Der Nachlass - Werner Hetzschold - E-Book

Der Nachlass E-Book

Werner Hetzschold

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Beschreibung

Nikolai sitzt allein in der Wohnung von Großvater Thomas Boronsky, wie dieser noch wenige Tage zuvor. Völlig unerwartet hat der Großvater sich verabschiedet, nachdem er dem Enkel immer wieder mitgeteilt hatte, wo er was zu suchen hat. Nur den Enkel weihte der Alte ein. Nur er allein sollte wissen, wo was zu finden ist. Nikolai liest. Ihm öffnet sich eine Welt, die ihm unbekannt ist. Den Menschen, über die sein Großvater Thomas Boronsky schreibt, ist er, Nikolai Boronsky, nie persönlich begegnet. Es war eine völlig andere Zeit, es waren völlig andere Menschen. Damals. Zu keinem der Menschen, die in den Heftern des Großvaters als Figuren auftauchen, hat er irgendeine Beziehung. Er kennt sie nicht, weiß nicht, was sie gedacht und gefühlt haben, wohin sie in ihrem Leben gegangen sind und wo sie verstorben sind. Fremde, Unbekannte sind sie für ihn. Nikolai erlebt immer die Geschichte in Form von Geschichten. Schicksale sind individuell erlebtes Sein, sind der Stoff für Dichtung, für Literatur.

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Seitenzahl: 555

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Werner Hetzschold

Der Nachlass

Aus den Aufzeichnungen meines Großvaters

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Erster Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

1

2

3

4

5

6

Zweiter Teil

Impressum neobooks

Erster Teil

Impressum

©HeRaS Verlag, Rainer Schulz, Berlin 2020

www.herasverlag.de

Layout Buchdeckel Rainer Schulz

1

Der Großvater hatte Nikolai gebeten, dass er den Nachlass regelt, wenn es so weit ist. Nikolai hatte zugestimmt. Nur zu gut war ihm das gespannte Verhältnis seines Vaters Andreas mit dem Großvater bekannt. In den Augen des Vaters war der Großvater Thomas zeit seines Lebens ein Eigenbrötler gewesen, der nie hätte heiraten sollen oder gar für eine Familie hätte verantwortlich sein müssen. Und nach dem Tod der Großmutter hatte sich der Großvater völlig zurückgezogen, wollte keinen aus der Sippe mehr sehen. Lediglich der Enkel Nikolai bildete eine Ausnahme. Warum? Auf diese Frage wusste niemand eine Antwort. Der Großvater hatte auch seinen Enkel Nikolai als Universalerben eingesetzt. Niemand aus der Sippe war darüber erstaunt. Keiner war darüber böse. Was konnte schon der Alte vererben? Außer Unmengen von Büchern, die keiner lesen wollte, von Nikolai vielleicht einmal abgesehen. Er ähnelte sehr seinem Großvater, und Vater Andreas bereitete diese Entwicklung ernsthafte Sorgen. Er war glücklich darüber, dass der Sohn auf Lehramt studierte und nicht ein Studium aufgenommen hatte, dass keine Zukunft bot, weil der erworbene Abschluss ohne praktischen Nutzen war. Andreas war ein Pragmatiker, stand mit beiden Beinen fest im Leben, war promovierter Ingenieur und verdiente gutes Geld.

Nun war der Großvater gestorben. Andreas fühlte sich erleichtert. Auch dessen Geschwister. Als der Großvater unter der Erde war, fühlten sich dessen Kinder alle erleichtert. Sie hatten schon befürchtet, dass ihr Vater eines Tages in ein Pflegeheim umziehen müsste und hatten Angst, wie sie diesen gravierenden Einschnitt dem Alten beibringen sollten. Jeder der Kinder versuchte diesen Gedanken zu verdrängen. Jeder schob dem anderen den schwarzen Peter zu, versprach, sich finanziell an dieser Zäsur zu beteiligen. Nur sollte eben alles anders kommen. Der Alte war in seinen Nikolai vernarrt, und alle anderen waren darüber froh, bis auf Andreas. Er vertrat die Ansicht, dass seinem Sohn der Umgang mit dem Alten nicht gut täte, dass der Alte ihn zu sehr beeinflussen könnte, nur konnte er dagegen nichts tun. Der Sohn war alt genug, um selbst alle Entscheidungen treffen zu können.

Nikolai sitzt allein in der Wohnung von Großvater Thomas Boronsky, wie dieser noch wenige Tage zuvor. Völlig unerwartet hatte der Großvater sich verabschiedet, nachdem er dem Enkel immer wieder mitgeteilt hatte, wo er was zu suchen hat. Nur den Enkel weihte der Alte ein. Nur er allein sollte wissen, wo was zu finden ist. Zeit Lebens hatte der Alte allem und jedem misstraut. Er war immer ein Fremder geblieben, ganz gleich, wo er gelebt hatte auf diesem Planeten. Nie hatte er irgendeinem Menschen erlaubt, sich Zugang in sein Inneres zu verschaffen, nicht einmal seiner geliebten Frau. Sie war pragmatisch gewesen. Zum Glück hatten die Kinder ihre Gene geerbt und nicht die ihres Vaters.

Nikolai denkt nach. Reichlich Zeit hat er, um die Wohnung aufzulösen. Der Großvater hat an alles gedacht. Den Nachlass prüfen und eine Auswahl treffen, nimmt Zeit in Anspruch. Der Enkel sichtet die Papiere. Er ist vor Tagen schon auf Aktenordner gestoßen, die ihn interessieren, weil sie Manuskripte enthalten, die der Großvater mit Hilfe des Computers erstellt hat. Niemand kennt diese Manuskripte, ahnt ihre Existenz. Großvater, der alles Alte sammelte, war vom Neuen begeistert, wenn es für ihn von Nutzen war. Und eine solche nützliche Erfindung war der Computer. Er hatte schon früh seine Schreibmaschine gegen einen Computer eingetauscht. Nikolai öffnet den Aktendeckel, liest:

Thomas schlägt die Augen auf. Er liegt in seinem Bett, das neben dem Bett seiner Mutter steht. Zwischen dem Bett seiner Mutter und dem seiner Schwester Gisela befindet sich ein schmaler Gang. Neben dem Bett seiner Schwester befindet sich eine weiß getünchte Wand mit einem blassgelben Blumenmuster. Der kleine Junge lässt seine Augen durch das Zimmer wandern. Sie verweilen bei dem Bild über dem Bett seiner Schwester. Das Bild gefällt Thomas, weil das Mädchen auf dem Bild ihm gefällt. Das Mädchen hat große, dunkle Augen, die zugleich traurig und schön sind. In den Händen hält das Mädchen einen Strauß bunter Sommerblumen, die Thomas auf den Feldern gesehen hat, bevor diese abgeerntet werden. Weiter wandern seine Augen zu den großen, schweren Schränken, die sehr alt sein müssen. In dem Holz sind winzig kleine Löcher, auch hat es viele Schrammen und Kratzer. Diese Schränke bergen viele Geheimnisse. Aus ihren Schlössern sind die Schlüssel entfernt worden. Fest verschlossen sind die Türen. Auf den Schränken stapeln sich die Kartons, unter den Schränken und Betten verstauben sie. Auch in den Kartons werden Geheimnisse aufbewahrt. Vater und Mutter haben verboten, sie zu öffnen. Seine Augen setzen ihre Reise fort, wandern zum Fenster, zum kleinen Schrank, der früher einmal ein Waschtisch gewesen sein soll. Jetzt beherbergt er Eimer und Wischtücher. Auf seiner kleinen Tischplatte breitet sich das Paradies aus. Dort soll es viele Pflanzen und Blumen geben, sagen die Eltern. Und auch viele Tiere!

Auch Mäuse?!

Auch Mäuse. Das hatten die Eltern gesagt, jedes Mal, wenn sie Thomas nach dem Paradies befragte.

Seither weiß Thomas, dass er im Paradies lebt.

„Jetzt musst du aber aufstehen! Die Sonne scheint, und du liegst im Bett und träumst vor dich hin!“ Die Stimme der Mutter klingt gar nicht freundlich.

„Ich muss erst um elf in der Schule sein!“, verteidigt sich Thomas.

„Deine große Schwester kommt aber heute. Da muss ich Ordnung machen und Giselas Bett frisch beziehen.“

Selbst die Mutter ist überrascht, wie schnell ihr Thomas aus dem Bett huscht. Sie versteht ihren Jungen nicht, dass er so schnell das Feld räumt. Der Junge muss doch wissen, dass er nun zwischen ihr und Gisela auf der Besucherritze schlafen muss.

Auch Thomas weiß es.

Die Besucherritze bilden die beiden Längsseiten der Bettgestelle, die sich berühren. Die Mutter breitet darüber Decken, damit ihr Junge nicht die Kanten zu spüren bekommt.

Wieder ist die Familie vereint. Vater und Mutter sitzen an einem gemeinsamen Tisch. Helga ist zur Familie zurückgekehrt, wenn auch nur für ein paar Tage. Thomas weiß nicht, wie lange sie bleiben wird. Er fragt auch nicht. Er ist zufrieden, dass alle an einem Tisch sitzen, auch wenn es nicht der Tisch zu Hause ist. Die Familie sitzt in einem Café, das eine Tradition hat. Corso heißt das Café und befindet sich im Zentrum der Stadt Leipzig. Thomas wird nie seinen Namen vergessen. Thomas darf wählen.

„Mein Junge, ich denke, dass das, was du jetzt auf deinem Teller hast, mehr als genug ist.“ Energisch hört sich die Stimme der Mutter an.

„Ich denke, ich darf bestellen, was ich will!“ Thomas ist von den vielen Torten fasziniert.

„Du darfst bestellen, was du isst!“

Thomas ist vorsichtig, wenn seine große Schwester etwas sagt. Er ahnt, jetzt hat sie das Sagen.

„Ich schaffe das alles! Und noch mehr!“, verteidigt er sich.

„Du wirst Bauchweh bekommen.“ Seine Mutter sieht gar nicht glücklich aus.

„Der Junge soll wachsen. Da muss er was im Bauch haben!“ Der Vater lacht.

„Ich denke, das reicht erst einmal für den kleinen Herrn.“

Thomas weiß nicht, was er sagen soll. Die Dame am Buffet lächelt wie seine Lehrerin, wenn er etwas nicht weiß.

„Ich schaffe es aber. Und noch mehr!“ hört sich Thomas sagen.

„Dann soll er das Stück auch noch nehmen!“ Jetzt hat Helgas Stimme große Ähnlichkeit mit der seiner Großmutter. Großmutter sagt auch immer zu seinem Papa, dass er dankbar sein muss.

„Du bist ein richtiger Fresser! Nie kannst du genug bekommen. Immer musst du den Hals voll haben.“ Die Stimme der Mutter klingt hilflos traurig.

Giselas Hunger ist viel bescheidener. Ihr werden die Tortenstücke angeboten, und sie kann sich nicht entscheiden. Helga entscheidet für sie. Vater und Mutter sind zufrieden.

Kaffee und Kinderkaffee und die Teller mit den Torten und Kuchen werden serviert. Gemeinsam isst und trinkt die Familie. Alle sind glücklich.

Während Helga die Rechnung bezahlt, sagt stolz der Vater: „Ich habe es ja gewusst, er schafft es!“

Erich nennen alle im Haus den Untermieter von Frau Schlundt. Die Kinder rufen Onkel Erich, sobald sie ihn erblicken. Onkel Erich sieht viel jünger aus als Frau Schlundt. Auch Thomas ist das aufgefallen, obwohl er sich überhaupt nicht für Frau Schlundt interessiert. Während seine Mutter in der Küche bügelt, hockt er am Fenster und beobachtet Frau Schlundt, wie sie Kinder von den Rasenflächen vor den Häusern vertreibt.

„Mama, da draußen auf der Wiese ist die Frau Schlundt. Ihr Gesicht ist rot vom vielen Schreien.“

„Wenn sie Kinder hätte, würde sie weniger schreien.“ Seine Mutter blickt nicht einmal von ihrer Arbeit auf.

„Mama, warum hat die Frau Schlundt keine Kinder? Sie ist doch nicht immer alt gewesen.“

„Lass das nie Frau Schlundt hören. Ich habe schon genug Ärger.“

„Aber das stimmt doch, dass Onkel Erich viel jünger als sie ist. Wieso ist er bei ihr?“

Seine Mutter hält kurz inne. Thomas weiß, sie muss jetzt überlegen.

„Weißt du“, sagt seine Mutter, „das verstehst du nicht. Da bist du noch zu klein dazu.“

„Soll ich die Frau Schlundt fragen? Manchmal ist sie auch freundlich.“

„Untersteh dich!“ Seine Mutter legt das Bügeleisen beiseite, dann sagt sie: „Du darfst aber mit niemandem darüber sprechen. Versprichst du mir das?“

„Ich werde niemandem nichts sagen“, verspricht Thomas.

„Frau Schlundt hat ihren Mann im Kriege verloren. Er ist nicht wieder nach Hause gekommen.“

„Wo ist er denn geblieben, Mama?“

„Er ist vermisst. Wie dein Onkel! Niemand weiß, wo er abgeblieben ist.“

„Dann kann er ja noch leben. Er kann aber auch tot sein.“

„Beides ist möglich.“

„Und weil ihr Mann nicht nach Hause gefunden hat, hat sie den Onkel Erich genommen?“

„Genauso ist es! Sie hat ihm sogar die Hemden, Hosen und Anzüge ihres Mannes gegeben. Und ihr Mann hat viele Anzüge gehabt. Schließlich hat er auf einer Bank gearbeitet. Da muss man Anzug tragen. Zumindest hat das Frau Schlundt gesagt. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Ist mir auch egal. Aber behalte es für dich, mein Junge. Die Leute reden schon so viel genug.“

„Mama, jetzt weiß ich, warum die Anzüge dem Onkel Erich nicht passen. Es sind ja nicht seine Anzüge. Und ich habe mich immer gewundert, warum sie so an ihm herum schlampern. - Mama, ich habe noch eine Frage. Warum kauft sich der Onkel Erich seine Anzüge nicht selbst? Hat er kein Geld?“

Die Mutter zögert mit der Antwort. Thomas weiß, seine Mutter überlegt.

„Der Untermieter von Frau Schlundt ist ein Heimkehrer. Die Leute sagen, er kommt aus russischer Gefangenschaft. Wie dein Onkel kämpfte er als deutscher Soldat in Russland.“

„Warum kämpfte er als Soldat in Russland?“

„Das weiß ich nicht. Frag deine Lehrerin in der Schule. Sie wird eine Antwort darauf wissen.“

„Ich kann es mir denken, warum der Onkel Erich gefangen wurde. Die deutschen Soldaten haben die Schlacht verloren, und wer nicht tot war, wurde Gefangener und erst freigelassen, wenn Lösegeld für ihn gezahlt worden war. So ist es gewesen. Das kannst du mir glauben. Denn wenn wir Räuber und Gendarm spielen, ist es auch so.“

„Warum fragst du mich, wenn du es bereits weißt.“

„Ich weiß es nicht. Ich denke es mir nur so. - Mama, wenn der Onkel Erich ein Heimkehrer ist, dann muss er auch ein Heim haben, ein Zuhause.“

„Sicherlich wird der Untermieter von Frau Schlundt auch ein Zuhause gehabt haben. Nur wird er es nicht gefunden haben. Vielleicht sind seine Angehörigen fortgezogen, vielleicht sind sie tot, vielleicht... Ich weiß es nicht. Du sollst nicht immer so viele Fragen stellen, mein Junge.“

„Ich denke mir, er wird nicht wissen, wo sie abgeblieben sind, sonst würde er nicht der Untermieter von Frau Schlundt sein.“

„Du sollst nicht so schlecht von Frau Schlundt denken. Sie hat auch gute Seiten. Kein Mensch ist nur schlecht.“

Auf dem Gasherd steht der große Tiegel. In ihm brutzeln die Kartoffelpuffer. Thomas beobachtet sie vom Küchentisch aus, verfolgt ihren Werdegang, wie sie schmackhafter und schmackhafter werden. Als die Kartoffelpuffer ihrer Vollendung entgegengehen, holt Thomas Teller, Messer, Gabel und die Zuckerdose. Aus Erfahrung weiß er, dass Mutter ihm Kartoffelpuffer gibt, solange sie heiß sind, weil sie da am köstlichsten und bekömmlichsten sind. Wenn Vater von der Arbeit kommt, sind sie nur noch warm. Wenn die Familie gemeinsam die warmen Kartoffelpuffer isst, isst Thomas wieder mit, denn er hat einen gesegneten Appetit, wie seine Mutter sagt, wenn sie gut aufgelegt ist. Fest sind die Augen von Thomas auf die Kartoffelpuffer gerichtet, nehmen fest Anteil an ihrer Entwicklung; er schmeckt sie schon. Er braucht das Winken der Mutter nicht abzuwarten. Erwartungsvoll steht er mit seinem Teller vor der brutzelnden Köstlichkeit, die ihm die Mutter im nächsten Augenblick auf den Teller schiebt.

Kaum hat sich Thomas mit seinem dampfenden Teller auf den Stuhl in der Nähe des Fensters zurückgezogen, vernehmen seine Ohren ein Klopfen. Gleich darauf wird die Tür geöffnet, und Frau Schlundt steht in der Küche. Auch seine Mutter ist überrascht, auch wenn er wie sie die unerwarteten Auftritte der Frau Schlundt gewohnt ist. Thomas weiß, seine Mutter mag Frau Schlundt nicht sonderlich; trotzdem ist seine Mutter immer freundlich zu dieser hageren, langen Bohnenstange, wie auch sie die Frau Schlundt nennt. Wenn in der Nachbarschaft von Frau Schlundt die Rede ist, heißt Frau Schlundt nicht Frau Schlundt, sondern die lange, dürre Bohnenstange. Nun steht die lange, dürre Bohnenstange in der Tür, und Thomas ist gespannt und neugierig zugleich, wie sich seine Mutter in dieser Situation verhalten wird. Thomas hat sich nicht getäuscht. Seine Mutter ist dem unvermittelten Eindringen der Frau Schlundt in ihre vier Wände gewachsen. Sie rückt den ihr am nächsten stehenden Stuhl in die Nähe des Herdes. Frau Schlundt deutet die Höflichkeit richtig und nimmt Platz, wobei sie darauf achtet, dass ihr Blumenkleid ihre langen dünnen Beine bedeckt. Dann holt Frau Schlundt tief Luft. Doch bevor sie zu sprechen beginnt, zeigt ihr langer dünner Zeigefinger ihrer rechten Hand auf Thomas. Die Mutter winkt ab. Frau Schlundt erspäht den vollen Teller und weiß Bescheid. Auch Thomas weiß Bescheid. Er weiß, wie er sich zu verhalten hat, wenn Gäste im Raum sind. Manierlich greift er zu Messer und Gabel. Das Wort manierlich ist eine Wortschöpfung seiner Mutter. Frau Schlundt beginnt zu reden. Sie redet wie ein Wasserfall. „Stellen Sie sich vor, Frau Boronsky, er hat seine Familie ausfindig gemacht ...“

„Wer hat seine Familie ausfindig gemacht?“

„Na, mein Untermieter! Der Erich!“

Nun wissen Frau Boronsky und Thomas Bescheid, von wem die Rede ist.

„Stellen Sie sich vor, Frau Boronsky, er hat seine Familie wiedergefunden. Sie haben sich getroffen, seine Frau, deren Freund oder Partner oder Mann – wer weiß auch immer, wer er ist - und haben sich ausgesprochen. Stellen Sie sich vor, liebe Frau Boronsky, sie haben sich ausgesprochen.“

„Ist doch schön,“ hört Thomas seine Mutter sagen, „zumindest besser, als wenn sie sich streiten würden.“

„Aber verstehen Sie nicht - oder wollen Sie nicht verstehen, liebe Frau Boronsky. Überlegen Sie doch einmal, was ich alles für diesen Kerl getan habe. Die Anzüge meines Mannes, die Hemden, die Krawatten, einfach alles habe ich diesem undankbaren Kerl gegeben. Und nun trifft er sich mit ihr. Hinter meinem Rücken! Und dafür habe ich alles für ihn getan; alles für ihn aufgeopfert. Und das ist nun der Dank!“

„Aber beruhigen Sie sich doch ...“ Thomas spürt, seine Mutter ist um eine Anrede verlegen.

„Stellen Sie sich doch einmal vor, liebe Frau Boronsky, erst gestern Nacht habe ich auf seiner Bettkante gesessen, habe auf ein freundliches Wort gehofft, gewartet ...“

Thomas entgeht nicht, wie Frau Schlundt ihn mit schmalen Augen prüft. Schnell beginnt Thomas zu schmatzen. Auch seine Mutter hat den Blick von Frau Schlundt bemerkt.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll, Frau Schlundt, aber der Bengel will partout nicht manierlich essen. Dabei gebe ich mir so große Mühe.“

Frau Schlundt ist zufrieden, setzt ihre Erzählung fort, während die Ohren von Thomas die Funktion einer Antenne übernehmen.

„Stellen Sie sich vor, liebe Frau Boronsky, da sitze ich auf seiner Bettkante, habe nur das dünne, durchsichtige Nachtkleid an, das gute, noch echte Friedensware, damals im bekanntesten Modegeschäft Berlins gekauft; da sitze ich nun in meinem Schick und friere und friere, denn er hat ja keinen Ofen in seinem Zimmer, - er würde ja sowieso nicht heizen, knickrig, wie er ist. Da sitze ich, und die Kälte kriecht an meinem Körper empor, ich spüre ihren eisigen Atem, obwohl in meinem Inneren die Hitze lodert, brodelt. Ich warte und warte ... Ganz geduldig harre ich aus und warte und warte und warte auf ein freundliches Wort von ihm, auf eine Geste, aber nichts passiert. Er ist stumm wie ein Stockfisch. Die Kälte lässt mich erstarren. Ich will zu ihm ins Bett kriechen, aber er bietet mir keine Gelegenheit dazu. Dicht neben der Außenkante liegt er. Keinen Raum lässt er frei für mich. Und dabei bin ich doch so schlank. Ich nenne ihn zärtlich bei seinem Namen. Keine Reaktion! Wie ein Toter liegt er in seinem Bett. Ich bin gerade dabei das letzte Stückchen Anstand zu verlieren, da dreht er sich unvermittelt um und zeigt mir seine kalte Schulter. Ich habe verstanden. Nun begreife ich! Seine Frau oder besser seine ehemalige Frau setzt ihn unter Druck. Der arme Mann weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Alle stellen nur Forderungen. Glücklich bin ich, dass ich das rechtzeitig erkannt habe.“

„Sie sind ein feinfühliger Mensch, Frau Schlundt.“ Thomas spürt genau, wenn seine Mutter ratlos ist.

„Ich hätte eine Bitte, liebe Frau Boronsky: Könnte mich ihr Thomas begleiten, wenn ich zu ihr gehe. Sicherer würde ich mich in der Gegenwart des Jungen fühlen. Bitte erlauben Sie ihm, mir auf meinem schweren Gang zur Seite zu stehen.“

Frau Boronsky ist die Hilflosigkeit anzusehen. „Wenn Sie meinen, dass es Ihnen hilft?“

„Ich würde auch mit ihm in ein Café gehen. Wir könnten Eis essen oder Kuchen.“

Thomas traut seinen Ohren nicht. Frau Schlundt will ihn zu Eis oder Kuchen einladen. Die Entscheidung wird ihm wirklich leicht gemacht.

„Ich werde mich auf den Besuch vorbereiten. In etwa einer Stunde würde ich den Jungen holen kommen, wenn es Ihnen recht ist, liebe Frau Boronsky.“

So unvermittelt wie sie auftauchte, ist die Frau Schlundt auch wieder verschwunden. Frau Boronsky bleibt keine Zeit für eine Antwort.

„Wenn du satt bist, mein Junge“, sagt Frau Boronsky,“wäschst du dich gründlich von oben bis unten. Du wirst ein frisches weißes Hemd anziehen und die gute kurze Hose. Pass auf, dass die weißen Socken in den Sandalen nicht gleich schwarz aussehen. Pass überhaupt auf und betrage dich manierlich. Ich möchte keine Klagen von der Frau Schlundt hören. Und wenn dir etwas angeboten wird, dann führe dich manierlich auf. Schlinge nicht gleich alles hinunter, sondern iss und trink gesittet. Bring keine Schande über uns. Ich möchte nicht, dass es im Viertel heißt... Jetzt hast du genug gegessen.“

Mit Kernseife wäscht sich Thomas am Ausguss gründlich von oben bis unten. Er schrubbt sich, dass die Haut rot anläuft.

„Die Haut muss gut durchbluten“, sagt sein Vater immer, damit sie gesund und frisch bleibt.

Auch seine Mutter ist mit der Wäsche zufrieden. Abschließend kontrolliert sie seine Ohren. Als es auch bei ihnen nichts zu beanstanden gibt, darf Thomas die nach Frische duftende Wäsche überstreifen. Bevor er nochmals einer Prüfung unterzogen wird, muss er sich die Haare kämmen, exakt einen Scheitel ziehen. Er muss nicht lange auf Frau Schlundt warten. Frisch poliert wie ein reifer Herbstapfel, der jeden Augenblick vom Baum zu fallen droht, steht sie wieder unvermittelt in der Tür.

„Der Junge ist ja gar nicht wiederzuerkennen“, stellt Frau Schlundt vor Freude strahlend fest. Wenn sie guter Laune ist, zeigt sie ihre tadellosen schneeweißen Zähne.

„Die müssen ein Vermögen gekostet haben“, erinnert sich Thomas. Damals saßen sie am Abendbrottisch, und seine Eltern unterhielten sich über die Frau Schlundt. Da kam seine Mutter auch auf die Zähne dieser Frau zu sprechen. Sie sagte zu seinem Vater: „Solche Zähne könne sie sich nie leisten ...“

Dieser Satz bewirkte, dass sein Vater nicht nur verstimmt war, sondern richtig verärgert, fast wütend.

Alle im Viertel wussten, dass Vater Boronsky recht wenig verdiente. Das war auch der Grund, weshalb die Boronskys im Viertel zu den Armen zählten.

Der Leitsatz seines Vaters war: Wir müssen uns eben einschränken.

„Nur hat die Einschränkung auch ihre Grenzen“, widersprach die Mutter jedes Mal. „Irgendwo hat alles seine Grenzen“, fügte sie jedes Mal drohend hinzu.

Gemeinsam mit Frau Schlundt verlässt Thomas die elterliche Wohnung. Kaum haben sie das Viertel hinter sich zurückgelassen, ergreift Frau Schlundt die Hand des Jungen. Thomas hat das Gefühl, als hätte ein Raubvogel ihn erfasst. Frau Schlundt hat eine knöcherne Hand mit langen, dünnen Fingern, die Thomas an die Beine einer Spinne erinnern. Ihre Fingernägel sind spitz wie Indianerpfeile, dazu blutrot bemalt. Auch ihre Lippen glänzen auffallend rot, und lassen ihren Mund riesiger erscheinen, als er in Wirklichkeit ist. Hinter dem Wohnviertel schließt sich ein kleines Wäldchen an. Thomas ist überzeugt, kein Räuber würde es jetzt wagen, ihn im Beisein der Frau Schlundt zu überfallen.

Die Frau sieht ja gefährlicher aus als der gefährlichste Räuber, denkt Thomas. Frau Schlundt wird jeden Angreifer in die Flucht schlagen. Davon ist Thomas fest überzeugt.

Als sie die Felder erreicht haben, wird Thomas klar, warum Frau Schlundt so ein riesiges Wagenrad auf dem Kopf trägt. Erbarmungslos heiß brennt die Nachmittagssonne. Am liebsten würde Thomas Schuhe, Söckchen und Hemd ausziehen, aber er traut sich nicht. Er hat seiner Mutter versprochen, sich manierlich zu betragen, und er möchte seine Mutter nicht enttäuschen. Jetzt erst fällt Thomas auf, dass sich Frau Schlundt ihr Festtagskleid über ihren dürren Körper gestreift hat. Es ist ein weißes enges Kleid mit großen, roten Rosen und einem feinen Spitzenkragen. Selbst ihren langen, dürren Hals lässt der Kragen kürzer erscheinen. Thomas hatte seine Mutter sagen hören: Das ist das Lieblingskleid der Frau Schlundt. Kein Wunder, kein Kleid kann sie vorteilhafter erscheinen lassen. Inzwischen bereut Thomas, dass er ihr und seiner Mutter gehorcht hat. Viel lieber würde er jetzt am See sein und sich seine Haut bräunen lassen, statt sie mit einem Hemd zu verdecken. Seine Missstimmung entgeht nicht Frau Schlundt.

„Du gehst doch schon zur Schule.“

„Ja.“

„Welche Klasse besuchst du.“

„Die Erste.“

„Gehst du gerne zur Schule?“

„Ja.“

„Was möchtest du denn später einmal werden?“

„Ich möchte was werden, wo ich viel Geld verdiene.“

„Geld allein macht aber nicht glücklich.“

„Aber ich könnte dann alles kaufen, was sich meine Mami wünscht.“

„Lernt ihr in der Schule auch Gedichte?“

„Ja.“

„Was sind das für Gedichte?“

„Mein Bruder ist ein Traktorist in einem Dorf in Sachsen. Er leistet, was nur möglich ist, damit die Halme wachsen. Er rechnet oft und überlegt, wie kann ich‘s besser machen. Und wie er seinen Traktor pflegt! Das Herz kann einem lachen.“

„Und lernt ihr auch solche Texte wie: Eine feste Burg ist unser Gott ...“

„In der Schule nicht, aber im Pfarrhaus. Und wenn ich sonntags in die Kirche gehe, schenkt mir der Pfarrer bunte Bilder mit Engeln und der Jungfrau Maria und dem Jesulein.“

„Gehst du gerne in die Kirche?“

„Ich gehe lieber in die Kirche als in den Garten meiner Großmutter. Da muss ich nämlich immer Unkraut zupfen. Und das gefällt mir nicht. Da gehe ich lieber in die Kirche. Dort brauche ich nichts zu tun. Nur herumsitzen. Und wenn meine Religionslehrerin zu mir hinschaut, tue ich so, als ob ich singe. Dann reiße ich meinen Mund ganz weit auf. Und in der nächsten Religionsstunde lobt sie mich, wie schön ich mitgesungen habe. Manchmal schenkt sie mir auch ein Bild. Habe ich Bilder zwei Mal, tausche ich sie bei meinen Freunden gegen Murmeln ein.“

„Was sind Murmeln?“

„Murmeln sind kleine bunte Kugeln. Wenn wir murmeln, müssen wir viele Kugeln in ein Loch kullern. Es ist gar nicht einfach, den richtigen Platz zum Murmeln zu finden. Auf Rasen lassen sich die Kugeln nicht bewegen. Es muss fester Boden sein. Deshalb spielen wir immer bei den Teppichstangen. Da ist der Boden schön glatt, und schnell haben wir ein Loch gebuddelt.“

„Dort dürft ihr aber nicht spielen. Solche Löcher sind gefährlich. Wie schnell gerät der Fuß in so ein Loch. Habt ihr euch das schon einmal überlegt?“

„Nein! Aber Sie werden schon Recht haben.“ Thomas weiß aus Erfahrung, wenn er den Erwachsenen Recht gibt, hat er seine Ruhe. Er hat keine Lust, sich mit Frau Schlundt zu unterhalten. Sicherlich will sie ihn nur aushorchen, will wissen, was sie noch nicht weiß über ihn und seine Freunde. Deshalb ist es besser, vorsichtig zu sein und sich genau jedes Wort zu überlegen. Wenn sie mit ihm weiterredet, will sie die Namen seiner Freunde wissen, wo sie wohnen, was für eine Wohnung sie haben, ob die Eltern arbeiten. Schon einmal wollte Frau Schlundt etwas über einen Freund wissen. Thomas stellte sich jedoch dumm, konnte ihr nicht einmal den Vornamen nennen. Die Enttäuschung konnte er ihr ansehen.

Inzwischen haben sie Stünz bei Sellerhausen erreicht. Stünz ist wie Stötteritz, manche sagen statt Stötteritz auch Reudnitz, ein Vorort von Leipzig. Schon von Weitem ist der Kirchturm von Stünz zu sehen, weil die Felder den Blick freigeben. Thomas mag die Felder. Sie schieben sich nicht wie die Bäume zwischen ihn und die Sonne. Thomas liebt die Sonne. Ohne sie kann er nicht leben. Im Spätherbst spürt er immer wieder, wie eine große Traurigkeit über ihn kommt. Selbst im Winter, wenn der Schnee die Felder, den Bahndamm vor dem Haus mit einem kalten Weiß überzogen hat, das nach kurzer Zeit sich in ein Grauweiß verwandelt, sehnt sich Thomas nach der Sonne. Wenn die Schlitten den Bahndamm hinuntergleiten, jubelt auch er; trotzdem bleibt der Sommer die schönste Jahreszeit für ihn.

Als sie sich den Häusern in Stünz gleich hinter den Feldern nähern, schnappt die Hand der Frau Schlundt nach der Hand des Jungen, hält diese fest umklammert. Thomas will sie ihr entziehen, aber er hat ja der Mutter versprochen, sich manierlich zu betragen. So lässt er Frau Schlundt gewähren. Thomas vergleicht die Häuser hier mit den Meyerschen, in denen er mit seiner Familie in Stube, Kammer, Küche lebt. Nicht einmal einen kleinen Flur haben sie. Seine Freunde, nicht alle, aber viele, die auch in den Meyerschen wohnen, besitzen noch einen kleinen Flur. So ein winzig kleiner Flur lässt die Wohnung gleich viel größer erscheinen. Vom Hausflur tritt der Besucher nicht sofort in die Küche ein, sondern in diesen kleinen Raum mit einer Garderobe für die Jacken und Schuhe. Von diesem Raum aus führen Türen in die anderen Zimmer. Die Häuser hier sehen sich auch ähnlich, aber sie sehen anders aus als die Meyerschen. Die Meyerschen sind aus roten Ziegelsteinen gebaut, die Häuser hier sind abgeputzt und sehen viel freundlicher aus. Vor den Häusern dehnen sich auch Grünanlagen aus. Teppichstangen gibt es auch. Bestimmt kann man hier auch murmeln.

Frau Schlundt schiebt Thomas durch eine offenstehende Haustür, steigt mit ihm die Stufen hinauf, Treppenabsatz um Treppenabsatz. Ihre Hand fühlt sich eisig kalt an und zerdrückt fast die Hand des Jungen. Thomas möchte ihr seine Hand entreißen, nur hat er der Mutter versprochen, sich manierlich zu verhalten. Er will verhindern, dass Frau Schlundt sich über ihn beklagen kann. Jetzt stehen sie vor einer Tür. Einen Augenblick scheint Frau Schlundt zu zögern, dann drückt ihr langer, dürrer Zeigefinger der rechten Hand auf den Klingelknopf. Schritte sind hinter der Tür zu hören, dann wird sie geöffnet. Eine Frau mit blonden, kurzen Haaren steht in der Tür. Viel jünger sieht sie aus als Frau Schlundt, stellt Thomas fest, auch viel freundlicher. Bestimmt kann diese Frau mit ihren Augen lachen. Die Frau lässt sie eintreten. Das ist also die richtige Frau von Onkel Erich, denkt Thomas. Sie passt viel besser zu ihm als Frau Schlundt. Nicht nur weil sie jünger ist, sondern weil sie lebendiger ist, nicht so steif, sondern beweglich, nicht so kalt, sondern warm und freundlich. Der Junge spürt die Wärme und Geborgenheit, die von dieser Frau ausgeht. Er mag sie, wie er den Sommer liebt. Frau Schlundt ist dagegen wie ein nasskalter Novembertag. Die Frau führt sie in die Küche, bittet sie Platz zu nehmen. Dabei weist sie auf weiß gestrichene Stühle.

Vielleicht hat sie keine Stube, denkt Thomas. Oder sie will sie nicht in ihre Stube einlassen. Manche Leute haben so gute Stuben, dass sie nie in den Stuben leben, sondern sie nur den Leuten zeigen, wenn sie Besuch haben. Aber die Frau von Onkel Erich sieht nicht so aus, als würde sie nur eine Stube zum Vorzeigen haben.

Ein Mann und ein Mädchen tauchen hinter einer Tür auf.

Sie ist älter als ich. Bestimmt vier Jahre, vielleicht auch fünf, schätzt Thomas. Das Mädchen hat einen blonden Pferdeschwanz und lustige, blaue Augen wie ihre Mama. Die Blumen auf ihrem Kleid lachen auch. Es sind andere Blumen. Sie sind nicht vornehm kalt wie die Blumen auf dem Kleid von Frau Schlundt. Der Mann ist so alt wie Onkel Erich. Er hat eine Glatze. Nur an der Seite sind Haare. Die sind aber ganz kurz geschnitten, so dass sie kaum zu bemerken sind. Wortlos setzt sich der Mann auf einen Stuhl.

Die Frau sagt zu dem Mädchen: „Hannelore, sei so lieb und kümmere dich etwas um den jungen Mann. Am besten, du gehst mit ihm spazieren und spendierst ihm ein Eis.“ Die Frau reicht dem Mädchen Geld.

Hannelore heißt sie. Thomas gefällt der Name.

Das Mädchen nimmt ihn bei der Hand. Ihre Hand ist warm, weich, geschmeidig, fühlt sich einfach gut an. Diese Hand soll seine nicht so schnell loslassen, hofft Thomas.

Während Hannelore mit ihm durch eine Gartenanlage bummelt und später an der Ecke für sich und ihn ein Eis kauft, verbleibt Frau Schlundt in der Wohnung von Erichs Frau.

Als die Sonne nicht mehr so heiß brennt, kehren Hannelore und Thomas zurück. Für Thomas ist es ein schneller Abschied. Frau Schlundt verlässt mit ihm Stünz. Ihr Gesicht strahlt wie das eines Gewinners.

„Ein Eis hast du ja schon bekommen“, sagt Frau Schlundt, „und zwei Eis wären zu viel.“

Thomas ist da anderer Ansicht: Wenn sie schon kein Eis spendieren will, dann wenigstens Schokolade oder Kuchen. Das denkt er aber nur. Er hat ja seiner Mutter versprochen, sich manierlich aufzuführen.

Nur hat Frau Schlundt längst vergessen, was sie versprochen hat. Ihre Gedanken beschäftigen sich jetzt nicht mit Kaffee und Kuchen oder Eis. Frau Schlundt denkt an die Zukunft. Und sie lächelt dabei.

2

Längst ist die Zeit vorbei, dass die Schule erst um elf oder gar um zwölf beginnt. Wie die Großen muss Thomas jetzt auch früh aufstehen, damit er Punkt acht Uhr in der Schule ist.

Während Thomas mit den Großen und Kleinen aus dem Viertel auf dem gewohnten Schulweg am Stötteritzer Bahnhof vorbei die Schönbach Straße in Richtung 28. Grundschule hinaufsteigt, freut er sich auf seinen immer näher kommenden Geburtstag.

Als er den Klassenraum unmittelbar vor dem Stundenklingeln betritt, fliegt ihm ein nasser Schwamm an den Kopf. Ohne sich lange zu besinnen, schleudert Thomas den noch immer vor Nässe triefenden Schwamm seinem vermeintlichen Gegner entgegen, denn Thomas ist nicht entgangen, aus welcher Richtung der Schwamm kam. Kaum hat er den Schwamm abgefeuert, duckt er sich ab, gleich neben der Bank hinter der Tür.

„Hier ist schwer was los!“ Sein Freund Wolfgang kniet neben ihm in der Deckung.

„Das habe ich gleich bemerkt. Noch nie war früh so eine Stimmung! Vorsichtig prüft Thomas die Lage.

„Habt ihr zu Hause kein Radio?“

„Doch! So einen alten Volksempfänger.“

„Damit könnt ihr auch Nachrichten hören.“

„Und welche Nachricht hätte ich hören sollen?“

„Auf allen Sendern haben sie es gebracht: Stalin ist tot. Und jetzt wollen wir überall die Stalinbilder entfernen.“

„Wer ist wir?“

„Zum Beispiel du und ich und noch ein paar andere. Und jetzt tobt der Klassenkampf.“

„Mir hat der Stalin nichts getan“, sagt Thomas, „von mir aus kann er dort hängen.“

„Der wird nicht mehr hier hängen. Den nehmen wir ab und lassen ihn verschwinden, wo ihn niemand mehr findet.“ Die Augen von Wolfgang glühen wie die eines Revolutionärs.

Thomas ist beeindruckt von der Haltung seines Schulfreundes. Trotzdem zieht er es vor, sich nicht in den Klassenkampf einzumischen. Er hat Angst vor den großen Helden. In seinem Lesebuch sind viele Geschichten von solchen großen Helden abgedruckt. Auch wenn sie die Sieger waren, gab es viele Tote zu beklagen; viele tote Kampfgenossen und viele tote Verräter. Die Helden blieben am Leben, nur ihre namenlosen Mitstreiter hatten ihr Leben für die große Sache geopfert und hatten Glück, wenn ihr Tod beweint wurde, viele starben unbemerkt, namenlos, bereits vergessen. Die Namen der Toten wurden nicht genannt, dafür nur Zahlen. Thomas will kein Held sein.

„Ich werde das Stalinbild mit meinem Schlüsselbund zerstören.“ Wolfgang holt das Schlüsselbund aus der Tasche, setzt zum Sturmangriff an, wie er selbst sagt. Gerade in dem Augenblick wird die Tür aufgerissen, und ihr Klassenlehrer, der Herr Sanftmut, steht im Raum. Alle stürmen auf ihre Plätze, stehen still neben ihrer Bank. Die Stimme von Herrn Sanftmut klingt noch härter als sonst: „Ich setze voraus, dass ihr wisst, was sich ereignet hat. Wir werden den großen Stalin nie vergessen! Fünf Minuten werden wir jetzt schweigend an ihn denken. Fünf Minuten, habe ich gesagt. Und wer das nicht kann, der wird mich kennen lernen, mit dem fahre ich Schlitten.“

Mit Herrn Sanftmut will sich keiner aus der Klasse anlegen. Schweigend stehen alle neben ihrer Bank und starren ausdruckslos vor sich hin.

In der Pause sagt Wolfgang zu Thomas: „Der Sanftmut hat uns nur zwei Minuten stehen lassen. Ich habe auf meine Uhr geschaut.“

Nicht mehr lange und die Ferien beginnen. Thomas freut sich auf die Ferien. Nicht nur, weil er da länger im Bett bleiben kann, sondern weil der Tag ihm dann allein gehört. Er kann tun und lassen, was er will. Schon jetzt weiß er, was er will: Er wird die Ferien im Freibad verbringen, wenn die Sonne es gut mit ihm meint.

Als Thomas auf dem Balkon steht, um zu prüfen, ob er nur im Hemd gehen kann, fährt gerade ein Güterzug vorbei, beladen mit Panzern und Panzerfahrzeugen. In den offenen Güterwaggons stehen dicht bei dicht Soldaten, schauen sich die Landschaft an, winken ihm zu. An ihren kahl geschorenen Köpfen erkennt er sie sofort als Russen, wie die Leute im Viertel sie nennen, in der Schule werden sie Rotarmisten oder die Rote Armee genannt. Er zögert, ob er zurückwinken soll. Die Panzer und die anderen Fahrzeuge ängstigen ihn. Dabei kommen oft Truppentransporte an ihrem Balkon vorbei. Er ist ihren Anblick gewohnt, trotzdem beschleicht ihn jedes Mal eine seltsame Furcht, für die er keine Erklärung hat. Thomas zieht es vor, vom Balkon zu verschwinden. Ihm wird plötzlich kalt. Dabei scheint die Sonne, und es ist Juni, fast schon Sommer.

Auf dem Weg zur Schule bemerkt er ein emsiges Treiben am Bahnhof. Darüber wundert er sich, denn die Arbeiterzüge nach Borna, Espenhain, Böhlen fahren früh am Morgen, wenn er noch im Bett liegt. Onkel Erich arbeitet auch dort. Früh um vier Uhr verlässt er das Haus. Er hat schon längst seine Arbeit aufgenommen, wenn Thomas noch im Bett liegt und überlegt, ob er bereits aufstehen soll oder noch etwas liegen bleiben kann, bis die Mutter so ungeduldig wird, dass er es nicht mehr aushalten kann und sich aus den Federn schiebt.

Wie gewöhnlich erscheint Thomas unmittelbar vor dem Stundenklingeln in der Klasse. Erschreckt stellt er fest, dass Herr Sanftmut bereits im Raum ist. Seltsam ruhig klingt die Stimme seines Lehrers. Seine Mitschüler sitzen teilnahmslos in ihren Bänken. Später erfährt Thomas von Wolfgang, der immer über alles informiert ist, dass die Russen aufmarschiert sind.

„Warum sind die Russen aufmarschiert?“, will Thomas wissen.

„Es gibt einen Aufstand, vielleicht auch wieder einen Krieg“, berichtet Wolfgang.

Früher als laut Stundenplan vorgesehen, ist die Schule beendet. Auf dem Heimweg werden die Kinder am Bahnhof von Panzern und Panzerfahrzeugen erwartet. Russen stehen neben den Fahrzeugen oder sitzen in ihnen. Freundlich sind sie zu den Kindern, die sich um die Panzer versammelt haben und neugierig diese Ungetüme aus Stahl betrachten. Die Soldaten erlauben es sogar, dass die Kinder auf den Panzerspähwagen herum klettern, schimpfen nicht einmal, als Wagemutige sich hinter das Maschinengewehr setzen. Ganz Mutige klettern sogar durch die offene Luke eines Panzers.

Thomas bleibt nur kurz stehen. Unheimlich, irgendwie fremd wirkt der Bahnhofsvorplatz. Ein ungutes Gefühl beschleicht den Jungen. Er spürt, wie die Angst an seinem Körper empor kriecht, ihn dazu zwingt, sich in Bewegung zu setzen. Erst bewegt sich der Junge langsam, dann läuft er, wird immer schneller und schneller. Ihm ist zumute, als renne er um sein Leben.

Zu Hause angekommen, umarmt ihn seine Mutter. „Ein Glück, dass ihr beide da seid.“ Gisela ist schon vor ihm eingetroffen.

Am Abendbrottisch unterhalten sich die Eltern. Das ist ungewöhnlich, weil sie höchst selten Worte wechseln im Beisein der Kinder.

Thomas erfährt, dass einige Männer aus ihrem Viertel verhaftet worden sind.

Thomas ist erstaunt über das Verhalten seiner großen Schwester. Bei jedem ihrer Besuche hatte er Ärger mit ihr. Schon als kleiner Junge blieb ihm oft nur die Flucht übrig, wenn er nicht von ihr verprügelt werden wollte. Damals begann Helga ihre Karriere als Sängerin an einem Theater. Verirrte sie sich in großen Abständen einmal in die elterliche Wohnung, schulte sie in der Stube ihre Stimme.

„Glü, glü, glü“, zwitscherte sie in den höchsten Tönen.

Thomas fand das immer sehr lustig und krähte: „glü, glü, glü.“

Helga fand seinen Gesang gar nicht lustig. Da Worte bei ihm nichts auszurichten vermochten, griff sie zur Kelle und wollte ihn verprügeln. Er entzog sich der Berührung mit der Kelle, indem er fortlief und ihr aus sicherer Entfernung die Zunge herausstreckte oder ihr zurief: „Fang mich doch, du altes Loch ...“ Helga wurde dann noch wütender.

Diesmal begrüßt ihn Helga mit einem sanften Lächeln und sagt: „Junge, bist du gewachsen. Sicher hat auch dein Verstand zugenommen ...“

Thomas schluckt, will etwas sagen, zieht es aber vor zu schweigen. Er will seine Mutter nicht enttäuschen, die gerade die Stube betreten hat. Seine Mutter soll immer nur den besten Eindruck von ihm haben.

Seine Mutter sagt zu ihm: „Thomas, zeig einmal Helga, wie ausdrucksvoll du lesen kannst.“

„Er muss nicht ausdrucksvoll lesen“, unterbricht Helga die Mutter, „sondern richtig und vor allem flüssig, zügig.“

„Warum soll ich vorlesen und dann noch zügig, flüssig?“, fragt Thomas.

„Weil ich mitschreiben will, was du diktierst“, antwortet die Schwester.

„Warum willst du mitschreiben?“

„Frag nicht so viel, sondern lies. Als Belohnung winkt dir ein Stück Torte.“

„Ich darf aber die Torte auswählen.“

„Ja!“ Helga ist sichtlich genervt.

Thomas liest auf Helgas Wunsch ihr etwas aus einer Zeitung vor.

„Diktiere ruhig etwas schneller!“

„Ich denke, ich soll lesen. Und was ist das für eine Schrift. Die kann doch kein Mensch lesen.“

„Das ist Stenografie.“

Ehrfurchtsvoll schweigt Thomas. Jetzt versteht er, warum die Eltern so stolz auf ihre große Tochter sind. Dann fragt er die Schwester: „Erkläre mir einmal, warum eine Sängerin Stenografie schreiben muss.“

„Du sollst nicht so viel fragen“, bekommt er zur Antwort-

Jeden Tag diktiert er der Schwester Texte. Thomas gefällt seine neue Aufgabe als Diktator, weil sie etwas einbringt

Dann verabschiedet sich Helga. In den Augen seiner Mutter schimmern Tränen.

„Sie kommt doch wieder“, tröstet Thomas die Mutter.

„Aber wann wird das sein“, schluchzt die Mutter und lässt ihren Tränen freien Lauf.

Wochen später holt Thomas einen Brief aus dem Briefkasten. Neugierig betrachtet er ihn, denn so eine Briefmarke war bisher noch auf keinem der Briefumschläge. Bundesrepublik Deutschland steht auf der Briefmarke geschrieben. Wer kann ihnen aus der Bundesrepublik Deutschland wohl schreiben? Die Schriftzüge sind ihm nicht vertraut. Genau prüft er jetzt den Absender. Da steht Schwarz auf Weiß geschrieben: Helga Boronsky.

Thomas stürzt die wenigen Stufen zur Wohnung hinauf. Die Mutter steht in der Küche hinter dem Bügeleisen.

„Helga hat geschrieben!“

Seine Mutter unterbricht ihre Arbeit. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Dann schlägt sie ihre Hände über dem Kopf zusammen und schreit in die Stille: „Sie hat es geschafft!“

Tränen fließen über die eingefallenen Wangen der Frau Boronsky. Mit Tränen erstickter Stimme liest sie Thomas und Gisela den Brief laut vor. Immer wieder stellt Thomas fest, dass seine Mutter sehr gut vorlesen kann. Fließend ist ihr Vortrag und gefühlvoll.

Beide Kinder erfahren, dass ihre große Schwester Helga in den anderen Teil Deutschlands gegangen ist, den sie unter der Bezeichnung „Goldener Westen“ kennen. Hoffentlich ist dieser Westen so golden, so hoffen die beiden, dass die Familie auch große, dicke Pakete bekommt wie nicht wenige Familien im Viertel. Sie hören aus dem Munde der Mutter, dass ihre große Schwester in Köln ein neues Zuhause gefunden hat. Ihre Karriere als Sängerin hat sie aufgegeben, zumindest vorübergehend, schreibt sie. Jetzt arbeitet sie als Sekretärin bei einer großen Autofirma. Thomas wird nun klar, warum er ihr immer vorlesen musste. Nicht, um sich im Ausdruck zu schulen, wie Helga sagte, sondern um sie in Stenografie zu Höchstleistungen zu befähigen. Sie äußert, dass ihre Ausbildung in Stenografie und in Maschinenschreiben für ihre Einstellung von großem Vorteil war. Die Tränen verhangenen Augen der Mutter glänzen vor Glück. Entzückt ruft sie immer wieder: „Sie hat es geschafft! Sie hat es geschafft! Dieses kluge Mädchen!“

Weil die Mutter sich freut, freuen sich die Kinder. Sie wissen, ihre Mutter hat sonst wenig Gelegenheit zur Freude.

Als Thomas von der Schule nach Hause kommt, sitzt Frau Schlundt bei seiner Mutter in der Küche. Richtig verheult sieht das Gesicht der Frau Schlundt aus, verquollen und aufgedunsen. Beide müssen sich angeregt unterhalten haben, jetzt aber, da Thomas in der Küche ist, verstummt das Gespräch sofort. Das verunsichert Thomas, gleichzeitig macht es ihn neugierig. Nur kann er seine Neugierde nicht befriedigen. Seine Mutter schickt ihn ins Nebenzimmer, weil sie Wichtiges, wie sie sagt, mit Frau Schlundt zu besprechen hat. Wenn Frau Schlundt bei einer solchen Besprechung wie ein Schlosshund heult, muss es tatsächlich etwas sehr Wichtiges sein. Lange muss sich Thomas in der Stube gedulden und seinen Wissensdrang bezwingen. Er lenkt sich ab und vertieft sich in sein aus der Bibliothek ausgeliehenes Indianerbuch. Nur will ihm das nicht völlig gelingen. Die Neugierde meldet sich immer wieder und will wissen, was mit Frau Schlundt los ist. So viel ist Thomas klar: Es muss etwas ganz Außergewöhnliches sein, dass Frau Schlundt zu Tränen rührt, sonst würde nämlich die Frau keine Träne verlieren. Viel Zeit - Thomas kommt es wie eine Ewigkeit vor - ist verstrichen, bis ihn seine Mutter in die Küche ruft.

Seine Mutter sagt: „Hör gut zu, mein Junge. Der Untermieter von Frau Schlundt ist auf und davon. Niemand weiß, wo er abgeblieben ist. Nun hat sich Frau Schlundt schweren Herzens entschlossen, ihre Wohnung aufzugeben und ins Stift zu gehen. Wie sie sagt, bekommt sie ein schönes großes Zimmer mit Fenster zum Park Ihre Möbel will sie verkaufen bis auf die, die sie mitnehmen möchte. Für ihren Transport benötigt sie aber keinen Möbelwagen. Nun lässt sie dich durch mich fragen, ob du ihr beim Umzug behilflich sein könntest. Sie will sich auch erkenntlich zeigen. Ich habe schon zugesagt. Und du wirst doch deine Mutter nicht enttäuschen und ihr zur Hand gehen.“

Seiner Mutter zuliebe sagt Thomas ja. Er möchte ihr eine große Freude bereiten.

Abends nach dem Abendbrot sagt seine Mutter zum Vater, nachdem die Kinder sich in die Stube zurückgezogen haben: „Hast du schon gehört, Karl, der Schlundten ihr Untermieter ist abgehauen. Niemand hat eine Ahnung, wo er abgeblieben sein könnte. Alle wissen nur, er ist spurlos verschwunden, einfach abgetaucht.“

„Bei dem Drachen hält es doch keiner aus.“ Mehr hat Herr Boronsky nicht zu sagen.

Als an diesem Sonnabend Thomas von der Schule nach Hause kommt, wird er mit Ungeduld von Frau Schlundt erwartet. Hoch oben am Himmel steht die Sonne und heizt die Stadt auf. Wie seine Klassenkameraden würde Thomas lieber diesen Tag im Freibad verbringen, aber die Pflicht ruft, die ihm seine Mutter in ihrer Gutmütigkeit eingebrockt hat. Die Mutter will er nicht enttäuschen, deshalb fügt er sich in sein Schicksal, trinkt nur zwei Tassen gesunden Kamillentee, um seinen Durst zu löschen. Dann klopft er an die Tür der Frau Schlundt. Sie muss hinter der Tür gelauert haben, denn gleich nach dem ersten Klopfer wird die Tür aufgerissen, und Frau Schlundt steht vor ihm. Ihre Kleidung sieht gar nicht nach Arbeit aus. Sie trägt einen bunten Blumenrock, eine weiße Bluse. Ihre Füße stecken in Stöckelschuhen.

„Fein, dass du da bist“, empfängt sie Thomas, „wir gehen gleich nach dem Wagen.“

Nur ein paar Häuser weiter steht vor dem Hauseingang ein großer Leiterwagen für Frau Schlundts Umzug bereit. Thomas darf sich davor spannen und ihn ziehen, während Frau Schlundt neben ihm daher trippelt und lobt: „Du bist ja ein großer, kräftiger Junge. Für dich ist so ein Wagen eine Kleinigkeit.“

Thomas zieht es vor zu schweigen.

Frau Schlundt lässt nicht locker: „Sonst aber bist du gesprächiger. Hattest du Ärger in der Schule?“

„Ich fühle mich nicht wohl.“

„Wie kann sich ein so großer Junge wie du bei diesem Wetter nicht wohl fühlen?“

Wieder denkt Thomas daran, was er der Mutter versprochen hat.

Als Frau Schlundt ihre Wohnungstür aufschließt, sagt sie: „Ich nehme nur Kleinigkeiten mit.“ Beim Betreten der Wohnung stellt der Junge fest, dass sie bereits ziemlich ausgeräumt ist.

„Die Schränke habe ich schon ins Stift bringen lassen. Es sind nur noch einige Kleinigkeiten, die ich dorthin bringen möchte. Und du bist so nett, mir dabei behilflich zu sein. Zuerst nimm bitte die Kartons. Aber sei vorsichtig. In ihnen befindet sich mein Porzellan.“

Während Thomas vorsichtig den Handwagen mit dem Porzellan belädt, steht Frau Schlundt daneben und bewacht die teure Fracht.

„Wir wollen den Wagen nicht überladen, ruft sie besorgt aus. Schließlich sind es Kostbarkeiten, die ich dir anvertraue.“

Wieder spannt sich Thomas vor den Wagen, während Frau Schlundt neben ihm daher tänzelt und immer wieder besorgt ausruft: „Bitte vorsichtig! Nicht so schnell! Vorsicht! Bordsteinkante!“

Sie erreichen das Stift, das von einem kleinen Park umgeben ist.

„Die Bäume lassen wenig Licht in die Zimmer dringen“, sagt nachdenklich Frau Schlundt, „trotzdem sind Bäume schön. Sie machen ihre Umgebung lebendiger.“

Thomas hätte hier nicht wohnen mögen. Aus den geöffneten Fenstern schauen nur alte Leute. Ihre Gesichter sehen viel älter aus als das von Frau Schlundt.

„Ist der Kleine aber fleißig“, sagt eine alte Frau.

Thomas schleppt das Porzellan in den dritten Stock. Dort befindet sich das Appartement der Frau Schlundt, wie diese das Zimmer mit der kleinen Küche bezeichnet. Obwohl die Sonne ihre heißen Strahlen zur Erde schickt, hierher in Frau Schlundts Appartement verirrt sich kein einziger. Thomas friert. Er beeilt sich, dieser Kälte entfliehen zu können. Noch drei Fuhren warten auf den Jungen; erst dann befinden sich die wenigen Habseligkeiten, wie Frau Schlundt mitunter ihre Besitztümer nennt, im Stift.

Als roter Feuerball erscheint die Sonne am Himmel. Langsam weicht der Tag der Nacht. Thomas ist müde und hat Hunger. Auch Frau Schlundt ist froh, als der Umzug abgeschlossen ist. Als sich Thomas von ihr verabschiedet, sagt sie: „Der liebe Gott wird dich für deine gute Tat belohnen.“

Thomas tritt mit dem Leiterwagen den Heimweg an, bringt ihn zurück zu seinem Besitzer. Mit Ungeduld erwartet die Mutter ihren Jungen.

„Es ist schon sehr spät“, sagt Frau Boronsky, „Ich habe mir Sorgen gemacht, aber jetzt bist du da.“

„Und hat sie dich wenigstens ordentlich bezahlt“, lässt sich der Vater hören.

Thomas wird verlegen, bevor es über seine Lippen kommt, dann sagt er: „Eigentlich nicht. Sie hat beim Abschied gemeint, der liebe Gott wird mich für meine guten Taten belohnen.“

„Alter Geizhals!“ Mehr hat Vater Boronsky nicht zu sagen.

„Der Junge hat eine gute Tat vollbracht.“ Wenig überzeugend klingt die Stimme der Mutter.

Bestimmt hat Frau Schlundt auch im Stift die Sonne vermisst oder ist über den Verlust von Onkel Erich nicht hinweggekommen. Als Thomas von der Schule nach Hause kommt, sagt ihm die Mutter: „Erinnerst du dich noch an die Frau Schlundt? Sie ist gestorben. Gar nicht alt ist sie geworden. Und ich wusste gar nicht, dass sie eine Tochter hat. Die Anzeige in der Zeitung hat ihre Tochter aufgegeben. Nie habe ich eine Tochter gesehen. Eigenartig!“

Wolfgang hat Geburtstag. Thomas erhält eine Einladung. Wolfgang wohnt in einer der vornehmen Gegenden der Stadt. In Marienbrunn gibt es keine Mietshäuser, nur Einfamilienhäuser mit Garten. Diese Häuser haben viele Zimmer, sogar Besucherzimmer. Wolfgang führt Thomas in sein Zimmer, das größer ist als die Wohnstube der Familie Boronsky. Wolfgang hat einen eigenen Schreibtisch und Bücherregale mit vielen Büchern.

„Hast du die alle gelesen?“ Die Augen von Thomas wandern von Bücherreihe zu Bücherreihe.

„Fast alle.“ Thomas mag dieses Lächeln an Wolfgang nicht. Es drückt so viel Überlegenheit aus. Bei diesem Lächeln fühlt sich Thomas klein und unbedeutend. Trotzdem kämpft er gegen dieses dumme Gefühl an. Seine innere Stimme flüstert ihm dann zu: „Du bist auch wer, Thomas Boronsky. Zwar hast du keinen Privatunterricht in Englisch und Französisch, aber deshalb bist du kein schlechterer Mensch als Wolfgang.“

Wolfgang zeigt ihm den Garten.

„Ihr habt sogar Hühner!“ Thomas ist begeistert. Er mag Tiere.

„So haben wir wenigstens frische Eier.“ Wieder bemerkt Thomas dieses überhebliche Lächeln.

„Nur haben sie wenig Raum, sich zu bewegen“, setzt Thomas das Gespräch fort.

„Wir lassen sie in Abständen im Garten etwas herum scharren. Wir können sie ja jetzt etwas laufen lassen.“ Während er das sagt, öffnet Wolfgang die Tür der mit Draht eingezäunten Ecke zwischen Nebengebäude und Haus.

Thomas kann die Hühner nicht verstehen. Statt aus ihrem engen Auslauf auszubrechen, nehmen sie von der geöffneten Tür keine Notiz.

„Sie sind eben doof. Nur zum Eierlegen und Schlachten zu gebrauchen.“ Wolfgang begibt sich in den Hühnerauslauf und treibt die sechs Hühner aus ihrem Verlies in den Garten. Verlassen irren die Hühner in der ihnen für kurze Zeit gewährten Freiheit umher.

„Habe ich es nicht gesagt, sie sind doof. Kaum dürfen sie ihre paar Quadratmeter verlassen, verlieren sie den Überblick. Weißt du was“, dabei verwandelt sich das hochmütige Lächeln von Wolfgang in ein boshaftes Grinsen, „wir spielen Kommunisten und SS. Wir sind die SS, und die Hühner sind die Kommunisten.“

Bei dem Gedanken, die Rolle der SS zu übernehmen, fühlt sich Thomas nicht wohl. Auch Kommunist möchte er nicht sein.

„Können wir nicht etwas anderes spielen? Und die Hühner im Garten einfach in Ruhe herum picken lassen.“

„Die machen nur Schaden. Die müssen beaufsichtigt werden. Wie die Kommunisten! Du kannst mir glauben, dieses Spiel macht Spaß.“

„Ich will es aber nicht spielen.“ Am liebsten würde jetzt Thomas Wolfgang stehen lassen und nach Hause gehen, aber er möchte nicht unhöflich sein. Als er seiner Mutter von der Einladung erzählte, sagte sie: „Gehe mal hin, mein Junge. Das sind sehr feine Leute. Der Mann ist Lehrer, und die Frau ist Ärztin. Das ist ein sehr guter Umgang für dich. Vielleicht färben die guten Manieren auf dich ab.“

„Den Kommunisten werde ich es jetzt zeigen“, steigert sich Wolfgang in seine Rolle. „Eine kleine Jagd nach ihnen wird allen guttun.“ Mit diesen Worten scheucht Wolfgang die eingeschüchterten Hühner durch den Garten, wirft mit kleinen Holzstücken nach ihnen, um sie nicht ernsthaft zu verletzen. „Und lasst euch ja nicht einfallen, keine Eier nach diesem Vergnügen zu legen.“

Die Hühner wissen, wohin sie gehören. Kaum hatten sie ihr Verlies verlassen müssen, werden sie dorthin zurückgetrieben.

Kommunisten gehören eben hinter Schloss und Riegel. Zufrieden mit sich und der Welt schließt Wolfgang die Drahttür.

Die Jungen kehren zurück ins Haus, ziehen sich in Wolfgangs Zimmer zurück.

„Wenn du willst“, sagt Wolfgang, „kann ich dir Bücher ausleihen. Du brauchst mir dafür nichts zu geben.“

„Ich danke dir für das großzügige Angebot“, hört sich Thomas sagen, „aber ich bin Leser der Bibliothek. Da brauche ich auch nichts für die Bücher bezahlen.“

„Aber in der Bibliothek kannst du nicht jedes Buch ausleihen. Viele der Bücher, die ich besitze, wirst du in der Bibliothek umsonst suchen. Alle Bücher, die drüben veröffentlicht werden, findest du hier in keiner Bibliothek. Sie sind nämlich verboten. Und ich habe viele solcher verbotenen Bücher.“

Die Klingel unterbricht Wolfgangs Wortschwall.

„Das werden sie sein. Ich gehe nach unten um zu öffnen“. Kurz darauf taucht Wolfgang mit zwei Jungen auf, die etwas älter als er und Thomas sind, aber auch die 28. Grundschule besuchen.

„Ihr kennt euch ja alle“, stellt sie einander Wolfgang vor.

Die Jungen unterhalten sich über das Fernsehprogramm und über Filme, die Thomas nicht kennt. Seine Eltern besitzen keinen Fernsehapparat. Sie tauschen ihre Gedanken aus über ihre Englisch-, Französisch- und Lateinstunden, die sie bei Privatlehrern erhalten. Sie sind sich einig darüber, dass die Kenntnis von Fremdsprachen notwendig sei, um im späteren Berufsleben Karriere machen zu können. Thomas kommt aus dem Staunen nicht heraus. Die Jungen haben klare Vorstellungen von ihrer Zukunft, sie wissen genau, welchen Beruf sie einmal ergreifen wollen. Thomas weiß noch nicht, was er einmal werden soll, er weiß nur, dass er keinen Handwerksberuf erlernen wird, weil er zwei linke Hände hat, wie seine Eltern immer wieder betonen. Die Jungen wechseln das Thema. Sie sprechen über Musik, über ihren Klavierunterricht. Thomas kennt keine Noten, er weiß nicht, was ein Notenschlüssel ist. Der Begriff Partitur ist ihm fremd. In der Gemeinschaft dieser Jungen fühlt er sich nicht wohl. Die Gründe kann er nicht in Worte fassen, weil er nicht einmal die Ursachen für dieses unaussprechliche Unbehagen kennt. Ihn bedrängt die Vorstellung, diesen Jungen weit unterlegen zu sein.

Nach dem Abendbrot wird gespielt. Auch Wolfgangs Eltern beteiligen sich daran. Nach dem Allgemeinwissen wird gefragt. Wann welcher Dichter geboren oder gestorben ist oder beides, welche Werke er geschrieben hat, Zahlen und Ereignisse aus der Geschichte stehen im Mittelpunkt, aber auch die Kenntnisse in den Naturwissenschaften werden geprüft. Thomas bildet mit Abstand das Schlusslicht. Er spürt, wie eine große Traurigkeit in ihm aufsteigt, er muss die Tränen unterdrücken.

Es ist dunkel, als er sich von Wolfgang, dessen Eltern und Wolfgangs Freunden verabschiedet. Die Straßenlaternen weisen ihm den Weg. Er lässt die Märchenwiese hinter sich zurück, in der Wolfgang und dessen Freunde zu Hause. sind. Eine tiefe, fast unheimliche Stille umgibt Thomas. Die Grundstücke hinter den mit dichten Hecken bewachsenen Zäunen grenzen Thomas aus, gewähren ihm keinen Einblick. Hier ist er ein Fremder. Die Märchenwiese gehört Wolfgang und dessen Freunden.

Einsam sucht sich Thomas seinen Weg, seine Gedanken kreisen um sein Nichtwissen. Er überlegt, wie er sich auch dieses Wissen und noch anderes Wissen, das Wolfgang und dessen Freunde nicht haben, aneignen kann. Er sucht nach Möglichkeiten, wie er diese Zielstellung verwirklichen kann.

Am Ende der Sommerferien erhält Thomas einen Brief. Die Briefmarke auf dem Umschlag signalisiert ihm, woher der Brief kommt. Die Schrift auf dem Umschlag ist ihm vertraut. Wolfgang meldet sich. Thomas liest den Brief mehrmals, bis er versteht, dass er Wolfgang nie wieder sehen wird. Wolfgang hat mit seinen Eltern die Märchenwiese verlassen. Andere folgen ihnen. Auch Wolfgangs Freunde mit ihren Eltern nehmen Abschied von der Märchenwiese, lassen zurück den Garten, das Haus, die Möbel, vielleicht auch die vielen Erinnerungen. Thomas stellt sich die Frage, warum seine Eltern bleiben. Sie besitzen kein Haus mit einem großen Garten. Er fragt seine Eltern nach dem Grund, nur erhält er keine Antwort.

Nikolai hält inne, denkt nach. Oft hat der Großvater den Namen Wolfgang erwähnt. Nikolai erinnert sich. Einmal hat ihm der Großvater erzählt, dass er diesem Wolfgang im Leipziger Schauspielhaus begegnet sei, als er Student war. Höchst überrascht sei er gewesen, als er erkennen musste, dass Wolfgang von Statur kleiner war als er. Und dann hatte ihm der Großvater die Geschichte erzählt, als er noch gemeinsam mit seinen Eltern in der Hofer Straße im Meyerschen Viertel gewohnt hatte. Bis in alle Einzelheiten hatte sich ihm dieses Bild eingeprägt.

Es klingelt. Er öffnet die Wohnungstür und vor ihm steht ein schick gekleideter, junger Mann, fast zwei Köpfe größer als er. Thomas ist überrascht und verwirrt zugleich. Er erkennt sofort den vor ihm stehenden Riesen in dem modernen Anzug, dem weißen Hemd, der Krawatte, deren Farbe er nicht kennt. Den Mantel trägt er offen. Der Kragen ist hochgeschlagen. Der Besuch aus dem Westen überreicht ein Buch. „Schach von Wuthenow“ heißt es. Wolfgang lädt seinen ehemaligen Klassenkameraden Thomas ein, ihn in der Märchenwiese zu besuchen. Thomas folgt der Einladung. Er zieht sich schick an: die neuste Trainingshose mit Reißverschlüssen rechts und links außen an den Beinen, sein Sonntagshemd und den Wintermantel, der zwar viel zu warm für die Jahreszeit ist, aber er war fast wie neu, als er ihn von seinem älteren Cousin erhielt. Auf dem Weg zur Märchenwiese wird ihm unangenehm warm in diesem Mantel, aber Thomas weiß, wer schön sein will, muss leiden. Ganz deutlich kann er sich an diesen Satz seiner älteren Schwester Helga erinnern. Und nun leidet er auf dem langen Weg zu Wolfgang, wundert sich dabei, dass die Menschen, denen er begegnet, recht sonderbar lächeln.

Viele Jahre mussten vergehen, bis sie sich im Leipziger Schauspielhaus gegenüberstehen. Und nun überragt Thomas um einige Zentimeter den Schulfreund von einst. Wolfgang hatte den Kontakt abgebrochen. Thomas hatte noch zwei Briefe geschrieben, die der schreibgewandte Schulfreund von einst nicht beantwortete. Mutter Boronski sagte nur: Aus den Augen aus dem Sinn! So ist das Leben, mein Junge. Trauere ihm nicht nach. Noch oft wird es dir so im Leben ergehen, dass Freunde einfach so verschwinden. Ihnen musst du keine Träne nachweinen. Sie waren eben keine Freunde, nur Bekannte, die dich eine Wegstrecke in deinem Leben begleitet haben.“ Nur kurz und knapp unterhalten sie sich. Wolfgang ist diplomierter Philosoph, hat in Frankfurt und Hamburg studiert, schreibt an seiner Doktorarbeit. Was Thomas macht, will er gar nicht wissen. Persönlich sind sie sich nicht wieder begegnet.

Nikolai erinnert sich, dass der Großvater später im Zeitalter der Computer ihm erzählte, dass er dem Namen seines Freundes aus fernen Kindertagen im Internet begegnet sei. Philosophie gehörte zu den Hobbies des Großvaters. Lachend hatte er dem Enkel die Geschichte zum Besten gegeben: „In Hanau war es gewesen. An der Berufsfachschule. Wir lehrten beide in den Klassen der künftigen Erzieherinnen und Erzieher. Wir saßen im Lehrerzimmer, und ich gab meinem Affen Zucker, ließ mich über Gott und die Welt aus. Er lachte über meine Späßchen, fragte, ob ich Philosoph sei. Natürlich, sagte ich. Nur für einen Philosophen sei die Welt erträglich, vorausgesetzt er hat als Individuum die für ihn einzig und allein gültige Philosophie entdeckt. Viele Philosophen gibt es, demzufolge auch viele Philosophien. Dagegen sei nichts einzuwenden, solange diese Philosophen keinen Schaden anrichten und ihre Mitmenschen bekehren wollen. Der junge Kollege offenbarte sich dem Großvater. Er sei studierter Diplom-Philosoph, aber trotz seines bombastischen Abschlusses hätte er keine Anstellung gefunden. Da er nicht als Taxifahrer wie andere einstige Kommilitonen arbeiten wollte, manche von denen hätten gar promoviert, hätte er sich für das Fach Deutsch als Fremdsprache entschieden und eine weitere Zusatzausbildung absolviert und ein weiteres Stück Papier mit Auszeichnung erworben. Großvater nannte ihm den Namen seines einstigen Klassenkameraden aus den fernen Kindertagen. Für den Diplom-Philosophen war der Name kein Begriff. Großvater belehrte ihn, dass sein einstiger Freund nunmehr die Titel Professor und Doktor habe und eine private Lehranstalt in der Schweiz. Der zum Berufsschullehrer mutierte Diplom-Philosoph winkte ab und sagte: Vielleicht hat ihr einstiger Freund Glück und kann seine Philosophie gewinnbringend auf dem Bildungsmarkt verhökern. Jedenfalls für mich ist er kein Begriff. Noch nie habe ich von ihm gehört. Großvater nahm im Internet oft Kontakt mit seinem ehemaligen Klassenkameraden auf, der völlig vergessen hatte in seiner Vita die Wurzeln seiner Herkunft anzugeben. Er hatte das Land der aufgehenden Sonne in seiner Entwicklung völlig ausgeblendet, mit keinem Wort erwähnt, als hätte dieses Land nie existiert. Nun war der Großvater tot. Nikolai nimmt sich vor über das Internet zu prüfen, ob dieser Dekan, der für ihn kein Begriff ist, noch unter den Lebenden weilt. Jetzt will er erst einmal weiter lesen. Das Wetter ist geradezu ideal dafür. Draußen regnetes in Strömen.