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Geistreich und witzig: Südtiroler Sagen vonKurt Lanthaler neu erzählt und, wo nötig, verbessert und neu erfunden. Wilde, wundersame und geheimnisvolle Gestalten bevölkern seit immer die Südtiroler Berge und Täler. So etwa der Lorgg, der in der Gegend um Stilfs seine wilde Fahrt aufnimmt, das Purzinigele am Partschinser Sonnenberg oder allerhand Antrische in Prettau. Kurt Lanthaler erzählt in seinem unverwechselbaren Stil von den furchteinflößenden, häufig gemeinen, doch meist lehrreichen Aktionen dieser pfiffigen Figuren und lässt uns damit in die anarchisch-archaische Welt früherer Bergbewohner blicken. Es sind ironische, vergnügliche Geschichten von Vergeltung und Gerechtigkeit und von manch üblem Streich und subtiler Revolte – eigensinnig illustriert von Gino Alberti. Ein Buch für alle, die sich für die Sagengestalten rund um die Dolomiten begeistern.
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Seitenzahl: 139
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KURT LANTHALER
SAGEN AUS SÜDTIROL
Mit Illustrationen von Gino Alberti und einemNachwort von Brunamaria Dal Lago Veneri
Alda mo l corf, quĕ chanta
Cras, cras, doman, doman
Hör den Raben, der singt
Kras, Kras, morgen, morgen
Aus der Altonschen Sammlung
La vecchiaia l’è na brutta bestia
ma ’n ghe nè anca altre, de bestie
E ogni tant ne sboccia ’n fior
Das Alter ist eine häßliche Bestie
aber es gibt auch andere, an Bestien
Und ab und an sprießt eine Blüte
Aus meiner Sammlung,aus dem Delta des Deltas des Po
Vom Nörgg auf Ötsch
Die Partschinsa Purzinigelen
Der Drache von Muntatschinig (und das seltsame Schicksal des Sagensammlers)
Der Schreier vom Schleierbach
Sterben und Leben auf Labiseben
Der Lorgg auf Wilder Fahrt
L mat e l porcel. Der Verrückte und das Schwein
Die Kellnerin, der Malider Goggl, und die Wette ums halbe Weinfaß
Die Nixe vom Karersee
Die Pest am Ritten
Mezzaselva, mitten im Wald. Und der Moarhund
Von den Salvans, und von der Aguana
Auf Castelfeder
Vom Schgumser Putz auf Tarnell
Das knocherne Eßmöbel von Völs
Der Felsnegger auf Gspell ober Rabenstein
Die Kegelpartie der Pitscheförter Riesen
Der Brennergeist
Von den Schnabelmenschen
Der Scheintote von Maderneid
Die Klaamandeln und das Wetter über Mauls und Trens
Die Wechselwiesen von Flaas
Vom ćiastel dles stries zu den ’Meriche, und retour
Die Nichte der Nixe
Die Pest in Tagusens und auf Untertschutsch
Der Hatzes auf Hinterthal
Von der Fai und der Jaufenburg
Allerhand Antrische
Der Ölprinz
Die Ritter auf Matsch
Das Almkoat
Der Todtenthomas und seine Fahrt durchs Martell
Die grüne Nixe vom Grünsee (zuhinterst)
Vom Lagrein für Laurein
Kegelspiele. Und Stratioten in Mareo
Was von Sagen zu sagen (An Stelle eines Essays)
Nachwort
Index, nach Gegenden
Index, nach Schlagworten
Zwischen dem Passeirer Wanns und dem Sarntaler Pens, unweit des Jochüberganges, lag am Fuße des Gipfels der Ötsch und vor langen Zeiten, wo heut nur Steinlammern, eine schöne Alm. Die Ötscher Alm. Eine der schönsten weitum. Die höchstgelegene allemal. Und es war ein fröhliches und unbeschwertes Leben, hier auf Ötsch, wie man die Gegend nannte, und der blaue Himmel lachte überm Kar.
(So sagt man. Aber es war harte Arbeit auch. Das sagt man nicht. Und es wetterte, am liebsten von der Jaufenspitz her. Und himmlatzte.)
Wer hier lebte, war trittsicher, und redete nicht viel. Auf jeden Fall nicht den ganzen Tag. Zumal in den Zeiten, von denen hier die Red ist, der Talmensch im Tal blieb, in seinen Sümpfen mit ihrem verpesteten Hauch. Und den Almmenschen allein ließ. Und also glücklich. Allerdings lebte der nicht allein, auf Ötsch.
Denn es lebte auf Ötsch auch der Nörgg, und zwar anders als der Almmensch jahrein, jahraus, auch des Winters. Das konnte der Nörgg sich locker leisten, weil mit dem Nörgg auch die Harmelen auf Ötsch wohnten. Worunter man heutzutage Hermeline verstehen würde. Und so, ans weichwarme Bauchfell dieser Harmelen geschmiegt, in seinen Klaftern und Spalten und Höhlen auf Ötsch, überwinterte der Nörgg die strengsten Winterstürme, und Eis und Frost. Bei sonnigem Wetter aber gingen der Nörgg und die Harmelen über die endlosen Schneefelder spazieren, und rutschten lachend die Wächten ab. Man hätte, hätt man sich in diese Winterlandschaft vorgetraut, als Mensch, die Nörgge, denn es waren ihrer mehrere, weitum sehen und lachen hören können im Sonnenschnee. Die Nörgge waren nämlich stockrabenschwarz. Schwärzer noch als die Nörgg von Rabenstein. Die Harmelen aber hätt man nicht gesehen. Die verschwanden im Schnee, sie waren hermelinweiß allüberall, bis auf ihre leicht roten Lippen und die eisblauen, lachenden Augen.
Dann ging der Winter vorbei, und der Almmensch kam auf Ötsch zurück, und man lebte wieder zusammen, der Almmensch, der Nörgg und die Harmelen, wie die Sommer zuvor seit jeher. Der Almmensch almte, der Nörgg trieb Unsinn und Spaßletten, und die Harmelen sahen dem Treiben zu, mit etwas Abstand, nebeneinander aufgereiht, ziemlich possierlich.
Es brachte der Nörgg nämlich Wachstum und Gedeihen auf Ötsch, aber auch seinen Eigensinn, und eine gewisse, gern auch polternde Unernsthaftigkeit. Der Almmensch aber hatte, über die Zeit, gelernt, damit zu leben. Immerhin fand er auch sein Auskommen damit. Und die Harmelen sahen dem Treiben zu, und erwarteten sich Abend für Abend eine Schale Milch, hinterm Geißenstall.
Wär nicht, eines Tages, eine der Almfrauen türschlagend aus Ötsch ausgezogen, hinunter ins Tal, weils genug ist, wie sie dem Wendl sagte, weil der Wendl übern Winter mirnixdirnix sowie wollten, was Psairisch ist und ziemlich heißt, und also: ziemlich bequem geworden war, der Wendl, und seither ein jedes zweite Mal das Melken verschlief. Und wie die Filomena nun weg gewesen, wurde der Wendl ziemlich wirsch. Auch mit dem Nörgg. Der wieder einmal auf dem Rücken der Berta saß, einer zweijährigen Grauen, während der Wendl grad daneben die Bruna am Melken war. Und weil der Wendl am Einnicken, auf jeden Fall ganz schön weit an die Kuh sich vornübergelehnt hatte mit seinem Kopf, hustete der Nörgg ein paarmal scharf.
Da sprang der Wendl, erschrocken vom Wachwerden, vom Melkschemel auf, und sagte, in breitem Psairisch: »Nörggele, gea miar lai ou, du Nörggele, sou.«
Da aber wurde der Nörgg vom ein aufs andre fuchsteufelswild, wie man ihn noch nie gesehen, und sprang von Kuh zu Kuh, brachte alles in Aufruhr, schmiß die Mistgabel durch die Gegend und den Mistwagen um, gab der Milchkanne einen Tritt und rief wildteufelsfuchs:
Wendl, grupftsgrausigs Hendl
Du mi Nörggele heißen
ich di Zeh hinein beißen
Ich bin der Nörgg
du bist ein Zwörg
Nehm die Harmelen mit
tu die Alm dir verschütt
Und drehte sich um, der Nörgg, und ging, und stieß im Gehen noch einen kurzen Pfiff aus. Daraufhin tauchten aus Klaftern und Spalten weitere Nörgge auf, im Gelände, und neben jedem Nörgg ein Harmele, und ganz in Weiß. Und daraufhin sah man, wie sie paarweise, neben jedem Nörgg ein Harmele, die Alm auf Ötsch verließen. Ein stummer Auszug.
Der Wannser Bauer aber, ein großer und stolzer Bauer, draußen, wo das Wannsertal breit und flach wird, war sich sicher, es gäbe gar keine Harmelen. Dann hätt ich, sagte er, in seinem Wirtshaus, das er zur Bauernschaft und neben der Kapelle auch noch hatte, dann hätt ich längst einen Hermelinmantel, meinerwegen auch ganz in Weiß. Aber dann mit blutrotem Kragen.
Woraufhin die Harmelen, zusammen mit den Nörggen, bei ihrem Auszug um den Wannserbauer einen ordentlichen Bogen machten. Und der Wannserbauer in der Folge ins Nichts verarmte. Und der Wannserbach, zuvor ein klares Gewässer, nur mehr trübes Geschiebe führte vom nunmehr vermurten Ötsch herunter.
Vor sehr langer Zeit, kurze Zeit, nachdem die Erde noch öd und leer gewesen war und also , tohu wabohu (was im übrigen Buber/Rosenzweig sehr viel treffender mit Irrsal und Wirrsal übersetzen, den alten Luther verbessernd; – der noch einige Verbesserungen mehr vertragen hätte, wie man an seinen heutigen Nachkommenschaften unschwer ablesen kann. Aber das tut hier nichts zur Sache –),
… vor sehr, sehr langer Zeit also, kurze Zeit, nachdem die Erde noch »wüst und leer« gewesen war, wohnte auf dem, was heut der Partschinser Sonnenberg genannt wird und bis vor kurzem wie präpandemisch noch extensiv touristisch zum Zwecke aller möglichen Bespaßungen beworben, also Wellness und Fitness und Gutess,
… vor sehr, sehr langer Zeit wohnte auf diesem steilen, der südlichen Sonne freundlichst zugewandten Berghang eine inzwischen längst sagenumwobene Spezies: die Purzinigelen. Und was auch immer wir heute uns davon erzählen, und wie auch immer wir sie in Kinderliedern (Weihnachtsliedern gar) hineinverniedlichen, es waren, die Purzinigelen, eine hochkultivierte Zivilisation.
Wenn auch, zugegebenermaßen, von sehr kleinem Wuchs. Was ihnen bei ihrem Hauptgeschäft, dem Graben nach Silber, allerdings prächtig zupaß kam. Mußten sie die Stollen nicht allzugroß aus dem Granitgneis des Partschinser Sonnenberges hauen. Denn das Silber versteckte sich im Berge. Und ließ sich nur finden, wenn man freundlicher und sangesfröhlicher Natur war, wie die Purzinigelen, und intelligent und dem Leben zugewandt, sowie am Tauschwert des Silbers nicht im geringsten interessiert. All das traf auf die Purzinigelen zu, und sie freuten sich, am Feierabend in der tiefstehenden Sonne am Partschinser Berg sitzend, am Widerglanz des gewonnenen Silbers. Aßen aus Silbertellern und schliefen auf Silberkissen. Standen morgens nicht allzufrüh auf, und machten sich gemächlich auf den Weg in die Silberstollen. In deren Dunkelheit sie ein paar Stunden verbrachten. Um dann wieder ans Tageslicht zu kommen, und, nach einem Bade in einem Gebirgsbach, den sie zu diesem Zwecke mit Steinen, Ästen und Moos zu einem Swimmingpool etwas angestaut, sich im frischen Gebirgsgras in die Sonne zu legen und etwas auszuruhen. Danach vertrieben sie sich die Zeit mit Hand- und Kopfständen und Rollen vor- und rückwärts. Das half ihren Silberstollenrücken auf die Sprünge.
Und so vergingen die Tage, und so vergingen die Zeiten.
Bis die Purzinigelen eines Tages, wieder einmal im Grase ruhend, feststellten, zu ihrem Erstaunen, daß im Tal weit unten, unter ihnen, in dem Tal, das bis vor kurzem ein einziger Sumpf voller übler Luft, und also mal aria war, daß sich dorten etwas tat. Sie wollten es erst nicht glauben. Mußte sie die Sonne und das Silber zu stark geblendet haben, zumal ihre von der Silberstollendunkelheit geschwächten Augen.
Doch da, Tage später, wieder. Woche drauf, auch. Im Tal unten, an dessen Rande, auf einem kleinen Hügel, schienen sich Wesen anzusiedeln. Und hantierten gar mit Feuer. Und bauten sich wacklige Laubhütten.
Alsbald aber gingen über diese Wesen im Tale unten Geschichten um unter den Purzinigelen, und sie sagten sich: Sage, sag mal, was glaubst du?
»Ich glaub schonmal gar nichts, pàr tschínsa, pàr tschínsa«, sagte das Altpurzinigele, nochmal einen Kopf kleiner als die anderen Purzinigelen, da inzwischen etwas vornübergebeugt, Altersskoliose, »und außerdem sollte es uns egal sein. Was da unten in diesem Drecksloch sich tut.«
Das aber war ein Irrtum gewesen. Denn eines Tages kam ein Talbewohner den Berg hoch. Tage später kamen mehr von ihnen den Berg hoch. Und sie streiften durchs Gelände, unsicher auf ihren Beinen ob der Steilheit. Aber sie kamen immer wieder. Schauten hinter jeden Stein, grasten alles ab.
So daß die Purzinigelen, nachdem sie Rat gehalten, eines Nachts alles zerstörten, was sie aufgebaut hatten, ihre Silberteller und Silberkissen in die Stollen zurückbrachten, und die Stollen auf immer verschlossen. Ihre Wohnplätze dem Erdboden gleichmachten und das Bad im Bach. Woraufhin sich eine wahre Sturzflut zu Tale wälzte.
In derselben Nacht noch machten sich die Purzinigelen auf den Weg, den Sonnenberg entlang am Kamm, am Ortnott vorbei und am Madratsch, und ließen sich erst am Plantavilas, hoch oben über Schluderns, wieder nieder. Da war dann ein paar hundert Jahr lang wieder Ruhe.
Schließlich aber verschwanden sie ganz. Von dort, wo heutzutage die Spezies der Mauntenbaiker Jagd auf Fußgänger macht.
Später dann, als das Wissen über die wirklichen Purzinigelen längst verschütt wie ihre Silberstollen, später dann haben sich aus dem Wort Purzinigele Wörter herausgebildet, die, wenn nicht wir, so zumindest unsere Vorgänger, noch kannten. Im Adelung (Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793–1801) findet sich also zum Beispiel Purzel für kleines, täppisches Kind. Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm (Leipzig 1833–1961) lesen wir: wenn ich (hanswurst) meinen purzelbaum machen kann, was ficht die politik mich an? Und im Duden steht schließlich Nigel für kleiner, widerspenstiger Kerl.
Und so ist allen Recht und Genüge getan.
Oben über Schluderns, am Eingang des Matscher Tales, zwischen Muntatschinig und Kartatsch, wohnte ein Drache. Lebte sein meist gemächliches Leben und war respektiert in der Gegend. Gefürchtet aber waren die Matscher Raubritter. Mit denen der Drache sich allerdings im Waffenstillstand befand. Was die schlaueren Schludernser wiederum das Gleichgewicht des Schreckens nannten.
Zurück zum Drachen. Der war, verglichen mit anderen Kollegen seiner Zunft, zum Beispiel dem badiotischen vom Sas dla Crusc, also dem Kreuzkofel, eigentlich ein recht genügsamer wie freundlicher. Zweimal im Jahr ein Ochs und zwischendurch ein paar Schafe oder Ziegen (Ziegen eher weniger gern, wegen des gewissen haut goût derselben, das allen ernstzunehmenden Köchen gewisse Zusatzkenntnisse abverlangt), wenn also seine menschliche Umgebung dem Drachen von Muntatschinig den halbjährlichen Ochsen sowie das halbe Dutzend Schafziegen, auf das man sich, sozusagen per Handschlag, als Menüplan geeinigt, zukommen ließ, und das alles in vernünftig zeitlichem Abstand, und nicht alles auf ein Mal, was in der ersten Zeit seiner Anwesenheit am Berg über Schluderns oben einmal vorgekommen war und den Muntatschiniger Drachen vor erhebliche organisatorische wie kühltechnische Probleme gestellt hatte, sowie zu einer Magenverstimmung, und also in der Folge verständlicherweise zu einer Allgemeinverstimmung geführt hatte – sobald also diese anfänglichen Probleme ausgeräumt gewesen waren, war es relativ friedlich geworden in der Gegend. Bis auf die Matscher. Und, wie gesagt, verglichen mit seinem Kollegen vom Sas dla Crusc.
Dem, sagten die Badioten, regelmäßig nach Jungfern- wie Knabenfleisch war; der, sagte der Drache vom Sas dla Crusc, durchaus mit Ziegen oder Altkühen zufrieden gewesen wär, an einen Ochs hätte er sich nicht einmal zu denken gewagt, weil nämlich, und da lag die Krux für den Drachen vom Sas dla Crusc und das Kreuz für den Kreuzkofeldrachen: weil nämlich die Badioten schon gehabt hätten, zumal einige von ihnen reiche Bauern, aber eben … nicht geben … wollten.
Den Obervinschgern um Schluderns, Muntatschinig und Kartatsch herum und bis nach Liachtawerg und Söles hinüber auf der anderen Talseite aber war das gleichgültig. Sie hielten sich ihren Drachen gut, und sie wollten ihn sich behalten. Besser der, als so einer wie der andere. Noch besser natürlich gar keiner, weil ein Ochs und sechs Ziegenschaf im Jahr, das ist schon ein ordentlicher Zehent. Andererseits bot der Drache von Muntatschinig, zumindest indirekt, einen gewissen Schutz vor den Raubzügen gewisser Matscher Ritter. Die sich nämlich bei Nacht nicht mehr recht auf den Weg ihr Tal hinaus trauten. Und bei Tag waren Raubzüge eben deutlich weniger erfolgreich. (Zumindest in jenen Zeiten.)
Das hätte noch ewig so weitergehen können, also sozusagen bis in unsere Zeiten, wenn nicht eines Tages ein sehr neugieriger Studierter, also einer, der behauptete, er sei ein Studierter, aus dem nun wirklich fernen Bautzen oder Botzen oder wie die Ansiedlung seiner Meinung nach heißen sollte, in der, immer seiner Behauptung nach, mehrere hundert Leute lebten, und zwar ganz ohne Drachen, dafür aber mit einem Bürgermeister, was nun alles geradezu ins Märchenhafte geriet, und ihm also von keinem Obervinschger abgenommen noch für bare Münze, nachdem er aber eine solcherne, nämlich bare Münze, auf den Tisch des Wirtshauses gelegt, konnte man ihm seinen Wunsch, nach erstens einem Stück Braten (es gab stattdessen Schwarzplentnen Riebel), zweitens einem Schluck Wein (es gab stattdessen Leps) und zuallerletzt, drittens, einen Blick auf den ebenso wohlberühmten wie sagenhaften Drachen von Muntatschinig – konnte man ihm nicht abschlagen, der Münze wegen.
Der Abend wurde noch lang. Der gelahrige Botzner hatte eine weitere Münze auf den Tisch gelegt und an seinen Tisch hinzugebeten, also fand sich diesmal tatsächlich Wein statt des Lepses, und so saß man zusammen und trank, und um weiter zusammensitzen und trinken zu können, ließen sich die Schludernser auch die ein oder andere Red des Gelahrigen aus Botzen gefallen. Der anfing zu erzählen von der eigenartigen Sumpfgegend nördlich von Botzen, wo Wein wachse und Mais und Maulbeerbäume und Seide. Und weiter sprach er, immer lauter ausholend, während Wein nachgeschenkt wurde:
Die Seidenzucht gibt indeß überall fröhliche Anzeichen und wälscher Fleiß weiß die Cocons zu zeitigen, und den Miasmen der Luft mehr zu widerstehen als dem deutschen Worte, das sie in der Regel nach zwei Menschenaltern ganz germanisirt hat. Lose Sagen und Mährlein flattern und hüpfen auf diesem Gebiete wie die regellos pfeifenden Sumpf- und Schilfvögel mit ihren bunten Schwingen, von Nachtwandlern ohne Kopf, von Riesen, die Steine aus den Schluchten schleudern, von kugelartigen Ungethümen, die sich den Fuhrleuten zur Nachtzeit in den Weg legen, und vom giftigen Athem fürchterlicher Drachen. Es lohnt wohl der Mühe, sie zu sammeln, wenn auch nur zu beweisen, wie eigenthümlich der Volksgeist dichtet beim edelsten Wein in fieberhafter Luft. ***
Dann war aber auch gut, nach solch wirrem Gerede des Gelahrigen, und es war spät und also verabredete man sich auf den allerfrühesten Morgen. Um den Muntatschiniger Drachen aufzusuchen. Und ihm, außer der Reihe und vom Botzner bezahlt, ein Schaf zu bringen.
Die ersten paar Minuten oben beim Drachen von Muntatschinig vergingen noch wie gehabt. Der Drache besah sich das Schaf, das ihm da abgelegt worden war. Nickte mit dem Kopf. Und wollte, wie immer, sich schon wieder zurückziehen, und die Obervinschger auch, da trat der Botzner Gelahrige vor und dachte, er müsse den Drachen ansprechen.