Fremde Blicke & Wer hat Angst vorm bösen Wolf - Karin Fossum - E-Book

Fremde Blicke & Wer hat Angst vorm bösen Wolf E-Book

Karin Fossum

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Zwei Romane in einem Band der norwegischen Bestseller-Autorin Karin Fossum rund um Kommissar Sejer. Fremde Blicke Der unerklärliche Tod der jungen Annie löst in dem norwegischen Dorf Horgen tiefe Bestürzung aus. Doch zugleich scheinen die Bewohner ein dunkles Geheimnis zu bewahren. Sensibel zeichnet die norwegische Autorin Karin Fossum eine idyllische sommerliche Fjordlandschaft und erzählt von ihren oft so schwer durchschaubaren Bewohnern. Wer hat Angst vorm bösen Wolf In der Einsamkeit ihrer Kate wird die alte Halldis Horn erschlagen aufgefunden. Nur der schizophrene Errki scheint als Täter infrage zu kommen, doch er ist spurlos verschwunden. Kommissar Sejer glaubt nicht an die Schuld des jungen Mannes. – Die vielfach preisgekrönte norwegische Kriminalautorin Karin Fossum versetzt die Leser mit tiefem Gespür für seelische Vorgänge in atemlose Spannung.

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Übersetzung aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs Die Übersetzungen wurden von NORLA Norwegian Literature Abroad, Oslo, gefördert

ISBN 978-3-492-98593-2© dieser Ausgabe 2019 Piper Verlag GmbH, MünchenDieses ebook enthält die Einzelbände »Fremde Blicke« & »Wer hat Angst vorm bösen Wolf«

Fremde Blicke © 1996 J.W. Cappelens Forlag a.s., OsloTitel der norwegischen Originalausgabe: »Se deg ikke tilbake!«

Wer hat Angst vorm bösen Wolf © 1997 Karin Fossum Titel der norwegischen Originalausgabe: »Den som frykter ulven«, erschienen bei J.W. Cappelens Forlag a.s., Oslo 1998

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: Fremde Blicke/Wer hat Angst vorm bösen Wolf: Shutterstock.com

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Inhalt

Cover & Impressum

Fremde Blicke

Widmung

Anmerkung der Autorin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Wer hat Angst vorm bösen Wolf

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Für Bente Konstance

Obwohl ich einzelne Namen verändert habe, werden Anwohner die Landschaft erkennen, in der diese Geschichte spielt. Deshalb möchte ich betonen, dass keine der Personen in diesem Buch einen wirklichen Menschen zum Vorbild hat.   Valstad, Februar 1996,

RAGNHILD ÖFFNETE VORSICHTIG DIE TÜR und schaute hinaus. Auf der Straße war alles still, und der Wind, der nachts zwischen den Häusern gespielt hatte, hatte sich endlich gelegt. Sie drehte sich um und zog ihren Puppenwagen über die Türschwelle.

»Wir haben ja noch nicht mal gegessen«, klagte Marthe.

»Ich muß nach Hause. Wir gehen gleich einkaufen«, antwortete Ragnhild.

»Soll ich nachher zu dir kommen?«

»Gute Idee. Wenn wir eingekauft haben.«

Sie stand schon draußen und fing an, den Puppenwagen den Kiesweg zum Tor hoch zu schieben. Das war schwer, deshalb machte sie kehrt und zog ihn.

»Mach’s gut, Ragnhild!«

Die Tür fiel ins Schloß. Ein scharfer Knall von Holz und Metall. Ragnhild hatte Probleme mit der Tür, traute sich aber nicht, sie offenstehen zu lassen. Marthes Hund durfte schließlich nicht weglaufen. Er saß unter dem Gartentisch und ließ sie nicht aus den Augen. Als sie das Tor endlich geschlossen hatte, ging sie in Richtung Garagen den Weg entlang. Sie hätte die Abkürzung zwischen den Häusern nehmen können, aber das war ihr mit dem Wagen zu schwer. Ein Nachbar schloß gerade die Garagentür. Er lächelte sie an und knöpfte sich ein wenig ungeschickt mit einer Hand den Mantel zu. Der Motor seines großen schwarzen Volvos brummte schon.

»Ach was, Ragnhild, so früh schon unterwegs? Ist Marthe noch nicht aufgestanden?«

»Ich habe da übernachtet«, erklärte Ragnhild. »Auf dem Boden auf einer Matratze.«

»Ach so.«

Er schloß die Garage ab und schaute auf die Uhr, es war 8.06. Gleich darauf fuhr das Auto auf die Straße und war verschwunden.

Ragnhild schob den Wagen mit beiden Händen. Sie hatte den steilen Hang erreicht und mußte dagegenstemmen, um den Wagen überhaupt halten zu können. Die Puppe, die Elise hieß wie sie selber – denn ihr voller Name war Ragnhild Elise –, glitt ans Fußende des Wagens. Das sah nicht gut aus, deshalb ließ Ragnhild mit einer Hand los, zog die Puppe nach oben, rückte die Decke zurecht und ging weiter. An den Füßen trug sie Gummischuhe, einen roten mit grünem Schnürsenkel und einen grünen mit rotem Schnürsenkel, so gehörte sich das. Außerdem trug sie einen roten Trainingsanzug mit dem Löwen Simba auf der Brust und darüber eine grüne Windjacke. Ihre Haare waren ungewöhnlich hell und dünn, trotzdem hatte sie sie in ein Gummi zwingen können. An dem Gummi bammelten bunte Plastikfrüchte, in der Mitte ragte wie eine kleine vernachlässigte Palme ein Haarbüschel auf. Sie war sechseinhalb, aber schmächtig für ihr Alter. Erst wenn sie den Mund aufmachte, war klar, daß sie bald in die Schule kommen würde.

Am Hang begegnete ihr niemand, doch als sie sich der Kreuzung näherte, hörte sie das Brummen eines Automotors. Deshalb blieb sie stehen, wich seitwärts aus und wartete, während der fleckige Kastenwagen über eine Rampe schaukelte. Der Wagen fuhr noch langsamer, als der Fahrer das rotgekleidete Kind entdeckte. Ragnhild wollte die Straße überqueren. Auf der anderen Seite war ein Bürgersteig, und ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, immer auf dem Bürgersteig zu bleiben. Sie glaubte, daß das Auto jetzt weiterfahren würde, aber es blieb stehen. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter.

»Du kannst zuerst gehen, ich warte so lange«, rief er.

Sie zögerte kurz, dann ging sie los. Sie mußte sich wieder umdrehen, um den Wagen auf den Bürgersteig zu ziehen. Das Auto glitt ein Stück weiter, dann hielt es wieder an. Nun wurde das Fenster auf der anderen Seite geöffnet. Der hat aber komische Augen, dachte Ragnhild, so groß und kugelrund. Sie saßen weit auseinander und waren blaß wie dünnes Eis. Der Mund war klein, hatte aber fleischige Lippen, die Mundwinkel waren nach unten gezogen wie bei einem Fisch. Er starrte sie an.

»Willst du mit dem Wagen noch zum Skiferbakken?«

Sie nickte. »Ich wohne im Granittvei.«

»Das wird aber anstrengend. Was hast du denn da drin?«

»Elise«, antwortete sie und hob die Puppe hoch.

»Schön«, sagte er mit breitem Lächeln. So sah sein Mund weniger fischig aus.

Dann kratzte er sich den Kopf, seine Haare waren struppig, sie wuchsen in dicken Büscheln wie Ananasblätter. Durch das Kratzen wurden seine Haare noch struppiger.

»Ich kann dich hochfahren«, sagte er dann. »Hinten ist Platz für den Wagen.«

Ragnhild zögerte. Sie starrte den langen, steilen Hang hinauf. Der Mann zog die Handbremse und schaute im Wagen nach hinten.

»Mama wartet auf mich«, sagte Ragnhild.

Tief in ihrem Hinterkopf klingelte ein Warnsignal, aber sie konnte es nicht so richtig deuten.

»Du bist aber schneller zu Hause, wenn ich dich fahre«, sagte er.

Damit war der Fall entschieden. Ragnhild war ein praktisches kleines Mädchen, sie schob den Wagen hinter das Auto, und der Fahrer sprang heraus. Er öffnete die Hintertür, hob mit einer Hand zuerst den Wagen und dann Ragnhild hinein.

»Du mußt hinten sitzen und den Wagen festhalten. Sonst rollt er die ganze Zeit hin und her.«

Er ging wieder nach vorn, setzte sich und lockerte die Bremse.

»Gehst du jeden Tag diesen Hang hoch?« Er blickte sie im Rückspiegel an.

»Nur wenn ich bei Marthe gewesen bin. Ich habe da übernachtet.« Sie zog eine geblümte Toilettentasche unter der Puppendecke hervor und öffnete sie. Überzeugte sich davon, daß alles vorhanden war, das Nachthemd mit dem Bild von Nala, die Zahnbürste und die Haarbürste. Der Kastenwagen rumpelte über eine weitere Rampe. Der Mann schaute noch immer in den Spiegel.

»Hast du schon mal so eine Zahnbürste gesehen?« fragte Ragnhild und hielt sie für ihn hoch. Sie hatte Füße.

»Nein!« sagte er begeistert. »Wo hast du die denn her?«

»Von Papa. Hast du nicht so eine?«

»Ich wünsch mir eine zu Weihnachten.«

Endlich lag die letzte Rampe hinter ihm, und er schaltete in den zweiten Gang. Es schepperte entsetzlich. Die Kleine saß hinten auf dem Boden und hielt ihren Puppenwagen fest. Ein richtig süßes kleines Mädchen, dachte er, rot und fein in ihrem Trainingsanzug, wie eine reife kleine Beere. Er stieß einen Pfiff aus und fühlte sich obenauf, als er so hinter dem Lenker des großen Wagens thronte, in dem hinten das kleine Mädchen saß. Richtig obenauf.

DAS DORF LAG IN EINEM TAL am Ende eines Fjordes, unterhalb eines Berges. Wie ein Kolk, in dem das Wasser allzu still stand. Und alle wissen, daß nur fließendes Wasser frisch ist. Das Dorf war das Stiefkind der Gemeinde, die Straßen, die dorthin führten, waren in unbeschreiblich schlechtem Zustand. Ein seltenes Mal hielt ein Bus es für angebracht, bei der stillgelegten Meierei zu halten und Fahrgäste aufzulesen, die in die Stadt wollten. Danach wieder nach Hause zu gelangen war schon schwieriger.

Der Berg war eine graue Felskuppe, die Einheimischen betraten ihn fast nie, aber von weit her gereiste Besucher frequentierten ihn eifrig. Das lag an seinen ungewöhnlichen Mineralien und der wirklich einzigartigen Flora. An stillen Tagen war vom Gipfel her ein leises Klingeln zu hören, dann konnte man fast an Spuk glauben. In Wirklichkeit grasten oben Lämmer. Die benachbarten Hügel sahen im Dunst blau und luftig aus wie weicher Filz mit einzelnen wolligen Nebelschleiern. Konrad Sejer ließ in der Karte die Fingerspitze die Straße entlangwandern. Sie näherten sich einem Kreisverkehr. Der Polizeibeamte Karlsen saß hinter dem Lenkrad, er schaute sich aufmerksam um und befolgte Sejers Anweisungen.

»Jetzt nach rechts durch den Gneisvei, dann den Skiferbakken hoch, dann biegst du links in den Feltspatvei ab. Von dort biegt nach rechts der Granittvei ab. Eine Sackgasse«, sagte Sejer nachdenklich. »Nummer fünf müßte das dritte Haus links sein.«

Er klang angespannt. Sein Ton noch knapper als sonst.

Karlsen bugsierte das Auto in eine Neubausiedlung und über die Rampen. Wie so oft hatten sich auch hier die Zuzügler zusammengerottet, ein Stück von den Alteingesessenen entfernt. Abgesehen von den Anweisungen fielen nicht viele Worte. Sie näherten sich dem Haus, versuchten, sich darauf vorzubereiten, hofften, daß das vermißte Kind vielleicht schon zurückgekehrt war. Vielleicht saß die Kleine auf dem Schoß ihrer Mutter, verdutzt und verlegen wegen der ganzen Aufregung. Es war ein Uhr, sie wurde also seit fünf Stunden vermißt. Zwei wären noch erträglich gewesen, fünf waren einwandfrei zu viele. Das Unbehagen wurde immer stärker, wie ein toter Punkt in der Brust, durch den kein Blut mehr strömt. Beide hatten Kinder, Karlsen eine achtjährige Tochter, Sejer einen vierjährigen Enkel. Ihr Schweigen war von Bildern erfüllt, die vielleicht Wirklichkeit werden würden. Dieser Gedanke traf Sejer, als sie vor Nummer fünf hielten. Es war ein niedriges weißes Haus mit dunkelblauen Fensterrahmen. Ein typisches anonymes Fertighaus, wie eine Puppenstube mit dekorativen Fensterläden und geschnitzten Windbrettern verziert. Der Garten war gepflegt. Um das ganze Haus zog sich eine große Veranda mit einem schön gestalteten Geländer. Sie befanden sich fast auf dem höchsten Punkt der Anhöhe und konnten das Dorf überblicken, ein kleines Dorf, recht hübsch, mit Höfen und Feldern. Vor dem Briefkasten stand ein Dienstwagen, der schon vor ihnen losgefahren war.

Sejer ging voran, putzte sich an der Fußmatte sorgfältig die Schuhe ab und zog den Kopf ein, bevor er ins Wohnzimmer trat. Innerhalb einer Sekunde hatten sie die Lage erfaßt. Die Kleine wurde weiterhin vermißt, die Panik war eine Tatsache. Auf dem Sofa saß die Mutter, eine kräftige Frau in einem karierten Kleid. Neben ihr, eine Hand auf ihren Arm gelegt, saß eine Polizeibeamtin. Sejer konnte die Angst im Zimmer fast riechen. Die Frau wandte alle ihre Kräfte auf, um nicht zu weinen oder um vielleicht einen schrillen Entsetzensschrei zu unterdrücken, deshalb keuchte sie bei der geringsten Anstrengung auf. Zum Beispiel, als sie sich erhob und ihm die Hand reichte.

»Frau Album«, sagte Sejer. »Es wird schon nach ihr gesucht, stimmt das?«

»Die Nachbarn. Sie haben einen Hund.« Sie sank wieder auf das Sofa. »Wir müssen uns gegenseitig helfen.«

Er setzte sich ihr gegenüber in den Sessel und beugte sich vor. Er wandte den Blick nicht von ihren Augen.

»Wir schicken eine Hundestreife los. Aber Sie müssen mir jetzt alles über Ragnhild erzählen. Wer sie ist und wie sie aussieht und was sie anhat.«

Keine Antwort, nur heftiges Nicken. Ihre Mundpartie war starr und unbeweglich.

»Haben Sie überall angerufen, wo sie sein könnte?«

»Da gibt es nicht viele Möglichkeiten«, murmelte sie. »Ich habe es überall versucht.«

»Haben Sie hier im Dorf noch Verwandte?«

»Nein. Wir sind nicht von hier.«

»Geht Ragnhild in den Kindergarten oder die Vorschule?«

»Wir haben keinen Platz bekommen.«

»Hat sie Geschwister?«

»Wir haben nur sie.«

Er versuchte, unhörbar Luft zu holen.

»Erstens«, sagte er dann. »Ihre Kleider. Beschreiben Sie die so genau wie möglich.«

»Roter Trainingsanzug«, stammelte Frau Album. »Mit einem Löwen auf der Brust. Grüne Windjacke mit Kapuze. Ein roter und ein grüner Schuh.«

Sie sprach ruckhaft, ihre Stimme drohte zu versagen.

»Und Ragnhild selber, beschreiben Sie sie mir.«

»Ein Meter zehn, achtzehn Kilo. Ganz blonde Haare. Wir waren gerade erst zur Reihenuntersuchung.« Sie ging zu der Wand, an der über dem Fernseher einige Fotos hingen. Die meisten zeigten Ragnhild, auf einem war Frau Album in Tracht zu sehen, ein anderes zeigte einen Mann in Felduniform, vermutlich den Ehemann. Sie suchte eins aus, auf dem die Kleine lächelte, und reichte es Sejer. Ragnhilds Haare waren fast weiß, die ihrer Mutter rabenschwarz. Aber der Vater war blond. Seine Haare lugten unter der Uniformmütze hervor.

»Was ist sie für ein Kind?«

»Zutraulich«, schluchzte Frau Album. »Redet mit allen.«

Bei diesem Eingeständnis überkam sie ein Zittern.

»Solche Kinder kommen auf dieser Welt am besten zurecht«, sagte er mit fester Stimme. »Wir müssen das Bild mitnehmen.«

»Das ist klar.«

»Sagen Sie mir«, bat er und setzte sich wieder, »wohin die Kinder im Dorf gehen, wenn sie etwas unternehmen wollen.«

»An den Fjord. Zum Prestegårdsstrand oder nach Horgen. Oder auf die Kuppe. Einige gehen auch zur Talsperre oder in den Wald.«

Er schaute aus dem Fenster und betrachtete die schwarzen Tannen.

»Hat irgendwer Ragnhild vor ihrem Verschwinden noch gesehen?«

»Marthes Nachbar. Sie kam gerade an seiner Garage vorbei, als er zur Arbeit fahren wollte. Ich weiß das, weil ich mit seiner Frau telefoniert habe.«

»Und wo wohnt Marthe?«

»Im Krystall. Nur ein paar Minuten von hier entfernt.«

»Sie hatte ihren Puppenwagen bei sich?«

»Ja. Der ist rosa.«

»Wie heißt dieser Nachbar? Der sie bei seiner Garage gesehen hat?«

»Walther«, antwortete Frau Album verwundert. »Walther Isaksen.«

»Wo finde ich ihn?«

»Er arbeitet bei Dyno Industrier. In der Personalabteilung.«

Sejer stand auf, ging zum Telefon und rief die Auskunft an, ließ sich die Nummer geben, wählte sie und wartete.

»Ich hätte gern mit Walther Isaksen gesprochen, es ist sehr dringend.«

Frau Album starrte ihn vom Sofa her besorgt an, Karlsen betrachtete durch das Fenster die Aussicht, die blauen Hügel, die Felder und in der Ferne den weißen Kirchturm.

»Konrad Sejer, Polizei«, sagte er kurz. »Ich rufe vom Granittvei fünf aus an, Sie können sich vielleicht denken, warum.«

»Ist Ragnhild noch immer nicht wieder aufgetaucht?«

»Nein. Aber wie ich höre, haben Sie sie gesehen, als Sie aus dem Haus gingen.«

»Ich wollte gerade mein Garagentor abschließen.«

»Haben Sie auf die Uhr geschaut?«

»Die zeigte acht Uhr sechs, ich war ein bißchen spät dran.«

»Wissen Sie das ganz sicher?«

»Ich habe eine Digitaluhr.«

Sejer schwieg und versuchte, sich die Straße hierher ins Gedächtnis zu rufen.

»Sie haben sie also um acht Uhr sechs bei Ihrer Garage zurückgelassen und sind direkt zur Arbeit gefahren?«

»Ja.«

»Zum Gneisvei hinunter und dann auf die Hauptstraße?«

»Stimmt.«

»Ich stelle mir vor«, sagte Sejer, »daß um diese Zeit die meisten in Richtung Stadt fahren und daß in der Gegenrichtung wahrscheinlich kein starker Verkehr ist.«

»Ja, das ist richtig. Durch das Dorf hier fahren nicht viele. Und Arbeitsplätze gibt es auch nicht.«

»Sind Ihnen heute trotzdem irgendwelche Wagen begegnet? Die in Richtung Dorf unterwegs waren?«

Der andere dachte nach. Sejer wartete. Im Zimmer war es still wie in einer Grabkammer.

»Ja, stimmt, mir ist unten im Tal einer begegnet. Gleich vor dem Kreisverkehr. Ein Kastenwagen, glaube ich, fleckig und häßlich. Ist sehr langsam gefahren.«

»Und wer saß drin?«

»Ein Mann«, sagte Isaksen zögernd. »Nur ein einzelner Mann.«

»ICH HEISSE RAYMOND.« Er lächelte.

Ragnhild blickte auf, sah im Spiegel das lächelnde Gesicht und die in der Morgensonne badende Kuppe.

»Fahren wir eine Runde?«

»Mama wartet auf mich.«

Sie sagte das in einem fast altklugen Tonfall.

»Warst du schon mal oben auf der Kuppe?«

»Ein Mal mit Papa. Zum Picknick.«

»Man kann auch mit dem Auto hochfahren«, erklärte er. »Von der Rückseite her. Sollen wir das mal machen?«

»Ich will nach Hause«, sagte sie, jetzt ein wenig unsicher.

Er schaltete und hielt an.

»Nur eine kleine Runde?« bettelte er.

Seine Stimme klang dünn. Ragnhild fand sie richtig traurig. Und sie war es nicht gewöhnt, sich den Wünschen der Erwachsenen zu widersetzen. Sie stand auf, ging zu seinem Sitz und beugte sich vor.

»Nur eine kleine Runde«, wiederholte sie. »Auf die Kuppe und dann sofort nach Hause.«

Er setzte in den Feltspatvei zurück und fuhr wieder bergab.

»Wie heißt du?« fragte er.

»Ragnhild Elise.«

Er wackelte ein wenig hin und her und räusperte sich schulmeisterlich.

»Ragnhild Elise. Du kannst so früh am Morgen nicht einkaufen gehen. Es ist doch erst Viertel nach acht. Der Laden hat noch zu.«

Sie gab keine Antwort. Statt dessen hob sie Elise aus dem Wagen, nahm sie auf den Schoß und zupfte ihr Kleid zurecht. Danach zog sie ihr den Schnuller aus dem Mund. Sofort schrie die Puppe los, ein dünnes metallisches Kleinkinderweinen.

»Was ist denn das?«

Er bremste abrupt und schaute in den Spiegel.

»Das ist nur Elise. Die weint, wenn ich ihr den Schnuller wegnehme.«

»Ich will das nicht hören! Steck ihn wieder rein!«

Jetzt saß er nervös hinter dem Lenkrad, der Wagen schlingerte hin und her.

»Papa kann besser fahren als du«, sagte sie.

»Ich mußte mir das selber beibringen«, erwiderte er mürrisch. »Niemand wollte mir Stunden geben.«

»Warum denn nicht?«

Er antwortete nicht, warf nur den Kopf in den Nacken. Sie hatten die Hauptstraße erreicht, er fuhr im zweiten Gang zum Kreisverkehr und überquerte mit heiserem Brüllen die Kreuzung.

»Und jetzt sind wir gleich in Horgen«, sagte sie zufrieden.

Er sagte noch immer nichts. Zehn Minuten später bog er nach links ab und fuhr den Hang hinauf. Sie kamen an zwei Höfen vorbei, an roten Scheunen und dem einen oder anderen abgestellten Traktor. Die Straße wurde immer schmaler und holpriger. Ragnhilds Arme, die noch immer den Puppenwagen festhielten, wurden langsam müde, sie legte die Puppe auf den Boden und hielt einen Fuß als Bremse zwischen die Räder.

»Hier wohne ich«, sagte er plötzlich und hielt an.

»Mit deiner Frau?«

»Nein, mit meinem Vater. Aber der liegt im Bett.«

»Steht er so spät auf?«

»Er muß immer liegen.«

Neugierig schaute sie aus dem Fenster und erblickte ein witziges Haus. Ursprünglich war es eine Hütte gewesen, die erst einen und dann noch einen Anbau erhalten hatte. Die Anbauten waren von unterschiedlicher Farbe. Neben dem Haus stand eine Garage aus Wellblech. Der Hof war zugewachsen. Eine alte verrostete Egge wurde langsam von Brennesseln und Löwenzahn begraben. Aber Ragnhild interessierte sich nicht für das Haus, sie hatte etwas anderes entdeckt.

»Kaninchen!« sagte sie überwältigt.

»Ja, möchtest du sie dir mal anschauen?«

Er sprang aus dem Wagen, öffnete die Hintertür und hob sie heraus. Er hatte einen seltsamen Gang, seine Beine waren unnatürlich kurz, und er war stark o-beinig. Er hatte kleine Füße. Die breite Nase saß fast unmittelbar über der ein wenig vorstehenden Unterlippe. Unter der Nase hing ein dicker klarer Tropfen. Ragnhild stellte fest, daß er noch nicht sehr alt war, auch wenn er beim Gehen schwankte wie ein alter Mann. Das war irgendwie komisch. Ein Jungengesicht auf einem alten Körper. Er wackelte zu den Kaninchenställen hinüber und machte sie auf. Ragnhild stand wie festgewachsen da.

»Darf ich mal eins halten?«

»Ja. Such dir eins aus.«

»Das kleine braune«, sagte sie hingerissen.

»Das ist Wuschel. Er ist der Schönste von allen.«

Er nahm den kleinen Wicht aus dem Käfig. Ein molliger Widder mit Hängeohren, hellbraun wie Kaffee mit sehr viel Milch. Er strampelte wild mit den Beinen, beruhigte sich in Ragnhilds Armen aber sofort. Für einen Moment war sie einfach sprachlos. Sie spürte sein Herz gegen ihre Hand hämmern und berührte vorsichtig ein Ohr. Es fühlte sich zwischen ihren Fingern an wie ein Stück Samt. Die Schnauze glänzte schwarz und feucht wie eine Lakritzpastille. Raymond stand daneben und sah zu. Jetzt hatte er ein Mädchen ganz für sich allein, und niemand hatte sie gesehen.

»DAS BILD«, SAGTE SEJER, »und die Beschreibung reichen wir an die Zeitungen weiter. Wenn sie nichts Gegenteiliges hören, drucken sie das heute nacht.«

Irene Album sank über dem Tisch in sich zusammen und wimmerte. Die anderen starrten stumm ihre eigenen Hände und Frau Albums bebenden Rücken an. Die Beamtin hielt ein Taschentuch bereit. Karlsen scharrte ein wenig mit den Stuhlbeinen und schaute auf die Uhr.

»Hat Ragnhild Angst vor Hunden?« fragte Sejer.

»Warum wollen Sie das wissen?« schluchzte Frau Album.

»Es ist schon vorgekommen, daß Kinder, die wir mit der Hundestreife gesucht haben, sich versteckten, wenn sie unsere Schäferhunde hörten.«

»Sie hat keine Angst.«

In Gedanken wiederholte er diese Worte. Sie hat keine Angst.

»Sie haben Ihren Mann noch nicht erreichen können?«

»Der ist in Narvik zum Manöver«, schluchzte sie. »Irgendwo in den Bergen.«

»Haben die keine Mobiltelefone?«

»Sie sind außerhalb der Reichweite.«

»Und die Leute, die jetzt schon suchen, was sind das für welche?«

»Jungen aus der Nachbarschaft. Die, die tagsüber zu Hause sind. Einer hat ein Telefon bei sich.«

»Wie lange sind sie schon unterwegs?«

Sie schaute zur Wanduhr. »Über zwei Stunden.«

Ihre Stimme zitterte nicht mehr, jetzt klang sie wie unter Drogen, träge fast schon wie im Schlaf. Er beugte sich wieder vor und sprach so langsam und deutlich wie möglich mit ihr.

»Das, wovor Sie sich am allermeisten fürchten, ist höchstwahrscheinlich nicht passiert. Verstehen Sie? In der Regel verschwinden Kinder aufgrund irgendwelcher Bagatellen. Und es ist wirklich so, daß Kinder immer wieder verschwinden, eben weil sie Kinder sind. Sie besitzen weder Zeit- noch Verantwortungsgefühl, und sie sind so verflixt neugierig, daß sie jedem plötzlichen Impuls nachgeben. So sind Kinder eben, und deshalb verschwinden sie. Aber meistens tauchen sie ebenso plötzlich wieder auf, wie sie verschwunden sind. Oft können sie nicht einmal so recht erklären, wo sie gewesen sind oder was sie gemacht haben. Aber in der Regel«, er holte Atem, »ist ihnen nichts passiert.«

»Ja!« sagte sie und starrte ihn an. »Aber sie war noch nie verschwunden!«

»Sie wird eben größer«, sagte er mit eindringlicher Stimme. »Sie traut sich mehr.«

Gott helfe mir, dachte er gleichzeitig, ich weiß aber auch wirklich auf alles eine Antwort. Wieder stand er auf, um zu telefonieren. Unterdrückte den Wunsch, noch einmal auf die Uhr zu schauen, das hätte sie daran erinnert, daß die Zeit verging, und daran brauchte sie nun wirklich nicht erinnert zu werden. Er wurde mit der Kripo verbunden, faßte für die Kollegen kurz die Lage zusammen und bat sie, den Rettungsdienst zu informieren. Er nannte die Adresse im Granittvei und beschrieb die Verschwundene in aller Kürze. Rot angezogen, fast weiße Haare, rosa Puppenwagen. Er fragte, ob irgendwelche Meldungen eingelaufen seien, was aber nicht der Fall war. Er setzte sich wieder.

»Hat Ragnhild in letzter Zeit Personen erwähnt, die Ihnen unbekannt sind?«

»Nein.«

»Hatte sie Geld bei sich? Kann sie einen Kiosk gesucht haben?«

»Sie hatte kein Geld.«

»Das hier ist ein kleiner Ort«, sagte er dann. »Ist es schon einmal vorgekommen, daß sie draußen unterwegs war und daß ein Nachbar sie dann mit dem Auto mitgenommen hat?«

»Ja, das schon. Hier oben gibt es an die hundert Häuser, und sie kennt fast alle Leute. Sie kennt auch die Autos. Ab und zu gehen sie zur Kirche hinunter, sie und Marthe, mit ihren Puppenwagen, und meistens fährt irgendein Nachbar sie dann nach Hause.«

»Gehen sie aus irgendeinem besonderen Grund zur Kirche?«

»Da ist ein kleiner Junge begraben, den sie gekannt haben. Sie pflücken Blumen und legen sie auf sein Grab, und dann gehen sie wieder nach Hause. Ich glaube, sie finden das spannend.«

»Sie haben schon bei der Kirche gesucht?«

»Ich habe um zehn Uhr bei Marthe angerufen, weil Ragnhild noch nicht zu Hause war. Da sagte Marthe, sie sei schon um acht losgegangen, und ich bin ins Auto gesprungen. Ich habe die Haustür offenstehen lassen, falls sie inzwischen nach Hause käme. Ich bin zur Kirche und zur Tankstelle gefahren, und dort habe ich das Auto stehenlassen und überall gesucht. Ich war in der Reparaturwerkstatt und hinter der Meierei, und danach bin ich zur Schule gefahren und habe auf dem Schulhof nachgesehen, da stehen Kletterstangen und so. Und ich war auch im Kindergarten. Sie wäre so gern dort hingegangen…«

Wieder wimmerte sie. Solange sie weinte, warteten die anderen schweigend. Ihre Augen waren jetzt geschwollen, und verzweifelt zerknüllten ihre Finger ihr Kleid. Nach einer Weile versiegte ihr Weinen, und die Trägheit setzte wieder ein. Ein Schild, der ihr die Schreckensbilder vom Leib hielt.

Das Telefon schellte. Ein plötzliches unheilverkündendes Pfeifen. Frau Album schreckte vom Sofa hoch und wollte abnehmen, aber Sejers Hand fuhr hoch wie ein Stoppschild. Er hob den Hörer von der Gabel.

»Hallo? Ist Irene da?«

Es hörte sich an wie eine Jungenstimme. »Mit wem spreche ich?«

»Torbjørn Haugen. Wir suchen Ragnhild.«

»Hier ist die Polizei. Kannst du etwas berichten?«

»Wir haben uns bei allen Häusern hier oben erkundigt. Wirklich bei jedem. Aber viele sind ja jetzt nicht zu Hause. Immerhin haben wir im Feltspatvei eine Frau gefunden. Auf ihrem Hofplatz hat ein großes Auto gedreht, sie wohnt in Nummer eins. Eine Art Lieferwagen, sagt sie. Und in dem Wagen hat sie ein Mädchen mit grüner Jacke und weißen Haaren gesehen. Mit einer Haarwuschel auf dem Kopf. Und Ragnhild bindet sich doch oft die Haare mit einem Gummi hoch.«

»Weiter.«

»Der Wagen hat also gedreht und ist dann wieder bergabwärts gefahren. Und hinter der Biegung verschwunden.«

»Hast du die Uhrzeit?«

»Viertel nach acht.«

»Kannst du in den Granittvei kommen?«

»Wir sind gleich da, wir stehen beim Kreisverkehr.«

Sejer legte auf. Noch immer stand Irene Album aufrecht da.

»Wer war das?« flüsterte sie. »Was haben sie gesagt?«

»Jemand hat sie gesehen«, antwortete Sejer langsam. »Sie ist in ein Auto eingestiegen.«

ENDLICH KAM DER SCHREI. Das Geräusch schien den dichten Wald zu durchdringen und in Ragnhilds Kopf eine schwache Bewegung auszulösen.

»Ich habe Hunger«, sagte sie plötzlich. »Ich muß nach Hause.«

Raymond blickte auf. Wuschel hoppelte über den Küchentisch und schleckte von dem Maismehl, das sie dort verstreut hatten. Sie hatten Zeit und Ort vergessen. Sie hatten alle Kaninchen gefüttert, Raymond hatte ihr seine Bilder gezeigt, die er aus Illustrierten ausgeschnitten und sorgfältig in ein großes Album eingeklebt hatte. Ragnhild mußte immer wieder über sein witziges Gesicht lachen. Jetzt ging ihr auf, daß es schon spät sein mußte.

»Du kannst hier ein Brot essen.«

»Ich will nach Hause. Wir müssen doch einkaufen gehen.«

»Zuerst fahren wir auf die Kuppe, danach bringe ich dich nach Hause.«

»Jetzt!« sagte sie energisch. »Ich will jetzt nach Hause.«

Raymond hielt verzweifelt Ausschau nach einer weiteren Möglichkeit, das hinauszuschieben.

»Ja, das weiß ich. Aber erst muß ich noch für Papa Milch kaufen. Unten in Horgen. Das dauert nicht lange. Du kannst hier warten, dann geht es schneller.«

Er sprang auf und sah sie an. Sah ihr helles Gesicht mit dem kleinen herzförmigen Mund, der ihn an Darling-Drops erinnerte. Ihre Augen waren klar und blau, die Augenbrauen eine dunkle Überraschung unter dem weißen Schopf. Dann seufzte er tief und ging zur Küchentür. Ragnhild wäre eigentlich gern gegangen, aber sie wußte den Weg nicht, deshalb mußte sie warten. Mit dem Kaninchen auf dem Arm stapfte sie in das kleine Wohnzimmer und rollte sich in der Sofaecke zusammen. Sie und Marthe hatten nachts nicht viel geschlafen, und das warme Tierchen an ihrem Hals ließ sie schläfrig werden. Bald fielen ihr die Augen zu.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er zurückkam. Lange saß er bei ihr und staunte darüber, wie still sie schlief. Nicht eine einzige Bewegung, kein leises Seufzen. Es kam ihm so vor, als sei sie gewissermaßen aufgegangen, sei größer und wärmer geworden wie ein Hefebrot im Backofen. Nach einer Weile wurde er unruhig, er wußte nicht, wohin mit seinen Händen, deshalb steckte er sie in die Taschen und wiegte sich in seinem Sessel vor und zurück. Rieb den Hosenstoff zwischen seinen Händen und wiegte sich dabei immer schneller. Ängstlich schaute er aus dem Fenster und durch den Flur zum Schlafzimmer seines Vaters hinüber. Seine Hände arbeiteten und arbeiteten. Immer wieder starrte er ihre Haare an, sie glänzten wie Seide, fast wie Kaninchenfell. Dann stöhnte er leise und riß sich los. Stand auf und stupste sie vorsichtig an.

»Wir können jetzt fahren. Gib mir Wuschel.«

Einen Moment lang war Ragnhild restlos verwirrt. Sie stand langsam auf und starrte Raymond an. Folgte ihm in die Küche und zog die Windjacke an. Stapfte aus dem Haus, sah das kleine braune Fellknäuel im Käfig verschwinden. Ihr Puppenwagen stand noch hinten im Auto. Raymond sah traurig aus, er stupste sie von hinten an, um ihr beim Einsteigen zu helfen. Dann setzte er sich nach vorn und drehte den Zündschlüssel um. Nichts passierte.

»Der springt nicht an«, sagte er ärgerlich. »Das kapier ich nicht. Eben ist er doch noch gefahren. Dreckskarre!«

»Ich muß nach Hause!« sagte Ragnhild laut, als ob das das Problem lösen könnte. Raymond drehte noch einmal den Schlüssel um und gab Gas, und der Motor schien auch zu reagieren, aber nur, um mit klagendem Laut wieder abzusterben.

»Dann müssen wir laufen.«

»Aber das ist doch schrecklich weit!« quengelte sie.

»Nein, von hier aus nicht. Wir sind jetzt hinter der Kuppe, fast ganz oben, und von oben kannst du dein Haus sehen. Ich kann für dich den Wagen schieben.«

Er zog eine Jacke an, die auf dem Vordersitz gelegen hatte, dann sprang er aus dem Wagen und öffnete für Ragnhild die Hintertür. Ragnhild nahm die Puppe auf den Arm, Raymond zog den Wagen hinter sich her. Der Wagen wackelte über den holprigen Weg. Hoch über sich konnte Ragnhild die Kuppe sehen, die den schwarzen Wald überragte. Für einen lärmenden Moment mußten sie sich an den Straßenrand pressen, als ein Wagen in hohem Tempo an ihnen vorüberjagte. Hinter ihm hing eine nebelweiße Staubwolke. Raymond kannte sich hier aus, er ging auch nicht besonders schnell, deshalb konnte Ragnhild problemlos mit ihm Schritt halten. Nach einer Weile wurde der Hang steiler, die Straße endete in einem Wendeplatz, und der Weg, der rechts um die Kuppe herumführte, war weich und glatt. Die Schafe hatten ihn erweitert, und ihre Kotkügelchen lagen dicht wie Schrotkörner beieinander. Ragnhild fand es lustig, darauf zu treten, sie waren trocken und knackten. Nach wenigen Minuten war zwischen den Bäumen ein schönes Glitzern zu sehen.

»Der Schlangenweiher«, sagte Raymond.

Ragnhild blieb neben ihm stehen. Starrte die Seerosenblätter an und ein kleines Boot, das mit dem Boden nach oben am Seeufer lag.

»Geh nicht ans Wasser«, sagte Raymond. »Das ist gefährlich. Man kann hier nicht baden, man versinkt im Sand und ist weg. Treibsand«, fügte er mit wichtiger Miene hinzu. Ragnhild schauderte. Sie ließ ihren Blick am Seeufer entlangwandern, einer wogenden gelben Linie aus Schilf mit nur einer Unterbrechung, einer dunklen Einbuchtung, die mit gutem Willen als Strand bezeichnet werden konnte. Und diese Stelle starrten sie an. Raymond ließ den Puppenwagen los, und Ragnhild steckte einen Finger in den Mund.

TORBJØRN MACHTE SICH an seinem Funktelefon zu schaffen. Er war um die Sechzehn und hatte dunkle, halblange, leicht gewellte Haare, die er mit einem gemusterten Tuch bändigte. Die Zipfel ragten wie rote Federn aus dem Knoten auf, weshalb er wie ein bleicher Indianer aussah. Er schaute Ragnhilds Mutter nicht in die Augen, sondern starrte Sejer an und leckte sich immer wieder die Lippen.

»Du hast da wirklich eine wichtige Entdeckung gemacht«, sagte Sejer. »Bitte, schreib hier die Adresse auf. Weißt du noch, wie die Frau hieß?«

»Helga Moen. Nummer eins. Graues Haus mit Hundehütte.«

Er flüsterte das fast und schrieb die Adresse mit großen Buchstaben auf den Block, den Sejer ihm gereicht hatte.

»Ihr wart fast überall?« fragte Sejer.

»Wir waren zuerst auf der Kuppe, dann sind wir um den Schlangenweiher herumgegangen und haben uns auf den Waldwegen ein bißchen umgesehen. Wir waren auch an der Talsperre, beim Laden in Horgen und am Prestegårdsstrand. Und bei der Kirche. Und dann haben wir uns noch auf zwei Höfen, in Bjerkerud und im Pferdesportzentrum erkundigt. Ragnhild war, äh, ich meine, ist sehr an Pferden interessiert.«

Bei diesem Versprecher errötete er leicht. Sejer klopfte ihm auf die Schulter.

»Setz dich, Torbjørn.«

Er nickte zum Sofa hinüber, auf dem neben Frau Album noch Platz war. Jetzt hatte sie ein anderes Stadium erreicht, sie konzentrierte sich mit aller Gewalt auf die schwindelerregende Möglichkeit, daß Ragnhild vielleicht nie wieder nach Hause zurückkehrte und daß sie den Rest ihres Lebens ohne das kleine Mädchen mit den großen blauen Augen würde verbringen müssen. Diese Erkenntnis setzte wie kleine Stiche ein, mit denen sie sich behutsam vertraut machen mußte. Ihr Körper war wie erstarrt, so als habe sie eine Stahlschiene im Rücken. Die Beamtin, die bisher kaum ein Wort gesagt hatte, erhob sich langsam. Zum erstenmal wagte sie, einen Vorschlag zu machen.

»Frau Album«, bat sie leise, »darf ich uns einen Kaffee kochen?«

Frau Album nickte kurz, stand dann auf und folgte der Beamtin in die Küche. Ein Wasserhahn wurde aufgedreht, Tassen klirrten. Sejer nickte unmerklich zu Karlsen hinüber und winkte ihn auf den Flur. Dort tuschelten sie miteinander. Torbjørn sah gerade noch Sejers Kopf und Karlsens schwarze, glänzende Schuhspitzen. Im Halbdunkel konnten sie unbemerkt auf die Uhr schauen. Das taten sie, dann nickten sie einander zu. Ragnhilds Verschwinden war blutiger Ernst, und der große Apparat mußte in Gang gesetzt werden. Sejer kratzte sich durch sein Hemd hindurch am Ellbogen.

»Ich kann die Vorstellung, sie in einem Graben zu finden, nicht ertragen.«

Er öffnete die Tür, um frische Luft zu schnappen. Und da stand sie. In rotem Trainingsanzug, auf der untersten Stufe, ein weißes Händchen lag auf dem Geländer.

»Ragnhild?« fragte er verwundert.

Eine glückliche halbe Stunde später, als der Wagen Skiferbakken hinunterglitt, fuhr er sich zufrieden mit den Fingern durchs Haar. Karlsen fand, daß es, so frischgeschnitten und kürzer als sonst, einer Stahlbürste ähnelte. So einer, mit der alte Farbe weggekratzt wird. Das scharfgeschnittene Gesicht sah friedlich aus, nicht verschlossen und ernst wie sonst. Auf halber Höhe des Hangs kamen sie an dem grauen Haus vorbei. Sie sahen die Hundehütte und ein Gesicht im Fenster. Wenn Helga Moen auf Besuch von der Polizei gehofft hatte, dann würde sie enttäuscht werden. Ragnhild saß wohlgeborgen auf dem Schoß ihrer Mutter und hielt ein dickes Butterbrot in der Hand.

Den Augenblick, als die Kleine das Haus betreten hatte, würden die beiden nie vergessen. Die Mutter, die das leise Stimmchen gehört hatte, stürzte aus der Küche und riß sie an sich, blitzschnell, wie ein Raubtier seine Beute packt, die es nie, nie wieder loslassen will. Ragnhild saß fest wie in einem Fuchseisen. Ihre dünnen Glieder und der weiße Haarbüschel lugten zwischen den kräftigen Armen der Mutter hervor. Und so blieben sie stehen. Nichts war zu hören, außer dem leisen Schluchzen von einer der beiden. Torbjørn machte sich wütend an seinem Telefon zu schaffen, die Beamtin klapperte mit den Tassen, Karlsen zwirbelte und zwirbelte seinen Schnurrbart, ein glückseliges Grinsen breitete sich aus. Im Zimmer wurde es heller, so als treffe die Sonne plötzlich voll auf die Fensterscheibe. Und dann rief die Mutter, lachend und schluchzend zugleich: »DU SCHRECKLICHES KIND!«

»Ich spiele mit dem Gedanken«, sagte Sejer und räusperte sich, »eine Woche Urlaub zu nehmen. Ich habe noch allerhand abzustottern.«

Karlsen ließ den Wagen über eine Rampe schaukeln.

»Was willst du in der Zeit machen? Fallschirm springen in Florida?«

»Ich will das Ferienhaus klarmachen.«

»Das ist doch in der Nähe von Brevik, oder?«

»Sandøya.«

Sie bogen auf die Hauptstraße ab und fuhren schneller.

»Ich muß dieses Jahr nach Legoland«, murmelte Karlsen. »Ich kann mich nicht länger daran vorbeimogeln. Die Kleine quengelt schon die ganze Zeit.«

»Das klingt ja wie eine Strafe«, sagte Sejer. »Legoland ist Klasse. Am Ende des Besuchs bist du garantiert überladen mit Legosteinen und absolut bekehrt. Du solltest unbedingt hinfahren. Du wirst es nicht bereuen.«

»Du warst also schon mal da?«

»Ja, mit Matteus. Weißt du, daß die nur aus Legosteinen eine Statue von Sitting Bull gemacht haben? Eins Komma vier Millionen ganz besonders gefärbte Legosteine. Es ist unvorstellbar!«

Er verstummte, entdeckte auf der linken Seite die Kirche, eine kleine weiße Holzkirche, ein Stück von der Straße entfernt, zwischen grünen und gelben Ackerzipfeln, umstanden von üppigen Bäumen. Ein hübsches Kirchlein, dachte er, hier hätte ich Elise begraben sollen. Auch wenn der Weg dann weiter wäre. Jetzt war es natürlich zu spät. Sie war seit über acht Jahren tot und begraben in der Innenstadt, gleich bei einer vielbefahrenen Hauptstraße, umgeben von Auspuffgasen und Lärm.

»Du meinst, daß mit der Kleinen alles in Ordnung war?«

»Hat so ausgesehen. Ich habe die Mutter gebeten anzurufen, wenn sie sich ein wenig beruhigt haben. Sie wird nach und nach sicher ein wenig gesprächiger werden. Sechs Stunden«, sagte er nachdenklich. »Das ist ziemlich lange. Muß ein charmanter Eigenbrötler gewesen sein.«

»Er hatte ja offenbar einen Führerschein. So ganz außen vor kann er also nicht sein.«

»Das wissen wir doch nicht, ob er einen Führerschein hat.«

»Nein, verdammt, da hast du recht«, mußte Karlsen zugeben. Er bremste abrupt und hielt bei der Tankstelle, im sogenannten Zentrum, wo es außerdem noch Post, Bank und Friseur gab. Ein Plakat mit der Mitteilung »Medikamentenausgabe« war ans Fenster des Lebensmittelladens geklebt worden, und der Friseur lockte mit einer neuen Sonnenbank.

»Ich brauche einen Schokoriegel. Kommst du mit rein?«

Sie gingen in den Laden, und Sejer kaufte Zeitung und Schokolade. Er schaute aus dem Fenster auf den Fjord hinab.

»Entschuldigung«, sagte die junge Frau hinter dem Tresen, »aber Ragnhild ist doch hoffentlich nichts passiert?«

Nervös starrte sie Karlsens Uniform an.

»Kennen Sie sie?« Sejer legte Geld auf den Tresen.

»Nein, kennen ist zuviel gesagt, aber ich weiß, wer sie ist. Ihre Mutter hat sie heute morgen hier gesucht.«

»Ragnhild geht es gut. Sie ist wieder zu Hause.«

Sie lächelte erleichtert und reichte ihm das Wechselgeld.

»Sind Sie von hier?« fragte Sejer. »Kennen Sie die meisten Leute?«

»Ich glaube schon. So viele wohnen hier ja nicht.«

»Wenn ich frage, ob Sie einen Mann kennen, der möglicherweise ein wenig eigen ist und der einen Kastenwagen fährt, einen alten, häßlichen und fleckigen Kastenwagen, klingelt es dann bei Ihnen irgendwo?«

»Hört sich an wie Raymond.« Sie nickte. »Raymond Låke.«

»Was wissen Sie über ihn?«

»Er arbeitet in der Behindertenwerkstätte. Wohnt mit seinem Vater in der Bruchbude auf der anderen Seite der Kuppe. Raymond ist mongoloid. Dreißig Jahre alt vielleicht und sehr lieb. Sein Vater hatte übrigens früher diese Tankstelle. Ehe er in Rente ging.«

»Hat er einen Führerschein?«

»Nein, aber er fährt trotzdem. Mit dem Auto seines Vaters. Der Alte ist bettlägerig, er kann nichts dagegen machen. Der Lensmann weiß Bescheid und staucht ihn ab und zu zusammen, aber das hilft nicht viel. Er ist sehr komisch, fährt immer im zweiten Gang. Hat er Ragnhild mitgenommen?«

»Ja.«

»Dann konnte ihr wirklich nichts passieren.« Sie lächelte. »Raymond würde sogar anhalten, um einen Marienkäfer über die Straße zu lassen.«

Mit immer breiter werdendem Lächeln gingen sie wieder zu ihrem Auto. Karlsen biß in seinen Schokoriegel und schaute auf die Uhr.

»Nett hier«, sagte er kauend.

Sejer, der sich ein altmodisches Marzipanbrot gekauft hatte, folgte seinem Blick. »Der Fjord ist tief, über dreihundert Meter. Wird nie wärmer als siebzehn Grad.«

»Kennst du hier Leute?«

»Ich nicht, aber meine Tochter, Ingrid. Sie war hier auf einer heimatkundlichen Wanderung von der Sorte, wie sie im Herbst arrangiert werden. ›Lern dein Dorf besser kennen.‹ So was liebt sie.« Er wickelte das Silberpapier zu einem dünnen Röllchen auf und schob es in seine Hemdentasche. »Können Mongoloide gute Autofahrer werden, was meinst du?«

»Keine Ahnung«, sagte Karlsen. »Aber denen fehlt ja nichts, nur haben sie eben ein Chromosom zuviel. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist ihr größtes Problem, daß sie langsamer lernen als andere. Und ihr Herz ist schwach. Deshalb werden sie nicht alt. Und dann ist da noch irgend etwas mit ihren Händen.«

»Was denn?«

»Ihnen fehlt eine Falte in der Handfläche oder so.«

Sejer blickte ihn verwundert an. »Ragnhild hat sich jedenfalls von ihm betören lassen.«

»Die Kaninchen waren ihm dabei sicher eine Hilfe.«

Karlsen zog ein Taschentuch hervor und wischte sich Schokolade aus den Mundwinkeln. »Ich bin mit so einem aufgewachsen. Wir nannten ihn den verrückten Gunnar. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann haben wir wohl geglaubt, er käme aus einer anderen Welt. Er lebt nicht mehr, er ist nur fünfunddreißig geworden.«

Sie stiegen ein und fuhren weiter. Sejer bereitete eine schlichte kleine Rede vor, die er später dem Abteilungsleiter servieren wollte. Plötzlich war es ihm ungeheuer wichtig, einige freie Tage zu bekommen, um zu seinem Ferienhaus zu fahren. Gerade jetzt wäre das schön, die Wettervorhersage war vielversprechend, und das glückliche Ende von Ragnhilds Geschichte hatte ihn in gute Laune versetzt. Er starrte auf Äcker und Wiesen, registrierte plötzlich, daß sie langsam fuhren, und sah vor ihnen auf der Straße den Traktor. Ein grüner John Deere mit buttergelben Felgen kroch die Straße entlang. Sie konnten nicht überholen; wenn sie schon mal eine gerade Strecke erreicht hatten, war sie zu kurz. Der Bauer, der eine Schirmmütze und Kopfhörer aufhatte, saß wie ein Holzklotz da, er schien aus dem Treckersitz herauszuwachsen.

Karlsen schaltete und seufzte. »Er hat Rosenkohl geladen. Kannst du nicht die Hand ausstrecken und einen Kasten mopsen? Den kochen wir dann in der Kantinenküche?«

»Jetzt fahren wir ungefähr so schnell wie Raymond«, murmelte Sejer. »Im zweiten Gang durchs Leben. Das wäre wirklich was, du.«

Nach der ländlichen Stille erschien die Stadt ihnen als verdrecktes wimmelndes Chaos von Menschen und Autos. Der meiste Verkehr strömte noch immer durch die Innenstadt, die Stadtverwaltung kämpfte verbissen für den Tunnel, für den die Pläne schon bereitlagen, gegen den aber immer neue Gruppen mit mehr oder weniger gewichtigen Argumenten protestierten. Die Lüftungstürme würden die Gegend verschandeln, die Bauarbeiten würden Lärm und Schmutz mit sich bringen, und schließlich würde es eine Menge kosten.

Sejer starrte aus dem Büro seines Chefs auf die Straße hinunter. Er hatte gerade seinen Spruch aufgesagt und wartete nun auf die Antwort. Die stand schon fest. Holthemann würde niemals nein sagen, nicht, wenn Sejer die Bitte vorbrachte. Aber er hatte immerhin seine Prinzipien.

»Du hast die Dienstpläne überprüft? Und mit den anderen gesprochen?«

Sejer nickte. »Soot übernimmt mit Siven zwei Schichten, ich gehe davon aus, daß sie ihn bei der Stange hält.«

»Dann sehe ich keinen Grund, nicht…«

Das Telefon klingelte. Zwei kurze Pieptöne, wie von einem hungrigen Vogel. Sejer war nicht religiös, sandte aber trotzdem ein Stoßgebet – möglicherweise zur Vorsehung, sie möge ihm doch nicht den Urlaub vor der Nase wegschnappen.

»Ob Konrad gerade bei mir ist?« Holthemann nickte. »Ja, ist er. Stellt sie durch.«

Er zog die Leitung gerade und reichte Sejer den Hörer. Sejer nahm an, vielleicht wollte Ingrid ihn sprechen, er brauchte sich ja nicht schon im voraus Sorgen zu machen. Es war Frau Album.

»Ist mit Ragnhild alles in Ordnung?« fragte er rasch.

»Ja, das schon. Wirklich. Aber sie hat etwas Seltsames erzählt, als wir dann endlich allein waren. Und da mußte ich einfach anrufen, ich fand, es hörte sich so merkwürdig an, und normalerweise denkt sie sich nichts aus, so etwas jedenfalls nicht, und deshalb rufe ich an. Dann habe ich doch immerhin Bescheid gesagt.«

»Was ist denn los?«

»Dieser Mann, mit dem sie zusammen war, der hat sie nach Hause gebracht. Er heißt übrigens Raymond, der Name ist ihr später noch eingefallen. Sie sind über die Kuppe und am Schlangenweiher vorbeigegangen, und dort haben sie eine kleine Pause eingelegt.«

»Ja und?«

»Ragnhild sagt, daß dort oben eine Frau liegt.«

Sejer kniff überrascht die Augen zu.

»Was sagen Sie da?«

»Daß am Schlangenweiher eine Frau liegt. Ganz still und ohne Kleider.«

Ihre Stimme klang ängstlich und verlegen zugleich.

»Glauben Sie ihr das?«

»Ja, ich glaube ihr. Würde ein Kind sich das denn ausdenken? Aber ich traue mich nicht allein dort hinauf, und ich mag sie auch nicht mitnehmen.«

»Dann werde ich das überprüfen lassen. Behalten Sie die Sache erst einmal für sich. Wir melden uns.«

Er legte auf und schloß sein in Gedanken bereits geöffnetes Ferienhaus wieder ab. Sofort war der Geruch von Gischt und frischgefangenem Kabeljau verschwunden. Er lächelte schräg zu Holthemann hinüber.

»Du, ich muß erst noch was erledigen.«

Karlsen war auf Streife, im einzigen Dienstwagen, der ihnen an diesem Tag zur Verfügung stand; damit mußte er den ganzen Stadtkern abklappern. Deshalb nahm Sejer Skarre mit, einen jungen lockigen Beamten, der ungefähr halb so alt war wie er selbst. Skarre war ein lustiger kleiner Mann, munter und optimistisch, mit Resten eines südnorwegischen Akzents, der durchbrach, wenn sein Puls schneller wurde. Sie hielten wieder vor dem Briefkasten im Granittvei und unterhielten sich eine Weile mit Irene Album. Ragnhild hing ihr die ganze Zeit am Rockzipfel. Offenbar hatten allerlei Ermahnungen ihren Weg in den weißhaarigen Kinderkopf gefunden. Die Mutter zeigte und erklärte, sagte, sie sollten einem markierten Weg folgen, der gegenüber vom Haus am Waldrand begann und dann links an der Kuppe vorbeiführte. So gut in Form, wie sie waren, würden sie dafür wohl zwanzig Minuten brauchen.

Die Tannen waren mit blauen Pfeilen bemalt. Sejer und sein Kollege starrten skeptisch den Schafskot an, wichen ab und zu aufs Heidekraut aus, wanderten aber zielstrebig bergauf. Sejer ging leicht und unbeschwert. Einmal blieb er stehen, drehte sich um und blickte auf die Neubausiedlung hinunter. Jetzt waren nur die Dächer zu sehen, braunrosa und schwarz in der Ferne. Dann gingen sie weiter, schweigend, einerseits, weil sie allen Sauerstoff brauchten, um die Füße zu heben, andererseits, weil sie sich vor dem fürchteten, was sie vielleicht finden würden. Der Wald war hier so dicht, daß sie im Halbdunkeln gingen. Sejer richtete mechanisch seinen Blick auf den Boden, nicht weil er Angst hatte zu stolpern, sondern um Spuren zu finden. Wenn dort oben wirklich etwas passiert war, dann konnte alles wichtig sein. Sie waren seit genau siebzehn Minuten unterwegs, als der Wald sich öffnete und ihnen Tageslicht entgegenströmte. Jetzt sahen sie das Wasser. Einen spiegelblanken Weiher, nicht größer als ein großer Teich. Er lag zwischen den Tannen wie ein geheimer Raum. Einen Moment lang ließen sie ihre Blicke schweifen. Folgten der gelben Schilflinie und entdeckten ein Stück entfernt etwas, das sie für einen Strand hielten. In sicherer Entfernung vom Wasser gingen sie auf diesen Strand zu, der Schilfgürtel war breit, und sie trugen nur normale Straßenschuhe. Strand war eigentlich viel zu hoch gegriffen. Es handelte sich eher um eine sumpfige Stelle mit vier oder fünf großen Felsen, gerade genug, um das Schilf auszusperren, und vielleicht die einzige Stelle, die Zugang zum Wasser bot. In Dreck und Modder lag eine Frau. Sie lag auf der Seite, kehrte ihnen den Rücken zu, eine dunkle Windjacke bedeckte ihren Oberkörper, ansonsten war sie nackt. Neben ihr lagen übereinander blaue und weiße Kleidungsstücke. Sejer blieb stehen und griff automatisch nach dem Telefon an seinem Gürtel. Dann entschied er sich dagegen. Er verließ den Weg und näherte sich der Frau vorsichtig. Dabei hörte er, wie der Schlamm unter seinen Schuhen gurgelte.

»Stehenbleiben«, sagte er leise.

Skarre gehorchte. Sejer hatte jetzt das Wasser erreicht, er setzte den Fuß auf einen Felsen und konnte die Frau von vorn sehen. Er wollte sie nicht anfassen, jetzt noch nicht. Ihre Augen waren ein wenig eingesunken. Sie waren halb offen und auf einen Punkt draußen im Wasser gerichtet. Die Augäpfel waren matt und runzlig. Die Pupillen groß und nicht mehr ganz rund. Der Mund war offen, und an den Lippen, teilweise auch über der Nase, klebte gelblichweißer Schaum, so als habe sie etwas erbrochen. Sejer bückte sich und blies, der Schaum bewegte sich nicht. Das Gesicht der Frau war nur wenige Zentimeter vom Wasser entfernt. Er legte zwei Finger auf ihre Halsschlagader. Die Haut war nicht mehr elastisch, jedoch nicht so kalt, wie er erwartet hatte.

»Tot«, sagte er.

An Ohrläppchen und Hals entdeckte er schwache rotviolette Flecken. Die Haut der Beine war zur Gänsehaut geworden, ansonsten aber makellos. Er ging aufs feste Ufer zurück. Skarre hatte die Hände in die Taschen gesteckt und schien nicht recht zu wissen, wie er sich verhalten sollte. Er hatte schreckliche Angst davor, einen Fehler zu machen.

»Ganz nackt unter der Jacke. Keine sichtbaren äußeren Verletzungen. Achtzehn bis zwanzig Jahre vielleicht.«

Dann telefonierte er, verständigte einen Krankenwagen, die Gerichtsmedizin, Fotografen und Techniker. Erklärte ihnen den Weg, die befahrene Straße auf der Rückseite der Kuppe. Er bat sie, in einiger Entfernung zu halten, um eventuell vorhandene Reifenspuren nicht zu zerstören. Dann schaute er sich nach einer Sitzgelegenheit um und entschied sich für den flachsten Felsen. Skarre ließ sich neben ihn fallen. Stumm starrten sie die weißen Beine der Toten an und die blonden Haare, sie waren glatt und halblang. Die Frau lag fast in Embryostellung. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Knie angezogen. Die Windjacke lag locker über ihrem Oberkörper und reichte ihr bis zur Mitte der Oberschenkel. Die Jacke war sauber und trocken. Ihre übrigen Kleider waren hinter ihrem Rücken aufgestapelt, sie waren naß und verdreckt. Jeans mit Gürtel, ein blau-weiß kariertes Hemd, ein BH, ein dunkelblaues Sweatshirt. Reebok-Turnschuhe.

»Was hat sie denn da am Mund?« fragte Skarre.

»Schaum.«

»Aber wieso Schaum? Wo kommt der denn her?«

»Das werden wir sicher noch erfahren.« Sejer schüttelte den Kopf. »Sieht aus, als habe sie sich schlafen gelegt und der Welt den Rücken zugekehrt.«

»Man zieht sich doch wohl nicht aus, wenn man Selbstmord begehen will?«

Sejer gab keine Antwort. Er sah sie wieder an, sah den weißen Körper am schwarzen Wasser, umgeben von dunklen Tannen. Diese Szene hatte nichts Gewalttätiges an sich, es wirkte eher friedlich. Sie faßten sich in Geduld.

Sechs Männer kamen mit schweren Schritten aus dem Wald. Das Stimmengewirr ebbte mit leisem Husten ab, als sie die Kollegen am Seeufer entdeckten. Eine Sekunde später sahen sie die Tote. Sejer erhob sich und winkte.

»Bleibt auf eurer Seite!« rief er.

Das taten sie. Alle kannten diesen grauen Schopf. Einer der Männer musterte mit geübtem Blick das Gelände, stampfte kurz auf den Boden auf, der hier ziemlich fest war, und murmelte etwas von zu wenig Niederschlag. Der Fotograf ging vorn. Er achtete nicht weiter auf die Tote, sondern schaute zum Himmel hoch, wie um die Lichtverhältnisse zu überprüfen.

»Mach von beiden Seiten Bilder«, sagte Sejer. »Und achte darauf, daß auch die Vegetation mit drauf ist. Ich fürchte, du mußt auch noch ins Wasser, ich will Bilder von vorn, ohne sie bewegen zu müssen. Wenn du den halben Film voll hast, entfernen wir die Jacke.«

»Solche Weiher sind in der Regel endlos tief«, sagte der Fotograf skeptisch.

»Du kannst doch schwimmen?«

Sie schwiegen kurz.

»Da hinten liegt ein Kahn. Den können wir nehmen.«

»Den mit dem flachen Boden? Der sieht ganz schön morsch aus.«

»Das wird sich herausstellen«, sagte Sejer kurz.

Während des Fotografierens warteten die anderen ganz still, nur ein Techniker durchsuchte ein Stück weiter weg den Boden, auf dem jedoch keinerlei Abfälle zu finden waren. Es war eine äußerst idyllische Stelle, an solchen Orten war der Boden normalerweise mit Kronkorken, benutzten Kondomen, Kippen und Schokoladenpapier übersät. Hier fanden sie nichts.

»Unglaublich«, sagte er. »Nicht einmal ein abgebranntes Streichholz.«

»Er hat danach vielleicht aufgeräumt«, sagte Sejer.

»Sieht das nicht eher nach Selbstmord aus?«

»Sie ist splitternackt«, wandte Sejer ein.

»Ja, aber das wollte sie sicher so. Die Kleider sind ihr jedenfalls nicht mit Gewalt vom Leib gerissen worden.«

»Sie sind dreckig.«

»Vielleicht hat sie sie deshalb ausgezogen.« Der Techniker lächelte. »Und sie hat sich erbrochen. Sicher hatte sie etwas gegessen, das sie nicht vertragen hat.«

Sejer schluckte eine Antwort hinunter und sah die Tote an. Ob er wollte oder nicht, er konnte diesen Gedankengang nachvollziehen. Sie sah wirklich aus, als habe sie sich zum Schlafen hingelegt, ihre Kleider lagen ordentlich neben ihr, waren nicht wahllos verstreut. Sie waren schlammig, schienen aber nicht beschädigt zu sein. Nur die Windjacke, die ihren Oberkörper bedeckte, war trocken und sauber. Er starrte Schlamm und Modder an und entdeckte etwas, das wie Schuhsohlenabdrucke aussah. »Sieh dir das an«, sagte er zu dem Techniker.

Der Mann im Overall ging in die Hocke und maß alle Abdrucke mehrmals aus.

»Hoffnungslos. Es steht zuviel Wasser drin.«

»Kannst du gar nichts damit anfangen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

Sie betrachteten die mit Wasser gefüllten Ovale aus zusammengekniffenen Augen.

»Mach trotzdem Fotos. Ich finde, sie sehen klein aus. Vielleicht von einem Menschen mit kleinen Füßen.«

»An die siebenundzwanzig Zentimeter. Nicht gerade eine Riesenquante. Könnten ihre sein.« Der Fotograf machte mehrere Bilder der Spuren. Danach schwappte er in dem alten Kahn über den Weiher. Sie hatten keine Ruder finden können, deshalb mußte er mit den Händen paddeln. Bei jeder Bewegung bekam das Boot bedrohlich Schlagseite.

»Es zieht Wasser«, rief er besorgt.

»Keine Panik, gleich kommt eine komplette Rettungsmannschaft!« antwortete Sejer.

Als der Fotograf endlich fertig war, hatte er über fünfzig Aufnahmen gemacht. Sejer ging zum Wasser, legte Schuhe und Socken auf einen Stein, krempelte die Hosenbeine hoch und watete los. Er stand einen Meter vom Kopf der Toten entfernt. Sie trug eine Kette mit Anhänger um den Hals. Vorsichtig hob er mit einem Kugelschreiber den Anhänger hoch. »Ein Medaillon«, sagte er leise. »Vermutlich Silber. Steht etwas drauf. Ein H und ein M. Halt mal eine Tüte bereit.«

Er bückte sich, öffnete den Verschluß der Kette und nahm die Jacke weg.

»Sie ist rot im Nacken«, sagte er dann. »Fast ungewöhnlich helle Haut, aber sehr rot im Nacken. Ein häßlicher Fleck, so groß wie eine Hand.«

Snorrason, der Gerichtsmediziner, trug Gummistiefel. Er stapfte durch das Wasser und untersuchte der Reihe nach Augäpfel, Zähne, Fingernägel. Registrierte die makellose Haut, die schwachen roten Flecken, es gab mehrere von der Sorte, die wie zufällig über Hals und Brust verteilt waren. Er merkte sich jede Einzelheit, die langen Beine, das Fehlen von Muttermalen, was nur selten vorkam, und er fand nur eine kleine Petechie auf der rechten Schulter. Vorsichtig berührte er den Schaum über ihrem Mund mit einem Holzspatel. Der Schaum war fest und dicht, fast wie eine Süßspeise.

»Was ist das denn?«

Sejer nickte zu ihrem Mund hinunter.

»Auf den ersten Blick tippe ich auf Lungenflüssigkeit, die Protein enthält.«

»Und das bedeutet?«

»Ertrinken. Es kann aber auch auf etwas anderes hindeuten.« Snorrason kratzte ein wenig Schaum weg, und nach kurzer Zeit quoll neuer hervor. »Die Lunge klappt zusammen«, erklärte er.

Sejer kniff die Lippen zusammen, als er dieses Phänomen betrachtete.

Der Fotograf machte weitere Bilder von der Toten, nun ohne Jacke.

»Jetzt müssen wir das Siegel brechen«, sagte Snorrason und drehte sie vorsichtig auf den Bauch. »Eine ganz schwach einsetzende Starre, vor allem im Nacken. Große, gutgebaute Frau, gut in Form. Breite Schultern. Kräftige Muskulatur in Oberarmen, Oberschenkeln und Waden. Hat vielleicht Sport getrieben.«

»Kannst du irgendwelche Hinweise auf Gewalteinwirkung entdecken?«

Snorrason betrachtete den Rücken und die Rückseite der Beine. »Abgesehen von dem roten Fleck im Nacken – nein. Jemand kann sie hart im Nacken gepackt und dann kopfüber ins Wasser gedrückt haben, als sie noch angezogen war. Dann wurde sie an Land gezogen, sorgfältig entkleidet, zurechtgelegt und mit der Jacke zugedeckt.«

»Irgendwelche Anzeichen für eine Vergewaltigung?«

»Kann ich noch nicht sagen.«

Snorrason maß ziemlich ungerührt vor aller Augen ihre Temperatur und las das Ergebnis mit zusammengekniffenen Augen ab.

»Dreißig Grad. Wenn wir die wenigen Totenflecken und nur eine leichte Starre im Nacken dazunehmen, können wir davon ausgehen, daß der Tod innerhalb der letzten zehn bis zwölf Stunden eingetreten ist.«

»Nein«, sagte Sejer. »Nicht, wenn sie hier gestorben ist.«

»Möchtest du meinen Job übernehmen?«

Sejer schüttelte den Kopf. »Heute vormittag hat hier eine Suchaktion stattgefunden. Eine Gruppe von Leuten mit einem Hund hat diesen Teich nach einem verschwundenen Kind abgesucht. Das muß irgendwann zwischen zwölf und zwei gewesen sein. Und da lag sie noch nicht hier. Sie hätten sie doch gesehen. Das Kind ist übrigens wohlbehalten wieder aufgetaucht«, fügte er hinzu.

Er sah sich um, starrte aus schmalen Augen auf Modder und Schlamm. Ein winzig kleiner leuchtender Punkt erregte seine Aufmerksamkeit. Vorsichtig hob er ihn mit zwei Fingern hoch. »Was ist das denn?«

Snorrason blickte in Sejers Hand. »Eine Pille, irgendeine Art von Tablette.«

»Vielleicht findest du in ihrem Magen noch mehr davon?«

»Sehr gut möglich. Aber ich kann nirgendwo ein Pillenglas entdecken.«

»Sie kann sie doch lose in der Tasche gehabt haben.«

»Dann werden wir in ihren Jeans Staub finden. Leg die Pille hier in die Tüte.«

»Kannst du sehen, was das für ein Zeug ist?«

»Das kann alles mögliche sein. Aber die kleinsten Tabletten sind oft die stärksten. Das Labor wird das schon feststellen.«

Sejer nickte den Männern mit der Bahre zu und beobachtete sie bei ihrer Arbeit. Dann hob er zum erstenmal seit langem wieder den Blick und schaute nach oben. Der Himmel war bleich, die spitzen Tannen umgaben den Weiher wie erhobene Lanzen. Sie würden das in der Tat feststellen. Das schwor er sich. Alles, was passiert war.

Jacob Skarre, geboren und aufgewachsen in Søgne an der idyllischen Südküste, war gerade fünfundzwanzig. Er hatte schon oft nackte Frauen gesehen, wenn auch noch nie so eine wie diese hier am Weiher. Der Gedanke kam ihm, als er neben Sejer im Wagen saß, daß diese auf ihn vielleicht einen tieferen Eindruck machte als alle anderen Toten, die er je gesehen hatte. Vielleicht weil sie so lag, als wolle sie ihre Nacktheit verstecken, mit dem Rücken zum Weg, mit gesenktem Kopf und angezogenen Knien. Aber sie hatten sie doch gefunden und ihre Nacktheit gesehen. Sie hatten sie gedreht und gewendet, hatten ihre Lippen weggedrückt und ihre Zähne untersucht, hatten ihre Augenlider hochgeschoben. Hatten ihre Temperatur gemessen, während sie mit gespreizten Beinen auf dem Boden lag. Wie bei einer Stute auf einer Auktion.

»Sie war doch eigentlich ziemlich hübsch, oder?« fragte er erschüttert.

Sejer gab keine Antwort. Aber er freute sich über diese Bemerkung. Er hatte schon andere Frauen gefunden und ganz andere Kommentare gehört. Sie fuhren eine Weile schweigend weiter und starrten auf die Straße vor ihnen, in einer unbestimmten Ferne jedoch sahen sie die ganze Zeit diesen nackten Leib. Das Rückgrat, die Fußsohlen mit der etwas rötlicheren Haut, die Waden mit den hellen Härchen, das alles schwebte wie eine Luftspiegelung über dem Asphalt. Sejer hatte ein seltsames Gefühl. Dieser Fall war anders als alle vorherigen.

»Hast du Nachtschicht?«

Skarre räusperte sich. »Nur bis Mitternacht. Ich bin ein paar Stunden für Ringstad eingesprungen. Aber du wolltest doch eine Woche Urlaub nehmen, fällt der jetzt ins Wasser?«

»Sieht so aus.«

In Wahrheit hatte er diesen Plan schon vergessen.

Vor ihm auf dem Tisch lag die Vermißtenliste.

Darauf standen nur vier Namen, und zwei davon waren Männernamen. Die beiden Frauen waren vor 1960 geboren und konnten unmöglich die Tote am Schlangenweiher sein. Die eine war aus der Psychiatrischen Abteilung des Zentralkrankenhauses verschwunden, die andere aus dem Altersheim der Nachbargemeinde. »1,55 groß, 45 Kilo, schneeweiße Haare.«

Es war sechs Uhr nachmittags, und es konnten noch Stunden vergehen, bis irgendein ängstliches Gemüt sie endlich vermißt melden würde. Sie mußten auf die Bilder und den Obduktionsbericht warten, und deshalb konnte er nicht viel tun. Sie brauchten erst die Identität der Frau. Er nahm seine Lederjacke vom Stuhlrücken und fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoß hinunter. Machte eine elegante Verbeugung vor Frau Brenningen in der Rezeption und dachte daran, daß sie Witwe und ihr Leben seinem eigenen vielleicht ziemlich ähnlich war. Hübsch war sie auch, blond wie Elise, aber rundlicher. Er ging über den Parkplatz zu seinem Privatwagen, einem alten eisblauen Peugeot 604. In Gedanken sah er das Gesicht der Toten vor sich, gesund und rund und ungeschminkt. Die Kleider waren solide und modisch, die glatten hellen Haare gepflegt, die Turnschuhe teuer. Am Handgelenk hatte sie eine teure Sportuhr von Seiko getragen. Es war eine Frau aus gutem Haus, aus einer Familie mit Ordnung und Struktur. Er hatte andere Frauen gefunden, bei denen ein ganz anderer Lebensstil seine deutliche Sprache gesprochen hatte. Und doch war er manches Mal überrascht worden. Zum Beispiel wußten sie noch nicht, ob diese Tote sich mit Alkohol oder Rauschgift oder irgendeinem anderen Teufelszeug vollgepumpt hatte. Möglich war alles, und oft trog der erste Eindruck. Er fuhr langsam durch die Stadt, vorbei am Marktplatz und der Feuerwache. Skarre hatte versprochen anzurufen, sowie die Vermißtenmeldung eingelaufen war. Auf dem Medaillon standen die Buchstaben H. M. Sejer überlegte, Helene vielleicht oder Hilde. Er glaubte nicht, daß sie lange auf den Anruf würden warten müssen. Das war eine Frau, die ihre Verabredungen einhielt, die ihr Leben im Griff hatte.

Als er den Schlüssel ins Schloß steckte, hörte er den dumpfen Lärm, mit dem der Hund seinen illegalen Aufenthalt im Sessel beendete. Sejer wohnte in einem Block; es war das einzige zwölfstöckige Hochhaus in der Stadt und sah in seiner Nachbarschaft ziemlich lächerlich aus. Wie ein übergroßer Hinkelstein ragte es inmitten der übrigen Bebauung in den Himmel. Daß Sejer und seine Frau Elise vor zwanzig Jahren trotzdem hier eingezogen waren, hatte daran gelegen, daß die Wohnung einfach vorzüglich geschnitten war und eine atemberaubende Aussicht bot. Er konnte von hier aus wirklich die ganze Stadt sehen, und wenn er sich die Alternativen vorstellte, dann kam ihm jede andere Möglichkeit zu wohnen wie Eingesperrtsein vor. Im Haus vergaß man schnell, wie es von außen aussah, die Wohnung war gemütlich und angenehm, die Wände waren mit Holz getäfelt. Die Möbel stammten noch von seinen Eltern, alt und solide und aus sandstrahlgeblasener Eiche. Die Wände waren größtenteils mit Büchern bedeckt, und an den wenigen freien Stellen hatte er ausgewählte Bilder aufgehängt. Eins von Elise, mehrere vom Enkel und seiner Tochter Ingrid. Eine Kohlezeichnung von Käthe Kollwitz, die er aus einem Kunstkatalog ausgeschnitten hatte, steckte in einem schwarzen Lackrahmen – »Tod mit Mädchen auf dem Schoß«. Ein Foto zeigte ihn selbst in freiem Fall über dem Flugplatz. Auf einem posierten seine Eltern feierlich in ihrem Sonntagsstaat. Immer, wenn er seinen Vater ansah, rückte sein eigenes Alter unangenehm nahe. So würden die Wangen einsinken, die Haare auf den Ohren und die Augenbrauen dagegen würden weiterwachsen und ihm das gleiche buschige Aussehen verleihen.

Die Regeln in dieser Gemeinschaft, in der die Familien wie bei Vigelands Monolith übereinandergestapelt waren, waren sehr streng. Es war verboten, auf dem Balkon Teppiche zu klopfen, deshalb brachte er seine jeden Frühling in die Reinigung. Es war eigentlich wieder an der Zeit. Kollberg, der Hund, hinterließ überall jede Menge von Haaren. Eine eigens einberufene Hausversammlung hatte sich mit Kollberg befaßt, hatte ihm dann aber die Wohnerlaubnis erteilt, vermutlich, weil Sejer Hauptkommissar war und seine Anwesenheit den anderen ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Er fühlte sich nicht eingesperrt, er wohnte ganz oben. Die Wohnung war sauber und ordentlich und spiegelte sein Inneres wider: Ordnung und Übersicht. Nur der Hund hatte in der Küche eine Ecke, in der immer wieder Trockenfutter und Wasser den Boden verschmutzten, und diese Ecke war Sejers einziger schwacher Punkt. Seine Beziehung zu dem Hund war in zu hohem Maß geprägt von Gefühlen und in zu geringem von Autorität. Das Badezimmer war der einzige Raum, mit dem er unzufrieden war, aber darum würde er sich später kümmern. Jetzt war erst mal diese Frau an der Reihe, vielleicht auch ein gefährlicher, frei herumlaufender Mann. Sejer gefiel das nicht. Er hatte das Gefühl, vor einer dunklen Biegung zu stehen, hinter die er nicht schauen konnte.

Er stellte sich breitbeinig hin, um die Umarmung des Hundes aufzufangen, die einfach überwältigend war. Dann machte er mit ihm einen kurzen Spaziergang um den Block, gab ihm frisches Wasser und hatte die Zeitung zur Hälfte gelesen, als das Telefon klingelte. Er drehte die Stereoanlage leise und verspürte eine leichte Spannung, als er abnahm. Vielleicht hatte schon jemand angerufen, vielleicht hatten sie jetzt einen Namen.

»Hallo, Opa!«

»Matteus?«

»Ich muß jetzt ins Bett. Es ist spät.«