt den Leser tief in die Welt dieser Epoche eintauchen. Der Roman ist ein faszinierendes Porträt des Lebens im 17. Jahrhundert und bietet eine spannende Mischung aus historischem Hintergrund und fiktiver Handlung. Fritz Skowronnek, bekannt für seine akribische Recherche und sein Interesse an historischen Themen, hat 'Herd und Schwert' geschaffen, um die Leser in vergangene Zeiten zu entführen. Seine Liebe zum Detail und sein Talent für packende Erzählungen machen dieses Buch zu einem Muss für alle Geschichtsliebhaber und Fans historischer Romane. Mit seiner beeindruckenden Darstellung der Ereignisse und Charaktere lädt Fritz Skowronnek den Leser ein, tief in die Welt des 17. Jahrhunderts einzutauchen und die schillernde Geschichte des Herzogtums Nassau zu entdecken. 'Herd und Schwert' ist ein Meisterwerk historischer Literatur, das jeden Leser fesseln wird.
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Seitenzahl: 314
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Books
Herr von Rosen auf Berschkallen hatte das Zeitliche gesegnet. Von seinem Wahlspruch: ‘Lustig gelebt und selig gestorben, hat dem Teufel die Rechnung verdorben’, hatte er nur den ersten Teil befolgt. An der Erfüllung des zweiten Teils hatte ihn sein plötzlicher Tod verhindert. Zur gewohnten Stunde, pünktlich wie immer, war er nachts um zwei Uhr von seinem Jugend- und Busenfreund Braczko heimgekehrt, hatte sich vergnügt zu Bett gelegt und war sanft eingeschlafen...
Nicht einmal die gewohnte Stellung, auf der rechten Seite, das linke Bein über das Deckbett geschlagen, hatte er geändert. Mehrmals war sein alter Diener Jons durch das verdunkelte Zimmer gegangen und hatte nicht gewagt, den Schlummer seines Herrn zu stören.
Erst als es zu Mittag ging, hatte er sich entschlossen, an das, Bett zu treten und halblaut zu sagen:
»Gnädiger Herr, es ist Zeit, aufzustehen.«
Wie der Blitz war die Erkenntnis in ihn eingeschlagen, dass sein Herr nicht mehr unter den Lebenden weilte. Da hatte er sich auf den Bettrand gesetzt und hatte lange das stille Gesicht betrachtet, das im Tode noch ebenso jovial gutmütig aussah wie im Leben. Dann hatte er sich die Tränen abgewischt und war mit ruhiger, unbeweglicher Miene, wie sie ihm in seinem Beruf zur Gewohnheit geworden war, zur Gnädigen ins Zimmer getreten und hatte gewartet, bis sie nach seinem Begehr fragte.
»Melde gehorsamst, dass der gnädige Herr sanft eingeschlafen ist.«
Die alte Dame lehnte sich in ihrem Fahrstuhl zurück und schloss die Augen.
Leise fuhr Jons fort:
»Der gnädige Herr sind ganz sanft eingeschlafen. Wie er sich zu Bett gelegt hat, liegt er noch jetzt.«
Ein müdes Kopfnicken.
»Schicken Sie mir Grundmoser her.«
Eine kleine Handbewegung; er war entlassen.
Schweigend machte Jons kehrt und ging hinaus, um seinem Herrn den letzten Dienst zu erweisen, ihn zu waschen und anzukleiden.
Bald nach Mittag wurde der schwere schmucklose Eichensarg aus dem Kirchturm, wo er schon jahrelang in fester Umhüllung bereit stand, geholt, und als der trübe Herbstabend herabsank, war der Gutsherr von Berschkallen auf der Diele aufgebahrt. Ein Dutzend armdicker Wachslichter spendeten ihm das letzte Licht auf dieser Erde.
Bald nach dem Abendbrot kam sein Freund Braczko. Seit rund zwanzig Jahren hatte es kaum einen Abend gegeben, an dem die beiden nicht ihren Rotspohn miteinander getrunken hätten. Den einen Abend in Berschkallen, den anderen in Keimkallen.
Viel gesprochen wurde dabei nicht, selbst das Zuprosten hatten sie sich im Laufe der Zeit abgewöhnt, es genügte ja, wenn einer das Glas zum anderen erhob. Nur gegen ein Uhr pflegte der Gastgeber zu fragen: »Nehmen wir noch eine?«
Das war auch überflüssig, denn es pflegte nie vorzukommen, dass der andere die Frage verneinte.
Braczko hatte kein Wort gesagt, keine Frage getan, als er vom Wagen stieg. Der helle Lichterschein, der ihm von der Diele entgegen strahlte, sagte ihm alles. Still trat er an den Sarg und strich dem toten Freund über das stille Gesicht.
»August, warum hast du mich verlassen? Was soll ich armes Wurm jetzt allein anfangen? Das Beste war’, wenn Er mich jetzt auch holte.«
Dann hatte er sich in den Ledersessel am Kamin niedergelassen, in dem er immer zu sitzen pflegte. Jons hatte ihm wie immer die gewohnte Marke Rotwein gebracht und das erste Glas eingegossen, das Braczko zu seinem Freund hob...
Von den Wänden der Diele sahen sie Jagdtrophäen, die das alte Geschlecht im Laufe von vier Generationen zusammengebracht hatte, auf den Letzten des Stammes herab, der die letzten Stunden unter seinem Dache weilte. Da hingen ausgestopfte Köpfe vom Elch, Hirsch und Wildschwein, dazwischen mächtige Geweihe und altes Gewaffen, wie man es früher im Nah- und Fernkampf gegen starkes Wild gebrauchte.
Drei Nächte hielt Braczko bei seinem toten Freund und Rotspohn die Leichenwacht.
Das letzte Glas, das er ausgetrunken hatte, warf er in den leeren Kamin, dass es in tausend Scherben zersplitterte...
Das war weiter nichts als das Symbol für das Ende einer unwandelbaren treuen Freundschaft, nicht etwa die Bekräftigung eines Gelübdes zur Enthaltsamkeit, denn Herrn Braczko auf Keimkallen hat der Rotspohn noch manches Jahr gemundet...
Am meisten Arbeit von dem Todesfall hatte Fräulein Marie Brinkmann, die »Mamse1lchen«, wie sie als Beherrscherin der Küche genannt wurde, denn es wurde gesotten, gebraten und gebacken, wie es zu einem großen Schmaus erforderlich ist. Die Margellen, die den Kuchenteig kneteten und walkten, mussten, wie es die alte Sitte verlangte, tüchtig dabei juchzen, damit der Kuchen gut geriet, denn Mamsellchen wollte auch beim Begräbnis ihres Herrn mit ihrer Kunst Ehre einlegen.
Mehr als anderswo haben sich dort hinten, fern im Osten, wo der deutsche Grundbesitz treue Macht hält gegen das andräuende Moskowitertum, die allen Gebräuche erhalten. Das Begräbnis ist nicht bloß ein Akt stiller Teilnahme für die Leidtragenden, sondern ein Opferfest, für den Entschlafenen, dem man bei kräftigem Schmaus und Trunk die rühmenden Nachreden nachschickt ... ein Überrest aus den Zeiten des Heidentums, als man dem Tod noch nicht so wehleidig gegenüberstand als jetzt ... Vielleicht muss man hier die Gegenwart ausnehmen, die uns wieder gelehrt hat, den Tod als die Krönung der Tapferkeit und Pflichterfüllung im Dienste des Vaterlandes zu bewerten ...
Der kleine Kirchhof hatte nicht hingereicht, die Menge zu fassen, die dem Herrn von Berschkallen das letzte Geleit gegeben hatte.
Rings um den niedrigen Zaun standen die Menschen in dichten Reihen.
Auf der Diele am offenen Sarge hatte der Pastor Schimkus dem entschlafenen Jugendfreunde, der ihn von der Hochschule nach bestandenem Examen zum Seelsorger seiner Gutsleute berufen hatte, die Leichenrede gehalten. Er konnte ihm nachrühmen, dass er ein tüchtiger Wirt und seinen Leuten allzeit ein gütiger Herr gewesen, dem droben im Himmel ein gerechter Richter den gebührenden Platz in Abrahams Schoß anweisen würde.
Über den reichlichen Abendtrunk seines Gutsherrn dachte er wohl ebenso milde wie jener Kandidat, der die heikle Aufgabe zu erfüllen hatte, in der Probepredigt gegen Völlerei und Schlemmerei zu sprechen und auf den anwesenden Schlossherrn, der die Freuden der Tafel sehr liebte, die Nutzanwendung zu machen. Seine beiden Mitbewerber hatten sich mit Ach und Krach um die Aufgabe herumzudrücken versucht.
Er jedoch donnerte wie ein Held gegen die faulen Bäuche, dass alle Hofschranzen, vom Hofmarschall bis zum Diener, vor Schrecken erbleichten. Und dann kam die Nutzanwendung auf den gestrengen Patron:
»Was aber unseren allergnädigsten Landesherrn betrifft, der hat’s, dem schmeckt’s, wohl bekomm’s ihm, amen!«
Der weißköpfige Schimkus machte sich die Sache noch leichter. Er stellte dem fröhlichen Genießen des Lebens und all der guten Gottesgaben, die auf dieser Erde zu finden sind, die ernste Arbeit gegenüber, die der Entschlafene als Verwalter einer großen Begüterung mit sichtlichem Erfolg und reichlichem Segen geleistet hatte. Mit der von christlicher Anschauung gebotenen Einschränkung, dass wir allzumal Sünder sind und vor Gott des Ruhmes ermangeln, war auch dem Gerechtigkeitsgefühl aller Anwesenden reichlich Genüge geschehen.
Mit stillem, unbewegtem Gesicht saß die nun verwitwete Frau Christine von Rosen in ihrem Rollstuhl. Eine Erkältung bei einem schweren Gichtanfall, der ihr die Knie verkrümmt hatte, hatte ihr auch das Augenlicht geraubt ... Nur ein schwacher Schimmer drang noch in ihre Augen...
Hatte das schwere Leid, das sie in sich selbst trug, sie gegen Schicksalsschläge abgestumpft? Oder war der Tod des Gatten kein Verlust mehr für sie? Von den Anwesenden wusste mancher, dass es keine Liebesheirat gewesen, wenigstens nicht von ihrer Seite, die das Paar zusammengeführt hatte.
Aber sie war dem Manne mehr als ein Menschenalter hindurch eine treue Gefährtin gewesen. Und die Nahestehenden wussten, dass sie von Anbeginn an die Zügel der Wirtschaft in festen, rastlos schaffenden Händen gehalten, und dass der größte Teil des Lobes, den der Pastor dem Entschlafenen gespendet, ihr gebührte.
Der alte Inspektor Grundmoser, der mit seinem Herrn alt und grau geworden war, hätte noch hinzufügen können, dass alle Verbesserungen von ihr ausgegangen wären. Erblindet, gelähmt, hatte sie vom Fahrstuhl aus jeden Abend, während ihr Mann hinter der Flasche saß, die Anordnungen getroffen, die bei solch einem großen Gut erforderlich sind. Wer all das wusste, wunderte sich nicht darüber, dass ihre lichtlosen Augen keine Tränen mehr für den toten Gatten aufzubringen vermochten ... Was ihr durch den Sinn ging, als der Sarg, dem sie des schlechten Weges und Wetters wegen nicht das Geleit zum Kirchhof geben konnte, von starken Männern aufgehoben und hinausgetragen wurde, konnte niemand wissen ...
Ihre Stelle am offenen Grab wurde vollkommen von Braczko ausgefüllt, der dem Toten die ersten drei Hände voll Erde nachwarf. Und dann kamen alle und drückten ihm in ehrlicher Teilnahme die Hand, denn alle wussten, wie viel er verloren hatte...
Beim Kaffee und Kuchen herrschte im Trauerhaus noch die wehmütige Stimmung vor. Man sprach mit gedämpfter Stimme.
Aber bald, nachdem Frau von Rosen sich in ihr Zimmer hatte hinausfahren lassen, wurden die Reden lauter. Gute Freunde, alte Bekannte, die das traurige Ergebnis von weither zusammengeführt hatte, setzten sich zueinander, um sich zu berichten, wie es ihnen solange ergangen wäre.
In einem Kreise der näheren Bekannten, der sich um Braczko geschart hatte, wurde die Vergangenheit durchgesprochen, wobei sich recht oft die Veranlassung ergab, dem Entschlafenen ein stilles Glas zu weihen. Der Pastor erzählte mit einem Schuss dankbarer Rührung, wie ihn das Schicksal mit dem jungen Gutsherrn, der zu seinem Vergnügen einige Semester in Königsberg studierte, zusammengeführt hatte. Auf der Mensur hatten sie sich kennen gelernt.
»Die Normannen,« so erzählte der alte Herr, und das Feuer fröhlicher Erinnerung sprang dabei aus seinen Augen, »hatten bei uns Balten für Rosen wegen einer gleich starken Partie anfragen lassen. Wir waren damals nicht viel Aktive, ich glaube sechs Mann. Ich hatte erst dreimal, allerdings mit Glück, gefochten. Aber Rosen hatte schon mindestens sein Dutzend Mensuren hinter sich und fast stets abgestochen. Mir war die Sache gar nicht recht, aber als unser Fechtwart fragte: ‘Schimkus, willst du antreten?’ da gab es keine Weigerung... Ich kann jetzt als alter Mann wohl eingestehen, dass mir ganz kodderig zumute war, als ich bandagiert wurde. Unser Erster, der mir sekundierte, ruckte mich zusammen. ‘Wenn du deine Tiefquart mit der Terz hinterher einmal anbringst, hast du gewonnen ...’
Gleich beim zweiten Gang kratzte ich Rosen mit einer Terz. Das erste Blut auf Gegenseite gab mir die Ruhe und kühle Entschlossenheit wieder. Aber erst kurz vor dem Stellungswechsel gelang es mir, meinen Doppelhieb anzubringen ... Die tiefe Quart parierte Rosen, aber die Terz kam ganz ungedeckt hinein ...«
Der alte Herr machte eine kleine Pause und nahm einen Schluck. Dann fuhr er fort: »Es war eine starke Abfuhr ... Kaum war Rosen genäht, als er mich auffordern ließ, den Abend bei ihm zu verleben. Da haben wir Schmollis getrunken...
Die Mensur, die uns zusammengeführt hatte, entschied auch über mein ferneres Leben. Wir hatten im Blutgericht mein zweites Examen sehr energisch begossen. Am anderen Morgen weckte mich Rosen: ‘Mensch, sorg’ bloß schnell für eine Quarr, du hast schon eine Pfarr’.’
Ganz verständnislos sehe ich ihn an.
‘Du musst dich schon etwas deutlicher ausdrücken.’ ‘Sehr einfach,’ erwidert er, ‘mein alter Pastor in Berschkallen ist gestern gestorben, du sollst sein Nachfolger werden’.«
»Na, die Quarr hattest du doch schon in Bereitschaft«, fiel Braczko lachend ein.
»Das kann - ich nicht leugnen ... ich war schon im Stillen verlobt«, erwiderte der Pastor behaglich schmunzelnd. »Und ihr wisst ja alle, dass ich auch mit meiner Gattin, die mir der Tod viel zu früh entrissen hat, in den Glückstopf gegriffen habe.«
»Ob man das auch von dem Verstorbenen sagen kann?«, warf ein junger Gutsbesitzer ein.
Braczko sah ihn strafend, fast wütend an.
»Wenn Sie älter wären, würden Sie so was nicht fragen ... nicht wahr, Gruber?«, wandte er sich an seinen Nebenmann, »die Christine von Berg war das schönste Mädel, das man sich denken kann. Gewachsen wie ein Licht, und das Gesicht, na wie sagt man gleich … wie Milch und Blut und dazu die dunklen Augen ... Wir alle, die wir damals jung waren, flogen um sie herum Wie die Bienen um den blühenden Lindenbaum ...«
»Es wird doch erzählt, dass sie vorher schon mit dem damaligen Forstassessor Mertinat so gut wie verlobt gewesen ist,« warf wieder derselbe ein.
»Das ist ein dummes Gerede,« erwiderte Braczko heftig, »dem ich bei dieser Gelegenheit den Kopf zertreten möchte. Der Forstassessor Mertinat war einer von den vielen, ich war auch darunter, die sich um Christine von Berg bewarben. Ich kann Ihnen auch sagen, dass er um einen Tag zu spät gekommen ist. Am Tage zuvor hatte sie meinem Freund Rosen das Jawort gegeben. Aus Ärger verlobte sich Mertinat wenige Tage später mit seiner nachmaligen Frau ...«
»Ach, das war wohl der Grund zu der Feindschaft zwischen den beiden Frauen?«
»Eine andere Ursache ist uns hier nicht bekannt geworden,« erwiderte Braczko, »aber sie genügt nach meiner Ansicht vollkommen, wenn die richtige Frau merkt, dass sie sozusagen nur der Notnagel gewesen ist, dass der Herr Gemahl noch immer um die andere herumschleicht wie der Marder um den Taubenschlag. Aber Rosen war auf dem Posten, und vor allem: Frau Christine war unnahbar. Wenn wir sie heute anstatt ihren Mann begraben hätten, dann könnte ich auch nichts anderes von ihr sagen.«
»Ich möchte noch was hinzufügen,« fiel Gruber ein. »Ich weiß von meiner Frau, wie schwer Christine von Rosen daran getragen hat, dass sie kinderlos blieb.«
»Na, meinst du, Rosen hat das nicht auch empfunden? Weshalb hat er denn so tief in die Flasche gesehen, bis ihn die Wurschtigkeit und der Stumpfsinn überkamen?«
»Und weshalb hast du es getan?«
Braczko setzte eine entrüstete Miene auf.
»Sollte ich ihn dabei allein lassen? Das tut nicht gut, wenn einer allein hinter der Flasche sitzt. Na und dann ist es uns beiden zur Gewohnheit geworden. Ich weiß bloß nicht, was ich morgen Abend anfangen soll.«
»Na für morgen lade ich dich ein,« erwiderte Gruben.
»Und ich lade dich für übermorgen ein,« fügte der Pastor hinzu.
Gerührt streckte Braczko seine Hände nach beiden Seiten aus.
»Ich danke euch ... und nun noch was Wichtiges. Ich kann heute Abend bei der Tafel nicht sprechen. Mir würde dabei das Tränentöppchen umkippen. Das musst du Pastor besorgen.«
Es war lange nach Mitternacht, als Braczko als Letzter das Trauerhaus verließ.
Was er nie in seinem Leben getan, tat er heute. Er reichte Jons die Hand, schüttelte sie kräftig, als wolle er ihm sein Beileid ausdrücken, und sagte halb gerührt, halb grimmig: »Einmal müssen wir doch alle daran glauben. Gute Nacht Jons...«
Es war nicht vielen bekannt, wie wenig Herr von Rosen und wie viel seine Frau mit der Leitung der Wirtschaft und des Gutes zu tun gehabt hatte. Deshalb wurde sehr eifrig die Frage erörtert, was die arme erblindete und verkrüppelte Witwe nun anfangen würde.
Auch die Frage war aufgetaucht, wer schließlich mal das schöne große Gut erben sollte. Der Verstorbene war der letzte seines Stammes gewesen und besaß gar keine Verwandte, aber auch gar keine, nicht einmal von seiner Mutter Seite her.
Frau von Rosen sollte allerdings weitläufige Verwandte im Reich haben, eine Kusine, die an einen kleinen Beamten verheiratet war. Es schienen aber gar keine Beziehungen zwischen ihr und der Verwandtschaft zu bestehen, denn es war nie einer von ihnen nach Berschkallen zum Besuch gekommen, und auch von einem Briefwechsel wusste man nichts.
Wenn Frau von Rosen mit Hilfe des Notars ein Testament errichtet hätte, so würde man wenigstens diese Tatsache wissen. So etwas pflegt auf dem Lande durchzusickern, und der Notar hätte wohl auch kein Hehl daraus gemacht, dass und zu welchem Zweck er in Berschkallen gewesen wäre.
Solch ein Rätsel bietet bei einem Begräbnis einen sehr ergiebigen Gesprächsstoff, weil er den weitesten und gewagtesten Vermutungen Spielraum lässt. Aber obwohl sich ein Dutzend flinker Jungen mit der Lösung des Rätsels beschäftigten, blieb es doch völlig dunkel, was dereinst aus Berschkallen werden sollte.
Wie interessant wäre es da den Teilnehmern des Begräbnisses gewesen zu erfahren, dass zu derselben Zeit, als sie sich den Kopf zerbrachen, Frau Christine in ihrem Zimmer einen langen Brief schrieb. Das war ein mühseliges Geschäft für eine alte Frau, die von dem Briefbogen nur gerade noch einen schwachen Schimmer vor sich erblickte.
Trotzdem flog ihre Hand mit dem Bleistift rastlos über den Bogen, während die Linke zuerst den oberen und dann auch den unteren Rand abtastete und auch beim Beginn der Zeile den Bleistift hinderte, zu früh zu beginnen. So füllte sie Seite auf Seite mit großen, steifen Buchstaben, wie sie nur selten von einer Frauenhand gestaltet werden. Aber die Hand, die da schrieb, war schon seit langen Jahren gewohnt, schwere Zügel zu führen, und die steifen Buchstaben waren der sichtbare Ausdruck eines starken, festen Willens.
Schließlich hob Frau von Rosen zu Lottchen, ihrer Vorleserin, die über ein Buch gebeugt ihr gegenüber saß, den Kopf:
»Geben Sie mir einen Umschlag. So, danke, und nun setzen Sie sich an meinen Tisch und schreiben Sie die Adresse: ‘Herrn Assessor Kurt v. Berg, Rheinsberg i. d. Mark’. Haben Sie, ja? Der Brief wird eingeschrieben geschickt. Und nun rufen Sie mir Dore, dass sie mich zu Bett bringt. Ich brauche Sie heute nicht mehr. Gute Nacht.«
»Ach, gnädige Frau, ich bleibe noch gern bei Ihnen und lese Ihnen noch etwas vor. Sie werden noch nicht einschlafen können.«
Auf das Gesicht der alten Dame trat ein milder, freundlicher Ausdruck:
»Sie gute Seele! Nein, gehen Sie nur ruhig schlafen, ich habe heute noch manche Stunde mit meinen Gedanken zu tun.«
Assessor von Berg hatte sich gerade von seinem Nachmittagsschläfchen erhoben und rüstete sich zu dem Dämmerschoppen, den er im Ratskeller einzunehmen pflegte. Selbst wenn man der größte Naturschwärmer ist, oder sich aus Sparsamkeitsrücksichten die regelmäßige Teilnahme an den Kneipereien der Honoratioren versagen will oder muss, kann man sich in solch einem kleinen Nest nicht ganz von der Geselligkeit abschließen, um nicht als hochmütiger oder menschenscheuer Sonderling zu gelten. Selbst den Anschein erzwungener Sparsamkeit muss man zu vermeiden suchen.
Da ist der Dämmerschoppen eine segensreiche Einrichtung. Man kann sparsam trinken und hat immer Veranlassung, zum Abendbrot die Sitzung abzubrechen. Und das ist sehr angenehm für einen Assessor, der von den Diäten eines mageren Kommissoriums leben, Wohnung, Essen und Kleidung bestreiten soll. Das ist wirklich eine schwere Aufgabe für einen jungen lebenslustigen Mann, wie es Kurt von Berg war, der von Hause aus mit so wenigen Glücksgütern gesegnet war, dass er schon als Student und später als Referendar Musik- und Unterrichtsstunden erteilen musste, um sich durchzuschlagen.
Ab und zu erfreute ihn das Schicksal durch ein paar hundert Mark, die ihm im Auftrage eines unbekannten Wohltäters von einer Bank zugeschickt wurden. Die Bank vermittelte auch seine Dankesbriefe, in denen er seinem unbekannten Wohltäter von seinem Leben und Streben einen wahrheitstreuen Bericht abzustatten pflegte. Aber den Namen konnte er nicht in Erfahrung bringen.
Der Assessor hatte seinen stattlichen Schnurrbart in die Binde gelegt und beschäftigte sich eben mit den Nägeln seiner wohlgepflegten Hände, nicht aus Eitelkeit, sondern, weil sie ihm zur Handhabung seiner mit Meisterschaft gespielten Geige wertvoll waren, als der Briefträger ihm einen eingeschriebenen Brief und einen Geldbetrag, der die bisherigen Sendungen um das Doppelte übertraf, brachte.
Mit begreiflicher Neugier griff er nach dem Brief, dessen Poststempel beim besten Willen nicht zu entziffern war. Die dünne kleine Handschrift der Adresse, die ohne Zweifel von Frauenhand herrührte, war ihm ganz fremd. Was konnte ein unbekanntes weibliches Wesen ihm so Wichtiges mitzuteilen haben, dass ihm der Brief eingeschrieben zugestellt werden musste.
In Gedanken nahm er den Abschnitt der Postanweisung zur Hand, den der Briefträger neben das Geld auf den Tisch gelegt hatte und warf einen Blick darauf. Da stand diesmal nicht der Stempel der Bank, sondern in kräftiger Handschrift: Absender Frau von Rosen geb. von Berg, Berschkallen.
Er hatte als seine Wohltäter bis jetzt zwei junge baltische Edelleute, von Roth, im Verdacht gehabt, mit denen ihn die Musik zusammengeführt hatte. Er hatte sich einmal auf ein Inserat, in dem ein guter Violinspieler für ein Liebhaberquartett gesucht wurde, gemeldet und hatte dadurch die beiden Brüder, die ebenso eifrig und künstlerisch die Musik pflegten, wie er, kennen gelernt.
Vor Jahren schon waren die Brüder in ihre Heimat, in die baltischen Provinzen Russlands zurückgekehrt, wo sie die durch den Tod ihres Vaters, geerbten Güter übernehmen mussten. Und in dieser Annahme hatte er in seinen Briefen einen frischen Ton mit einer Vertraulichkeit angeschlagen, wie man sie einem gleichgesinnten und befreundeten jungen Mann gegenüber anwenden kann.
Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Wohltäter war die alte, sozusagen verschollene Tante gewesen, die weit hinten in Ostpreußen an einen Gutsbesitzer verheiratet war. Was mochte das für ein Anlass sein, der ihm die erkleckliche Geldsumme ins Haus trug?
Jetzt riss er den dicken Brief auf, aus dem ihm eine Anzahl mit einer großen unregelmäßigen Handschrift beschriebener Bogen in die Hand fiel. Zuerst sah er nach der Unterschrift. Richtig!
»Deine alte Tante Christine.«
Und dann las er und las.
Er vergaß, die Schnurrbartbinde abzunehmen, er vergaß Dämmerschoppen und Ratskeller und die fröhlichen Genossen, die gewiss schon mehrmals nach der Uhr gesehen und vorwurfsvoll gefragt hatten: »Wo bloß heute der Assessor steckt?«
Dann setzte er sich in da alte ehrwürdige Sofa, dessen steife Lehnen so wenig für die Bequemlichkeit des Zimmerbewohners gemacht waren. Aber man konnte wenigstens den Ellbogen aufstützen und den Kopf in die Hand legen. Das pflegt mancher zu tun, dem sich wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Gewissheit aufdrängt, dass er an einem Wendepunkt seines Lebens und seines Schicksals angelangt ist, wenn er nur den Mut hat zuzugreifen und von dem Lebensweg abzubiegen, den man sich unter Not und Sorgen erkämpft hat und den man bis zu Ende zu gehen entschlossen war.
Allerdings nicht aus besonderer Vorliebe für den erwählten Beruf, sondern Kurt von Berg war Jurist geworden, weil er für die anderen drei Fakultäten noch weniger Vorliebe hatte und weil ihm die juristische Laufbahn die Möglichkeit bot, irgendwo und irgendwann eine erträgliche Stellung zu erwischen. Dabei hatte er natürlich nie an die Möglichkeit denken können, die sich jetzt ihm darbot, Gutsbesitzer in Ostpreußen zu werden.
Wie groß mochte das Gut sein? Weshalb schrieb die alte Dame, die plötzlich den Einfall hatte, ihn zu ihrem Erben einzusehen, nichts darüber? Vielleicht war der Tausch, wenn sie die Verhältnisse ihm von vorn herein klarlegte, gar nicht der Mühe wert? Was wusste sie denn von ihm, wie war sie auf den Gedanken gekommen? Was er von ihr bis dahin gewusst hatte, war herzlich wenig. Seine Eltern hatten nie von dieser Tante gesprochen. Nur einmal hatte er in einem alten Album das Bild einer jungen Dame gefunden, in der verschrobenen Tracht der siebziger Jahre. Trotzdem sagte ihm der erste Blick, dass das Bild ein sehr schönes junges Mädchen mit einer prachtvollen Figur darstellte.
Seine Mutter hatte ihm auf seine Frage nach der Person dieses Bildes mit deutlicher Ablehnung im Ton die Antwort gegeben, dass es eine entfernte Verwandte wäre, die in ihrer Jugend gegen den Willen der Eltern aus dem Elternhause gegangen und sich in Ostpreußen als Wirtin auf einem Gut mit ihrem Gutsherrn verheiratet hätte.
Kurt hatte damals trotz seiner Jugend die starke Missbilligung und Abweisung, die in den Worten seiner Mutter lag, herausgefühlt. Den Anlass dieser Missbilligung konnte sowohl ihr Verlassen des Elternhauses, wie ihre Heirat gegeben haben.
Nun schrieb ihm diese Tante, dass sie blind und gelähmt im Rollstuhl sitze und dass er kommen möge, um ihr die Last abzunehmen. Er nahm den Brief wieder zur Hand und las ihn zum zweiten Mal langsam durch. Manches hatte er in der Hast beim ersten Lesen über· flogen, ohne dass es ihm recht zum Bewusstsein gekommen war.
Da schrieb sie ja auch über die Ursache ihres Zerwürfnisses mit seinen Eltern. Seine Mutter habe ihr den schwersten Vorwurf daraus gemacht, dass sie gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Eltern als junges Mädchen in die weite Welt gegangen wäre, um sich auf eigene Füße zu stellen und sich selbst ihr Brot zu verdienen. Sie wies diese Vorwürfe kurz und bündig damit zurück, dass sie die Enge und die Armseligkeit und die Gebundenheit im elterlichen Hause nicht habe ertragen können. Sie habe mit der Aussicht rechnen müssen, als alte Jungfer mit ihrer Mutter von einer kärglichen Pension zu leben, und nach dem Tode der Mutter hätte sie vor dem Nichts gestanden.
»Wie man es mir zum Vorwurf anrechnen kann, dass ich meinen Mann, der mich ehrlich und aufrichtig liebte, geheiratet habe, begreife ich nicht. Dass ich als seine Bedienstete ihn auf unlautere Weise dazu gebracht hätte, mich zu heiraten, ist eine Annahme, die nur aus der in der Familie gegen mich herrschenden feindseligen Stimmung zu erklären ist. Mein Mann warb ehrlich und anständig um mich und ich verließ sofort, nachdem ich ihm mein Jawort gegeben hatte, sein Haus, das ich erst wieder nach unserer Hochzeit betrat. Ein Annäherungsversuch wurde von deinen Eltern schroff zurückgewiesen. Das wird dir wohl zur Genüge erklären, weshalb ich mich nicht mehr um sie gekümmert habe. Aber um dich habe ich mich gekümmert. Ich weiß ganz genau, wie du dich als Student und Referendar hast durchschlagen müssen, und entnehme daraus die Gewissheit, dass du genügend Energie und Gewandtheit besitzt, um dich auch in die Pflichten eines Landwirts einzuleben.«
Tante Christine hatte sich anscheinend die Tragweite ihres Vorschlages, ja sogar einen möglichen Fehlschlag ihrer Zukunftspläne reiflich überlegt, denn sie gab ihm den Rat, sich zunächst mal für ein halbes Jahr oder ein ganzes von seiner Behörde beurlauben zu lassen, um sich die Rückkehr in seinen Beruf offen zu halten.
Das war ein guter Rat, der ihm den Entschluss wesentlich erleichterte. Im schlimmsten Fall konnte er ein halbes Jahr verlieren.
Wieder und immer wieder überlas er den Brief, um daraus ein Bild von dem Wesen und der Persönlichkeit seiner Tante zu gewinnen, mit der er und unter der er die nächste Zeit verleben sollte. Sie war ohne Zweifel eine willensstarke Frau, denn sie berichtete, dass sie schon seit vielen Jahren die Hauptlast bei der Leitung des Gutes habe tragen müssen.
Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie sich sein Leben dort hinten an der russischen Grenze abspielen würde. Das würden stille einsame Abende mit einer kranken alten Frau werden, einer alten Frau, deren Wohlwollen er sich erwerben musste, um an das Ziel, das sie ihm in Aussicht stellte, zu gelangen.
Ob der Einsatz doch nicht etwas zu groß und zu schwer war, wenn die alte Dame auch späterhin ihre leitende Stellung beibehalten wollte? Er stand auf und ging einige Male nachdenklich im Zimmer auf und ab. Dabei kam er an dem Spiegel vorbei, der ihn daran erinnerte, dass er noch immer seine Schnurrbartbinde trug.
Da lachte er laut auf, tat die Binde ab, zog seinen Rock an und schloss das Geld ein.
Dann nahm er Hut und Stock und ging in den Ratskeller zum Dämmerschoppen. Er wollte heute Abend einen tiefen Trunk tun und morgen früh noch einmal die ganze Sache in Ruhe überlegen. Ob er aber heute Abend einen guten Gesellschafter abgeben würde? Das war in der Tat nicht der Fall. Mehrmals ertappte er sich selbst und die anderen ihn, dass er nicht gehört hatte, was von der Tafelrunde gesprochen wurde. Natürlich erfolgten darauf die am Stammtisch üblichen derben Scherze über Verliebtheit und dergleichen. Er fühlte dabei eine innerliche Belustigung. Wenn die Tafelrunde wüsste, dass er sich in diesem Augenblick beinahe schon als ostpreußischer Großgrundbesitzer fühlte.
Dann ertappte er sich selbst dabei, wie sehr ihn der Gedanke beschäftigte, wie groß wohl das Berschkallen sein könnte, und aus diesen Gedanken heraus fragte er den Kollegen, der das Grundbuch des Kreises führte, ob es keine Möglichkeit gebe, Näheres über ein Gut in Ostpreußen zu erfahren. Natürlich erfolgte zunächst die Frage, was ihn dazu veranlasse.
»Ach, da hat ein Verwandter ein Gut gekauft und ich möchte gern wissen, ob er sich nicht bekauft hat.«
»Wie heißt denn das Gut?« fragte der Kollege. »Ich bin doch Jahre lang in Ostpreußen gewesen und kann es Ihnen vielleicht sagen. Berschkallen? Hm, soviel ich mich erinnere, ja warten Sie mal, das gehört ja einem Herrn von Rosen.«
»Das stimmt, er ist gestorben.«
»Na, ganz jung ist er wohl nicht mehr gewesen, ob er aber von dem Gut viel übrig gelassen hat, ist eine andere Frage. Das war schon damals ein doller Heiland, aber das Gut ist, soviel ich mich erinnere, sehr stattlich. Ich möchte fast sagen, es ist selbst für ostpreußische Begriffe recht groß. Warten Sie mal, tausend ja, nun seien Sie mal offen, die Frau von Rosen war ja eine geborene von Berg. Sollte das nicht eine Verwandte von Ihnen sein?«
»Stimmt auffallend, lieber Herr Kollege. Ich erzähle Ihnen morgen Näheres darüber, was mich zu der Frage veranlasst hat.«
Es waren doch sehr, gemischte Gefühle, mit denen Kurt von Berg in Berlin den Zug bestieg, um nach Ostpreußen zu fahren. Seine Vorstellungen über Land und Leute an der russischen Grenze waren ungefähr dieselben, wie die aller Gebildeten. Litauer und Masuren stellte er sich als halbwilde Völkerschaften vor, etwa auf demselben Kulturzustand, wie den russischen Bauer, dessen Lebensinhalt darin besteht, dass er alles, was er einnimmt, möglichst schnell in Schnaps umsetzt.
Er hatte vor kurzem Gustav Freytags Soll und Haben gelesen und der Eindruck, den Anton Wohlfahrt seinerzeit von dem Landvolk in Polen erhalten hatte, drängte sich ihm ins Gedächtnis.
Er fuhr die Nacht hindurch und schlief bis Königsberg. Als er nach einer halben Stunde Aufenthalt weiterfuhr, am Pregel entlang nach Ostpreußen hinein, und von dem Fenster des Speisewagens beim Frühstücken die weite, flache Landschaft sah, auf der sich langgestreckte Flächen grüner Wintersaaten bis an den von Wald umrankten Horizont erstreckten, gewann er bald einen anderen Eindruck. Stattliche Gutsgehöfte, große freundliche Dörfer, Häuser, Scheunen und Ställe von Ziegeln erbaut und rot eingedeckt, lachten ihn aus dem Grün der Obstgärten an. Hin und wieder sah er ein Fuhrwerk mit stolzen, schönen Pferden, die vom Zug erschreckt kaum zu bändigen waren.
In Insterburg hatte er zwei Stunden Aufenthalt, die er dazu benutzte, einen Gang durch die Stadt zu tun. Er fand einen ansehnlichen Ort mit sauberen breiten Straßen, auf denen eine elektrische Bahn verkehrte, mit einem lebhaften Verkehr und zahlreichen Läden, deren Auslagen in den Schaufenstern auf eine sehr wohlhabende Umgegend schließen ließen. Von dort führte ihn die Bimmelbahn durch große Wälder, deren Bestand ihm Bewunderung abnötigte. Bald waren es dicke Kiefern und Eichen, bald stattliche Eichen und Buchen, die an seinem Blick vorüberflogen.
Dazwischen wieder Gutshöfe und langgestreckte Dörfer. Und der Zug hielt so oft auf kleinen Stationen, dass er sich auch einen Begriff von der Landbevölkerung machen konnte. Männer und Frauen unterschieden sich durch nichts von den Menschen, denen er in der Mark begegnet war.
Er hatte, als er seinen Entschluss gefasst und Urlaub erhalten hatte, an Tante Christine einen nicht gerade sehr langen Brief geschrieben, in dem er sich für die Unterstützungen, die er von ihr erhalten, bedankte und seine Ankunft meldete. Tag und Stunde seines Eintreffens hatte er der Gutsverwaltung telegrafisch angezeigt.
Der Zug hielt. Auf dem Bahnsteig stand ein alter Diener in Livree, der ohne zu fragen auf ihn zu kam, seinen Namen Jons nannte und ihm Handtasche und Geigenkasten abnahm. Gleichzeitig brachte auch schon der Bahnhofsvorsteher, an seiner roten Mütze kenntlich, dienstbeflissen den Koffer angetragen, den er aufgegeben hatte.
Von Jons geführt, schritt er um das Bahnhofsgebäude herum. Da stand ein leichter Jagdwagen mit zwei Braunen bespannt, deren Wert und Schönheit auch seinem ungeübten Auge auffiel. Ein Kutscher, den ein eisgrauer Vollbart zierte, griff grüßend an den betressten Zylinder, dessen Silberborte mit schwarzem Flor bedeckt war. Der Diener nahm vom Wagen einen geräumigen Reisepelz und hielt ihn ihm zum Einschlüpfen bereit.
»Hat der gnädige Herr noch Gepäck?«
Kurt schämte sich, als er diese Frage verneinen musste. Die Pferde zogen langsam an, dann ging es in schlankem Trab durch ein großes Dorf, dessen Einwohner alle vor den Türen standen und ihn respektvoll begrüßten.
Sie waren augenscheinlich alle von seiner Ankunft unterrichtet.
Im Vorbeifahren hatte er auf einer Tafel gelesen: Adlig Rittergut Berschkallen. Das waren also schon seine Leute, wie er lächelnd denken musste.
Dann bog der Wagen in einen von mannshoher Mauer umzogenen Park, und wenige Minuten später rasselten die Räder auf der gepflasterten Rampe eines zweistöckigen, schmucklosen, aber sehr ansehnlichen Gebäudes.
Ein Mädchen trat aus der Tür und knickste freundlich lächelnd, als er an ihr vorüber ins Haus trat. Eigenartige Gefühle waren es, die ihn beschlichen, als er, von dem Mädchen geführt, durch die Zimmer schritt.
Zuerst ein großes Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Geldspind und mindestens einem halben Dutzend schwerer Ledersessel. Dahinter ein kleines Eckzimmer, in dessen Kamin ein helles Feuer loderte. Daneben sein Schlafzimmer, mit solider Behaglichkeit eingerichtet. Alles, was er sah, machte den Eindruck alten gefestigten Reichtums. Eine kleine Klitsche war es sicherlich nicht, die ihm das Schicksal in den Schoß werfen wollte, sondern ein großer, reicher Herrensitz.
Sein ganzes Innere geriet in Aufruhr, als der Gedanke auf ihn einstürmte, dass er von Stund’ an über ein Stück Erde schreiten sollte, das ihm gehörte, oder aller Wahrscheinlichkeit nach gehören würde, und aus diesem Gedanken erwuchs der feste Vorsatz, den Besitz zu gewinnen und festzuhalten.
Kurt musste sich förmlich zusammenrucken, als der alte Diener mit seinem Koffer eintrat und ihn fragte, ob er dem gnädigen Herrn ein Bad bereiten sollte ... wie es der gnädige Herr haben wollte, heiß oder lauwarm. Es fiel Kurt auf, dass der alte Mann ihn nicht Herr Assessor, sondern gnädiger Herr ansprach. Hatte die Tante ihn bereits dem Dienstpersonal gegenüber in diese Würde eingesetzt? Ganz mechanisch reichte er Jons den Kofferschlüssel und trat vor den Spiegelschrank, um einen Blick hineinzutun. Es kam ihm vor, als müsste er in diesem Moment ganz anders aussehen als sonst, wenn er um diese Zeit, manchmal noch mit einem Aktenstück unter dem Arm, durch die stillen Gassen des märkischen Städtchens zum Amtsgericht wanderte. Fast schien es ihm wunderbar, dass er keinen Unterschied entdecken konnte.
Vorerst musste er sich daran gewöhnen, dass der alte Mann ihn wie einen kleinen Jungen bediente. Er half ihm beim Auskleiden, dann verschwand er durch eine Tapetentür im Badezimmer und stellte das Wasser ab, das die Wanne bereits gefüllt hatte.
Zu gern hätte Kurt mit dem alten Diener, der sicherlich doch mit dem Hause verwachsen war, ein Gespräch angeknüpft, um ihn nach allem Möglichen zu fragen. Er unterließ es jedoch, um sich nicht eine Blöße zu geben und zu zeigen, wie wenig er von dem Hause wusste, in das ihn sein Schicksal geführt hatte. Beim Ankleiden trank er eine Tasse Kaffee und ein Gläschen Benediktiner, wobei er die Entdeckung machte, dass ein Wandschrank des Zimmers eine ganze Anzahl verschieden geformter Flaschen barg.
»Kann ich jetzt meine Tante sprechen?«
»Die gnädige Frau lässt bitten.«
Über die mit Jagdtrophäen geschmückte Diele, durch ein saalartiges Esszimmer, führte ihn Jons nach dem anderen Flügel des Schlosses, wie das Herrschaftshaus von den Leuten genannt wurde. Eine seine Nerven erregende Spannung überkam ihn auf dem kurzen Gange.
Nun öffnete Jons vor ihm leise die Tür, um ihn hindurch zu lassen und sie hinter ihm zu schließen. Überrascht blieb er auf der Schwelle stehen. Das Bild, das sich seinen Augen bot, machte einen tiefen Eindruck auf ihn.
In einem Fahrstuhl saß eine stattliche alte Dame. Das frische Gesicht von einer Fülle weißer Haare umrahmt, die noch kein Häubchen duldeten. Von dem Gesicht, das noch jetzt schön genannt werden musste, strahlte ihm eine herzgewinnende Freundlichkeit und eine Freudigkeit entgegen, dass er mit schnellen Schriften auf sie zu eilte und sich über die beiden Hände beugte, die sich ihm entgegenstreckten.
»Tante Christine!«
Seine Stimme hatte den aus tiefer Brust kommenden Herzenslaut gefunden.
»Mein lieber Junge,« sagte die alte Dame leise, und ihre Hand fuhr sanft über sein volles Haar. Ihre Augen, aus denen helle Freude leuchtete, verrieten nicht im Geringsten, dass sie nichts mehr wahrnahmen, als einen dunklen Schatten. Schnell holte er einen Stuhl und setzte sich neben sie. Tante Christine fasste seine Hand und hielt sie fest.
»Ich danke dir, dass du gekommen bist ... Ist dir der Entschluss schwer gefallen?«
Mit einem aufrichtigen Lachen antwortete er:
»Ja, Tante, es ist mir nicht ganz leicht geworden.«
»Du hast wohl erwartet, eine alte, verbitterte, griesgrämige Frau zu finden, die dich unter ihre Fuchtel nehmen würde?«
»Griesgrämig und verbittert? Nein, Tante, ich hatte doch schon genug Beweise des Gegenteils. Offen gesagt, ich habe mich nur vor der ländlichen Einsamkeit gefürchtet. Sieh mal, ich bin in der Stadt aufgewachsen und nie aufs Land hinausgekommen.«
»Mein lieber Kurt, wer hinreichend Arbeit hat, kennt Einsamkeit und Langeweile nicht.«
Ihre Stimme war bei diesen Worten ernst geworden, dann zog aber wieder ein mildes Lächeln über ihr Gesicht.
»Du brauchst aber auch hier die Freuden der Geselligkeit nicht zu vermissen. Du findest junge lebensfrohe Nachbarn. Du hast auf Berschkallen selbst eine sehr gute Jagd. Du wirst überall zur Jagd eingeladen.«
»Ach, Tante, ich habe noch kein Gewehr in der Hand gehabt, und zuerst und vor allen Dingen muss ich doch die Landwirtschaft lernen.«
»Willst du es wirklich?«
»Ja, Tante, das ist mein fester Entschluss, und ich will mir Mühe geben. Ich will mich doch nicht hier als Drohne füttern lassen.«
»Nein, mein Junge, die Absicht hatte ich allerdings nicht. Aber stell’ dir deine Aufgabe nicht zu schwer vor. Mein alter Oberinspektor Grundmoser ist ein treuer und sehr zuverlässiger Mensch, der dich ganz allmählich in deinen Beruf einführen wird.«
Kurt nickte eifrig.
»Du behältst natürlich die Leitung in der Hand und bestimmst, was ich zuerst lernen soll ... die Viehzucht, oder?«
Er sah, wie Tante Christine über seinen Eifer lächelte und hielt inne.