Evas Auge - Karin Fossum - E-Book + Hörbuch
NEUHEIT

Evas Auge Hörbuch

Karin Fossum

5,0

Beschreibung

Eindringlich und erbarmungslos zeigt die skandinavische Bestsellerautorin, dass in Ausnahmesituationen jeder zum Täter werden kann. »Eine großartige Erzählerin und Erforscherin der menschlichen Psyche.« Bestsellerautor Jo Nesbø Zwei Tote werden in einer norwegischen Kleinstadt gefunden: Ein Mann am Flussufer, mit Messerstichen übersät, und eine Prostituierte, in ihrer Wohnung erwürgt. Kommissar Konrad Sejer steht vor einem Rätsel: Zwei Verbrechen – scheinbar ohne Verbindung. Und niemand will etwas gesehen haben … Die junge erfolglose Malerin Eva findet sich als alleinerziehende Mutter in zunehmender Bedrängnis. Ihrer kleinen Tochter kann sie kaum noch ein warmes Zuhause bieten. Da eröffnet ihr das Wiedersehen mit jemandem aus der Vergangenheit eine letzte Möglichkeit. Eva muss sich fragen: Wie weit ist sie als Mutter zu gehen bereit? Und dann beobachtet sie etwas, das nicht für ihre Augen bestimmt war. Etwas, aus dem Albträume gemacht sind … Der erste Fall in der Thrillerreihe um Konrad Sejer, in der jeder Band unabhängig gelesen werden kann. Fans von Henning Mankell werden begeistert sein! Als Hörbuch bei Saga Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks.

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Zeit:10 Std. 31 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Patrick Twinem

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Über dieses Buch:

Zwei Tote werden in einer norwegischen Kleinstadt gefunden: Ein Mann am Flussufer, mit Messerstichen übersät, und eine Prostituierte, in ihrer Wohnung erwürgt. Kommissar Konrad Sejer steht vor einem Rätsel: Zwei Verbrechen – scheinbar ohne Verbindung. Und niemand will etwas gesehen haben …

Die junge erfolglose Malerin Eva findet sich als alleinerziehende Mutter in zunehmender Bedrängnis. Ihrer kleinen Tochter kann sie kaum noch ein warmes Zuhause bieten. Da eröffnet ihr das Wiedersehen mit jemandem aus der Vergangenheit eine letzte Möglichkeit. Eva muss sich fragen: Wie weit ist sie als Mutter zu gehen bereit? Und dann beobachtet sie etwas, das nicht für ihre Augen bestimmt war. Etwas, aus dem Albträume gemacht sind …

Über die Autorin:

Karin Fossums international erfolgreiche Krimis sind vielfach preisgekrönt. Ihr genaues Gespür für menschliche Abgründe beweist die norwegische Bestsellerautorin auch in der neuen Eddie-Feber-Reihe.

Bei dotbooks veröffentlichte Karin Fossum ihre Reihe um Eddie Feber mit den Kriminalromanen »Familienbande« und »Nachtläufer«, die auch als Printausgaben und Hörbücher bei Saga Egmont erhältlich sind.

Außerdem erscheint bei dotbooks ihre Konrad-Sejer-Reihe mit den Thrillern »Evas Auge«, »Fremde Blicke«, »Schwarzer Wald«, »Dunkler Schlaf« und »Stumme Schreie«, die bei Saga Egmont im Hörbuch erhältlich sind.

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe Februar 2024

Die norwegische Originalausgabe erschien erstmals 1995 unter dem Originaltitel »Evas øye« bei Cappelen Damm.

Copyright © der norwegischen Originalausgabe J. W. CAPPELEN FORLAG / CAPPELEN DAMM AS 1995

Copyright © der deutschen Erstausgabe Piper Verlag GmbH, München 1997

Die Übersetzung wurde von NORLA Norwegian Literature Abroad, Oslo, gefördert.

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98952-441-5

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Karin Fossum

Evas Auge

Thriller

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

dotbooks.

Für Vater

Prolog

Es sah aus wie ein Puppenhaus.

Ein winziges Haus mit roten Fensterrahmen und Spitzengardinen. Er blieb ein Stück davon entfernt stehen, horchte, hörte aber nur den Hund, der hechelnd neben ihm stand, und ein schwaches Rauschen in den alten Apfelbäumen. Er wartete noch eine Weile, spürte, wie die Feuchtigkeit des Grases durch seine Schuhe drang, und sein Herz, das noch immer im Takt der Verfolgungsjagd durch den Garten schlug. Der Hund sah ihn erwartungsvoll an. Seine große Schnauze dampfte, die Ohren zitterten, vielleicht hörte er aus dem Häuschen Geräusche, die der Mann nicht wahrnehmen konnte. Der Mann sah zum Wohnhaus zurück, wo hinter den Fenstern warmes, gemütliches Licht leuchtete. Das Hundegebell verhallte. Stille. Niemand hatte sie gehört. Unten auf der Straße stand sein Wagen, zwei Räder auf dem Bürgersteig, und mit offener Tür.

Sie hat Angst vor dem. Hund, überlegte er verwundert. Er bückte sich, packte den Hund am Halsband und näherte sich langsam der Tür. So ein Häuschen hat auf der Rückseite sicher keinen Ausgang, bestimmt kann man noch nicht einmal die Tür abschließen. Ihr ist inzwischen sicher klargeworden, daß sie in der Falle sitzt. Es gibt keinen Ausweg mehr. Sie hat keine Chance.

Kapitel 1

Das Gericht lag in einem sechsstöckigen Betongebäude, das sich wie ein grauer Wall in der Nähe der Hauptstraße der Stadt erhob und dem eiskalten Wind vom Fluß her die ärgste Schärfe nahm. Die Baracken auf der Rückseite lagen im Windschutz, im Winter war das ein Segen, im Sommer wurden sie in der stillstehenden Luft gebacken. Über dem Eingang zierte eine sehr moderne Frau Justitia die Fassade, aus der Entfernung ähnelte sie eher einer Hexe auf ihrem Besen. Polizei und Kreisgefängnis verfügten neben den Baracken auch über die drei obersten Stockwerke.

Die Tür öffnete sich mit unwirschem Ächzen. Frau Brenningen fuhr zusammen und steckte hinter dem Wort »Wahrscheinlichkeitspotential« einen Finger in ihr Buch. Hauptkommissar Sejer betrat zusammen mit einer Frau das Foyer. Die Frau sah mitgenommen aus, ihr Kinn war zerschrammt, ihr Mantel und Rock zerrissen, sie blutete aus dem Mund. Frau Brenningen starrte sonst nie Fremde an. Im Foyer des Gerichtsgebäudes, wo sie nun seit siebzehn Jahren saß, hatte sie alle möglichen Leute kommen und gehen sehen, aber jetzt starrte sie. Sie klappte ihr Buch zu, nachdem sie zuerst einen alten Busfahrplan hineingelegt hatte. Sejer legte der Frau die Hand auf den Arm und führte sie zum Fahrstuhl. Sie ging mit gesenktem Kopf. Dann schlossen sich hinter den beiden die Türen.

Man konnte Sejer nicht ansehen, was er dachte. Er sah mürrisch aus, während er in Wirklichkeit nur reserviert und hinter seiner strengen Miene eigentlich recht freundlich war. Aber er warf nicht mit herzlichem Lächeln um sich, er benutzte sein Lächeln nur als Eintrittskarte, wenn er Kontakt aufnehmen wollte, und ein Lob hatte er nur für sehr wenige. Er zog die Tür zu und nickte zu einem Stuhl hinüber, zog einen halben Meter Papier aus dem Handtuchbehälter über dem Waschbecken, feuchtete ihn mit warmem Wasser an und reichte ihn der Frau. Die wischte sich den Mund ab und sah sich um. Das Büro war ziemlich kahl, aber sie musterte die Kinderzeichnungen an der Wand und eine kleine Salzteigfigur auf seinem Schreibtisch, die bewiesen, daß Sejer außerhalb dieser Wände noch ein anderes Leben hatte. Die kleine Figur stellte einen Polizisten in veilchenblauer Uniform dar, er war ziemlich in sich zusammengesunken, sein Bauch hing ihm auf die Knie, und er trug zu große Schuhe. Er hatte keine große Ähnlichkeit mit dem Modell, das jetzt mit ernsten grauen Augen ihr gegenüber Platz nahm. Auf dem Schreibtisch standen ein Kassettenrekorder und ein PC Marke Compaq. Die Frau musterte beides verstohlen und versteckte ihr Gesicht in den feuchten Papierhandtüchern. Sejer ließ sie gewähren. Er zog eine Kassette aus der Schreibtischschublade und beschriftete sie mit: »Eva Marie Magnus«.

»Haben Sie Angst vor Hunden?« fragte er freundlich.

Sie blickte auf.

»Früher vielleicht. Jetzt nicht mehr.«

Sie zerknüllte das Papier zu einem Ball.

»Früher hatte ich Angst vor allem. Jetzt fürchte ich mich vor nichts mehr.«

Kapitel 2

Der Fluß strömte durch die Landschaft und zerriß die kalte Stadt in zwei fröstelnde graue Hälften. Es war April, es war kalt. Dort, wo der Fluß die Innenstadt erreichte, ungefähr beim Zentralkrankenhaus, begann er, zu schäumen und sich aufzuspielen, als ob ihn der Lärm des Verkehrs und der Industrieanlagen an seinen Ufern nervös mache. Der Fluß strömte und sprudelte immer heftiger, je weiter er sich in die Stadt vorarbeitete. Vorbei am alten Theater und am Bürgerhaus, entlang an der Eisenbahnlinie und vorbei am Markplatz, an der alten Börse, in der sich jetzt ein McDonald’s eingerichtet hatte, hinunter zur Brauerei mit ihrer schönen pastellgrauen Farbe, die außerdem die älteste Brauerei im Land war, bis zum Cash & Carry, zur Autobahnbrücke, einem großen Gewerbegebiet mit mehreren Autohändlern und schließlich bis zum alten Wirtshaus. Dort konnte der Fluß endlich den letzten Seufzer ausstoßen und sich ins Meer wälzen.

Es war später Nachmittag, die Sonne ging schon unter, und bald würde sich die Brauerei aus einem öden Koloß in ein Märchenschloß mit tausend Lichtern verwandeln, die sich im Fluß spiegelten. Erst nach Einbruch der Dunkelheit wurde diese Stadt schön.

Eva ließ ihre kleine Tochter, die am Flußufer entlangrannte, nicht aus den Augen. Die Entfernung zwischen ihnen betrug zehn Meter, und Eva gab sich Mühe, mit der Kleinen Schritt zu halten. Es war ein grauer Tag, nur wenig Menschen waren hier unterwegs, ein eiskalter Wind kam vom schäumenden Fluß her. Wenn Eva jemanden mit freilaufendem Hund sah, atmete sie erst wieder auf, wenn der Hund an ihr vorbei war. Sie sah niemanden. Ihr Rock flatterte ihr um die Waden, der Wind wehte durch ihren Pullover, und deshalb hatte sie sich beide Arme um den Leib geschlungen. Emma lief zufrieden immer weiter, sie sah nicht besonders graziös aus, denn sie wog viel zu viel. Ein dickes Kind mit großem Mund und eckigem Gesicht. Ihre roten Haare schlugen ihr in den Nacken, und durch das Wasser in der Luft sahen sie schmutzig aus. Durchaus kein hübsches, adrettes kleines Kind, doch das wußte Emma nicht, und deshalb tanzte sie ziemlich sorglos dahin, ohne Eleganz, dafür aber mit einem Lebenshunger, wie ihn nur ein Kind haben kann. Noch vier Monate bis zum Schulbeginn, überlegte Eva. Eines Tages wird sie in den kritischen Gesichtern auf dem Schulhof ihr Spiegelbild entdecken, und sie wird sich zum ersten Mal ihrer unschönen Erscheinung bewußt werden. Aber wenn sie ein starkes Kind ist, wenn sie auf ihren Vater kommt, der eine andere gefunden hat und weggezogen ist, dann wird das keine große Rolle für sie spielen. Daran dachte Eva Magnus an diesem Tag am Flußufer. Daran, und an den Mantel, der zu Hause im Flur am Haken hing.

Eva kannte den Weg sehr genau, sie waren hier schon zahllose Male entlanggewandert. Emma bestand immer wieder darauf, wollte nicht auf die alte Gewohnheit verzichten, über den Flußweg zu schlendern. Für Eva war das nicht so wichtig. In regelmäßigen Abständen verschwand die Kleine unten am Wasser, weil sie irgendetwas entdeckt hatte, das sie genauer in Augenschein nehmen mußte. Eva starrte mit Adleraugen hinterher. Wenn Emma ins Wasser fiel, gab es außer Eva niemanden, der sie retten konnte. Die Strömung war reißend, das Wasser eiskalt, das Kind schwer. Eva schauderte.

Jetzt hatte Emma einen flachen Stein ganz unten am Wasser entdeckt und rief nach ihrer Mutter. Eva ging zu ihr. Der Stein war gerade so groß, daß beide darauf sitzen konnten.

»Hier können wir nicht sitzenbleiben, der Stein ist naß. Wir können uns eine Blasenentzündung holen.«

»Ist das gefährlich?«

»Nein, aber es tut weh. Es brennt, und du mußt dann dauernd Pipi machen.«

Sie setzten sich trotzdem. Beobachteten staunend die lebhaften Stromwirbel.

»Wie kommt die Strömung ins Wasser?« fragte Emma.

Eva mußte kurz überlegen.

»Nein, Himmel, das weiß ich wirklich nicht. Vielleicht hat es etwas mit dem Flußboden zu tun, es gibt soviel, was ich nicht weiß. Das lernst du bald alles in der Schule.«

»Das sagst du jedes Mal, wenn du keine Antwort weißt.«

»Ja, aber es stimmt auch. Auf jeden Fall kannst du dann deine Lehrerin fragen. So eine Lehrerin weiß viel mehr als ich.«

»Das glaube ich nicht.«

Ein leerer Plastikkanister kam in hohem Tempo angesegelt.

»Den will ich! Holst du ihn mir raus?«

»Nein, igitt, laß das schwimmen, das ist doch bloß Abfall. Ich friere, Emma, können wir nicht bald nach Hause gehen?«

»Nur noch ein paar Minuten.«

Emma strich sich die Haare hinter die Ohren und stützte das Kinn auf die Knie, aber ihre Haare waren starr und unwillig und fielen ihr wieder ins Gesicht.

»Ist das sehr tief?« Sie nickte zur Flußmitte hinüber.

»Nein, eigentlich nicht«, sagte Eva leise. »Acht oder neun Meter, nehme ich an.«

»Das ist doch schrecklich tief.«

»Nein, ist es nicht. Die allertiefste Stelle der ganzen Welt ist im Stillen Ozean«, sagte Eva nachdenklich. »Eine Art Graben. Er ist elftausend Meter tief. Das nenne ich schrecklich tief.«

»Da würde ich aber nicht gern baden. Du weißt doch ganz viel, Mama, so eine Lehrerin weiß das bestimmt nicht alles. Ich wünsche mir eine rosa Schultasche«, sagte Emma.

Eva schauderte.

»Mm«, sagte sie laut. »Die sind schön. Aber sie werden so schnell schmutzig. Ich finde die braunen schön, diese braunen Ledertaschen, weißt du, was ich meine? Solche, wie die Großen sie haben?«

»Ich bin nicht groß. Ich komm’ doch erst in die erste Klasse.«

»Ja, aber du wirst doch größer, und du kannst nicht jedes Jahr eine neue Schultasche haben.«

»Aber jetzt haben wir doch mehr Geld, oder?«

Eva gab keine Antwort, warf bei dieser Frage jedoch einen raschen Blick über ihre Schulter, eine Angewohnheit, die sie früher nicht gehabt hatte. Emma fand ein Stöckchen und hielt es ins Wasser.

»Wie kommt der Schaum ins Wasser?« fragte sie dann. »Dieser gelbe, fiese Schaum.«

Sie schlug mit dem Stöckchen ins Wasser. »Soll ich die Lehrerin danach fragen?«

Noch immer gab Eva keine Antwort. Auch sie hatte jetzt das Kinn auf den Knien liegen, ihre Gedanken gingen wieder auf Wanderschaft, und sie sah Emma nur noch undeutlich aus dem Augenwinkel heraus. Der Fluß erinnerte sie an etwas. Jetzt konnte sie unten im schwarzen Wasser ein Gesicht flimmern sehen. Ein rundes Gesicht mit schmalen Augen und schwarzen Brauen.

»Leg dich aufs Bett, Eva.«

» Was? Wieso denn?«

»Mach es einfach. Leg dich aufs Bett.«

»Können wir zu McDonald’s gehen?« fragte Emma plötzlich.

»Was? Ja, sicher. Wir gehen zu McDonald’s, da ist es immerhin warm.«

Sie erhob sich leicht verwirrt und nahm ihr Kind am Arm. Schüttelte den Kopf und starrte in den Fluß. Das Gesicht war verschwunden, aber sie wußte, es würde wieder auftauchen, würde sie vielleicht für den Rest ihres Lebens verfolgen. Sie gingen hoch zum Wanderweg und gingen weiter zur Stadt. Niemand begegnete ihnen.

Eva merkte, daß ihre Gedanken wegliefen, sie gingen ihre eigenen Wege und landeten an Orten, die sie lieber vergessen hätte. Das Rauschen des Flusses ließ Bilder vor ihr auftauchen. Sie wartete auf das Verschwinden dieser Bilder, sie wollte endlich ihre Ruhe. Und inzwischen verging die Zeit. Ein Tag nach dem anderen, und inzwischen waren es sechs Monate geworden.

»Kriege ich eine Juniortüte? Die kostet siebenunddreißig Kronen, und mir fehlt noch Aladdin.«

»Ja«

»Und was willst du, Mama? Chicken McNuggets?«

»Weiß noch nicht.«

Eva starrte wieder in das schwarze Wasser hinab, beim Gedanken ans Essen wurde ihr schlecht. Sie aß überhaupt nicht sonderlich gern. Jetzt sah sie, wie sich unter dem graugelben Schaum die Wasseroberfläche hob und senkte.

»Wir haben doch jetzt mehr Geld, Mama, wir können essen, was wir wollen, oder?«

Eva schwieg. Sie blieb plötzlich stehen und kniff die Augen zusammen. Dicht unter der Wasseroberfläche sah sie etwas Grauweißes. Es wiegte sich schlaff hin und her und wurde von der starken Strömung ans Ufer gepreßt. Evas Augen waren so sehr mit diesem Anblick beschäftigt, daß sie die Kleine vergaß, die nun ebenfalls stehengeblieben war, und die genauer hinsah als ihre Mutter.

»Das ist ein Mann!« rief Emma. Sie bohrte die Fingernägel in Evas Arm und machte große Augen. Einige Sekunden lang starrten beide nur die aufgedunsene, halb aufgelöste Gestalt an, die mit dem Kopf voran zwischen die Steine trieb. Der Mann lag auf dem Bauch. Sein Hinterkopf war nur schütter behaart. Eva nahm Emmas Nägel, die sich durch ihren Pullover bohrten, gar nicht wahr, sie sah nur den grauweißen Toten mit den blonden, zerzausten Haaren, und sie wußte nicht sofort, daß sie wußte, wer er war. Aber seine Turnschuhe - die hohen, blauweißgestreiften Turnschuhe ... ein heftiger Blutgeschmack füllte plötzlich ihren Mund.

»Das ist ein Mann«, sagte Emma noch einmal, jetzt leiser.

Eva wollte schreien. Der Schrei erstickte in ihrer Kehle. »Er ist ertrunken. Der Arme, er ist ertrunken, Emma!«

»Warum sieht er so fies aus? Fast wie Wackelpudding! «

»Weil«, stammelte Eva, »weil das so lange her ist.«

Sie biß sich so hart auf die Lippe, daß sie platzte. Der Blutgeschmack ließ Eva fast umsinken.

»Müssen wir ihn aus dem Wasser holen?«

»Nein, spinnst du! Das macht die Polizei!«

 »Rufst du die jetzt an?«

Eva legte den Arm um die breite Schulter ihrer Tochter und stolperte mit ihr über den Weg. Gleich darauf schaute sie sich um, als erwarte sie einen Angriff. An der Auffahrt zur Brücke stand eine Telefonzelle, und Eva zog ihre Tochter hinter sich her und wühlte in ihrer Rocktasche nach Kleingeld. Sie fand einen Fünfer. Der Anblick der halbverwesten Leiche flackerte vor ihren Augen wie eine böse Vorwarnung all dessen, was jetzt noch kommen würde. Sie war nun endlich zur Ruhe gekommen, die Zeit hatte sich wie Staub über alles gelegt und die Albträume verblassen lassen. Aber jetzt hämmerte das Herz wie wild unter ihrem Pullover. Emma schwieg. Sie folgte ihrer Mutter mit verängstigten grauen Augen und blieb stehen.

»Warte hier. Ich rufe die Polizei an und sage, daß sie ihn holen müssen. Geh ja nicht weg!«

»Wir müssen sicher auf sie warten?«

»Nein, das müssen wir nicht.«

Eva ging in die Telefonzelle und versuchte, ihre Panik zu unterdrücken. Eine Lawine von Gedanken und Ideen raste durch ihren Kopf. Dann faßte sie einen schnellen Entschluß. Ihre Finger waren schweißnaß, sie ließ den Fünfer in den Schlitz fallen und wählte rasch eine Nummer. Ihr Vater antwortete, müde, er schien gerade geschlafen zu haben.

»Ich bin’s nur, Eva«, flüsterte sie. »Habe ich dich geweckt?«

»Ja, aber das wurde wirklich auch Zeit. Ich verschlafe jetzt ja fast schon den halben Tag. Stimmt was nicht?« brummte er. »Du klingst so aufgeregt. Ich kenne dich doch.«

Seine Stimme war trocken und brüchig, aber trotzdem hatte sie eine Stärke, die Eva immer geliebt hatte. Einen Stachel, der sie an die Wirklichkeit nagelte.

»Nein, alles in Ordnung. Emma und ich wollten gerade essen gehen, und da kamen wir an einer Telefonzelle vorbei.«

»Gibst du sie mir mal?«

»Ah, geht nicht, sie ist unten am Wasser.«

Eva sah zu, wie die Einheiten im Zähler weitertickten und warf einen raschen Blick auf Emma, die sich gegen die Glastür preßte. Ihre Nase wurde platt wie eine Marzipankartoffel. Ob sie hören konnte, was hier gesagt wurde?

»Ich habe nicht mehr viel Kleingeld. Wir kommen dich bald besuchen. Wenn du willst.«

»Warum flüsterst du eigentlich so?« fragte ihr Vater mißtrauisch.

»Tu ich das?« sagte sie ein wenig lauter.

»Gib deiner Kleinen einen Kuß von mir. Ich habe eine Überraschung für sie.«

»Was denn?«

»Eine Schultasche. Die braucht sie doch im Herbst, nicht wahr? Ich dachte, ich könnte dir die Ausgabe ersparen, du hast es schließlich nicht so leicht!«

Wenn er wüßte! Laut sagte sie:

»Das ist lieb von dir, Papa, aber sie weiß ziemlich genau, was sie haben will. Kann die Schultasche noch umgetauscht werden?«

»Natürlich, aber ich habe die genommen, die mir im Laden empfohlen worden ist. Eine rosa Ledertasche.«

Eva zwang ihre Stimme in einen normalen Tonfall. »Ich muß auflegen, Papa, ich habe kein Geld mehr. Paß auf dich auf.« Ein Klicken war zu hören, dann war er verschwunden. Der Zähler stand still.

Emma starrte sie gespannt an.

»Kommen die jetzt sofort?«

»Ja, sie schicken einen Wagen. Komm, jetzt gehen wir essen. Sie rufen uns an, wenn sie mit uns sprechen müssen, aber ich glaube nicht, daß das nötig ist, jetzt jedenfalls nicht, vielleicht später, und dann melden sie sich. Uns geht das Ganze ja eigentlich auch gar nichts an, weißt du, im Grunde nicht.«

Sie redete fieberhaft und fast schon atemlos drauflos.

»Können wir denn nicht warten und zuschauen, bitte!«

Eva schüttelte den Kopf. Sie überquerte, die Kleine im Schlepp, bei Rot die Straße. Sie waren ein ungleiches Paar. Eva lang und mager mit schmalen Schultern und langen dunklen Haaren, Emma dick und breit und x-beinig, mit leichtem Watschelgang. Beide froren. Und auch die Stadt fror im kalten Wind. Das ist eine unharmonische Stadt, dachte Eva, sie scheint niemals richtig glücklich sein zu können, weil sie zweigeteilt ist. Jetzt will jede der beiden Hälften die wichtigere sein. Die Nordseite mit der Kirche, dem Kino und den teuersten Warenhäusern, die Südseite mit der Eisenbahn, den billigen Einkaufszentren, den Kneipen und dem Schnapsladen. Letzterer war wichtig, denn er lockte einen gleichmäßigen Strom von Menschen und Autos über die Brücke.

»Warum ist der Mann denn ertrunken, Mama?«

Emma starrte ihre Mutter an und wartete auf eine Antwort.

»Ich weiß nicht. Vielleicht war er betrunken und ist in den Fluß gefallen.«

»Vielleicht ist er beim Angeln aus dem Boot gekippt. Er hätte eine Schwimmweste anziehen sollen. Ob der wohl alt war, Mama?«

»Nicht sehr alt. Wie Papa, vielleicht.«

»Papa kann jedenfalls schwimmen«, sagte Emma erleichtert.

Sie hatten die grüne Tür des McDonald’s erreicht. Emma drückte sie mit der Schulter auf. Die Gerüche im Lokal, Hamburger und Pommes frites, zogen sie und ihren niemals nachlassenden Appetit an. Vergessen war der Tote im Fluß, vergessen war der Ernst des Lebens. Emmas Magen knurrte, und Aladdin war in Reichweite gerückt.

»Such dir einen Tisch«, sagte Eva. »Ich hol’ uns was zu essen.«

Emma ging in ihre Lieblingsecke. Setzte sich unter den blühenden Mandelbaum aus Plastik, während Eva sich vor dem Tresen anstellte. Sie versuchte, das Bild abzuschütteln, das vor ihrem inneren Auge auf und ab wogte, aber immer wieder drängte es sich auf. Würde Emma es vergessen, oder würde sie darüber sprechen? Vielleicht würde sie nachts böse davon träumen. Sie mußten es totschweigen, durften es nie mehr erwähnen. Am Ende würde Emma dann glauben, es sei nie geschehen.

Die Schlange rückte auf. Eva starrte zerstreut die Jugendlichen hinter dem Tresen an, mit ihren roten Mützenschirmen und den roten kurzärmligen Hemden, sie arbeiteten in einem Wahnsinnstempo. Der Essensgeruch erhob sich hinter dem Tresen wie eine Wand, der Geruch von Fett und gebratenem Fleisch, von geschmolzenem Käse und Gewürzen stieg ihr in die Nase. Aber die Jugendlichen selber schienen unberührt von der schweren Luft, sie rannten hin und her, wie emsige rote Ameisen, und lächelten bei jeder neuen Bestellung optimistisch. Das hier hatte kaum Ähnlichkeit mit Evas eigenem Arbeitstag. Meistens stand sie mit verschränkten Armen mitten in ihrem Atelier und starrte feindselig die aufgespannte Leinwand an.

An guten Tagen starrte sie aggressiv und ging zum Angriff über, voller Autorität und Übermut. Ein seltenes Mal verkaufte sie ein Bild.

»Eine Juniortüte«, sagte sie rasch. »Und Chicken, und zwei Cola. Und könnten Sie einen Aladdin dazutun, bitte, der fehlt ihr nämlich noch?«

Die Frau machte sich an die Arbeit. Ihre Hände drehten und brieten, packten und falteten, und das alles blitzschnell. Emma reckte hinten in der Ecke den Hals und ließ ihre Mutter nicht aus den Augen, als die endlich mit dem Tablett schwankend auf sie zukam. Eva zitterten plötzlich die Knie. Sie ließ sich auf den Stuhl sinken und sah verwundert zu, wie ihre Tochter sich eifrig bemühte, die kleine Pappschachtel zu öffnen. Sie suchte nach der Überraschung. Ihr Freudenausbruch war ohrenbetäubend.

»Ich hab’ Aladdin gekriegt, Mama!« Sie hob die Figur in die Luft, um sie dem ganzen Lokal zu zeigen. Alle sahen zu ihr herüber. Eva schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte laut auf.

»Bist du krank?«

Emma war plötzlich sehr ernst und versteckte Aladdin unter dem Tisch.

»Nein, doch - ach, ich bin einfach nicht gut drauf. Das legt sich bald wieder.«

»Tut dir der tote Mann leid?«

Eva fuhr zusammen.

»Ja«, sagte sie dann einfach. »Der tote Mann tut mir leid. Aber über den reden wir jetzt nicht mehr. Nie mehr, hörst du, Emma! Mit niemandem! Das macht uns doch nur traurig.«

»Aber meinst du, der hatte Kinder?«

Eva wischte sich mit den Händen die Tränen ab.

Sie wagte kaum noch, an die Zukunft zu denken. Sie starrte ihre Hähnchenwürfel an, die teigigen braunen, in Fett gebackenen Klumpen, und sie wußte, daß sie sie nicht essen würde. Wieder flimmerten die Bilder an ihr vorbei. Sie sah sie durch die Zweige des Mandelbaums.

»Ja«, sagte sie schließlich und wischte sich noch einmal das Gesicht. »Vielleicht hatte er Kinder.«

Kapitel 3

Eine ältere Dame, die ihren Hund ausführte, entdeckte plötzlich zwischen den Steinen den blauweißen Schuh. Wie Eva ging auch sie in die Telefonzelle an der Brücke. Als die Polizei eintraf, stand sie leicht unbeholfen mit dem Rücken zur Leiche am Ufer Posten. Ein Polizist namens Karlsen stieg als erster aus dem Wagen. Er lächelte höflich, als er die Frau sah, und betrachtete neugierig ihren Hund.

»Das ist ein chinesischer Nackthund«, erklärte die Frau.

Es war wirklich ein faszinierendes kleines Vieh, sehr rosa und sehr runzlig. Oben auf dem Kopf hatte es einen fetten Quast aus schmutziggelbem Fell, ansonsten war es, wie die Frau richtig gesagt hatte, nackt.

»Wie heißt der denn?« fragte Karlsen freundlich.

»Adam«, war die Antwort. Karlsen nickte lächelnd und holte den Koffer mit der Ausrüstung aus dem Wagen. Der Tote machte ihnen eine Zeitlang zu schaffen, aber schließlich konnten sie ihn ans Ufer ziehen und dort auf eine Plane legen. Er war kein Schwergewicht, er sah durch die lange Zeit im Wasser nur so aus. Die Frau mit dem Hund ging ein Stück von ihnen weg. Die Polizisten arbeiteten leise und sorgfältig, der Fotograf machte Bilder, ein Gerichtsmediziner kniete neben der Plane und machte Notizen. Die meisten Todesfälle hatten triviale Ursachen, die Polizei rechnete mit einer Routinesache. Vielleicht ein Suffkopp, der ins Wasser gefallen war, nachts gab es auf den Spazierwegen und unter der Brücke einige von der Sorte. Dieser hier war irgendetwas zwischen zwanzig und vierzig, schlank, aber mit Bierbauch, blond, nicht besonders groß. Karlsen streifte sich einen Gummihandschuh über die rechte Hand und hob vorsichtig einen Hemdenzipfel an.

»Messerstiche«, sagte er kurz. »Mehrere. Wir drehen ihn mal um.« Sie verstummten. Das Einzige, was zu hören war, war das Geräusch der Gummihandschuhe, die abgestreift und wieder angezogen wurden, das leise Klicken des Fotoapparates, ab und zu ein Atemzug, und das Knistern der Plastikplane, die neben der Leiche ausgebreitet wurde.

»Ich frage mich«, murmelte Karlsen, »ob wir endlich Einarsson gefunden haben.«

Die Brieftasche des Mannes war verschwunden. Aber seine Armbanduhr war noch da, eine billige Uhr mit viel Schnickschnack, wie der Zeit von Tokio, New York und London. Der schwarze Riemen hatte sich in das geschwollene Handgelenk eingegraben. Die Leiche hatte ziemlich lange im Wasser gelegen und war vermutlich von der Strömung weiter oben im Fluß mitgetragen worden, deshalb war die Fundstätte nicht weiter interessant. Trotzdem wurden einige Untersuchungen angestellt, sie suchten das Ufer nach möglichen Spuren ab, fanden aber nur einen leeren Plastikkanister, der Frostschutzmittel enthalten hatte, und eine leere Zigarettenschachtel. Inzwischen hatten sich oben auf dem Uferweg einige Zuschauer eingefunden, zumeist junge Leute; sie reckten die Hälse und versuchten, wenigstens einen kurzen Blick auf die Leiche auf der Plane zu erhaschen. Die Verwesung war in vollem Gang. Die Haut hatte sich vom Körper gelöst, vor allem an Füßen und Händen, es sah aus, als trage er zu große Handschuhe. Und der Tote hatte sich schlimm verfärbt. Die Augen, die einst grün gewesen waren, waren jetzt durchsichtig und farblos, seine Haare gingen büschelweise aus, das Gesicht war dermaßen aufgedunsen, daß die Züge verschwammen. Was es im Fluß ansonsten an Leben gab, Krebse, Fische und Insekten, hatte gierig zugelangt. Die Messerstiche in der Seite hatten klaffende Wunden im grauweißen Fleisch hinterlassen.

»Hier habe ich früher immer geangelt«, sagte einer der Jungen oben auf dem Weg, er hatte in seinem ganzen siebzehnjährigen Leben noch keinen Toten gesehen. Er glaubte eigentlich nicht an den Tod, ebensowenig wie an Gott, weil er beides nie gesehen hatte. Er bohrte das Kinn in seinen Jackenkragen und schüttelte sich. Von nun an war alles möglich.

Vierzehn Tage später lag der Obduktionsbericht vor. Hauptkommissar Konrad Sejer hatte sechs Personen ins Besprechungszimmer gebeten, das in einer der Baracken hinter dem Gericht lag. Sie waren erst in den letzten Jahren aufgrund von Platzmangel errichtet worden, eine Reihe von Büros, die für die Allgemeinheit verborgen waren, mit Ausnahme der unglücklichen Seelen, die in engeren Kontakt zur Polizei gerieten. Einiges war bereits geklärt. Sie wußten, wer der Mann war, das hatten sie übrigens sofort feststellen können, da er einen Trauring mit dem eingravierten Namen Jorun trug. Ein Ordner aus dem Oktober des Vorjahres enthielt alle Informationen über den vermißten Egil Einarsson, achtunddreißig, Rosenkrantzgate 16, zuletzt gesehen am 5. Oktober um neun Uhr abends. Er hinterließ eine Frau und einen sechs Jahre alten Sohn. Der Ordner war schmal, würde bald aber an Umfang zunehmen. Die neuen Fotos machten da schon einiges aus, und schön waren sie nicht. Eine Reihe von Personen war nach seinem Verschwinden verhört worden. Seine Frau, Kollegen und Verwandte, Nachbarn und Freunde. Niemand hatte viel zu erzählen. Er war nicht das bravste Kind seiner Mutter, hatte aber auch keine Feinde gehabt, jedenfalls war über Feinde nichts bekannt. Er arbeitete in der Brauerei, kam jeden Abend nach Hause an den gedeckten Tisch und verbrachte seine Freizeit hauptsächlich in seiner Garage, wo er an seinem geliebten Auto herumbastelte, oder zusammen mit Kumpels in einer Kneipe auf dem Südufer. Die Kneipe hieß Zum Königlichen Wappen. Entweder war Einarsson ein Unglückswurm, vielleicht war er einem Desperado zum Opfer gefallen, der dringend Geld brauchte und der die Möglichkeiten dieser kalten, windigen Stelle erkannt hatte - das Heroin hatte die Stadt jetzt endgültig im Griff. Oder Einarsson hatte ein Geheimnis. Vielleicht hatte er Schulden gehabt.

Sejer betrachtete den Bericht aus zusammengekniffenen Augen und kratzte sich den Nacken. Er war immer beeindruckt davon, wie die Gerichtsmedizin eine halbverrottete Masse aus Haut und Haaren, Knochen und Muskeln analysieren und sich ein vollständiges Bild von dem Toten machen konnte. Von Alter und Gewicht und Körpermaßen, Gesundheitszustand, früheren Krankheiten und Operationen, Gebiß und Erbanlagen.

»Reste von Käsemasse, Fleisch, Paprika und Zwiebeln im Magen«, sagte er laut. »Klingt wie Pizza.«

»Kann man das nach einem halben Jahr noch feststellen?«

»Ja, Himmel. Wenn die Fische nicht zu gierig zugegriffen haben. Das kommt auch vor.«

Karlsen war zehn Jahre jünger und zierlich im Vergleich. Auf den ersten Blick konnte er aussehen wie ein Geck ohne Gewicht oder Bedeutung, er hatte einen gewachsten Schnurrbart und beeindruckend füllige, nach hinten zurückgekämmte Haare. Der jüngste und neueste Kollege, Gøran Soot, bemühte sich gerade, eine Tüte Gummibärchen mit tropischem Fruchtgeschmack ohne zu großes Knistern zu öffnen. Soot hatte dicke, wellige Haare, einen stämmigen Körper mit vielen Muskeln und eine gesunde Hautfarbe. Jeder einzelne Bestandteil seines Körpers für sich genommen war absolut sehenswert, zusammen aber waren sie fast zuviel des Guten. Über diese seltsame Tatsache war er sich selber nicht im Klaren. Neben der Tür saß der Abteilungsleiter, Holthemann, schweigsam und grau, hinter ihm eine Beamtin mit blonden, kurzgeschnittenen Haaren. Am Fenster, einen Arm auf die Fensterbank gestützt, saß Jacob Skarre.

»Wie geht es denn Frau Einarsson?« fragte Sejer. Er kümmerte sich um die Leute, wußte, daß Einarssons einen kleinen Sohn hatten.

Karlsen schüttelte den Kopf.

»Sie sah ein bißchen verwirrt aus. Hat gefragt, ob jetzt endlich die Lebensversicherung ausgezahlt wird, und danach brach sie vor Verzweiflung zusammen, weil sie sofort ans Geld gedacht hatte.«

»Wieso hat sie denn noch nichts bekommen?«

 »Wir hatten doch keine Leiche.«

»Das werde ich an der richtigen Stelle mal zur Sprache bringen«, sagte Sejer. »Wovon haben sie im letzten halben Jahr denn gelebt?«

»Sozialamt.«

Sejer schüttelte den Kopf und blätterte im Bericht. Soot steckte sich ein grünes Gummibärchen in den Mund, nur die Beine schauten noch heraus.

»Das Auto«, sagte Sejer, »wurde auf dem Schuttplatz gefunden. Wir haben tagelang im Müll herumgewühlt. In Wirklichkeit ist er also ganz woanders getötet worden, vielleicht am Flußufer. Und dann hat sich der Mörder ins Auto gesetzt und es zum Schuttplatz gefahren. Das ist doch unglaublich, daß Einarsson ein halbes Jahr im Wasser gelegen hat und erst jetzt wieder auftaucht. Der Täter hat ziemlich lange in der Hoffnung gelebt, daß er überhaupt nicht mehr zum Vorschein kommen würde. Na, jetzt muß er sich den Realitäten stellen. Ich nehme an, das wird ihn ganz schön fertigmachen.«

»Hat er irgendwo festgehangen?« fragte Karlsen.

»Keine Ahnung. Es ist schon ein bißchen merkwürdig, auf dem Flußboden gibt es doch nur Kies, der Fluß ist erst vor kurzem gesäubert worden. Er kann irgendwo am Ufer hängengeblieben sein. Ansonsten hat er wohl den Umständen entsprechend ausgesehen.«

»Das Auto war frisch gewaschen, und er hatte innen staubgesaugt«, sagte Karlsen. »Das Armaturenbrett war poliert. Wachs und Gummipflege überall. Er war losgefahren, um es zu verkaufen.«

»Und seine Frau wußte nicht, an wen«, erinnerte sich Sejer.

»Sie wußte überhaupt nichts, aber das war bei denen wohl immer so.«

»Und niemand hatte angerufen und nach ihm gefragt?«

»Nein. Er hat ganz plötzlich erklärt, er habe einen Käufer. Seiner Frau kam das seltsam vor. Er hatte so lange für dieses Auto gespart, hatte monatelang daran herumgebastelt, es betreut wie ein Hundebaby.«

»Vielleicht brauchte er plötzlich Geld«, sagte Sejer und stand auf und ging hin und her. »Wir müssen diesen Käufer finden. Ich wüßte ja gern, was zwischen den beiden passiert ist. Seiner Frau zufolge hatte er hundert Kronen in der Brieftasche. Wir müssen das Auto noch einmal durchsuchen, ein Mensch hat darin gesessen und ist mehrere Kilometer damit gefahren, ein Mörder. Er muß doch irgendwelche Spuren hinterlassen haben!«

»Das Auto ist verkauft«, warf Karlsen ein.

»Hab ich mir’s doch gedacht!«

»Neun Uhr abends ist ganz schön spät, um ein Auto vorzuführen«, sagte Skarre, ein lockiger Südnorweger mit offenem Gesicht. »Im Oktober ist es abends um neun schon verdammt dunkel. Wenn ich ein Auto kaufen wollte, dann würde ich es mir bei Tageslicht ansehen. Das Ganze kann so geplant gewesen sein. Als eine Art Falle.«

»Ja. Und wenn man mit einem Auto eine Probefahrt macht, nimmt man gern eine Landstraße. Weg aus dem Gewühl.« Sejer kratzte sich mit kurzgeschnittenen Fingernägeln die Wange.

»Wenn er am fünften Oktober erstochen worden ist, dann hat er sechs Monate im Wasser gelegen«, sagte er. »Stimmt das mit dem Zustand der Leiche überein?«

»In der Hinsicht ist die Gerichtsmedizin stur«, sagte Karlsen. »Unmöglich, das genau festzulegen, sagen sie. Snorrasson hat von einer Frau erzählt, die nach sieben Jahren gefunden wurde, und sie war unversehrt! In irgendeinem See in Irland. Nach sieben Jahren! Das Wasser war eiskalt, die pure Tiefkühltruhe. Aber wir dürfen wohl annehmen, daß es wirklich am fünften Oktober passiert ist. Der Mörder muß ziemlich stark gewesen sein, möchte ich annehmen, so, wie die Leiche aussieht.«

»Sehen wir uns doch mal die Messerstiche an.«

Er suchte sich ein Foto aus dem Ordner, ging an die Tafel und schob es unter die Klemmen. Das Bild zeigte Einarssons Rücken und Gesäß, die Haut war sorgfältig gewaschen worden, und die Stiche waren zu Kratern angeschwollen. »Die sehen schon seltsam aus, fünfzehn Stiche, die Hälfte in Kreuz, Hintern und Unterleib, der Rest in der rechten Seite des Opfers, direkt über der Hüfte, zugefügt mit großer Kraft von einer rechtshändigen Person, von oben nach unten. Das Messer hatte eine lange, schmale Klinge, eine wirklich sehr schmale. Vielleicht ein Fischmesser. Scheinbar also eine seltsame Angriffsmethode. Aber wir wissen ja noch, wie das Auto ausgesehen hat, nicht wahr?«

Er trat vor und zog Soot vom Stuhl hoch. Die Gummibärchentüte fiel auf den Boden.

»Ich brauche ein Opfer«, sagte Sejer. »Komm mit.«

Er schob den Beamten vor sich her zum Schreibtisch, stellte sich hinter ihn und nahm ein Plastiklineal.

»Es kann ungefähr so passiert sein. Das hier ist Einarssons Auto«, sagte Sejer und drückte den jungen Beamten bäuchlings auf die Schreibunterlage.

Sein Kinn erreichte gerade die Schreibtischkante. »Die Motorhaube steht offen, denn sie sehen sich gerade den Motor an. Der Mörder drückt sein Opfer hinein und hält es mit der linken Hand fest, während er fünfzehn Mal mit der rechten zusticht. FÜNFZEHN MAL!« Er hob das Lineal und stach Soot damit in den Hintern, während er laut zählte: »Eins, zwei, drei, vier ...«, er hob die Hand und stach Soot in die Seite, Soot wand sich ein wenig, als ob er kitzlig sei, »fünf, sechs, sieben ... und dann sticht er in den Unterleib ...«

»Nein!« Soot sprang erschrocken auf und preßte die Beine zusammen.

Sejer hielt inne, versetzte dem Opfer einen kleinen Stoß und ließ es auf seinen Stuhl zurückkehren, wobei er sich Mühe gab, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Das heißt, das Messer sehr oft zu heben. Fünfzehn Stiche und eine Menge Blut. Es muß wild herumgespritzt haben, auf Kleider, Gesicht und Hände des Mörders, auf Auto und Boden. Wirklich übel, daß er das Auto weggefahren hat.«

»Auf jeden Fall ist das im Affekt passiert«, behauptete Karlsen. »Das ist nicht gerade eine normale Hinrichtung. Sicher haben sie sich gestritten.«

»Vielleicht konnten sie sich nicht über den Preis einigen«, lächelte Skarre.

»Leute, die einen Mord mit dem Messer begehen wollen, erleben oft eine ziemliche Überraschung«, sagte Sejer. »Das ist viel schwieriger, als man meint. Aber angenommen, das war wirklich geplant, und der Mörder zieht zu einem passenden Zeitpunkt das Messer, zum Beispiel, während Einarsson sich über den Motor beugt und ihm den Rücken zukehrt.«

Er kniff die Augen zusammen, wie, um sich das Bild zu vergegenwärtigen. »Der Mörder mußte von hinten zustechen, deshalb kam er nicht richtig an Einarsson heran. Von hinten ist es viel schwieriger, lebenswichtige Organe zu treffen. Und Einarsson hat vielleicht ziemlich viele Stiche ertragen, bis er endlich zusammengebrochen ist. Sicher ein schlimmes Erlebnis, er sticht und sticht, das Opfer schreit immer noch, und der Mörder gerät in Panik und kann nicht mehr aufhören. So läuft das nämlich. Er stellt sich ein oder zwei Stiche vor. Aber bei wie vielen Messermorden, die wir hier gehabt haben, hat sich der Mörder damit begnügt? Auf Anhieb weiß ich von einem Fall mit siebzehn und einem mit dreiunddreißig Stichen.«

»Aber sie haben sich gekannt, sind wir uns da einig?«

»Was heißt schon gekannt? Sie standen sicher in irgendeiner Beziehung zueinander.« Sejer setzte sich und legte das Lineal in die Schublade.

»Na, dann müssen wir wieder von vorne anfangen. Wir müssen feststellen, wer den Wagen kaufen wollte. Geht nach der Liste vom Oktober vor und fangt oben an. Es kann einer von seinen Kollegen gewesen sein.«

»Dieselben Leute?«

Soot sah Sejer fragend an. »Sollen wir nochmal dieselben Fragen stellen?«

»Wie meinst du das?«

Sejer hob die Augenbrauen.

»Ich meine, es geht doch wohl darum, neue Leute zu finden. Die anderen geben doch bestimmt dieselben Antworten wie beim letzten Mal. Ich meine, im Grunde hat sich doch nichts geändert.«

»Ach, meinst du nicht? Vielleicht hast du nicht so genau zugehört, aber wir haben den Burschen inzwischen gefunden. Abgestochen wie ein Mastschwein. Und du sagst, es habe sich nichts geändert?«

Er gab sich alle Mühe, nicht arrogant zu klingen.

»Ich meine, deshalb bekommen wir doch keine anderen Antworten?«

»Das«, sagte Sejer und schluckte einen Kloß von der Größe einer Melone hinunter, »das wird sich noch zeigen, nicht wahr?«

Karlsen klappte mit leisem Knall den Ordner zusammen.

Sejer schob Einarssons Ordner wieder in den Aktenschrank. Er schob ihn neben den Fall Durban und dachte, daß die beiden sich nun Gesellschaft leisten könnten. Maja Durban und Egil Einarsson. Beide waren tot, und niemand wußte, warum. Dann ließ er sich im Sessel zurücksinken, legte die langen Beine quer über den Schreibtisch und zog seine Brieftasche aus der Hosentasche. Zwischen Führerschein und Fallschirmspringerlizenz hatte er ein Bild seines Enkels, Mattens. Mattens war gerade vier geworden, kannte die meisten Automarken und hatte schon die erste Prügelei hinter sich und schmerzlich verloren. Es war schon eine Überraschung gewesen, damals, als Sejer zum Flugplatz gefahren war, um seine Tochter Ingrid und seinen Schwiegersohn Erik abzuholen, die drei Jahre in Somalia verbracht hatten. Sie als Krankenschwester, er als Arzt beim Roten Kreuz. Ingrid stand oben auf der Flugzeugtreppe, mit gebleichten Haaren und überall goldbraun. Eine wilde Sekunde lang hatte er geglaubt, Elise zu sehen, damals, als sie einander kennengelernt hatten. Auf dem Arm hatte Ingrid den Kleinen. Er war vier Monate alt, schokoladenbraun, hatte kleine Locken und die schwärzesten Augen, die Sejer je gesehen hatte. Die Somalier sind eigentlich ein schönes Volk, überlegte er. Und er betrachte eine Zeitlang das Bild, dann steckte er es wieder in die Brieftasche. In der Baracke war es jetzt still, wie auch fast überall im benachbarten großen Block. Sejer schob zwei Finger in seinen Hemdsärmel und kratzte sich am Ellbogen. Die Haut blätterte ab. Darunter befand sich neue rosa Haut, die ebenfalls abblätterte. Sejer riß die Jacke von der Stuhllehne und schloß das Zimmer ab, dann schaute er ganz kurz an der Rezeption bei Frau Brenningen vorbei. Die legte sofort ihr Buch beiseite. Sie war gerade bei einer vielversprechenden Liebesszene angekommen, die sie sich für abends im Bett aufsparen wollte. Sie wechselten ein paar Worte, dann nickte er kurz und machte sich auf den Weg in die Rosenkrantzgate zu Egil Einarssons Witwe.

Zuerst warf er einen raschen Blick in den Spiegel und fuhr sich mit den Fingern durch den kurzgeschnittenen Schopf. Weil die Haare so kurz waren, bewegten sie sich dabei nicht. Es war mehr ein Ritual als ein Zeichen der Eitelkeit.

Sejer nahm jede Gelegenheit wahr, sein Büro zu verlassen. Er fuhr ziemlich langsam durch die Innenstadt, er fuhr immer langsam, sein Auto war alt und träge, ein großer blauer Peugeot 604, der bisher keinen Grund zu einem Autowechsel geboten hatte. Im Winter hatte er das Gefühl, Schlitten zu fahren. Bald lagen zu seiner Rechten die farbenfrohen Vierparteienhäuser, rosa, gelb und grün, jetzt schien die Sonne auf sie und ließ sie einladend aufleuchten. Außerdem stammten sie aus den fünfziger Jahren und verfügten über eine gewisse Patina, die neueren Häusern fehlte. Die Bäume waren ziemlich groß, die Gärten üppig, oder würden es sein, wenn es erst warm wäre. Aber es war noch immer kalt, der Frühling ließ auf sich warten. Es war lange trocken gewesen, und am Straßenrand lagen noch immer einzelne schmutzige Schneehaufen wie Abfall herum. Sejer suchte nach Nummer 16 und erkannte das grüne, gepflegte Haus auf den ersten Blick. Die Eingangspartie war ein Chaos aus Dreirädern, Lastwagen und Plastikschlitten jeder Art, die die Kinder wahllos aus Kellern und Dachböden angeschleppt hatten. Der nackte Asphalt war nach einem langen Winter immer verlockend. Sejer parkte und klingelte.

Nach einigen Sekunden stand sie in der Tür, mit einem dünnen Jungen am Rockzipfel.

»Frau Einarsson«, sagte Sejer mit einer leichten Verbeugung. »Darf ich hereinkommen?« Sie nickte kurz und widerwillig, aber es gab nicht viele Menschen, die mit ihr sprachen. Sejer stand ziemlich dicht vor ihr, sie spürte seinen Geruch, eine Mischung aus Jackenleder und diskretem Parfüm.

»Ich weiß nicht mehr als im letzten Herbst«, sagte sie unsicher. »Abgesehen davon, daß er tot ist. Aber darauf war ich ja vorbereitet. Ich meine, so, wie das Auto ausgesehen hat ...«

Sie legte den Arm um den Jungen, wie, um sie beide zu beschützen.

»Aber jetzt haben wir ihn gefunden, Frau Einarsson. - Und dann sieht alles doch ein bißchen anders aus, finden Sie nicht?«

Er verstummte und wartete.

»Es war wohl ein Verrückter, der Geld brauchte.«

Sie schüttelte verstört den Kopf. »Seine Brieftasche ist ja verschwunden. Obwohl er nur hundert Kronen hatte. Aber heutzutage wird ja noch für viel weniger gemordet.«

»Ich verspreche Ihnen, mich kurz zu fassen.«

Sie gab auf und ging rückwärts über den Flur. Sejer blieb in der Wohnzimmertür stehen und sah sich um. Immer wieder registrierte er mit einem gewissen Erschrecken, wie ähnlich sich die Menschen waren, das sah er in ihren Wohnzimmern, daran, womit sie ihre Zimmer füllten. Überall sah es gleich aus, dieselbe Symmetrie, Fernseher und Video als eine Art Mittelpunkt für das restliche Inventar. Hier kroch die Familie zusammen, um sich zu wärmen. Frau Einarsson hatte eine rosa Sitzgruppe aus Leder, unter dem Tisch einen weißen Flokati. Es war ein feminines Zimmer. Sie war seit sechs Monaten allein, vielleicht hatte sie sich in dieser Zeit der maskulinen Seiten des Zimmers entledigt, falls es welche gegeben hatte. Damals wie jetzt konnte er keine Spur von Sehnsucht finden, oder von Liebe zu dem Mann, den sie im schwarzen Flußwasser gefunden hatten, durchlöchert und grau wie ein alter Schwamm. Das, was es an Verzweiflung gegeben hatte, hatte sich um andere Dinge gedreht, um praktische Fragen. Wovon sie jetzt leben und wie sie einen neuen Mann finden sollte, wo sie sich doch keinen Babysitter leisten konnte. Er war niedergeschlagen von dieser Überlegung. Sie brachte ihn dazu, sich das Hochzeitsbild über dem Sofa genauer anzusehen, ein ziemlich protziges Bild der jungen Jorun mit gebleichten Haaren. Neben ihr stand Einarsson, mit schmalem, blassem Gesicht, wie ein Konfirmand, unter der Nase ein spärlicher Schnurrbart. Sie posierten nach besten Fähigkeiten für einen mittelmäßigen Fotografen, und sie achteten dabei vor allem auf ihr Aussehen. Und nicht aufeinander.

»Ich habe noch ein bißchen Kaffee«, sagte sie unsicher.

Er nahm dankend an. Es war vielleicht gut, etwas in der Hand zu halten, und sei es nur der Henkel einer Tasse. Der Junge trottete hinter seiner Mutter her in die Küche, betrachtete Sejer aber verstohlen vom Türrahmen aus. Er war dünn, hatte ein paar Sommersprossen auf der Nase, sein Pony war zu lang und fiel ihm die ganze Zeit in die Stirn. In wenigen Jahren würde er aussehen wie der Mann auf dem Hochzeitsbild.

»Ich habe deinen Namen vergessen«, Sejer lächelte aufmunternd.

Der Junge behielt seinen Namen noch eine Weile für sich, zog mit der Turnschuhspitze Kreise auf dem Linoleumboden und lächelte verlegen.

»Jan Henry.«

Sejer nickte. »Jan Henry, ja. Kann ich dich etwas fragen, Jan Henry - sammelst du Anstecknadeln?«

Der Kleine nickte. »Ich habe schon vierundzwanzig. An meinem Zimmermannshut.«

»Dann hol den mal«, Sejer lächelte. »Dann kriegst du noch eine. Und die hast du bestimmt noch nicht.«

Der Kleine verschwand und lief in sein Zimmer. Er kam mit dem Hut auf dem Kopf zurück, der Hut war viel zu groß. Andächtig nahm er ihn ab.

»Die stechen auf der Innenseite ganz schrecklich«, erklärte er. »Deshalb kann ich den Hut nicht tragen.«

»Schau mal«, sagte Sejer. »Ein Polizeianstecker. Den habe ich von Frau Brenningen auf der Wache. Ganz schön gut, findest du nicht?«

Der Junge nickte. Er suchte den Hut nach einem Ehrenplatz für die kleine goldfarbene Nadel ab, entfernte dann resolut eine mit Kristin und Håkon auf einem Tretschlitten und steckte die neue vorn in die Mitte. Seine Mutter kam ins Zimmer und lächelte.

»Geh auf dein Zimmer«, sagte sie dann kurz. »Der Mann und ich haben etwas zu besprechen.«

Der Junge setzte wieder den Hut auf und verschwand.

Sejer nahm einen Schluck Kaffee und betrachtete Frau Einarsson, die zwei Stück Zucker in ihre eigene Tasse fallen ließ, aus nächster Nähe, um nicht zu spritzen. Sie trug keinen Trauring mehr. Ihre Haare waren am Scheitel dunkel, und sie hatte sich die Augen zu stark geschminkt, weshalb sie ziemlich böse aussah. Eigentlich war sie hübsch, eine helle, adrette kleine Gestalt. Wahrscheinlich wußte sie das nicht. Wahrscheinlich ist sie mit ihrem Aussehen unzufrieden, wie die meisten anderen Frauen, abgesehen von Elise, dachte er.

»Wir suchen noch immer nach diesem Käufer, Frau Einarsson. Aus irgendeinem Grund wollte Ihr Mann plötzlich den Wagen verkaufen, obwohl er das Ihnen gegenüber nie erwähnt hatte. Er ist losgefahren, um ihn jemandem zu zeigen, und nie zurückgekehrt. Vielleicht hat jemand Ihren Mann auf der Straße angesprochen, oder was weiß ich. Vielleicht suchte jemand gerade ein solches Auto und hat sich einfach gemeldet. Oder vielleicht hatte jemand es auf Ihren Mann abgesehen, nur auf ihn, nicht auf das Auto, hat das Auto als Vorwand benutzt, um Ihren Mann aus dem Haus zu locken. Ihn mit der Verkaufsmöglichkeit in Versuchung geführt, vielleicht auch mit Bargeld als Lockmittel. Wissen Sie, ob er in Geldschwierigkeiten steckte?«

Sie schüttelte den Kopf und zerkaute den aufgelösten Zucker zwischen ihren Backenzähnen.

»Das haben Sie mich schon einmal gefragt. Nein, keine Geldschwierigkeiten. Ich meine, keine akuten. Aber alle brauchen ja Geld, und besonders viel leisten konnten wir uns nicht. Und jetzt ist es noch schlimmer. Und ich finde keinen Kindergartenplatz. Und ich habe Migräne«, sie massierte sich ein wenig die Schläfen, wie um zu demonstrieren, daß er sie schonen müsse. »Und es ist gar nicht so einfach, Arbeit zu finden, mit so einem Handikap und mit einem Kind und überhaupt.«

Er nickte mitfühlend.

»Aber Sie wissen nicht, ob er vielleicht Spielschulden oder Geld geliehen hatte, irgendein privates Darlehen, das er nicht zurückzahlen konnte?«

»Das hatte er nicht. Er strotzte ja nicht gerade vor Intelligenz, aber Dummheiten hat er nicht gemacht. Wir sind zurechtgekommen. Er hatte ja seine Arbeit. Und er hat sein Geld nur für das Auto und ab und zu für ein Bier in der Kneipe ausgegeben. Er hat zwar manchmal ziemlich große Sprüche geklopft, aber er war nicht zäh genug, um irgendwo hineinzurutschen, ich meine in etwas Verbotenes, das glaube ich wenigstens nicht. Und wir waren immerhin acht Jahre verheiratet, ich glaube also, ihn zu kennen. Ich meine, gekannt zu haben. Und ich kann hier einfach nichts Schlechtes über Egil sagen, auch, wenn er tot ist.«

Endlich holte sie Atem.

»Sie wissen nicht mehr, ob irgendeiner von seinen Freunden je sein Auto übernehmen wollte?«

»Ach, doch, das wollten viele. Aber er wollte nicht verkaufen. Er mochte es ja nicht einmal verleihen.«

»Und Sie erinnern sich nicht an Anrufe an den Tagen vor seinem Verschwinden, die etwas mit dem Auto zu tun gehabt haben können?«

»Nein.«

»Wie war er an diesem letzten Abend?«

»Das habe ich doch schon gesagt. Wie immer. Er kam um halb vier von der Arbeit. Hatte Frühschicht. Dann hat er Pizza Mexicana gegessen, Kaffee getrunken und für den Rest des Nachmittags in der Garage gelegen.«

»Gelegen?«

»Unter dem Auto. Und hat daran herumgebastelt. Er war wie besessen von diesem Auto. Danach hat er es gewaschen. Ich hatte im Haus zu tun, ich habe mir nichts dabei gedacht, bis er plötzlich loswollte, um das Auto vorzuführen.«

»Aber er hat keinen Namen genannt?«

»Nein.«

»Und auch nicht gesagt, wohin er wollte?« »Nein.«

»Und Sie haben nicht gefragt, warum er das Auto verkaufen wollte?«

Sie machte sich an ihren Haaren zu schaffen und schüttelte den Kopf.

»Ich habe mich nicht um dieses Auto gekümmert. Ich habe ja nicht einmal den Führerschein. Mir war es egal, was für ein Auto wir hatten, wenn wir nur eins hatten. Und er hat ja auch nicht von Verkaufen geredet, sondern nur von Vorführen. Und er muß dabei ja nicht unbedingt den Mörder gemeint haben. Er kann doch irgendwen getroffen oder einen Tramper mitgenommen haben, oder was weiß ich. In dieser Stadt wimmelt es doch nur so von Verrückten, das kommt vom Heroin, ich begreife ja nicht, wieso ihr da nichts machen könnt. Und Jan Henry soll hier aufwachsen, und er ist nicht gerade der stärkste Charakter auf der Welt, darin ähnelt er seinem Vater.«

»Einen starken Charakter«, Sejer lächelte, »sowas entwickelt man erst nach und nach. Jan Henry hat doch noch ein paar Jahre Zeit. Aber wir haben den möglichen Käufer über die Zeitungen und übers Fernsehen gesucht«, erinnerte er sie, »und niemand hat sich gemeldet. Niemand hat sich getraut. Entweder hat Ihr Mann gelogen, als er an dem Abend von zu Hause weggefahren ist, vielleicht hatte er wirklich etwas ganz anderes vor. Oder dieser Käufer ist wirklich der Mörder.«

»Gelogen?«