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Der Evolutionsbiologe und Anthroposoph Wolfgang Schad zeigt an offenen Fragen des Selbst- und Weltverständnisses, wie der «zentrisch» geführte Blick der mit der Neuzeit hervortretenden Naturwissenschaften erst mit dem «peripheren» Blick der Anthroposophie vervollständigt werden kann. Die Analyse braucht die Synthese.
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Seitenzahl: 91
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Wolfgang Schad
Der periphere Blick
Die Vervollständigung der Aufklärung
Verlag Freies Geistesleben
Anthroposophie und Naturwissenschaft 1/7
1. Der zentrische und der periphere Blick
2. Organismus und Mitwelt
3. Das Rhythmenspektrum des Menschen
4. Der vorgeburtliche Mensch
5. Pflanze und Pflanzengesellschaft
6. Die biologische Evolution
7. Die Erneuerungen in der Natur
8. Peripheres in der Physik
9. Der Cerebrozentrismus und Steiners Nervenverständnis
10. Sozialismus und Kapitalismus
11. Vom zentrischen zum peripheren Blick
1604 trat ein achtjähriger Knabe in das eben gegründete französische Jesuitenkolleg in La Flèche/Anjou ein. Es war der aus einfachem Adel stammende René Des-Cartes. Hier erhielt er die Bildung seiner Zeit, denn der Jesuitenorden hatte sich zur Aufgabe gemacht, die aufgekommenen Naturwissenschaften als eine intellektuelle Stütze der katholischen Glaubenswelt einzusetzen. Nach der Schule wollte Descartes im «Buch der Welt» lesen: Er bereiste viele Länder Europas. Bald war er in den unsäglichen Dreißigjährigen Krieg verwickelt (in der Schlacht am Weißenberg bei Prag 1620) und erlebte die Ausrottung großer Teile der Bevölkerung Mitteleuropas mit. Zunehmend zog er sich in seine Studierstuben am Rande des Geschehens nach Holland zurück und hielt sich an das Wort des Augustinus: «Geh nicht hinaus, betrachte dich selbst: In dir ist Wahrheit.» Also entschloss er sich zum totalen Zweifel an der Welt und besonders an allem, was man ihm von Gott und der Welt gelehrt hatte. So befreite er sich von jahrhundertealtem Dogmenballast, indem er allein die Sicherung von Wahrheit in sich selbst suchte: Ich zweifle an allem. Was bleibt dann als letzte Gewissheit? Der, welcher an allem zweifelt, ich allein.
Descartes’ Entschluss zum ausschließlichen Zweifel war der historisch verständliche, weil jetzt notwendige Pendelgegenschlag zur Glaubenswelt des zu Ende gekommenen Mittelalters – allerdings mit der Konsequenz nicht nur des Glaubens-, sondern auch des Weltverlustes.
«Dieser Zweifel ist indessen auf die Erforschung der Wahrheit zu beschränken. Denn im tätigen Leben würde oft die Gelegenheit zum Handeln vorübergehen, ehe wir uns aus den Zweifeln befreit hätten.»
Das heißt: In seiner Art der Wahrheitssuche fallen Wissenschaft und Leben erstmals im Prinzip auseinander. Weltentfremdung und Weltverlust sind die Folgen – mit all jener Weltuntauglichkeit, die uns der Rationalismus bis heute angesichts z.B. der Ökokatastrophen beschert hat. Er hatte trotzdem zuerst einmal die genannte positive historische Bedeutung.
Natürlich versuchte auch Descartes, nach dem Zweifel die Welt wiederzugewinnen, aber er tat es leider nicht auf dem Boden des eigenen Erfahrungsprinzips, sondern mit jener einst gelernten Rabulistik, die er vorher so massiv abgelehnt hatte: Da ich Gott als das in der vollen Wahrheit und Güte bestehende Wesen denken kann, ist diese meine Gottesidee selbst der Beweis Gottes. Weil er gütig ist, wird er mich nicht täuschen wollen, also werden die mir von ihm verliehenen Sinne und Gedanken doch wohl die Welt zeigen (Specht 2006:91). Hier fällt Descartes faktisch hinter sein eigenes aufgestelltes Prinzip zurück. Die Aufklärungsphilosophie des französischen Rationalismus begründete damit nur eine unvollständige, halbe Aufklärung. Sie wurde erst vervollständigt durch den Bologna-Vortrag Steiners (Vortrag vom 8. April 1911): Was ich als mathematische Gesetzmäßigkeit im inneren Seelenraum widerspruchsfrei denken kann, ist die gleiche Gesetzmäßigkeit, die ich in der sinnlich-empirischen Welt, z.B. in physikalischen Gesetzen, vorfinde. Beide Seiten haben an der gleichen Wahrheit teil:
«Es soll der Einfachheit halber zunächst hier auf den Inhalt der Weltgesetzlichkeit verwiesen werden, insofern dieser in mathematischen Begriffen und Formeln ausdrückbar ist. Der innere gesetzmäßige Zusammenhang der mathematischen Formeln wird innerhalb des Bewusstseins gewonnen und dann auf die empirischen Tatbestände angewendet. Nun ist kein auffindbarer Unterschied zwischen dem, was im Bewusstsein als mathematischer Begriff lebt, wenn dieses Bewusstsein seinen Inhalt auf einen empirischen Tatbestand bezieht; oder wenn es diesen mathematischen Begriff in rein mathematischem abgezogenen Denken sich vergegenwärtigt. Das heißt aber doch nichts anderes als: Das Ich steht mit seiner mathematischen Vorstellung nicht außerhalb der transzendent mathematischen Gesetzmäßigkeit der Dinge, sondern innerhalb. Und man wird deshalb zu einer besseren Vorstellung über das ‹Ich› erkenntnistheoretisch gelangen, wenn man es nicht innerhalb der Leibesorganisation befindlich vorstellt, und die Eindrücke ihm ‹von außen› geben lässt; sondern wenn man das ‹Ich› in die Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst verlegt und in der Leibesorganisation nur etwas wie einen Spiegel sieht, welcher das außer dem Leibe liegende Weben des Ich im Transzendenten dem Ich durch die organische Leibestätigkeit zurückspiegelt.» (GA 35:139)
Die parabelförmig gebauten Brückenbögen halten. Kristalle wachsen in geometrisch konstruierbaren Formen etc. Also hat das Ich an den Weltgesetzmäßigkeiten vollen Anteil. Das erkennende Ich lebt also nicht weltverloren im Leib, sondern im Weltgeschehen selbst gerade auch geistig darinnen. Der Leib ist mit seinem Nervensystem nur das Organ der Bewusstmachung dieser Tatsache in leibgebundenen Vorstellungen. Das tätige Ich selbst ist Weltinhalt, ja dieses ist überhaupt erst das wahre Ich (siehe auch Schad 2011).
Im Folgenden sei auf die fruchtbaren Folgen dieses Perspektivenwechsels auf den verschiedensten Ebenen des menschlichen Lebens eingegangen.
Wir sind nicht nur geistbegabte und seelisch vorhandene Wesen, sondern auch biologische und tragen damit das Geschenk eines individualisierten lebenden Organismus an uns. Die Lebensfähigkeit bekommen wir von unseren Eltern vererbt. Das ist bei Tier und Pflanze nicht anders. Als Goethe begann, seine botanischen Studien zu betreiben, sprach er vom «doppelten Gesetz»: Jedes Lebewesen ist fähig, sich auf die jeweiligen Umgebungsverhältnisse mehr oder weniger gut einzustellen, und doch behält es eine geerbte Spezifität bei:
«Das Lebendige hat die Gabe, sich nach den vielfältigsten Bedingungen äußerer Einflüsse zu bequemen und doch eine gewisse errungene Selbstständigkeit nicht aufzugeben.» (Maximen und Reflexionen 1253)
Die Unterscheidung von Vererbung und Umwelt wurde so zum Thema der Biologie des 19. Jahrhunderts bis weit in das 20. hinein. Der Begriff «Umwelt» fordert den Begriff «Innenwelt»; in ihr erhält der Organismus seine Eigenart als die von seinen Vorfahren ererbte gegenüber den Außenfaktoren aufrecht. Doch der spätere Goethe misstraute dieser Innen-Außen-Trennung als einem allzu menschlichen Dualismus von Subjekt und Objekt, der damit auf die organische Welt projiziert wird. So heißt es am Ende der Xenien:
Teilen kann ich nicht das Leben,
Nicht das Innen, noch das Außen.
Allen muss das Ganze geben,
Um mit euch und mir zu hausen.
Die Trennung ist nur als methodischer Vorlauf sinnvoll. Die Verschränkung ist die volle Wirklichkeit.
Für die Kenner war es nur eine Frage der Zeit, bis die genauere Analyse zeigen wird, dass die Genetik durch die Epigenetik ergänzt werden muss. Es gilt nicht der Monokausalismus der Lehrbücher:
Purinsequenzen in der DNA → spezifische Proteine,
sondern Purine ⇆ Proteine.
Wie immer im Leben haben wir es auch hier mit «Wechselursachenverhältnissen» zu tun (GA 300 II: 105). In der zyklischen Kausalität werden die Wirkungen selbst zur Ursache der Ursachen. Zum zentrischen Blick auf die Summe aller Gene (das Genom) gehört der periphere Blick auf das lebende Eiweiß der Zelle, die Gewebe, die Organe, der Wechselbezug im Organismus und dessen Einbettung in seinen Lebensraum, den Oikos. Statt von «Umwelt» spricht man deshalb besser von «Mitwelt», da es eine abgeschlossene genetische Innenwelt ebenso wenig gibt wie eine davon getrennte «Umwelt» (Meyer-Abich 1988:139). Der gesamte Umkreis ist ebenso beteiligt. Das ist der ökologische Blick.
Als der Student Rudolf Hauschka 1924 seine ihm wichtigste Frage Rudolf Steiner stellen konnte: «Herr Doktor, was ist Leben?», bekam er keine definierende Antwort, sondern eine Aufgabenstellung: «Studieren Sie Rhythmen, Rhythmus trägt Leben.» Inhaltlich findet sich Wesentliches dazu in Steiners Vortragsreihe Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (GA 107), insbesondere in den Vorträgen vom 21.12.1908 und 12.01.1909. Sie wurden der Anlass zur lebenslangen Rhythmenforschung des Mediziners und Arbeitsphysiologen Gunther Hildebrandt (1924–1999) in Marburg. In 49-jähriger Forschungsarbeit konnte er mit vielen Mitarbeitern das gesamte biologische Rhythmenspektrum des menschlichen Organismus aufdecken, insbesondere dessen chronobiologische Dreigliedrigkeit.
Es stellte sich heraus, dass die schnellsten Oszillationen im Zentralnervensystem stattfinden, dabei mit weithin verschiebbaren Frequenzen der elektrischen Potentialschwankungen. Die aufbauenden Stoffwechselabläufe hingegen nehmen sich viel mehr Zeit in rhythmisch recht stabilen Langzeitperioden von Stunden, Tagen, Wochen, Monaten und Jahren. Erstere stehen unserem momentanen Willkürbewusstsein zur Verfügung, indem sie sich gerade von festen Frequenzbindungen freigemacht haben. Hier herrscht eine «Physiologie der Freiheit» (GA 201, 1.5.1920, 10. Vortrag). Letztere sind die stabilen, planetarisch vorgegebenen Rhythmen wie die Eigenumdrehung der Erde, der Umlauf des Mondes und der Umlauf der Erde mit dem Mond um die Sonne. Damit sind wir chronobiologisch immer an den realen Kosmos angeschlossen.
Die zentralrhythmischen Vorgänge von Atmung und Kreislauf vermitteln nun zwischen den mehr umweltunabhängigen und den mehr umkreiszugewandten Biorhythmen. Sie sind gleicherweise zu relativ frequenzlabilen wie zu relativ frequenzstabilen Rhythmen fähig. Das ist die Hildebrandtsche Entdeckung der dreigliedrigen Zeitordnung im Menschen.