Der Nachtläufer - Karin Fossum - E-Book + Hörbuch

Der Nachtläufer Hörbuch

Karin Fossum

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Beschreibung

Die Psychologie des Bösen: Der Skandinavien-Thriller »Der Nachtläufer« der norwegischen Bestsellerautorin Karin Fossum jetzt als eBook bei dotbooks. In tiefster Nacht steht er plötzlich an den Betten seiner Opfer, zielt wortlos mit der Waffe auf sie … Doch wer darf leben, wer wird sterben?   In einer norwegischen Kleinstadt geht die Angst um: Drei Menschen haben die Überfälle des Einbrechers, den man »Nachtläufer« nennt, überlebt – aber wie lange noch, bis der Erste stirbt? Kommissar Eddie Feber ist sicher, dass die mysteriösen Zahlenkombinationen an den Tatorten einen Hinweis darauf geben – doch wird er das eiskalte Rätsel rechtzeitig lösen? Was Feber nicht ahnt: Ganz in seiner Nähe hat auch der junge Meidel Jonsson das Gefühl, vor Angst ersticken zu müssen: Immer näher rückt der Tag, an dem sein Vater aus dem Gefängnis nach Hause zurückkehren wird – und mit ihm das Böse …  Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der psychologische Spannungsroman »Der Nachtläufer« von Bestsellerautorin Karin Fossum ist der fesselnde Auftakt ihrer Krimireihe um Kommissar Eddie Feber und wird Fans von Hjorth & Rosenfeldt begeistern. Das Hörbuch und die Printausgabe sind bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:6 Std. 43 min

Sprecher:Frank Stieren
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Über dieses Buch:

In tiefster Nacht steht er plötzlich an den Betten seiner Opfer, zielt wortlos mit der Waffe auf sie … Doch wer darf leben, wer wird sterben?  

In einer norwegischen Kleinstadt geht die Angst um: Drei Menschen haben die Überfälle des Einbrechers, den man »Nachtläufer« nennt, überlebt – aber wie lange noch, bis der Erste stirbt? Kommissar Eddie Feber ist sicher, dass die mysteriösen Zahlenkombinationen an den Tatorten einen Hinweis darauf geben – doch wird er das eiskalte Rätsel rechtzeitig lösen? Was Feber nicht ahnt: Ganz in seiner Nähe hat auch der junge Meidel Jonsson das Gefühl, vor Angst ersticken zu müssen: Immer näher rückt der Tag, an dem sein Vater aus dem Gefängnis nach Hause zurückkehren wird – und mit ihm das Böse …

»Der Nachtläufer« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über die Autorin:

Karin Fossums international erfolgreiche Krimis sind vielfach preisgekrönt. Ihr genaues Gespür für menschliche Abgründe beweist die norwegische Bestsellerautorin auch in der neuen Eddie-Feber-Reihe.

Bei dotbooks veröffentlichte Karin Fossum ihre Reihe um Eddie Feber mit den Kriminalromanen »Der Nachtläufer« und »Familienbande«, die auch als Printausgaben und Hörbücher bei SAGA Egmont erhältlich sind.

Außerdem erscheint bei dotbooks ihre Konrad-Sejer-Reihe mit den Thrillern »Evas Auge«, »Fremde Blicke«, »Schwarzer Wald«, »Dunkler Schlaf« und »Stumme Schreie«.

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eBook-Ausgabe März 2024

Die norwegische Originalausgabe erschien erstmals 2022 unter dem Originaltitel »Natteløperen« bei Cappelen Damm, Oslo.

Copyright © der norwegischen Originalausgabe 2022, 2024 Cappelen Damm und SAGA Egmont

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2024 SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Die Verszeilen in Kapitel 2 entstammen dem Gedicht »Gategutt« von Rudolf Nilsen (»På gjensyn«, 1926). Übertragung ins Deutsche: Roland Hoffmann

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive

von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98690-832-4

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Dieser Roman wurde gefördert durch

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Karin Fossum

Der Nachtläufer

Kriminalroman, Eddie Feber 1

Aus dem Norwegischen von Roland Hoffmann

dotbooks.

Zitat

Heaven and hell

are just one breath away.

Andrew Warhola

Prolog

Ich bin nicht ganz ich selbst.

Leider habe ich das nie wirklich hinbekommen, nicht einmal jetzt bin ich ganz ich selbst, aber ich reiße mich zusammen.

Ich höre, dass er atmet.

Ich schlafe nicht, ich bin nicht wach, ich fantasiere. Ich schließe die Augen und vergrabe mich in der Matratze, dann sieht er mich nicht, und es ist bloß ein Traum.

Doch da ist dieser Geschmack im Mund. Eisen und Blut.

Und warum sollte ich leichter davonkommen als andere? Ich bin ein schlichter Mensch. Wollte fast nichts im Leben, habe um nichts gebeten, nichts bekommen, auf nichts gehofft. Ich habe das Leben eines Feiglings gelebt. Habe mich für andere Menschen unsichtbar gemacht und war doch bitter, weil ich nie gesehen wurde.

Sie werden mich finden und wegtragen.

Überall im Raum werden fremde Menschen sein, dabei bin ich doch so schüchtern.

Die Gedanken schossen ihr durch den Kopf, während sie auf diese Verdichtung in der Dunkelheit am Ende des Bettes starrte. Sie lag in einer stabilen Seitenlage mit dem Rücken zum offenen Fenster.

Sie hatte das Gefühl, nach unten zu rutschen, auf etwas Kaltes zu, wie damals, als sie mit dem Vater beim Fliegenfischen war und der Fels nass und glatt war und sie im Wasser landete.

Es steht jemand im Raum, und er will mir nichts Gutes. Einatmen, ausatmen.

Sie lag da, das Gesicht ins Kissen gebohrt, während ihr das Blut zu Kopf stieg.

Wenn ich ihn ignoriere, wird er verschwinden.

Dann wurde sie wütend, auf ihn und auf sich selbst und auf die Welt wegen all ihrer Ungerechtigkeit und wegen der hinterlistigen Einfälle der Menschen.

Einatmen, ausatmen.

Was für ein fürchterlicher Traum!

Sie nahm alles zusammen, was sie an Todesverachtung besaß, und setzte sich im Bett auf.

Sein Gesicht schwebte in der Dunkelheit, schimmernd wie Phosphor. Die Angst hielt sie in einer Zwinge und presste ihr den Mageninhalt nach oben in den Rachen, bis er ihr aus dem Mund lief.

Farbiges Licht strömte von dem Schild auf der gegenüberliegenden Straßenseite in den Raum. Sein weißes Gesicht war ein paar Sekunden lang rot, dann wurde es blau.

Mit der Waffe in seiner Hand zielte er auf sie. Die Stimme war leicht und hell: »Ruhig sitzenbleiben. Nicht schreien.«

Er trug keine Maske, wie sie zuerst gedacht hatte, die leuchtende Fläche war sein eigenes Gesicht, kalt und weiß wie ein Mond.

Sie hob die Hand, um sich zu schützen. Mehr konnte sie nicht tun.

Einatmen, einatmen, einatmen.

Das Gesicht wechselte seine Farbe, wurde grün.

Und dann, ein scharfes Klicken, als er den Hahn spannte.

Kapitel 1

Sie war kräftig gebaut: breite Schultern, Fäuste wie ein Mann und ein Heuhaufen aus dunklem Haar. Margot von Hanno war eine große Frau. Wenn sie ihr breites Lächeln lächelte, konnte man glauben, sie hätte mehr Zähne als andere Leute.

Manfred saß neben ihr, hochgeschossen und schlaksig und mager, in seiner Uniform war noch viel Platz. Er betrachtete Margot und fand, dass sie hübsch war mit ihrem üppigen Busen und ihrem breiten Lächeln. Es musste schön sein, den Kopf an ihre Brust zu legen, warm und pochend, wie sie sicherlich war. Mehr als das wollte er von Margot nicht. Doch an sie als ein Ruhekissen zu denken war an sich schon schön. Seine Frau May-Britt war kein Ruhekissen, sie war eher eine Verantwortung, die ein bisschen was wog.

Sie waren auf dem Weg zum Bringebærfjellet, dem Himbeerhügel, nachdem dort ein Todesfall gemeldet worden war. Der Bringebærfjellet lag am Rande der Stadt, eine fruchtbare Anhöhe umgeben von Wald und einer Gruppe schäbiger, wild zusammengewürfelter Häuser – jedes in einer anderen Farbe und Bauart. Wobei Regen und Wind die Fassaden zerfressen hatten, sodass die Gebäude jetzt doch auf eine seltsame Art einheitlich wirkten. Alle hatten einen Grauschimmer. Zwischen ihnen wuchs Unkraut und Giersch.

Nummer 19 war grün und verblichen. Unter dem Grün ahnte man eine andere, schmutzig gelbe Farbe, und an einigen Stellen konnte man die graue Holzverkleidung sehen. Ein weißer Lieferwagen war auf dem Hof abgestellt. Links vom Eingang stand ein rostiger Kugelgrill.

Margot fragte Manfred nach der Hochschule, ob er den Dozenten gehabt hatte, den sie den Großen Grauen nannten.

»Ja, den hatten wir, ich erinnere mich gut an ihn.«

Margot zitierte einen der Lieblingsaussprüche des Dozenten: »Man muss immer auf das Worst-Case-Szenario vorbereitet sein. Ist man nicht auf den Worst Case vorbereitet, besteht die Gefahr, dass man die Fassung verliert und einem auf diese Weise wichtige Beobachtungen entgehen. Dann wird einem Menschen, der den Notruf wählt, nicht mit der ruhigen Autorität begegnet, die er sicherlich nötig hat.«

»Das hier ist kein Worst Case«, sagte Manfred. »Das ist bloß ein alter Mensch, der verstorben ist.«

»Bloß ein alter Mensch?«

»Du weißt, was ich meine.«

»Aber du erhoffst dir etwas Dramatischeres?«

»Das tust du doch auch«, neckte Manfred sie.

Niemand wartete draußen. Sie klopften an und traten ein. Sofort schlug ihnen dieser ganz eigene Geruch entgegen – nach fehlender Sauberkeit und vielleicht einem alten Menschen, der es nicht schaffte, sich um sich selbst zu kümmern. Sie gingen weiter in die Küche, wo sich Abwasch und Töpfe, Pizzaschachteln und leere Flaschen auf dem Küchenschrank häuften. Auf einem Stuhl am Fenster saß ein Junge im Teenageralter, schmal und ziemlich bleich, mit dünnen Armen und Beinen und einem Gesicht, das seltsam erwachsen wirkte.

Der Junge deutete auf eine geschlossene Tür.

»Er liegt da drin.«

Margot und Manfred gingen über die knarrenden Bodendielen und öffneten die Tür zum Schlafzimmer. Hier war der Geruch stärker. Die Wände hatten dieselbe Farbe wie die äußere Holzverkleidung, eine Art von Lindgrün. Auf einem Nachtkästchen standen mehrere Arzneigläser, und durch ein offenes Fenster mit Spitzengardinen drang ein Hauch warmer Luft. In einem einfachen Bett lag ein alter Mensch, gezeichnet vom Tod und dessen Auswirkungen.

Nur noch der Körper ist übrig, dachte Margot von Hanno. Die Hände mit lilablauen Flecken lagen hübsch gefaltet auf dem Bauch, und der zahnlose Gaumen stand offen. Die Zahnprothese lag in einem Glas auf dem Nachtkästchen, die Augen waren offen. Die Iris war ausgetrocknet und sah aus wie Luftpolsterfolie, aus der die Luft entwichen war.

»Hast du ihn so gefunden?«

Der Junge war ihnen gefolgt, lautlos wie eine Katze.

Das bleiche Gesicht zeigte keinerlei Regung.

»Großvater«, sagte er.

»Er ist dein Großvater? Und du bist ihn besuchen gekommen?«

»Ich wohne hier«, antwortete der Junge, »ich habe ihn so gefunden.«

»Wann hast du ihn gefunden?«

»Als ich heute aufgestanden bin.«

»Hast du das Fenster aufgemacht?«, fragte Manfred.

»Ja.«

»Und hast du seine Hände bewegt?«, wollte Margot wissen.

Der Junge sah sie mit einer jähen Intensität an. Ihr wurde unwohl bei dem Blick, sie verstand nicht, warum.

»So sollen die Hände liegen, wenn man tot ist, habe ich gehört.«

»Aber wie lagen sie ursprünglich?«

»So wie jetzt.«

»Wann genau bist du heute aufgestanden?«

»Hab nicht auf die Uhr gesehen«, entgegnete der Junge. »Ich bin direkt in Lennarts Zimmer gegangen und hab seinen Namen gerufen. Dann hab ich ihm die Hand an die Wange gelegt und gespürt, dass sein Körper kalt war.«

»Hast du nicht gesagt, dass er dein Großvater ist?«

»Er ist mein Großvater, und er heißt Lennart, sind Sie schwer von Begriff, oder wie?«

Margot ignorierte die Beleidigung.

»Ich habe Sie sofort angerufen«, fügte er hinzu.

»War dein Großvater gestern Abend noch wohlauf?«

»Ja, es ging ihm gut.«

»Wann bist du gestern ins Bett gegangen?«

»Hab nicht auf die Uhr gesehen.«

»Er war aber am Leben, als du ins Bett gegangen bist, da bist du dir sicher?«

»Ich war bei ihm und hab Gute Nacht gesagt, und da war er völlig in Ordnung.«

»Wie muss man sich das vorstellen? Was heißt es, dass dein Großvater ›völlig in Ordnung‹ war?«, fragte Manfred.

»Klar in der Birne und steif in den Gelenken.«

»Habt ihr gestern Abend viel miteinander geredet?«

»Wir reden immer viel.«

»Wie alt ist er?«

»Neunundsiebzig.«

»Hatte er irgendwelche chronischen Krankheiten?«

»So Altmännerzeugs, glaub ich.«

»Altmännerzeugs?«

»Krebs, vielleicht. Schwaches Herz. Und was mit den Nieren.«

Er maß Manfred von oben bis unten mit einem Blick. Dann drehte er sich um, ging wieder hinaus in die Küche und ließ sich auf den Stuhl am Fenster fallen. Er wirkte müde und resigniert, oder gleichgültig, das war schwer abzuschätzen. Manfred ging ihm nach.

»Warum wohnst du bei deinem Großvater?«

»Hab keine Eltern.«

»Sind sie tot?«

»Sie sind keine Eltern.«

»Was sind sie dann?«

Der Junge holte Luft und legte die Dinge dar.

»Mein Vater ist eingebuchtet. Mama ist in einer Einrichtung.«

»Was für eine Einrichtung?«

»Die psychiatrische in Varden. Mein Vater ist in Ullersmo.«

»Seit wann?«

Er krümmte sich bei der Frage.

»Mein Vater hat vier Jahre bekommen und muss noch dreißig Tage davon absitzen. Mama ist seit zwölf Monaten in Varden.«

»Also wird dein Vater in einem Monat freigelassen.«

»Das wird er. Und dann kommt er hierher. Lennart ist tot, daher gehört ihm jetzt das Haus.«

»Das wird schön, wenn dein Vater wieder nach Hause kommt, nicht wahr?«

»Das wird nicht schön, nein.«

»Wie alt bist du?«

»Achtzehn.«

Auf keinen Fall bist du achtzehn, dachte Manfred.

Erneut fiel ihm dieser Blick auf: scharf in der einen Sekunde und gleich darauf seltsam ausweichend. Der Junge trug eine schwarze Kapuzenjacke, jetzt zog er sich die Kapuze über, beugte den Kopf und faltete die Hände auf dem Tisch.

»Hatte dein Großvater irgendeine Hilfe? Einen Pflegedienst oder so?«

»Wollte er nicht.«

»Also hast du ihn versorgt?«

»Ja, ich habe ihn versorgt.«

»Wo befindet sich dein Zimmer? Kann ich es sehen?«

»Nein«, erwiderte der Junge bestimmt und sah ihn unschuldig an.

Manfred blieb freundlich und unternahm einen neuen Versuch. »Ein bisschen Unordnung macht uns nichts aus, das sehen wir nicht zum ersten Mal.«

Der Junge sah ihn unter gesenkten Augenlidern heraus an.

»Hab ich gesagt, dass es unordentlich ist?«

Unwillkürlich musste Manfred lächeln. So viel zu seinen Vorurteilen über Teenager.

»Wir würden gern sehen, wo du so schläfst. Es hat hier einen Todesfall gegeben, und in solchen Fällen müssen wir ein paar routinemäßige Untersuchungen durchführen. Das ist Vorschrift. Der Tod ist eine ernste Angelegenheit.«

»Was für eine ernste Angelegenheit?«, fragte der Junge, »Das ist einfach der Lauf der Natur. Ich will Großvater bloß wegbringen. Hier gibt es nichts zu untersuchen.«

»Du willst ihn wegbringen?«

»Er soll eingeäschert werden. Die Seele verdirbt, wenn sie in einem verfaulenden Körper bleibt. Großvater muss brennen.«

»Wer sagt das?«

»Ich.«

»Vielleicht ist dein Vater anderer Meinung?«

»Ist er nicht.«

Aus dem Jungen konnte man nicht schlau werden. Verblüffend kleine Hände, glatte und weiße Haut, der Blick eines Erwachsenen. Seine Stimme war hell, hatte aber ein großes Register, von zart und sanft bis hin zu scharf und spöttisch-schneidend. Und dazu dieser Blick, die Augen blau und kindlich in der einen Sekunde und in der nächsten schmal und durchtrieben.

Manfred ging im Haus umher, öffnete eine Tür und schaute in ein gefliestes Bad mit etwas Schmutzwäsche auf dem Boden und einer rissigen Seife am Waschbecken. Das Porzellan in der Toilette war braun verfärbt, das Gleiche galt für den Boden der Badewanne. Er versuchte es mit einer anderen Tür, blickte in ein Wohnzimmer mit Sofa und zwei Stühlen, Bücherregalen und Fernseher und vielen Fotografien an der Wand. Versuchte es mit der nächsten Tür und sah in eine Speisekammer mit Eingemachtem in den Regalen. Öffnete auch die nächste Tür und sah auf ein Bett mit blauer Bettwäsche. Vor dem Fenster hingen Gardinen in derselben Farbe. Das Bett war ordentlich gemacht, ein paar verdreckte Joggingschuhe standen nebeneinander auf dem Boden. Unter dem Fenster befand sich ein Schreibtisch mit einem älteren Desktop-Computer. Plakate an der Wand, er kannte die abgebildeten Idole nicht, falls sie Idole waren. Ein rotes Lämpchen zeigte an, dass der PC eingeschaltet war. Insgesamt wirkte das Zimmer des Jungen nackt, aufgeräumt und sauber. Manfred ging wieder hinaus, durch die Speisekammer und in die Küche.

»Schaltest du den PC ab, wenn du abends ins Bett gehst?«

Der Junge nickte.

»Aber jetzt ist er eingeschaltet. Hast du nach etwas gesucht?«

Er schüttelte den Kopf.

»Das Erste, was ich mache, wenn ich aufstehe, ist, den PC einzuschalten«, erklärte er.

»Gehst du vielleicht auf eine weiterführende Schule?«

»Nein.«

»Also hast du einen Job?«

»Lennart und ich haben von seiner Sozialhilfe gelebt, wir kommen mit wenig aus.«

»Aber dein Großvater ist tot. Wovon wirst du leben?«

»Dann werde ich wohl Zeitungen austragen!«

Er wurde so langsam gereizt. Der Zorn zeigte sich am Mund und in den geballten Kinderhänden.

»Hab die Ausbildung, die ich brauche«, sagte er mürrisch. »Vier Jahre an der ›Lennart Jonsson Universität‹.«

»Was hat er gemacht, ehe er Rentner wurde?«

»Er war Hausmeister im Glaswerk.«

»Das Auto da draußen, wem gehört das?«

»Es ist auf meinen Vater zugelassen, ich nutze es zum Einkaufen und so. Hab im Frühjahr den Führerschein gemacht. Lennart hat bezahlt.«

»Wie war dein Name noch gleich?«

»Meidel André.«

»Und weiter?«

»Jonsson.«

»Und dein Vater?«

»Roger Jonsson. Mama heißt Tanja.«

»Weshalb ist dein Vater im Gefängnis?«

»Wegen eines Verbrechens, würde ich meinen.«

»Willst du damit sagen, dass du es nicht weißt?«

»Raub. Drogen. Und Gewalt«, kam es schließlich.

»Gewalt gegen wen?«

»Gegen Tanja Jonsson.«

»Aber nicht gegen dich?«

Darauf antwortete er nicht.

»Du gehst also davon aus, dass er hierherkommt, wenn er freigelassen wird?«

»Er erbt das Haus. Zuvor wohnten wir zur Miete in einer Wohnung in Haugestad, aber jetzt wohnen dort andere.«

Manfred ging zu Margot, die im Nebenzimmer am Bett des Toten stand.

»Ich geh kurz raus zum Auto und überprüfe die Personalien«, flüsterte er. »Er ist ein Sonderling.«

Margot nickte und machte sich Notizen.

Mann, neunundsiebzig, verstorben im Laufe der Nacht, vom Enkel im Bett aufgefunden. Deutliche Todesflecken an den Händen, stark abgemagert. Medikamente auf dem Nachtkästchen, Blutverdünner, Paracetamol, Schmerzmittel. Im Zimmer Reste eines unangenehmen Geruchs, Urin und einiges andere. Keine sichtbaren Verletzungen oder Wunden im Gesicht oder an den Händen. Die Haut ist fahl mit vielen Leberflecken, lange, ungeschnittene Nägel. Ein Holzstuhl in einer Ecke mit ein paar Kleidungsstücken und ein alter Rollstuhl. Die Hände liegen ordentlich gefaltet auf dem Bauch.

Sie zog die Schublade des Nachtkästchens heraus. Dann ging sie zu dem Jungen in die Küche.

»In der Schublade seines Nachtkästchens liegen mehrere Pillengläschen, die alle leer sind?«, sagte sie fragend.

»Im Laufe der Zeit werden sie ja leer«, entgegnete der Junge.

»Aber die Medikamente wurden erst kürzlich verschrieben. Wie erklärst du dir das?«

»Keine Ahnung.«

»Du glaubst also nicht, dass er zu viele genommen hat?«

»Ich glaube gar nichts.«

»Konnte dein Großvater aus dem Bett aufstehen? Konnte er gehen? Da drin steht ein Rollstuhl.«

»Er konnte gehen, ja.«

»Also wurde der Stuhl nicht benutzt?«

Der Junge lächelte herablassend. Er hatte keinen Respekt vor der Polizei, doch daran war Margot gewöhnt.

»Er hat sich vor zwei Jahren den Oberschenkelhals gebrochen. Wir haben uns den Rollstuhl von der Hilfsmittelzentrale geliehen und nie zurückgegeben.«

»Und die Hände deines Großvaters, auf dem Bauch gefaltet. Hast du sie in diese Position gebracht?«

»Ich habe seine Hände nicht berührt.«

»Ich kann mich nicht erinnern, je zuvor einen Toten in dieser Haltung aufgefunden zu haben«, sagte sie.

»Dafür kann ich doch nichts.«

»Gibt es jemanden, den wir anrufen sollen?«

»Im Grunde genommen nicht.«

»Aber du bleibst hier ganz allein, ist das für dich nicht schwer?«

»Ich bin immer allein gewesen«, erklärte er, den Blick auf etwas außerhalb des Fensters geheftet. »Niemand hat das je gekümmert.«

Margot wurde weich ums Herz. Sie brachte ihre Stimme in eine mütterliche Lage.

»Wir werden dafür sorgen, dass deine Eltern benachrichtigt werden. Sind sie immer noch verheiratet?«

»Fragen Sie nicht so dumm.«

»Vielleicht hast du einen Kumpel, den du anrufen kannst.«

»Wieso interessiert es Sie, ob ich Freunde habe?«, fragte er spitz.

»Ich mache mir Sorgen um dich«, erwiderte sie.

»Haben Sie keine eigenen Kinder?«

Nein, Margot hatte keine eigenen Kinder. Sie legte eine große Hand auf den Tisch.

»Du kannst uns anrufen, wenn du etwas brauchst.«

»Können Sie es jetzt gut sein lassen?«

Da gab sie auf und verließ das Zimmer, Manfred folgte.

»Sollten wir die Kriminaltechnik hinzuziehen?«, flüsterte sie. »Wegen der Art, wie er daliegt, mit den gefalteten Händen. Und dann noch all die leeren Pillengläschen.«

»Das Budget, Margot. Das Budget. Vergiss es.«

Nach und nach fanden sich der Arzt und zwei Mitarbeiter des Bestattungsinstituts Ferd ein. Meidel Jonsson saß regungslos am Küchenfenster und achtete nicht auf die Vorgänge im Haus. Als befände er sich bereits im nächsten Jetzt – dem Augenblick, wenn der Tote hinausgetragen und alle Fahrzeuge hinter der Kurve verschwunden waren und nur mehr Einsamkeit, Stille und leere Räume zurückblieben.

Alle Untersuchungen waren vorschriftsmäßig durchgeführt worden, alle Aufgaben ausgeführt und alle Benachrichtigungen erfolgt.

»Dünn wie ein Stangenbrot«, bemerkte Manfred.

»Vollkommen unnahbar«, sagte Margot.

»Unmöglich zu durchschauen, unmöglich zu sehen, was er dachte«, ergänzte Manfred.

»Hast du dafür ansonsten ein Talent?«

»Ja, ich sehe, was Leute denken.«

»Du weißt, was man von Trauer sagt«, erwiderte sie, »sie zeigt sich auf unterschiedliche Weise. Hast du ihn überprüft?«

»Achtzehneinhalb«, sagte Manfred, »kaum zu glauben. Sein Zimmer war übrigens aufgeräumt, der hier kommt schon klar, er wirkt schlau.«

»Auf eine unangenehme Weise«, warf Margot ein.

»Unangenehm schlau?«

»Als ob er schon überall gewesen ist, alles gesehen hat, was es zu sehen gibt, und alles gedacht hat, was man denken kann. So sollte man mit achtzehn nicht sein.«

»Wie sollte man denn dann sein?«

»Man sollte sich auf dem Weg hinaus ins Leben befinden. Seine Augen waren auch irgendwie sonderbar, ist dir das aufgefallen?«

»Die waren nicht sonderbar«, meinte Manfred. »Er hatte ein blaues und ein braunes Auge, so wie David Bowie.«

»Bowie ist irgendwann in eine Schlägerei verwickelt worden«, erklärte Margot, »und das Resultat war eine Augenverletzung.«

»Ach so. Aber ich habe ohnehin mehr auf andere Dinge geachtet. Zum Beispiel auf seinen seltsamen Körper. Die einzelnen Teile schienen nicht zusammenzugehören.«

»Wie bitte?!?«

»Kopf von hier und Arme von dort und Beine wieder von ganz woandersher. Vielleicht ist er gepfropft.«

»Er ist doch kein Apfelbaum«, sagte Margot.

Sie lachten beide, ein befreiendes Lachen, Margot mit ihrer tiefen Stimme und Manfred wie ein schreiender Esel.

Die beiden Polizisten fuhren zurück ins Präsidium, um ihren Bericht zu schreiben.

Keine Anmerkungen in Bezug auf den Todesfall am Bringebærfjellet.

Kapitel 2

An einem normalen Tag aus dem Bett aufstehen und Lennart kalt und tot vorfinden – mit gefalteten Händen und offenem Mund. Von Uniformierten aufgesucht werden, die neugierig fragen und herumwühlen, dann wieder verschwinden und ihn in Einsamkeit zurückzulassen. Dieser jähe, unerwartete Lärm von Leuten in dicken Schuhen. Und dann die Stille danach, größer als je zuvor.

Meidel Jonsson saß am Fenster und sah das letzte Fahrzeug verschwinden. Zwei lange Stunden hatte er am selben Platz gesessen, während die Leute im Haus mit dem Körper des Großvaters hantiert hatten.

In seinem Kopf rauschte die Leere und erzeugte ein Unbehagen, das an Angst erinnerte. Er musste den Kopf wieder mit etwas füllen, Sägemehl oder Polsterwatte oder so. Egal was, solange nur dieser leere Hall verschwand.

Zu den Männern vom Bestattungsinstitut Ferd hatte er gesagt, dass sich Lennart eine Einäscherung wünschte. Dass nur ein paar wenige Leute zur Beisetzung kommen würden.

»Du bist sein Enkelkind, vielleicht willst du ein paar Worte sagen?«

»Nein.«

»Vielleicht wirst du das bereuen?«

»Ich habe es nicht so mit dem Bereuen«, hatte Meidel geantwortet. »Ich setze mich in die letzte Bank, und dann geht’s wieder ab nach Hause.«

Er hatte den Männern von Ferd ja schlecht erklären können, dass seine Teilnahme an Lennarts Beerdigung die Illusion gefährdete, nichts von alldem wäre jemals passiert.

Die Beerdigung würde den Tod zu etwas Endgültigem machen. Deckel drauf, bleiche Gesichter und eine klägliche Orgel.

Die Kraft der Vorstellung ist es, die uns aufrechthält, pflegte Lennart zu sagen.

Es ist nichts passiert.

»Wie sieht’s mit Musik aus?«, hatte der Berater gefragt. »Was hat Lennart gern gehört?«

»Irgendwas von Rudolf Nilsen. Ab und zu stimmte er ein Liedchen an.«

Jetzt waren sie alle weg, und Meidel saß am Fenster und blickte hinüber zum gelben Haus des Nachbarn. An der Hauswand stand ein Fass, es war aus Metall, und schon begannen die Gedanken zu kreisen. Die Fantasie riss den Verstand auf, sodass alle möglichen Bilder eindrangen, vorbei an Sägemehl und Polsterwatte. In dem Fass konnte sich zum Beispiel ein toter Mensch befinden, vermutlich zerstückelt. Oder etwas Kleines, ein Hund oder ein Kind. Der Deckel befand sich auf dem Fass, das war von hier aus deutlich zu erkennen. Wie lange hatte es schon da gestanden? Meidel durchforstete sein Gedächtnis, doch ohne Erfolg, Aber so oder so – jetzt stand das Fass da, elektrisch blau gegen das Gelb, und der Gedanke daran ließ sich nicht mehr löschen. Isaksen und er begegneten sich nicht oft, aber sie grüßten einander. Der Alte war fast taub. Die Welt und all ihr Lärm erreichten ihn nicht, das sah man an der Art, wie er ging. Den Blick starr auf die Briefkästen gerichtet, während die langen Arme an den Seiten baumelten.

In Meidels Innerem herrschte Brachland. Ein Kahlschlag war geschehen. Alles, was in ihm gewachsen war, war unten an der Wurzel gekappt worden. Doch die Aussicht aus dem Küchenfenster war dieselbe geblieben: das gelbe Haus, die grünen Briefkästen und »Das Nest«, ein städtischer Wohnblock in Hellblau. Eine Kulisse, die sich nie änderte, eine Bühne, die Meidel jeden Morgen betrat. Nur der Nachthimmel änderte sich, mit wechselnden Sternbildern.

Ein Auto kam auf der Straße herangefahren. Es blieb beim Briefkastengestell stehen. Der Postbote stieg aus, öffnete die acht Kästen und steckte Post und Zeitungen ein. Nur der rechte Arm war in Bewegung, der linke war lahm und unbrauchbar wie eine Keule aus totem Fleisch.

Dann schloss er die Kästen mit einem achtfachen Knallen, setzte sich wieder ins Auto, wendete und verschwand.

Meidel saß still auf dem Stuhl. Seine Hände begannen zu zittern, er sah sie an, wie sie da weiß und weich auf dem Tisch lagen. Der Kumpel von Roger, Arne Randalid, hatte gesagt, dass sie wie Katzenpfoten aussähen. Ansonsten gefiel sich Meidel. Seine Haut war rein und hell und von einer Farbe und Mattheit wie Marzipan, die Augen waren klar wie Glas. Die Ohren klein und hoch angesetzt, der Mund zart. Das Haar war fein und flaumig, oben kurz und am Hinterkopf länger, er schnitt es sich normalerweise selbst.

Die Tür zum Zimmer des Alten stand offen. Er erhob sich abrupt und schloss sie, es war still in den Zimmern und still in ihm selbst. Er überlegte es sich anders, erhob sich zum zweiten Mal, ging zur Tür und öffnete sie erneut, denn er musste noch einmal nachsehen, dass das Bett leer war. Die Bettdecke war weggezogen und lag am Fußende. Auf dem Kissen waren ein Kopfabdruck und ein paar graue Haare zu sehen.

Wenn Roger bloß auf ewig in Ullersmo einsitzen müsste. Wenn Tanja bloß für immer in Varden bleiben müsste, bis sie auch das bisschen Verstand verloren hätte, das sie noch besaß. Was wäre, wenn er das alles nur geträumt hätte? Wenn er zum dritten Mal zur Tür ging, würde Lennart vielleicht wie zuvor dort liegen, mit seinem pfeifenden Atem.

Aber nein. Bloß eine Vertiefung in einem Kissen.

Meidel schluchzte und weinte eine ganze Weile, ein schmerzerfülltes Wehklagen, das niemand hörte. Schaudernd blickte er in sein neues Dasein.

Irgendetwas musste er unternehmen. Ansonsten würde er auf dem Platz am Fenster vollkommen erstarren. Er könnte zum Beispiel alle Zimmer aufräumen, den Abfall in Säcke packen und auf den Hof hinaustragen, um dann staubzusaugen. Wovon sollte er leben? Musste er vielleicht irgendwo zu Kreuze kriechen und sich selbst und alles, was ihm gehörte, ausliefern, um ein bisschen Geld zu bekommen? Aber es war nicht seine Angewohnheit, zu kriechen. Und er mochte es auch nicht, sich auszuliefern.

Nichts sollte aus ihm heraus, nichts sollte hinein.

Wieder ging er in Lennarts Zimmer. Betrachtete den Rollstuhl, der zwei Jahre dort gestanden hatte. Das Modell hieß Quickie. Er zog ihn in die Mitte, setzte sich und horchte in sich hinein. Es fühlte sich überraschend gut an. Die Hände lagen gut auf den Gummirädern. Er stellte seine Füße auf die Fußstützen und blickte auf seine dünnen Schenkel, schloss die Augen und ließ sich zurücksinken.

Er wurde so leicht, so leicht.

Niemand konnte von einem Jungen in einem Rollstuhl irgendetwas verlangen. Anforderungen und Erwartungen verschwanden. Leute, die nicht gehen konnten, verloren unfassbar viel, doch er dachte auch an all das, was sie an Rechten und finanzieller Unterstützung erhielten.

Was wäre, wenn ich all meine Beweglichkeit behalte, gleichzeitig aber all die Vorteile bekomme, die Körperbehinderten zuteilwird?

Darüber solltest du wirklich einmal genauer nachdenken, Meidel.

Er schlug mit den Händen hart auf die Gummiräder, erfüllt von einem Gefühl der Begeisterung.

Mit einer Decke auf den Knien durch die Straßen rollen. Im Laden Essen klauen und im Schoß verstecken. Niemand reißt einem Krüppel die Decke herunter.

»Seht nur, hier kommt er, macht Platz, macht Platz!«

Bis auf Weiteres hatte er die Visa-Karte von Lennart, also konnte er noch Essen hamstern. Doch sobald das Einwohnermeldeamt die Nachricht von Lennarts Tod erhielt, würde die Meldung weiter an die Bank gehen.

In seinem Kopf rauschte nicht mehr die Leere, es arbeitete jetzt dort drin, es wurde gezimmert und gehämmert und gesägt: Treppen und Türen und Brücken, solide Verbindungen von Bereich zu Bereich. Er konnte von Kammer zu Kammer gehen und sein eigenes Innenleben betrachten.

Wie viele Räume es in einem Menschen gab! Eine Kammer für Spiel und Vergnügen, eine Kammer für Schrecken und Grauen, eine Kammer für gute Ideen und tiefe Gedanken, für Furcht und Teufelswerk, Liebe und Fürsorge, Geständnis und Reue.

Und eine Kammer für Schmerz und Erkenntnis.

Diese wollte er niemals mehr betreten!

Im selben Moment wurde ihm etwas klar. Sein Unglück, sein Verlust und seine Trauer – alles, was sein Inneres in ein Brachland verwandelt hatte –, war von außen nicht sichtbar. Das Elend lag unterhalb der glatten, hellen Haut verborgen, und Leute konnten auf der Straße an ihm vorbeigehen und glauben, er wäre derselbe wie zuvor.

»Großvater«, sagte er. »Lennart!«

Wenn der Alte doch nur mehr als eine Vertiefung im Kissen wäre. Schnell war Meidel in der Kammer für gute Ideen angelangt. Er pushte sich selbst aus dem Rollstuhl und ging hinaus in den Gang. Schnappte sich von den Haken irgendetwas zum Drüberziehen, eine alte Jacke von Lennart und einen Mantel von Großmutter Elsa. Dann ging er wieder zurück und legte die Kleidungsstücke auf Lennarts Bett. Rollte sie zu einer dicken Wurst zusammen, formte sie auf der Matratze und legte vorsichtig die Bettdecke darüber. Der Kopf war eine Herausforderung. Vielleicht gab es irgendwo eine Mütze oder einen Hut. Er musste wieder hinaus und herumgehen, wühlte in Schubladen und Schränken und fand schließlich einen Schal und eine grüne Strickmütze mit Bommel. Rollte den Schal zu einem Ball zusammen, stopfte ihn in die Mütze und legte diese auf das Kissen.

Nachdem das erledigt war, marschierte er in die Küche und fand ein Paar gelbe Gummihandschuhe, die er unter die Bettdecke steckte, sodass die Finger über dem Rand zu sehen waren. Dann setzte er sich wieder in den Rollstuhl und betrachtete die Gestalt im Bett. Sieht Lennart nicht sehr ähnlich, dachte er, aber mit der Kraft der Einbildung kann ich mir fast alles vorstellen. Kann seine Stimme und alle Gespräche, die wir geführt haben, hervorholen und ihn am Leben halten.

Sobald der Gedanke gedacht war, begann Lennart mit seiner knarrenden Stimme zu singen:

Im Krematorium soll mein weißes Feuer sich entzünden,

Dort, wo das Herz ein letztes Mal aufglimmt.

Den Zuhörenden wird es stolz verkünden:

Ich war ein Straßenkind.

Meidel schaute rasch in die Kammer für Trauer. Ging erschrocken wieder rückwärts hinaus und verschloss die Tür.

Niemals mehr in diesen Raum. Das würde ihn schwächen, und jetzt brauchte er Stärke. Roger näherte sich wie ein dunkler Schatten.

Er ging über knarrende Bodendielen und schleppte einen Abfallsack hinter sich her. Nahm Sachen aus Regalen und Schränken, der Sack wurde schnell voll, er holte einen neuen.

Lennarts Haus war alt und abgenutzt, aber es war ihm hier gut ergangen. Niemand hatte geschrien und geschlagen oder in den kleinen Räumen gewütet. In den alten Wänden gab es weder Furcht noch Abscheu. Für ein Weilchen war Meidel nun König in diesem verfallenen Reich.

Er ging weiter ins Bad. Nahm Dinge aus dem Schrank, Arzneigläser, Tuben und Döschen. Ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und warf Lebensmittel weg, die abgelaufen waren. Zog weiter in die Speisekammer, wo sie einiges an Eingemachtem stehen hatten, für den Fall, dass sie von einer Krise getroffen wurden, Pest oder Krieg oder langfristiger Stromausfall oder irgendetwas anderes, das sie auf die Probe stellen würde.

»Ihr Jungen tragt nicht diese Angst in euch, dass alles passieren kann«, pflegte Lennart zu sagen. »Dass euch plötzlich alles genommen wird. Doch wir Alten wissen es besser.«

Jetzt wusste Meidel es auch. Alles war ihm genommen worden. Er begann, Büchsen aus den Regalen zu nehmen und in den Sack zu stecken, sie wogen einiges. Labskaus, samische Kekse, Erbsen, Fleisch und Speck. Dinge, die ganz hinten an der Wand standen, wurden sichtbar, je mehr er wegräumte. Rattengift. Anzündflüssigkeit. Ein alter Bohrer in einem Koffer von Black & Decker, Marmelade mit Schimmel. Er studierte das grauweiße Häutchen oben im Glas und dachte, dass dies auch eine Lebensform war, etwas Weiches und Pelziges, das sich still ausbreitete und das Essen verdarb, ekelige Dinge, die in den feuchten Schatten wuchsen.

Ich bin auch eine solche Lebensform. Vielleicht soll ich mich still ausbreiten und alle vernichten, die sich mir in den Weg stellen?

Dachte Meidel Jonsson, der König des Bringebærfjellet. Auf dem Boden fand er einen alten Primus-Kocher, ein paar leere Flaschen und eine muffige Schlafmatte, an der Mäuse geknabbert hatten.

Und ganz hinten eine kleine rote Schachtel.

Er hatte diese Schachtel noch nie gesehen, er kannte weder die Abbildung darauf, einen Weißkopfseeadler, noch die Aufschrift: American Eagle.

Wie schwer sie war, trotz ihrer Größe. Man sollte meinen, dass sie Blei enthielt.

Schau mal einer an! Patronen. Groß, kräftig und spitz, ursprünglich fünfzig Stück, vier fehlten.

Die Schachtel mit der prächtigen Farbe stimmte ihn fröhlich. Er ging in die Küche, ins Licht, setzte sich ans Fenster und legte sich eine Patrone in die Hand. 357 Magnum. So unfassbar glatt und glänzend, fast wie ein Schmuckstück. Wenn er die Faust ballte, spürte er die Kraft in dieser Patrone . Er dachte an die Schäden, die sie in einem weichen Körper anrichten, Gewebe und Knochen aufreißen, sich durch einen Schädel bohren würde.

Er bewunderte den Adler. Wenn er eine Waffe hätte, könnten die Patronen genauso fliegen wie dieser Raubvogel.

Er legte seinen Fund zurück in die Schachtel und stellte sie auf die Fensterbank. Draußen sah er das blaue Fass des Nachbarn mit der zerteilten Leiche.

»Lennart!«, rief er dem Bündel im Bett zu.

»Wofür hast du eine Schachtel Patronen?«

Während er auf die Antwort wartete, die aus ihm selbst kommen musste, wurde es ihm schlagartig bewusst. Natürlich, das waren Rogers Patronen! Roger war in die Speisekammer gegangen und hatte sie unter einem Regal im Haus seines Vaters verborgen, sorgfältig versteckt hinter einer Batterie leerer Flaschen. Vielleicht, um für den Fall einer Hausdurchsuchung in Haugestad vorzubeugen. Eine polizeiliche Maßnahme, die in Anbetracht von Rogers kriminellem Gehirn und seiner langen Strafakte nicht ganz unwahrscheinlich war. Aber wenn das wirklich Rogers Patronen waren, dann gab es womöglich auch eine Waffe, irgendwo im Haus des Alten versteckt. Eine Waffe, die Roger sofort nach seiner Freilassung holen würde, in genau dreißig Tagen und dreißig Nächten.

Ein Auto würde auf den Hof schlittern, vielleicht der Chevrolet von Arne Randalid, und Roger würde die Tür aufreißen. Dann würde er in die Küche stapfen, ihn erblicken, wie er da am Fenster saß, und jaulen: »Ach, so ist das! Ein Hausbesetzer! Wenn du hier wohnen bleiben willst, musst du Miete bezahlen.«

Wo würde ein Mann wie Roger Jonsson eine Waffe verstecken? Verfügte ein so beschränkter Mensch über Fantasie oder Cleverness? War er in der Lage, langfristig zu denken?

Meidel stand in der Küche und sah sich um. Jetzt war er der amerikanische Adler. Wie der Adler konnte er seinen Blick scharfstellen und das Ziel vergrößern, ehe er sich hinunter auf den Boden stürzte und die Krallen in die Beute schlug – einen sich duckenden Hasen oder eine Maus. Oder Rogers Waffe.

Die Schachtel leuchtete rot. Meidel schaltete seinen Sinnesapparat auf scharf und nahm sich das Haus vor. Keine lose Bodendiele sollte ihm verborgen bleiben.