Der Moment zwischen dem Hier und dem Jetzt - Karolin Reißmann - E-Book

Der Moment zwischen dem Hier und dem Jetzt E-Book

Karolin Reißmann

4,8

Beschreibung

Paula ist ledig, jung und vor allem gehetzt. In ihrem Job als Inhaberin einer Ideenagentur wird sie täglich von Terminen durchs Leben gejagt. Ein Brief, ein Geschenk und eine Party nehmen sie mit auf eine humorvolle und berührende Reise. Gemeinsam mit Pepe, ihrem geliebten Großvater, entdeckt sie zwischen Vergangenheit und Zukunft die Schönheit ihres Lebens wieder.

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Inhalt

Der Beginn

Aufbruch zu Pepe

Überraschung

Anton

Luisa

Flunker

Matti

Tom

Odette

Pepe

Der Tag danach

Alles neu

1. Der Beginn

„Da ist ein Land der Lebenden und da ist ein Land der Toten; als Brücke dazwischen ist unsere Liebe, sagte einst der Schriftsteller Thornton Wilder. Unser Vater, Großvater und Bruder Anton hat mit vielen bewegenden Momenten und berührenden Begegnungen dafür gesorgt, dass diese Brücke auf unserem weiteren Weg einen Ort bildet, den wir gerne immer wieder mit unseren Erinnerungen besuchen werden. Damit wird er jederzeit ein Teil von uns bleiben.“

Meine Klamotten sind klatschnass, der Matsch hat sich bereits seinen Weg in meine Schuhe gebahnt und so stehe ich frierend am Grab von Herrn Himmel. In die letzte Reihe habe ich mich gestellt, um Gesprächen und trauernden Gesichtern so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen und nie habe ich so viel sentimentales Zeug gehört. Wie auch, es ist erst die zweite Beerdigung, der ich beiwohnen muss. Trotzdem stelle ich mir die Frage, ob er wirklich so ein guter Mensch war oder ob über Tote prinzipiell nur in den höchsten Tönen gesprochen wird, weil es sich eben so gehört? Wenn er wirklich so toll war, hätte ich ihn doch in den letzten 8 Jahren irgendwann einmal ein wenig mehr wahrgenommen als nur aus dem Augenwinkel. Dass Herr Himmel überhaupt schon so lange in der Firma als Hausmeister tätig war, habe ich heute Vormittag noch schnell in seiner Personalakte gelesen. Ist ja aber auch nicht weiter verwunderlich, so viel wie ich in den letzten Jahren gearbeitet habe, versuche ich mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Anscheinend glaube ich, das sei ein guter Grund, den ich nur zu gern dafür benutze, um mich bei mir und meinem Umfeld aus der Verantwortung zu stehlen. Deshalb musste Karla, meine Assistentin mich auch mindestens dreimal an diesen Termin erinnern. Seltsam, dass mir das gerade jetzt in so einem Moment derart bewusstwird.

Ach scheiße, wie lange dauert das denn noch? Meine Füße sind schon total nass und der Mantel muss dann wohl auch in die Reinigung. Apropos, vielleicht sollte ich mir, jetzt wo Oliver ausgezogen ist, eine Haushaltshilfe holen, die solche Dinge übernehmen kann. Ich kann mich nicht auch noch um solche Kleinigkeiten kümmern. Dass Oliver so ein ganz anderes Leben neben mir führte, war für mich ganz praktisch. Er der große Autor, für den das Leben ein großer Spaß zu sein schien, der von zu Hause aus arbeiten und seine Tage frei einteilen konnte und der sich kein bisschen widerwillig dazu herabließ, sich auch um den ganzen Kram zu Hause kümmern, für den ich weder Zeit noch Kopf hatte. Nie hatte ich eines seiner Bücher gelesen, obwohl ihm sicher viel daran gelegen hätte. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was jemand zu sagen haben könnte, der hauptsächlich neben mir her lebte, obwohl sich sein Erfolg völlig gegen meine Einstellung dazu stellte. Verkehrte Welt auf witzige Weise. Nur war ich die Einzige, die das einigermaßen lustig fand.

Ein piepsiges „Hallo?“ mit zupfendem Griff an der Manteltasche reißt mich aus meinen Gedanken.

„Hallo, wer bist du denn“, frage ich nach unten, in verheulte Augen, schauend.

„Mein Name ist Jan und mein Opa hat gesagt, ich soll dir das hier geben“, sagt der kleine Wuschelkopf und hält mir einen Umschlag mit meinem Namen hin. Paula Jansen steht da in schnörkeliger Schrift geschrieben.

„Woher weißt du denn, dass ich das bin?“

„Du bist die Chefin von meinem Opa. Ich habe dich schon ganz oft gesehen, wenn er mich mit zur Arbeit genommen hat. In deinem Büro steht so ein schöner roter Jaguar, aber ich durfte nie damit spielen. Opa sagte, du magst das nicht, wenn jemand deine Sachen nimmt und dass du auch nicht damit spielst, weil du keine Zeit hast. Dabei ist das sehr schade, das Auto ist doch so schön!“

Damit dreht er sich um und rennt durch den matschigen Rasen wieder zu seiner Mutter, der ich kurz zunicke während ich den Brief einstecke. Die Rednerin ist fertig und ich überlege kurz, ob ich mich auch in die lange Schlange der Kondolierenden einreihen soll, um den Trauernden einmal mehr die Hand zu schütteln. Ich beschließe jedoch, uns allen mein unsicheres Gestammel zu ersparen, nach Hause zu fahren und zu duschen. Damit ist wenigstens mir geholfen. Auf dem Weg nach Hause frage ich mich, was ich dort eigentlich will, schließlich gibt es in der Firma wirklich genug zu tun. Als die Ampel nach einer endlosen Rotphase dann endlich auf grün wechselt, trete ich ordentlich aufs Gas damit ich von der Geradeausspur noch vor dem ersten Auto auf die Linksabbiegerspur komme. Der Fahrer des Wagens hinter mir hupt aufgeregt und schüttelt verständnislos mit dem Kopf. Ich schaue ihn mit aufgesetztem Lächeln an und erkläre ihm, durch die geschlossenen Fensterscheiben beider Fahrzeuge, was es heißt Rücksicht zu nehmen und freundlich zu sein. In der Firma angekommen, laufe ich durch die Empfangshalle, die heute merkwürdig kahl wirkt, zum Aufzug. Dieser bringt gerade einige feierabendlustige Mitarbeiter nach unten. Mit einem mehr als auffälligen Blick auf die Uhr sage ich freundlich, aber vorwurfsvoll: „Guten Abend die Herren, gibt es heute keine Termine mehr?“

„Es ist 17:30 Uhr, der einzige Termin, den ich heute noch habe, findet mit meiner Tochter statt. Möglicherweise wirkt das für Sie fremd, aber es gibt tatsächlich Menschen mit einem Privatleben“, antwortet einer davon in einem sehr unfreundlichen Ton.

„Fremd nicht, aber da muss halt jeder für sich selbst die richtigen Prioritäten setzen“, antworte ich ein bisschen verärgert und mit dem Gedanken, dass jetzt wahrscheinlich alle die Gunst der Stunde genutzt haben, weil keiner damit gerechnet hat, dass ich heute hier noch mal auftauche. Karla ist auch schon am Zusammenpacken als ich ihr Büro betrete. „Gehst du schon“, will ich wissen.

„Wonach sieht es denn aus?“

„Was ist denn heute nur los, alle machen früh Feierabend und werden dann auch noch patzig, wenn man sie darauf anspricht“, frage ich ein wenig verunsichert.

„Paula, es ist kurz nach halb 6, nicht jeder fängt erst 9:00 Uhr an mit der Arbeit und letztendlich haben alle eine bestimmte Anzahl an Stunden im Vertrag stehen, die sie mehr als erfüllen. Ich weiß, du hörst das nicht gern, aber es gibt für die meisten hier auch noch ein Leben nach der Arbeit und dorthin gehe ich jetzt.“

Seltsam wie Karla mit mir redet. Sie ist sonst immer sehr darauf bedacht, nichts Falsches zu sagen, aber heute so ungewöhnlich offen.

Ich kommentiere diesen Gefühlsausbruch mit einem „Ok“ und frage weiter: „und was war heute unten am Empfang los? Der schien so leer zu sein, obwohl gerade sehr viel los war, als ich zum Aufzug lief. Habt ihr dort etwas verändert?“

„Möglicherweise liegt es daran, dass Anton nicht mehr da ist. Er war das Lächeln und die Herzlichkeit dieses Ladens. Wie war eigentlich die Beisetzung?“

„Und ich dachte, dafür hätten wir die Dame unten am Tresen stehen. Wofür ist sie denn dann da? Sowas! Naja, wie Beerdigungen nun mal so sind, oder? Besonders schön war es nicht!“

„Vielleicht liegt das daran, dass Astrid gar keine Zeit zum Lächeln hat, weil sie mit all Ihren Aufgaben auch so schon genug zu leisten hat. Wie du sprichst Paula - als wärst du von einem anderen Stern, auf dem es außer dir keine anderen Lebewesen gibt. Ich wäre gern zur Beerdigung gegangen und hätte mich verabschieden wollen.“

„Meinst du das ernst“, frage ich ein wenig betroffen.

„Natürlich, besonders menschlich ist dein Verhalten oft nicht und irgendwer muss es dir ja mal sagen. “

„Mhm ok! Ja, dann…“

Mir fehlen die Worte, deshalb gehe ich langsam weiter in mein Büro.

„Machs gut, Paula“, ruft Karla mir hinterher und schaltet das Licht in ihrem Büro aus.

Ich checke meinen Kalender für die nächsten Tage und beschließe jetzt doch auch nach Hause zu fahren. Alleine kann ich heute hier sowieso nicht mehr viel bewegen und mal davon abgesehen, war dieser Tag auch anstrengend.

Frisch geduscht und besser gelaunt, weil mein Kaffee so herrlich duftet, fällt mein Blick auf den Umschlag, welcher aus meiner Manteltasche an der Garderobe blitzt. Eigentlich habe ich gerade überhaupt keinen Kopf für so einen Kram. Oliver ist weg, in der Firma geht es drunter und drüber, alles bleibt irgendwie an mir hängen. Was soll mir außerdem ein fremder, toter Mann zu sagen haben? Schon während ich diesen letzten Satz denke, beginnt mein Herz vor Aufregung zu klopfen. Es ist seltsam, aber jeder einzelne Schlag fühlt sich an, als würde das Leben anklopfen und ich fühle, dass ich es reinlassen muss. Mit Kaffee, Zigarette und zittrigen Händen setze ich mich und beginne zu lesen...

„Liebe Paula,

ich darf Sie doch Paula nennen? Nun ja, wenn nicht, mach ich es einfach trotzdem. Was sollten Sie auch dagegen tun?!

Mein Tod kam für mich nicht besonders plötzlich. Da für Sie aber vermutlich schon meine Existenz eine Überraschung sein dürfte, möchte ich Sie gar nicht mit Details langweilen und komme direkt zum Wesentlichen. Ich bin, beziehungsweise war, ein sehr guter Freund ihres Großvaters. Wir standen uns bis zum heutigen Tag immer sehr nah und in engem Kontakt. Als klar war, dass Sie die Firma übernehmen, bat er mich, ein Auge auf Sie zu haben. Kein kontrollierendes Auge, eher ein liebevolles. Sie müssen wissen, Pepe war immer sehr stolz auf Sie und ihren beruflichen Erfolg. Wenn wir miteinander sprachen, war seine wichtigste Frage aber immer: Ist das Mädchen glücklich? Darauf konnte ich mit gutem Gewissen nie eine positive Antwort geben. Mein Eindruck war viel mehr, Sie führen ein sehr schnelles Leben, was ganz sicher der Beruf mit sich bringt. Den Trends folgend und neue Ideen suchend, standen Sie immer unter Strom und haben von Ihrer Umwelt nicht besonders viel wahrgenommen. Oft habe ich mich gefragt, ob ein Privatleben für Sie überhaupt existiert. Natürlich ist das nur mein persönliches Empfinden, aber vielleicht könnten Sie sich einen Moment Zeit nehmen und sich die Frage selbst beantworten. Sind Sie glücklich? Und wenn Sie schon dabei sind, Zeit zu investieren, könnten Sie doch auch Pepe mal wieder besuchen. Das würde ihn nämlich wiederum sehr glücklich machen.

Wenn ich Ihnen eines sagen darf Paula, ich hatte ein langes und zufriedenes Leben. Einige meiner Freunde mussten jedoch schon vor mir gehen, oft auch ganz plötzlich und immer wieder wurde ich daran erinnert, wie wertvoll die Zeit mit jenen ist, die man liebt. Schenken Sie sich und Pepe ein wenig mehr davon.

Herzlichst Anton

P.S. Im Vorfeld schon mal alles erdenklich Gute zum Geburtstag. Ich weiß, das macht man nicht, aber in Anbetracht der Tatsache, dass ich tot bin, ist mir Etikette ziemlich egal.“

„Ob ich glücklich bin? Natürlich bin ich glücklich!“ sage ich in einer Lautstärke, dass auch Anton, wo auch immer er jetzt ist, diese Worte hören sollte. Ich stehe auf und laufe zu dem großen Spiegel im Flur, als würde es mich in meiner Aussage bestärken, wenn ich mich dabei ansehe und wiederhole,