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General. Über die ersten 33 Jahre existiert eine Fülle von Literatur über diesen Mann, über die restlichen 21 Jahre nur der eine Satz: Nach dem Krieg lebte Hitschold am Starnberger See und starb am 10. März 1966 überraschend. Der alte Mann Jan identifiziert sich mit der Rolle des Hubertus Hitschold, verschmilzt mit ihr. Er begleitet den alten Mann Jan in seinen Träumen. Das Leben des Hubertus Hitschold zieht an ihm vorbei. Jan erlebt die ersten 33 Jahre, den sensationellen Aufstieg anhand vieler Artikel aus dem Inland und dem Ausland. 1945 erfolgt eine Zäsur. Für die folgenden 21 Jahre gibt der Satz Auskunft: Nach dem Krieg lebte Hitschold am Starnberger See und starb am 10. März 1966 überraschend. Dieser Satz gibt Anlass für Spekulationen, für Interpretationen. Jans Vater Curt wählte Ost-Thüringen als Ausgangspunkt für die Ahnenforschung, bastelte sich seinen Lebenslauf zurecht ohne jegliche slawische Verwandtschaft. Hubertus Hitschold stammt aus Kurwien in Ostpreußen. Seine beiden Lebensläufe bilden einen Rahmen, umschließen eine Fülle von Geschichten aus dem Leben des alten Mannes Jan Hetzschold.
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Seitenzahl: 93
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Werner Hetzschold
Engelsdorfer Verlag Leipzig 2024
Bibliografische Information durch die Deutsche
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Copyright (2024) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Titelbild Masurische Seenplatte
© Janusz Lipiński [Adobe Stock]
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Cover
Titel
Impressum
Im Dunklen verliert sich der Weg
Hetzschold
Mittels Computer hält Jan die Verbindung zur Außenwelt. Gäbe es den Computer nicht, wäre Jan völlig abgeschnitten von der Welt jenseits des Raumes, den er Arbeitszimmer nennt. So aber hat er Glück, weil er in einer Epoche lebt, in der es neben dem Internet die Künstliche Intelligenz gibt, vor der er unheimlichen Respekt hat, weil er sie nicht versteht, nicht begreift, ihr hilflos gegenüber steht, ihr ausgeliefert ist.
Der alte Mann ist mit dem Internet beschäftigt. Mit der eigenen Familiengeschichte setzt er sich auseinander. Er surft, ist erstaunt, wie viele Hetzschold, Hetschold, Hetzscholdt, Hetscholdt, Hitzschold, Hitschold, Hitzscholdt, Hitscholdt, Hitschhold, Hitschbold, usw. es auf dieser Welt gibt. Die Liste ist scheinbar grenzenlos. Er kann es nicht fassen. Der Computer eröffnet Welten, die es für ihn vor zehn Jahren noch nicht gab. Damals war sie für ihn noch überschaubar, entschlüsselbar. Jetzt ist sie für ihn ein Chaos, ein Rätsel, nicht entschlüsselbar, ein ewiges Geheimnis, sich ständig verändernd.
Auf dem Bildschirm begegnet er einem Mann in Uniform: Hubertus Hitschold, Hubertus Hitschhold,
Hitzold. Der alte Mann prüft. Hubertus Hitschold ist sein Name, Generalmajor der Luftwaffe, General der Schlachtflieger, Ritterkreuz mit Eichenlaub (1912 – 1966). Neugierig betrachtet der alte Mann die Fotos, liest die Texte, vergleicht die Angaben, ist fasziniert von der Biografie. 1945 zu Kriegsende betrug sein Alter 33 Jahre. Da lag diese Laufbahn hinter ihm. Aufmerksam liest der alte Mann die Angaben, immer wieder. Folgende Auszeichnungen wurden ihm verliehen:
Eichenlaub als zweiter StukafliegerEK II am 15.09.1939EK I am 11.05.1940Frontflugspange für Kampfflieger in GoldFlugzeugführerabzeichenVerwundetenabzeichen in SilberÄrmelband „Kreta“ 1943Dienstauszeichnung II. Klasse 1938Spange „Prager Burg“ 1939Ostmedaille 1942Der alte Mann wendet sich den Beförderungen zu.
04/1930 Soldat10/1932 Fahnenjunker06/1933 Fähnrich03/1934 Leutnant09/1935 Oberleutnant01/1939 Hauptmann07/1940 Major02/1943 Oberstleutnant01/1944 Oberst01/1945 GeneralmajorKontinuierlich steil nach oben verlief die Laufbahn. Höchst persönlich gratulierte ihm Hitler. Im Internet fand Jan ein Foto. Diese berufliche Laufbahn mit gerade einmal 33 Jahren. Phänomenal! Der alte Mann studiert die Texte. Gründlich, gewissenhaft, identifiziert sich mit der Rolle des Hubertus Hitschold, verschmilzt mit ihr.
In Kurwien, in Ostpreußen gelegen, wird Hubertus Hitschold am 07.07.1912 geboren. Noch nie hat Jan den Namen des Dorfes Kurwien gehört. Ostpreußen dagegen ist ihm ein Begriff. Es grenzte im Osten an die Sowjetunion, an das Imperium Stalins. Der alte Mann muss sich über dieses Kurwien informieren. Das Internet hilft. Er findet: Kurwien, deutscher Ortsname, Dorf im Kreis Johannisburg, Ostpreußen, seit 1945 Karwica (Ruciane-Nida), Dorf in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren. Jan stöbert im Atlas, vergleicht seine Daten mit denen im Atlas, mit den Abbildungen im Internet. Kurwien gehört heute zu Polen, unweit der Grenze zu Russland. Er sucht im Internet, wird mit folgenden Daten konfrontiert: Hierarchie: Deutsches Reich, Ostpreußen, Regierungsbezirk Allenstein, Landkreis Johannisburg, Kurwien (Kreis Johannisburg). Die Martin-Opitz-Bibliothek verkündet folgende Angaben: Im Herzen Masuren(s), das masurische Dorf Kreuzofen, Post: Kurwien, Kreis Johannisburg, Ostpreußen. Jan trifft auf die Auskunft: Aus Kurwien gebürtig: Hubertus Hitschhold, geboren am 7 Juli 1912 in Kurwien, gestorben am 10. März 1966 in Söcking, deutscher Offizier. Verwundert ist der alte Mann über die unterschiedlichen Schreibweisen des Namens: Generalmajor Hubertus Hitschhold als Überschrift, sonst im Text durchgängig Hitschold. Es existiert auch die Schreibweise Hitzold. Aufgrund der allgemein gültigen Schreibweise des Namens Hitschold ist der alte Mann überzeugt, dass diese Schreibweise die richtige ist.
Nach bestandenem Abitur tritt Hitschold 1930 in die Reichswehr ein. Von April 1930 bis März 1931 legt er bei der Deutschen Verkehrsfliegerschule in Schleißheim seine Flugscheine ab. Eine Ausbildung zum Jagdflieger in Lipezk in Russland folgt. Im Oktober 1931 wird er zum 2. Kavallerie-Regiment versetzt, wird 1932 zum Fahnenjunker befördert. 1935 wird er zur neu gegründeten Luftwaffe in Cottbus versetzt, wird Staffelkapitän und Kommandeur, erhält Auszeichnungen wie das Ritterkreuz. Es folgen Einsätze in England, auf dem Balkan, auf Kreta, in Russland. 1941 erfolgt ein Abschuss hinter den feindlichen Linien. Dass er nicht in Gefangenschaft gerät, verdankt er der entschlossenen Haltung eines Offiziers. 1941 wird er Kommandeur der Sturzkampf-Flieger-Schule, wird für seine Leistungen mit dem Eichenlaub geehrt. 1942 erfolgt sein Einsatz erneut an der Front. Er wird Fliegerführer auf Sardinien und Italien, wird zum General der Schlachtflieger befördert. Nach dem Krieg zieht er sich an den Starnberger See zurück, genauer gesagt nach Söcking.
Das ist seine Biografie, sehr kurz gefasst. Jan sucht nach Angaben über sein Leben nach dem Zweiten Weltkrieg, findet aber nur den einen Satz: Nach dem Krieg lebte Hitschold am Starnberger See und starb am 10. März 1966 überraschend. Dieser Satz beinhaltet das Leben dieses Mannes nach dem Krieg. Sonst findet er keine Angaben, so gründlich er auch sucht. Dieser Satz widerspiegelt das Leben nach dem Krieg. Immerhin bis zu seinem Tod blieb ihm eine Lebensdauer von 21 Jahren. In 21 Jahren kann viel passieren, sich sehr viel ereignen.
Nach Kurwien konnte er nicht zurückkehren. Ostpreußen existierte nicht mehr, war auf keiner Landkarte zu finden. Der Regierungsbezirk Allenstein und der Landkreis Johannisburg trugen polnische Bezeichnungen. Seine Heimat Masuren war ein Teil im äußersten Osten der Volksrepublik Polen geworden, gehörte dem Warschauer Vertrag an, lag jenseits des Eisernen Vorhanges. Unerreichbar für ihn als ehemaliger deutscher General. Das ehemalige deutsche Dorf Kurwien hieß seit 1945 Karwica (Ruciane-Nida), Dorf in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren.
Im Internet wird dem alten Mann mitgeteilt, dass sämtliche standesamtlichen Unterlagen für Kurwien verschollen sind. Somit erinnert nichts mehr an Hubertus Hitschold. Jan überdenkt die Situation. Er kommt zu folgendem Ergebnis. Hubertus Hitschold hat zwei Leben gelebt. Das erste Leben reicht von der Geburt 1912 bis 1945, dann schließt sich das zweite Leben an ab 1945 bis 1966. Über das erste Leben findet er Unterlagen in vielen Sprachen über diesen Mann, im zweiten Leben entdeckt er nach gründlicher Recherche nur den Satz: Nach dem Krieg lebte Hitschold am Starnberger See und starb am 10. März 1966 überraschend. Das adverbial gebrauchte Adjektiv am Ende des Satzes gibt Jan zu denken. Wie der Satz formuliert ist, hat kein Mensch mit dem Tod gerechnet. Er war 54 Jahre alt, hatte noch viele Jahre vor sich, war durchtrainiert, sportlich, nichts konnte ihn umwerfen. Er lebte in der schönsten Gegend Deutschlands, blickte im Süden auf die nahen Alpen. Und vor sich hatte er den See. Auf ihm konnte er träumen, seine Fantasie schweifen lassen. Wie lässt sich dieser frühe Tod erklären? Ängstigte ihn etwas? Hatte er Sehnsucht nach Masuren, nach Ostpreußen? Nirgends ist davon die Rede. Jan prüft die Jahre vor 1966 auf bedeutende Einschnitte in der Geschichte Deutschlands, auf politische Ereignisse, Geschehen, Auseinandersetzungen. Der Eiserne Vorhang trennt Europa in Ost und West. Picassos Friedenstaube fliegt von Ost nach West. Ging eine Welt nach dem Zweiten Weltkrieg für ihn verloren, für ewig, für immer, hatte er Familie, Kinder? Nach 1945 taucht sein Name nirgends mehr auf. Er ist und bleibt verschwunden, ist abgetaucht für immer, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Der alte Mann hat einen Verdacht. Das Leben war für ihn sinnlos, wertlos geworden. Nur wartet ein Mensch 21 Jahre, bis er eine Entscheidung trifft. Jeder Mensch ist anders. Der alte Mann informiert sich mittels Internet über die Zeit bis 1966, hinterfragt das politische Geschehen. Er kommt zu keinem Ergebnis. Ostpreußen ist Vergangenheit. Ermland-Masuren gehört zu Polen. Hubertus Hitschold träumte von dieser Region. Die Berge waren für ihn kein Ersatz. Freiwillig schied er aus dem Leben. Sein zweites Leben war ein Misserfolg. Dieses Ende passt auch nicht als Schluss. Der alte Mann grübelt, wie es gewesen sein könnte, schläft über den Grübeleien ein. Er träumt, noch immer mit dem Thema beschäftigt. Jan verwandelt sich in Hitschold, genießt den Starnberger See, die hohen Berge, das Wasser, die Einsamkeit, die keine ist. Überall herrscht reges Treiben. Er zieht sich in seine Räume zurück, sehnt sich nach Stille, schaltet ab. Vor seinem Auge breitet sich flaches Land aus. Er kennt seine Heimat, die masurische Seenplatte, das masurische Meer, unterbrochen von endlosen Wäldern, Buchenwälder, die einen Urwald bilden. Die Stämme ragen in den Himmel, lassen kein Unterholz aufkommen. Licht durchflutet den Urwald, der menschenleer ist, zumindest für den Betrachter. Endlos sind die Wälder, endlos das masurische Meer, flach das Land. Kein Hügel ist zu sehen, keine Erhebung. Die masurische Seenplatte verzaubert das Auge. Kaschubisch nimmt das Ohr wahr. Hier sind die Kaschuben zu Hause, zumindest teilweise. Wisente tummeln sich in den Wäldern, Rothirsche, Wildschweine, der Luchs, der Wolf, sogar der Bär. Dieses Land wird er nie wieder sehen. Nach Einnahme der Tabletten gleitet er sanft in das Land, aus dem es keine Wiederkehr gibt.
So könnte es gewesen sein. Gedanken verloren starrt der alte Mann auf den Bildschirm, denkt nach. In dieser Zeit gab es noch keinen Computer, auch keine Künstliche Intelligenz. Damals wurde viel mehr geschrieben als heute. Ihm fällt sein Vater Curt ein und dessen Familienforschung. Wenn sein Vater gewusst hätte, dass es einen Hubertus Hitschold gibt, hätte er anders über diese Ahnen geurteilt. So aber kannte er ihn nicht, wollte bei der Familienforschung keine Polen in seiner Chronik haben, schwieg sie alle tot. Sie existierten nicht für ihn. Er bastelte sich seine Familienchronik zurecht, ließ weg, was ihm unangenehm war, was störte, was einfach nicht passte.
1971 ist das Jahr, in dem Jan den Schuldienst aufnimmt, in Cottbus, an der Thälmann-Schule. Bereits 27 Jahre hat er hinter sich, den Beruf des Schriftsetzers erlernt, Hand- und Maschinensatz, ist Korrektor gewesen, hat bei der Bereitschaftspolizei 18 Monate gedient, ist als Unterwachtmeister entlassen worden. Jetzt beginnt für Jan ein neuer Lebensabschnitt. Leipzig musste er verlassen, die Freunde, die Bekannten. Jan wird als Klassenleiter eingesetzt, in einer achten Klasse mit Jugendweihe. Einen Nachmittag verbringen sie in der Panzerkaserne, besichtigen den Traditionsraum. Seine Schüler machen ihn auf einen Namen aufmerksam. Da steht geschrieben schwarz auf weiß Hetzschold. So lautet der Name des Kommandeurs, des Generals, des Leiters der Panzerkaserne. Wenn er Jahre später vom Neubauviertel Sachsendorf Richtung Zentrum lief, begegneten sie sich täglich, der General und er. Der General legte den Weg zu Fuß zurück, allein, ohne jegliche Begleitung, zumindest fiel Jan kein Personenschutz auf. Viele Jahre später erfuhr Jan, dass der General in das Wehrkreiskommando nach Leipzig versetzt worden war, wo er eigentlich herkam. Jetzt erinnerte sich Jan an eine Familie Hetzschold, die in Leipzig an der Lindenthaler, Ecke Schumannstraße in dem Eckhaus gewohnt hatte. Jans Vater nannte ihn den „roten Hetzschold“, von dem er nur wusste, dass er ein Armee-Mensch sei. Damals war Jan ein kleiner Junge, interessierte sich nicht für die Nationale