Familienbande - Karin Fossum - E-Book + Hörbuch

Familienbande Hörbuch

Karin Fossum

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Hochspannung aus Norwegen: »Familienbande« von Bestsellerautorin Karin Fossum jetzt als eBook bei dotbooks. »Es werden immer wir beide sein«, sagte sie. »Egal wie es ausgeht, wir werden zu zweit sein. Also kannst du es mir versprechen? Dass sie bald tot sein wird?«  Aksel ist als Lokaljournalist immer auf der Suche nach spannenden Geschichten. Ganz anders als seine Schwester Ellinor, die sich lieber der Realität entzieht. Doch trotz ihrer Unterschiede sind die Geschwister unzertrennlich. Was sie vereint? Der Hass auf die eigene Mutter, die ihre Kindheit zur Hölle machte. Anhand eines makabren Spiels haben die beiden gelernt, mit dem Trauma umzugehen. Doch was, wenn aus dem Spiel bitterer Ernst wird?   Als die Mutter von Aksel und Ellinor tot in ihrem Haus aufgefunden wird, übernimmt Kommissar Eddie Feber die Ermittlungen – und bekommt es mit einem Fall zu tun, der die Wurzeln des Bösen offenbart.  Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde psychologische Spannungsroman »Familienbande« der norwegischen Queen of Crime Karin Fossum ist das spannende Prequel zu ihrer Reihe um Kommissar Eddie Feber und wird Fans von Hjorth & Rosenfeldt begeistern. Das Hörbuch und die Printausgabe sind bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:6 Std. 56 min

Sprecher:Frank Stieren
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Über dieses Buch:

»Es werden immer wir beide sein«, sagte sie. »Egal wie es ausgeht, wir werden zu zweit sein. Also kannst du es mir versprechen? Dass sie bald tot sein wird?«

Aksel ist als Lokaljournalist immer auf der Suche nach spannenden Geschichten. Ganz anders als seine Schwester Ellinor, die sich lieber der Realität entzieht. Doch trotz ihrer Unterschiede sind die Geschwister unzertrennlich. Was sie vereint? Der Hass auf die eigene Mutter, die ihre Kindheit zur Hölle machte. Anhand eines makabren Spiels haben die beiden gelernt, mit dem Trauma umzugehen. Doch was, wenn aus dem Spiel bitterer Ernst wird?

Als die Mutter von Aksel und Ellinor tot in ihrem Haus aufgefunden wird, übernimmt Kommissar Eddie Feber die Ermittlungen – und bekommt es mit einem Fall zu tun, der die Wurzeln des Bösen offenbart.

»Familienbande« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über die Autorin:

Karin Fossums international erfolgreiche Krimis sind vielfach preisgekrönt. Ihr genaues Gespür für menschliche Abgründe beweist die norwegische Bestsellerautorin auch in der neuen Eddie-Feber-Reihe.

Bei dotbooks veröffentlichte Karin Fossum ihre Reihe um Eddie Feber mit den Kriminalromanen

»Familienbande« und »Nachtläufer«, die auch als Printausgaben und Hörbücher bei SAGA Egmont erhältlich sind.

Außerdem erscheint bei dotbooks ihre Konrad-Sejer-Reihe mit den Thrillern »Evas Auge«, »Fremde Blicke«, »Schwarzer Wald«, »Dunkler Schlaf« und »Stumme Schreie«.

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eBook-Ausgabe September 2024

Die norwegische Originalausgabe erschien erstmals 2022 unter dem Originaltitel »Drepende Drage, Angrende Hund« bei Cappelen Damm, Oslo.

Copyright © der norwegischen Originalausgabe 2023 CAPPELEN DAMM AS

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2024 by SAGA Egmont im Vertrieb bei Egmont Verlagsgesellschaften mbH

Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Unter Verwendung einer Zeile des Gedichts »Finnmarksmor 1944« von Olav H. Hauge.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive

von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)

ISBN 978-3-98952-143-8

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Dieser Roman wurde gefördert durch

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Karin Fossum

Familienbande

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen von Roland Hoffmann

dotbooks.

Zitat

There are truths that lie beneath

the surface of the words.

Truths that rise up without warning,

like the humps of a sea monster,

and then disappear.

Nicholas Edward Cave

Prolog

Schläfst du, Ellinor?

Nein, ich schlafe nicht. Ihre Schuhe klappern so scheußlich, wenn sie geht. Das macht mich ganz fertig.

Mich auch. Was meinst du, sollen wir tun?

Ich finde, wir sollten ihr eine Eisenstange auf den Kopf knallen, sie in eine Schubkarre legen und zur Fleischfabrik fahren. Dort stopfen wir sie in den großen Fleischwolf, sodass sie in dünnen Streifen herauskommt. Dann machen wir ein riesiges Fleischbällchen aus ihr und rollen sie hinaus in den Wald, damit all die wilden Tiere kommen und sie auffressen können. Der Fuchs kommt, das Reh und der Dachs, und vielleicht ein paar hungrige streunende Hunde. Und wenn dann alle satt sind, kommen die Krähen und vertilgen die Reste.

Sollen wir es jetzt gleich machen?

Nein, wir müssen bis zur Nacht warten, Aksel, wenn alle schlafen.

Bis zur Nacht, Ellinor, wenn es still und dunkel ist und niemand uns sehen kann.

Kapitel 1

Auf diesen Gedanken wäre er nie gekommen: dass sein erster, zaghafter Protestversuch alles, was er an Sicherheit besaß, hinwegfegen sollte.

Es war eine vorsichtige Bemerkung, die er beim Mittagessen fallenließ – ausgesprochen mit jugendlichem Draufgängertum und brüchiger Stimme. Doch diese Bemerkung sollte ihn alles kosten, woran er bislang geglaubt und was er als Selbstverständlichkeit betrachtet hatte: die Zuneigung der Eltern und ihr Wille, ihn zu beschützen.

Der Vorfall prägte seine Entwicklung in den folgenden Jahren. Er entwickelte eine heftige Scham, die er selbst im Alter von vierzig Jahren noch mit sich herumschleppte. Das Ereignis hatte sich auf seine Stimme gelegt, die von diesem Tag an in eine entschuldigende Tonlage gepresst wurde, und auf seinen Blick, der ausweichend war. Selbst sein Gang veränderte sich und war seitdem schleichend wie der eines Diebs.

Er war berauscht gewesen von diesem neuen Gefühl, kein Kind mehr zu sein, sondern ein Teenager. Jemand, der die Welt der Erwachsenen durchschaut hatte, ihre Lügen und ihren Hang zu Übertreibungen und ihren Missbrauch von Macht. Daher hatte er im Alter von dreizehn Jahren den Vorsatz gefasst, sie zu entlarven.

Erster Weihnachtstag. Klarer Himmel und trockene Kälte. Truthahn in Sahnesoße mit Rosenkohl und eingemachten Victoria-Pflaumen aus dem Garten. Die Mutter hatte begonnen, über die Nachkriegsjahre zu sprechen. Über all die Dinge, auf die sie damals verzichten mussten. Er und seine Schwester sollten sich klarmachen, dass sie im Überfluss lebten. Mit jedem Bissen sollten sie spüren, wie viel Glück sie hatten und wie privilegiert sie waren, verglichen mit anderen Kindern an anderen Orten des Globus.

Das Truthahnfleisch, das weiße, magere, mit seiner goldenen, knusprig gebratenen Haut, war in seinem Mund angeschwollen. Er wusste, dass die Mutter genau das beabsichtigte. Sie wollte ihn zu Unterwürfigkeit zwingen. Ihm Selbstwert und Mitspracherecht nehmen, sodass sie und der Vater als selbstverständliche Autoritäten erschienen. Sie hatte eine große Angst vor der Zukunft, einer Zeit, in der ihr der Sohn über den Kopf wachsen und großmäulig werden würde, jemand, der auf sie herabsah und ihre Schwächen aufdecken könnte.

Als die Mutter mit ihrem Sermon über die »mageren Jahre« losgelegt hatte, hatte Aksel gerade ein Stück Truthahn auf die Gabel geladen.

Jetzt ließ er die Gabel fallen.

»Was hat euch denn damals gefehlt?«, fragte er keck. Du und auch Papa, ihr habt doch auf einem Bauernhof gelebt, mit Kühen, Hühnern, Eiern, Milch, Fleisch und ich weiß nicht, was. Und da hat doch auch niemand im Gebüsch gelauert und auf euch geschossen.«

Darauf lähmende Stille. Schlagartig wurde ihm das Ausmaß seiner Tat klar. Das Schweigen jagte ihm Todesangst ein. Also trat er den einzigen Ausweg an, den er erkennen konnte: Er setzte seine freche Tirade fort, mit einer Stimme, die altersgemäß kieksig war, was er zu überdecken versuchte, indem er noch mehr Kraft hineinlegte.

»Beefsteaks und Koteletts«, johlte er, »und Äpfel aus dem Garten und Himbeeren von den Büschen. Die Leute in den Städten, das waren diejenigen, die nichts hatten.«

Die unheilverkündende Stille verdichtete sich.

Quakend zog er seine letzte Karte.

»Fehlten wohl bloß noch Kaffeepflanzen.«

Sein Vater war zehn Jahre älter als die Mutter und ein Mann, der sich nur selten zu etwas äußerte. So wortkarg war er, dass sie kaum seine Stimme kannten, höchstens als undeutliches Murmeln, wenn er gezwungen war, etwas zu sagen. Doch nun verwandelte sich dieser Mann vor Aksels Augen.

Seine Stimme zitterte vor Wut mit einer bisher ungekannten Kraft, als er sein Urteil über den Sohn fällte: »Der Krieg, sagst du! Einen Scheißdreck weißt du vom Krieg. Einen Scheißdreck weißt du darüber, was wir hatten oder wer im Gebüsch lag und schoss, du verwöhnter kleiner Rotzlöffel!«

Der hasserfüllte Wortschwall hatte die Fensterscheiben zum Klirren gebracht. Vielleicht war es aber auch das Gebiss des Vaters gewesen. In der Kanne hatte das Wasser Wellen geschlagen, während die Worte hereinprasselten. Worte, die vor Herablassung und Verachtung trieften.

Nach ein paar atemlosen Sekunden griff der Vater erneut an: »Du willst also in den Krieg, oder wie? Du hast nicht mehr Mumm als ein Wattewichtel.«

Offensichtlich hatte ihn die Weihnachtsdekoration auf dem Tisch inspiriert, die Ellinor aus einer leeren Klorolle, Watte und rotem Krepppapier gebastelt hatte. Und der Wortschwall hielt an. Eine Rede über den Terror des Krieges, so ausgefeilt, als hätte er sie irgendwann vor langer Zeit verfasst und nur auf einen guten Anlass gewartet, um sie vorzutragen.

Dann war es plötzlich vorbei gewesen. Das garstige Tier war wieder im Körper des Vaters verschwunden, die Dunkelheit war aus den Augen gewichen, während der Vater mit klirrendem Gebiss das Essen in sich hineinmampfte. Sein Gesicht war wieder das alte gewesen: ausdruckslos und hart wie Stein.

Doch genau in jenem Augenblick, als die Worte fielen, hatte Aksel etwas begriffen: Sein Leben und das seiner Schwester hatte immer am seidenen Faden gehangen. Nur gnadenhalber saßen sie hier, nur gnadenhalber konnten sie essen. Denn die Gefahr lauerte, und sie ging von diesem erzürnten Mann am Tisch aus. Sie hatte auf eine Möglichkeit gewartet, hatte am Grund eines Sumpfs gelegen und war jetzt an die Oberfläche gekommen. Kein Mensch war das, wofür er sich ausgab, alle trugen ein garstiges Tier in sich, und wenn man im Umgang mit ihnen nicht vorsichtig war, würde das Monster in ihnen allen aus der Tiefe heraufsteigen.

Dezember mit weißen Schneeverwehungen. Seine Schwester Ellinor saß schweigend am Tisch, die Hände im Schoß, bleich wie draußen der Schnee. Sie war erst acht Jahre, als sie zu essen aufhörte.

Kapitel 2

Man konnte von Aksel Adelson nicht sagen, dass er ein Raubein war, aber er war auch kein Schwächling. Einen Meter und siebenundachtzig, die Haare an den Schläfen grau, ansonsten blond. Kein hässlicher Anblick, doch er selbst hatte keine Meinung dazu, wer er war oder wie er aussah.

Für einen Mann hatte er breite Hüften, zwei hübsche, gebogene Spina iliaca verbargen sich unter der Kleidung. Die Knie waren rund wie Knollen, die Fersen schmal, woraufhin die Füße sich dann verbreiterten, wie bei einer Ente.

Diese Dinge hatte er von seinem Vater Annar geerbt.

Der Volvo brummte, als er durch die Siedlung fuhr. Er fuhr extrem vorsichtig, denn es gab immer irgendwelche kleinen Scheißer an der Straße, die keinen Grips hatten.

In dem weißen Haus zur Rechten hatte früher eine Familie aus der Finnmark gewohnt. Eines schönen Sommertages zur Mittsommerzeit war der Vater mit einem Fleischermesser Amok gelaufen. Er hatte Frau und Sohn durch das Haus gejagt, von Raum zu Raum die Treppen rauf und runter, sodass Möbel umstürzten und das Geschirr zu Bruch ging, während er in wahnsinniger Wut brüllte. Die Nachbarn im braunen Haus nebenan hatten das Spektakel durch die offenen Fenster mitbekommen und die Polizei angerufen.

Später erzählte man sich, dass der Mann der Frau das Messer in den Oberschenkel gerammt habe, während er sie gegen die Küchenarbeitsplatte presste, und dass die Spitze so tief in den Oberschenkelknochen eingedrungen sei, dass es sich nicht mehr bewegen ließ. Also habe der Verrückte ein anderes Messer aus der Schublade geholt, um es ihr in den Bauch zu stoßen, in ihre Weichteile. Doch es sei der Frau gelungen, sich zur Seite zu drehen, sodass die Messerklinge keine vitalen Organe traf.

Wie stark ist der Schmerz, dachte Aksel, wenn er nur noch dadurch gelindert werden kann, dass man ihn auf eine andere Person überträgt. Ihn für alle Welt sichtbar macht: Seht nur, hier ist er! In diesem Menschen, der schreit.

Der Mann aus der Finnmark hatte die Fesseln zerrissen, um danach in anderen Fesseln auf acht Quadratmetern zu enden. Vielleicht war das dennoch eine Art von Freiheit. Niemand erwartet etwas von einem Messerdesperado, der mit den Händen unter dem Kopf auf einer Pritsche liegt.

Der Sohn des Hauses hatte sich nicht getraut einzugreifen. Er war dreizehn Jahre alt gewesen, so wie Aksel, als er die Eltern in Frage stellte. Dem Jungen hatte die nötige Stärke gefehlt. Er hatte seine blutende Mutter zurückgelassen und war in den Wald geflüchtet. Seitdem musste er den Rest seines Lebens die Scham ertragen, nicht dazwischengegangen zu sein.

Das Monster war an die Oberfläche gekommen.

Aksel dachte an diese Dinge, während er fuhr. An seine eigene Scham, die lange in ihm gegoren hatte und die im Laufe des Lebens zu etwas anderem geworden war. Zu etwas Starkem und Berauschendem, an dem er heimlich genippt hatte. Eine flammende, errötende Scham wurde an seinen Wangen sichtbar, wenn er an das Ereignis beim Mittagessen dachte.

Sie haftete seinem ganzen Ich an.

Der Vater, den er und seine Schwester »den Ernst« nannten, war tot und begraben. Bösartige Zellen hatten sich zusammengerottet, waagrecht von der Prostatadrüse und den ganzen Weg bis hinauf ins Gehirn. Dort hatten sie sich wie verrückt vermehrt und zu einer Geschwulst verklumpt, die den Vater unverständlich wie einen Betrunkenen lallen und außerdem ziemlich viel weinen ließ, als er in den letzten Zügen lag.

Seither hat Aksel sich jedes Mal in letzter Sekunde zusammengerissen, wenn er im Zimmer der Mutter saß und ihm eine scharfe Bemerkung auf der Zunge brannte. Sie würde ihn doch nur an das Truthahnessen erinnern oder mit der alten Leier anfangen: »Wenn dein Vater dich jetzt hören könnte …«

Er dachte an diese Dinge, während er fuhr. Vermutlich würde man, wenn ihn jemand nach dem Tod öffnete, nichts anderes als Watte finden. Vielleicht hatte der Vater insgeheim auch den Traum, jemandem das Messer hineinzurammen, denn in dem kurzen Augenblick am Tisch hatte Aksel einen gefährlichen Mann aufblitzen sehen.

Der Vater hatte im Übrigen immer etwas Weibisches an sich gehabt. Dünn und langgliedrig mit weichen, schlenkernden Bewegungen. Das Gesicht hatte keine Mimik gezeigt, bloß den düsteren Ernst.

»Glaubst du, das Leben ist ein Spiel, Bürschchen?«

Die Mutter war mannhaft, laut und unerschütterlich. Das Gesicht geschrubbt und ohne Farbe, der Körper ohne Duft, die Augen ohne Glanz, bloß die straffe Dauerwelle mit starren Locken.

Das Lachen des Vaters hatte er kaum je gehört. Das Lachen der Mutter war laut und schallend, immer gefolgt von einem verlegenen Lächeln, weil sie sich hatte gehen lassen.

Draußen tauchten die ersten Häuser auf. Das von Arvid mit den Brandschäden. Dann das gelbe von Gøran und Lisbeth, hinter dem sich das Haus der Mutter befand. Dort waren Ellinor und er aufgewachsen. Die Hauswand wurde zwischen den Bäumen sichtbar, unheilverkündend rot, und er fuhr seitlich ran, um es aus der Distanz zu betrachten.

Wenn man das Haus inmitten des üppigen Gartens voller schwerer Apfel- und Pflaumenbäume, Rosen und Stauden erblickte, wirkte es zuverlässig. Hübsch und gut erhalten.

Doch das war im Sommer.

Jetzt fielen trockene Schneeflocken, er sah sie durch die Windschutzscheibe. Nein, dachte er, sie fallen nicht, sie hüpfen und tanzen. Manche schwebten seitwärts, manche landeten gehorsam auf dem Boden, andere wollten wieder hinauf in den Himmel. So wie seine Gedanken und Gefühle immer hin und her sprangen und tanzten, ohne es sich jemals in einer Gewissheit oder einem längere Zeit andauernden Gefühl bequem zu machen.

Aksel war ein Mann auf der Flucht.

Es lag eine schwache Bewegung in der Luft. Die Flocken waren so willenlos wie er und den Winden überlassen.

Die garstige Wahrheit über mich kommt niemals ans Licht, dachte er, aber sie beginnt, etwas schwer zu werden.

Früh im Oktober und früher Schnee. Er saß eine Weile da, die Hände am Lenkrad, und betrachtete das rote Haus aus der Ferne, während seine Gedanken weiter wie Schneeflocken herumwirbelten. Im Auto fühlte er sich wohl. Eingekapselt, unnahbar und beschützt. Im Auto war es leicht, die Richtung zu ändern, einen anderen Weg, ein anderes Ziel zu wählen, oder einfach wieder nach Hause zu fahren, wenn er es gekonnt hätte.

Kapitel 3

Er war sich sicher, dass die Mutter am Fenster stand und nach ihm Ausschau hielt, denn er war ein kleines bisschen spät dran. Eine absichtliche Verspätung, die ihm das Gefühl von Macht verschaffte. Ein paar erbärmliche Minuten lang kostete er dieses Gefühl aus, während die Zeit auf die Mutter einhackte. Jetzt würde sie die Angst spüren. Angst, dass ihr Sohn die Verabredung nicht einhielt, dass er vielleicht gar nicht käme, dass er niemals mehr kommen würde, denn es kam ja sonst auch niemand. Deutlich sah er ihr Gesicht vor sich: faltig und bleich und mit einem unbenennbaren Ausdruck, der weder Angst noch Freude, Hoffnung oder Erwartung war, sondern nur ein leeres Gesicht.

Vielleicht stand sie da und dachte: Ich werde älter, bin krank und kann jederzeit sterben. Ich will nichts von irgendeiner Wahrheit wissen, keine Anklagen darüber, wo ich mich geirrt habe. Aber wo habe ich mich eigentlich geirrt? Ich begreife es nicht. Und doch ist da jemand, der atmet – hier in diesem Raum, wenn ich allein herumgehe. Ein Wesen, das mir etwas zu sagen versucht, das mich hinunter zur Erkenntnis zu ziehen versucht. Doch wozu soll die Erkenntnis gut sein? Sie führt zu nichts anderem als zu Verzweiflung.

So dachte die Mutter vielleicht, wie sie so am Fenster stand und wartete. Aksel fuhr das letzte Stück zum Haus, hielt vor der Schiefertreppe und machte die Zündung aus.

Dann verschwand er in einem gewaltigen Sog. Als säße er am Ufer des Gezeitenstroms Saltstraumen beim Angeln nach kleinen Kohlfischen und würde die Boote betrachten, die durch den Sund hereinwollten. Wie Papierschiffchen ohne Steuer lagen sie im Wasser, kreiselten umher, bis sie dann plötzlich in der Tiefe verschwanden. Wie der Schwimmer einer ausgeworfenen Angelschnur von der fauchenden Kraft der Gezeiten in die Tiefe gerissen wird, so stark, als hätte man einen Riesenfisch am Haken.

Sie zog ihn nach unten.

Noch im Auto sitzend stellte er sich vor, wie er den Finger auf die Türklingel legen würde, hörte ihren schrillen Ton im Inneren des Hauses und sah vor sich die Mutter, wie sie mit kurzen Schritten angestapft kam.

»Ach!«, würde sie sagen. »Du bist es?«

Auch wenn sie eine Verabredung hatten. Er sollte Holz für sie hacken, und auf die Uhrzeit hatten sie sich geeinigt. Dennoch würde sie in der offenen Tür stehen und überrascht aussehen, wie um anzudeuten, dass sie ein vielbeschäftigter Mensch war. Jemand, der wichtige Dinge erledigen musste und daher ganz vergessen hatte, dass der Sohn kommen sollte.

Auf langen Beinen schritt er über den Kies und legte den Finger auf die Türklingel. Es gab ein Klicken im Schloss.

»Ach!«, sagte sie. »Du bist es?«

Er folgte ihr nach drinnen, das Haus roch nach Tabakrauch.

»Ja, jetzt wird es wirklich Zeit, dass ich etwas Brennholz bekomme«, sagte sie.

Eine Anklage, weil er nicht früher gekommen war. Bevor er etwas erwidern konnte, ging das Gemurre auch schon weiter: »Ein Holzofen hat schon was, eine ganz spezielle Wärme, wenn es knackst und nach Birkenholz riecht und die Funken schlagen. Schade, dass du in deiner Wohnung keinen Holzofen hast, da könntest du viel Geld sparen. Du wischst doch wohl den Staub von deinen Öfen? Wenn sich viel Staub ablagert, kann er zu brennen anfangen. Wir trinken wohl erst eine Tasse Kaffee, es ist noch ein Rest in der Kanne. Hast du was von Ellinor gehört? Ich höre nie ein Wort von ihr, sie ist schon lange nicht mehr hier gewesen.«

Sie redete, ohne ihn anzusehen. Ihre Stimme war stark und zwingend, ohne Melodie, für Nuancen war kein Platz.

Er ließ sich auf einen Lehnstuhl fallen, während sie draußen in der Küche mit dem Geschirr schepperte. Es gab so einiges, was er über seine Schwester hätte berichten können. Zum Beispiel eine einfache Wahrheit.

Sie mag dich nicht.

Sie hat dich nie gemocht.

Sie wird dich nie mögen.

Er ließ seinen Blick zur Wand mit den Fotografien schweifen, alte Bilder mit einem bläulichen Schimmer, der alle kränklich anämisch aussehen ließ. Er selbst in einem viel zu großen Anzug und seine Schwester Ellinor im rosa Kleid. Ein paar Bilder von der Ski-Loipe. Die Mutter als Braut mit Schleier und Myrtenkranz, der Vater angespannt und ernst im schwarzen Anzug.

Daneben entdeckte er das Barometer, das der Vater von seinen Kollegen zum fünfzigsten Geburtstag bekommen hatte. Es hatte die Größe eines Esstellers und einen schönen Rahmen aus Nussbaum. Jeden Abend nach den Fernsehnachrichten hatte der Vater sich vor das feine Instrument gestellt und dreimal an das Glas geklopft, um zu sehen, ob der Pfeil nach unten Richtung »Tiefdruck« oder nach oben Richtung »Hochdruck« zeigte. Das ganze Prozedere war enorm andachtsvoll verlaufen. Vielleicht, weil es dem Vater das Gefühl vermittelte, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Er hatte den nächsten Tag kartiert und geklärt, wie die Luftmassen sich verteilen würden: Warme und kalte Fronten über Europa, es galt, einen Schritt voraus zu sein.

Jetzt kam die Mutter mit dem Kaffee. Stellte die Tassen auf den Tisch, rückte sie umher, bis sie korrekt ausgerichtet waren. Schenkte ihm aus der alten Thermoskanne ein, die einmal zu Boden gefallen war, sodass der Henkel abbrach. Der Vater hatte ihn mit Superkleber repariert, und auf diese Weise hatte sie mehrere Hundert Kronen gespart, wie sie mit Triumph in der Stimme sagte. Ein paar Kronen gespart ist immer gut. Geld zu sparen war ihr größtes Talent und ihre große Freude.

Verschwendung ist ein Unding. Wir wissen niemals, was an Prüfungen vor uns liegt, da ist es schlau, etwas in der Hinterhand zu haben. Und dann ein Blick auf ihn, scharf wie Glas, um ihn an den Krieg zu erinnern.

Als Kind und später, im Laufe der Jahre, hatte Aksel oft gedacht, dass Liebe etwas sei, das er im Blick der Mutter finden würde. Dass er sie als mildes Licht sehen, als Sanftheit im Körper fühlen, als Wärme in der Stimme spüren und wissen würde, dass er geliebt wurde. Dass er getragen und beschützt und zum Licht gehoben wurde, dass er bei Gefahr sicher war. Dass er in all dieser Liebe baden und sich reich fühlen könnte, und sich Reserven für die schweren Zeiten zulegen könnte, von denen die Mutter so viel sprach.

Er hatte während seiner gesamten Kindheit, Jugend und den folgenden Jahren nach Anerkennung gesucht. Nach der Bestätigung, dass er etwas wert war. Doch der Blick der Mutter war immer taxierend geblieben, die Bewegungen hart und kantig, die Stimme schneidend. Denn wenn die Mutter sich jemals entspannt hätte, wenn sie die Schultern gesenkt und sich mit all ihren Fehlern geöffnet hätte, dann hätte jemand sie angreifen können.

»Also«, sagte die Mutter nun und sah zu Aksel. Ihre Augen strahlten keine Liebe und ihre Stimme keine Wärme aus.

»Hast du das Neueste schon gehört? Das hast du sicherlich nicht, denn es stand nichts darüber in der Zeitung, es wurde alles vertuscht. Aber ich habe es gehört, als ich beim Einkaufen war. Von der Frau, die an der Fleischtheke arbeitet. Also diese Sache mit dem Jüngsten der Østergårds. Der, mit dem du so viel zusammen warst, früher, als du jünger warst. Ihr seid doch per Interrail durch Europa gereist, das weiß ich noch, Griechenland und so. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wo ihr überall wart.«

»Leffe?«, fragte er zögernd.

»Leffe?«, wiederholte sie stupide. »Wurde er so genannt? Wobei Leif als Name auch nicht so viel besser ist, etwas schlaff, finde ich, etwas charakterlos. Aber gut, Leif Østergård. Erinnerst du dich an seine Eltern? Du bist als Junge ja so oft oben auf ihrem Hof gewesen, erinnerst du dich an Anders und Eldbjørg?«

Aksel nickte. Er erinnerte sich, dass Anders – Leffes Vater – den eigenen Namen immer mit einem deutlichen D aussprach, so wie man es in Schweden tat. Und er erinnerte sich an Eldbjørg, heiter und sanft, ihr Gesicht am offenen Küchenfenster, und ihre warme Stimme.

»Jetzt müsst ihr brav sein, Jungs, sonst komme ich und hole euch!«

Vor allem aber erinnerte er sich an dieses Gefühl von Freiheit. Zum Beispiel, wenn er und Leffe auf dem Hofplatz mit dem Luftgewehr auf leere Milchkartons schießen durften, obwohl sie noch als Rotzlöffel galten. Anders und Eldbjørg hatten sich nicht darum gekümmert, was vielleicht passieren konnte: Geht ein Auge hops, so geht ein Auge hops, hier machen wir uns nicht schon vorher Sorgen, das Leben ist ein Spiel.

Ja, dort oben, auf Østergård, war das Paradies seiner Kindheit gewesen.

»Was ist mit Leffe?«, fragte er nervös.

Die Mutter sah ihn triumphierend an. Es geschah fast nie, dass sie etwas zu erzählen hatte, was Aksel nicht bereits erfahren hatte. Schließlich arbeitete er bei der Lokalzeitung.

»Wusstest du, dass Anders und Eldbjørg Østergård am selben Tag Geburtstag haben?«

»Nein.«

»Aber so ist es. Merkwürdige Dinge.«

Sie nahm sich viel Zeit, kostete die Sensation aus, wie ein Bonbon. Nachdem sie einen Schluck Kaffee getrunken hatte, stellte sie die Tasse sorgfältig zurück auf die Untertasse. Dann verschob sie diese ein paar Zentimeter nach rechts, wie um zu sagen, dass hier alles in Ordnung war.

»Aber so ist es«, wiederholte sie. »Die beiden haben am selben Tag Geburtstag. Also feiern sie immer zusammen, denn so sparen sie ja etliche Kronen. Am 20. September wurden sie beide achtzig Jahre alt, und da rührten sie anständig die große Trommel und luden alle ein, die kriechen und gehen konnten. Nicht, dass ich eingeladen worden wäre, aber das hatte ich auch nicht erwartet, ich treffe sie nur hin und wieder beim Einkaufen, und da grüßen wir uns bloß.«

Wieder trank sie einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse auf die Untertasse und schob diese ein paar Zentimeter zur Tischmitte.

»Im Wohnhaus auf Østergård ist wohl ziemlich viel Platz, habe ich gehört. Du bist ja so viele Male dort gewesen und weißt wohl, dass sie drei Wohnzimmer haben.«

»Ja«, sagte er. »Und die Wohnzimmer liegen alle hintereinander, wie Zugwaggons. Doch Leffe und ich waren immer nur in der Stube, und die ist nicht besonders groß. Auf jedem Stuhl lag eine Katze, daran erinnere ich mich noch, und die Töle lag für gewöhnlich vor dem Ofen. Schlucker«, sagte er und lächelte bei dem Gedanken.

Die Mutter knetete die Hände im Schoß und glättete ihre Schürze.

»Also wurde in allen drei Wohnzimmern aufgedeckt«, fuhr sie fort. »In der guten Stube, die ganz am Ende liegt, steht wohl ein Flügel, habe ich gehört. Erinnerst du dich an diesen Flügel?«

Aksel nickte. »Wenn ihm der Sinn danach stand, spielte Anders gerne mal ein Lied.« Er sah den kräftigen Landwirt im grünen Overall von der Futtermittelzentrale vor sich, wie er auf der Klavierbank saß und sich im Takt mit den Tönen wiegte, während er »Am Strande« spielte.

»Also, sie wollten feiern«, sagte die Mutter, ohne ihn anzusehen, um wie eine Schauspielerin auf der Bühne zu wirken. Sie wollte keine Einwände aus dem Publikum.

»Und das Essen bestellten sie von einer Cateringfirma, und da reden wir von Schnittchen für vierzig Menschen und Salate und Soßen und Dessert.«

Aksel hörte nervös zu. Er betrachtete die Hände der Mutter, die zusammengeballt im Schoß lagen: trockene, harte Arbeitshände. Hände, die gewaschen und geschrubbt hatten, denen es aber nie gelungen war, sich vom braunen Belag am Grund der Toilette auf eine weiche Kinderhaut umzustellen.

»Und sie putzten sich heraus nach allen Regeln der Kunst«, erzählte sie weiter, »und etliche Gäste kamen in Tracht, sie sind nun einmal Bauern, ich bin mir sicher, dass es vor Broschen und Gürteln nur so klimperte. Der Hof war vollgeparkt mit Autos, und den ganzen Weg entlang standen Fackeln. Als dann alle irgendwann ihre Geschenke abgeliefert hatten und mit einem Glas in der Hand dastanden und keine weiteren Gäste erwartet wurden, fuhr ein großer Lieferwagen auf den Hof. Das war das Essen, das von der Cateringfirma kam. Es wurde in großen Plastikschüsseln in die Küche getragen, und Eldbjørg stellte die Schüsseln auf die Tische.«

Die Mutter sah Aksel mit einem Blick an, der besagte: Jetzt pass auf!

»Doch dann kam noch ein Auto«, fuhr sie fort.

Erneut verschob sie die Kaffeetasse, ruckelte etwas auf dem Stuhl herum und glättete ihre Schürze.

»Das war der Pfarrer. Im schwarzen Anzug. Und ich kann dir sagen, dass er nicht zum Gratulieren kam.«

Aksel verspürte ein Ziehen im Bauch. Er kannte Leffe seit vielen Jahren, hatte gemeinsam mit ihm gefeiert und eine Interrail-Reise gemacht. Manchmal hatten sie im Laden etwas geklaut, oder sie waren an den Barschrank von Anders Østergård gegangen und hatten die Flaschen später mit Wasser aufgefüllt, was dazu führte, dass Anders irgendwann mit einem breiten Grinsen gedroht hatte, ihnen alle Nägel auszureißen.

»Ja, und?«, drängte er.

»Leif Østergård ist tot«, antwortete sie. Und trank vom Kaffee und zog die Tasse wieder zu sich heran.

»Er hat sich mit der Schrotbüchse erschossen.«

Aksel spürte Kälte in sich aufsteigen. Und Leere und Trauer.

Leffe, ein schlaksiger Kerl mit schiefem Mund und unreiner Haut. Der auf Festen immer zu viel trank, der nie ein Mädchenschwarm gewesen war und es nie geschafft hatte, seine Haare zu bändigen. Der Einzige ihrer Gang, der Mitglied der Arbeiterjugend gewesen war und beharrlich versucht hatte, sie anzuwerben. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte er versucht, sie über das »norwegische Modell« aufzuklären. Aber sie hatten nie Lust gehabt, sich die ewige Leier von der gerechten Verteilung anzuhören.

Die Mutter unterbrach seine Gedanken.

»Wenn ich so darüber nachdenke, war er ja ständig hier«, sagte sie, »und er wirkte immer ziemlich sauertöpfisch. Er hatte diesen seltsamen Mund, genau wie sein Vater. Du weißt schon, als ob er eine Schnauze hätte. Und mit dem zerzausten Haar sah er im Grunde wie ein Pavian aus.«

Sie hielt sich die Hand vor das Gesicht und verzog Nase und Mund zu einer Spitze.

Und dann lächelte sie. Das Lächeln sollte dem, was sie eben gesagt hatte, den Stachel nehmen, denn wenn er beleidigt werden würde, würde sie sagen: »Ich bitte dich, ich hab es mit einem Lächeln gesagt. Du musst nicht immer so empfindlich sein.«

Aksel war entrüstet. Er wusste sehr wohl, dass sie durch das Wort »Pavian« und die nachgeahmte Schnauze dafür gesorgt hatte, dass der Erinnerung an seinen Freund für immer das Bild eines Affen anhaften würde. Er verdrängte das Bild mit allem, was er an Konzentration hatte. Stattdessen tauchte ein anderes Bild auf, von Leffe, der mit der Schrotflinte im Mund auf einem Bett sitzt, sein Gehirn auf der Wand verteilt wie Erbrochenes nach einem Trinkgelage.

»Begreifst du …«, die Mutter beugte sich vor.

»Begreifst du, wie man so gerissen sein kann? Gegenüber den eigenen Eltern? Am achtzigsten Geburtstag, mit dem Haus voll herausgeputzter Gäste? Kannst du dir etwas so durch und durch Egoistisches vorstellen? Anders und Eldbjørg diesen Tag zu zerstören und den Rest ihres Lebens. Als ob es ihr Fehler gewesen wäre.«

Aksel suchte nach Worten. Aber er war ja bloß ein Wattewichtel ohne Mumm. Alles, was er fühlte, waren Trauer und Schuld, weil er nie geantwortet hatte, wenn Leffe ihn im Laufe der Jahre kontaktiert hatte, in der Hoffnung auf ein Wiedersehen, ein Fest oder ein Bier in der Galeere.

»Ich finde es eher schade um Leffe«, entgegnete er.

Die Mutter schnaufte durch die Nase, trank vom Kaffee und stellte die Tasse mit einem Knall auf die Untertasse.

»Er war wohl geschieden und so«, fuhr sie fort, »und er trank zu viel.«

Ja, das tat er, dachte Aksel.

»Bei uns war das damals anders«, machte sie weiter. »Wenn wir in der Kirche ›Ja‹ sagten, dann war es für immer. Man muss doch die Versprechen halten, die man gegeben hat.«

Sie sah ihn nicht an, während sie sprach. Indem sie einen Punkt am Boden anstarrte, signalisierte sie, dass es keinen Raum für Proteste gab.

Aus seinem Innersten kam etwas angekrochen, durch einen dunklen Spalt. Wie ein giftiges Reptil krabbelte es lautlos vorwärts, kroch über den Nacken nach oben und pflanzte ihm verdorbene Ideen in den Kopf. Was für ein Schlag, was für eine Schande muss es für Anders und Eldbjørg gewesen sein, dass der Sohn sich umgebracht und mit dieser Tat ihr Lebenswerk, die Verwandtschaft und den Hof und die Äcker beschmutzt hat. Das gute Leben, das sie als gegeben angesehen hatten, lag in Schutt und Asche. Die Schande würde bis zum Tod andauern, und das Leben, das sie gelebt hatten, würde in einem grellen Licht dastehen. Nachdem Leffe sich die Birne weggeblasen hatte, konnten sie ihn nicht mehr fragen, wo sie sich geirrt hatten, was sie getan oder nicht getan hatten. Und dieser Schmerz, den sie verspüren mussten, die Schande, die ihre Wangen überflutete, wenn sie unter Leuten waren, würden jeden Tag einfärben.

»Wo liegt er?«

Die Mutter war in ihre eigenen Gedanken versunken gewesen, jetzt schreckte sie auf.

»Auf dem Zentralfriedhof, sie haben eine Familiengrabstätte, willst du vorbeischauen?«

»Ja, das werde ich.«

Sie grübelte weiter über das Ereignis nach, während sie an einem Nagel kaute.

»Es ist wirklich nicht leicht, derartige Dinge zu begreifen«, meinte sie schließlich, »das muss ich sagen. Soll sein Leben tatsächlich so schrecklich gewesen sein? Er hatte doch eine Arbeit und so. Und nach der Scheidung hat er die Wohnung gekauft, und guten Kontakt zu den Kindern hatte er wohl auch. Was ist es nur, das die Menschen so dringend benötigen, das begreife ich einfach nicht. Vor allem, wenn alles andere passt. In unserem Teil der Welt fehlt es uns doch an nichts.«

Aksel saß schweigend auf dem Stuhl. Die Hände ruhten auf den Armlehnen, und aus seinem Mund kam etwas, das vollkommen wahr war.

»Nein, von derartigen Dingen hast du nie etwas verstanden, da hast du ganz recht.«

Verblüfft sah sie ihn an. Die Überraschung ging rasch über in Verlegenheit, sie glättete ihre Schürze und ruckelte mit dem Stuhl, was sie gewöhnlich tat, ehe sie eine neue Replik abfeuerte.

»Ja, dann war es vielleicht eine Krankheit, was weiß denn ich. Aber in seiner Verwandtschaft gibt es keine solche Krankheit. Das muss wie der Blitz aus heiterem Himmel gekommen sein. Ja, ich sag ja bloß, wie es ist.«

Eine solche Krankheit.

Er brachte es nicht über sich, zu antworten. Die Stille machte sie nervös, also griff sie wieder zur Kaffeetasse.

»Ich wollte bloß sagen, dass es niederträchtig gegenüber Anders und Eldbjørg war«, erklärte sie standhaft. »Er hätte sich ja wohl einen anderen Tag aussuchen können. Ihr ganzes Leben lang werden sie nie wieder Freude an ihrem Geburtstag haben.«

Ihr fiel etwas anderes ein, auf das sich ihr Fokus richtete.

»Möchte wissen, was sie mit all dem Essen gemacht haben.«

»Ich finde es eher schade um Leffe«, entgegnete Aksel zum zweiten Mal. »Als Ellinor krank war …«

Er sah, wie ein Zucken das Gesicht der Mutter überlief, als sie an die Tochter erinnert wurde.

»Als Ellinor krank war und sich in der geschlossenen Abteilung befand«, fuhr er hartnäckig fort, »waren es sechs Patienten. Jetzt sind drei von ihnen tot.«

Die Mutter sah verwirrt aus.

»Woher weißt du das?«

»Ja, woher wissen wir bestimmte Dinge?«, fragte er zurück. »Wir sprechen mit Leuten. Wir lesen und wir hören zu und lernen.«

Sie mochte es nicht, dass er von der geschlossenen Abteilung sprach. Sie ruckelte wieder auf dem Stuhl herum. Vielleicht brütete sie ein Ei aus, und in dem Ei lag ein Junges – ein perfektes kleines Geschöpf von der Sorte, die keine unmöglichen Fragen stellte. Ein Geschöpf, das seine Mutter das ganze Leben hindurch lieben und ehren und das eines Tages an ihrem Grab weinen würde.

Sie entblößte die vom Tabak braunen Zähne.

»Das Wichtigste für uns Eltern ist, dass aus euch anständige Menschen werden«, sagte sie. »Das ist es, was uns umtreibt. Dass die Kinder uns keine Schande machen sollen.«

Sie hob warnend das Kinn, um ihn von jeder Art von Gegenwehr abzubringen.

Aus uns sind niemals Menschen geworden, dachte Aksel. Aus Ellinor nicht und aus mir auch nicht, aber das weißt du nicht.

»›Wenige sind wie Vater, niemand ist wie Mutter‹«, deklamierte sie laut mit einem eigenartigen Blick hinauf zum Dach.

Woher stammte das denn?, wunderte sich Aksel. Sie wartete wohl auf eine Bestätigung von ihm, wie zum Beispiel »Wohl wahr« oder »Damit hast du völlig recht, Mutter«. Doch er sagte nichts dergleichen.

»Nein«, erwiderte er abrupt und schob seinen Stuhl zurück, »ich muss das mit dem Brennholz erledigen.«

Offenbar hatte sie ihm angehört, dass er so schnell wie möglich aus dem Haus wollte, denn sie erhob sich von dem roten Stuhl. Er hörte die Pantoffeln über das Parkett schlurfen, als sie ihm zur Tür folgte.

»Du kannst das Holz nicht in der Lederjacke hacken. Zieh die alte Jacke vom Vater an«, ermahnte sie ihn.

»Mir wird sowieso warm«, erwiderte er.

»Zieh die Jacke an, draußen ist es kalt!«

Also tat er, was sie sagte. Das hatte er immer getan. Widerwillig zog er sich die alte Jacke des Vaters über. Sie war grün, hatte große Taschen und Pelz am Kragen und war viel zu warm, um darin zu arbeiten.

Er drehte der Mutter den Rücken zu und ging hinaus. Garantiert würde sie jetzt zum Fenster eilen. Dort würde sie stehen, ihn beobachten und sich vorgaukeln, dass dies der Mann war, den sie geheiratet hatte, der da draußen in der grünen Jacke stand und die Axt schwang. Vorgaukeln, dass Annar Adelson nach wie vor gesund und munter war und ihr bei allen praktischen Dingen half, auch wenn er schon seit vielen Jahren unter der Erde lag und laut Ellinor vermutlich die Farbe einer ägyptischen Mumie hatte. Aksel warf den Kopf ein paarmal zurück, um sie von sich abzuschütteln. Hob die Axt über den Kopf, schwang sie mit aller Kraft von oben nach unten in den Holzklotz, der mit einem scharfen Geräusch zersplitterte.

Ich bin wie ein Kind, dachte er missmutig, etwas zu zerstören, macht mir Freude. Er haute drauflos, dass das kreideweiße Holzinnere sichtbar wurde, hackte, was er nur konnte, während die Fantasie mit ihm durchging.

Meine Gedanken sind frei.

Kapitel 4

Er stapelte das Brennholz an der roten Hauswand. Holte von drinnen den Brennholzkessel aus Kupfer, füllte ihn bis zum Rand und legte eine grüne Plane über den Holzstapel. Trug den Kessel hinein und stellte ihn beim Ofen ab.

Die Mutter kam die Treppe aus dem ersten Stock herunter, sie verrückte den Brennholzkessel ein kleines bisschen nach rechts. Dann streckte sie Aksel ein Paar Handschuhe vom Vater entgegen. Die könnte er vielleicht gebrauchen, meinte sie.

Die Handschuhe waren aus Schweineleder und hatten kleine Löcher am Handrücken, damit die Hände Luft bekamen. Jedes Mal, wenn Aksel zu Besuch war, schleppte die Mutter irgendetwas vom Vater an: Handschuhe, Hemden, Pullover und Jacken, um auf diese Weise dem Sohn den Atem des Vaters einzuhauchen, ihn in diesem Hemd und dieser Jacke zu sehen. Dann latschte sie auf ihren breiten Füßen hin und her, sie war schwer, bei jedem Schritt machte es flap flap.

Auch diesmal feuerte sie eine der üblichen Bemerkungen ab, nachdem sie Aksel genau betrachtet hatte. »Dein Haar wird dünner, wie ich sehe. Das war bei deinem Vater genauso, als er in deinem Alter war. Die Frisur da, ist die jetzt modern?«