Der Physikverführer - Christoph Drösser - E-Book

Der Physikverführer E-Book

Christoph Drösser

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Beschreibung

Warum nutzen Schallschutzwände nicht immer? Wie findet man heraus, ob das Schmuck-Gold gestreckt ist? Warum ist ein Frontalzusammenstoß zwischen zwei Autos schlimmer als eine Fahrt gegen die Wand? Welches Aussehen hätte King Kong wirklich – oder eine zwanzig Meter große Frau? Und warum eigentlich platzen Würste im heißen Wasser immer längs auf? Wie schon in seinem Bestseller «Der Mathematikverführer» erklärt Christoph Drösser in diesem Buch anhand unterhaltsamer Alltagsgeschichten, wie die Kräfte der Natur, diesmal der Physik, in allen möglichen Lebenslagen auf uns und unsere Umwelt wirken. Ein Leckerbissen zugleich auch wieder für die Freunde der Mathematik; und abermals gibt es am Ende der Kapitel kleine Aufgaben zu lösen. Ob es um Auftrieb oder Reibung, Schall oder Schwerkraft, Spannung oder Luftdruck, Relativität oder Quanten geht – so macht Physik richtig Spaß!

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Seitenzahl: 244

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Christoph Drösser

Der Physikverführer

Versuchsanordnungen für alle Lebenslagen

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort

1 Zu früh gefreut

2 Die letzte Abfahrt

3 Die Kraft der zwei Pferde

4 Die 20-Meter-Frau

5 Wurstphysik

6 Auf dem Patentamt

7 Die Mauer

8 Der verjüngte Zwilling

9 Die Party

10 Am Äquator

11 Im Kinderzimmer

12 Alles Zufall?

13 Der betrunkene Weinbauer

14 Der Quanten-Kult

Die Top Zwölf

Lösungen

Quellen

Index

For Andrea, my strange attractor

Vorwort

Physik ist wie Sex. Manchmal kommt etwas Nützliches

dabei heraus. Aber deshalb betreiben wir sie nicht.

Richard Feynman

Als ich nach dem Erfolg des Mathematikverführers gefragt wurde, welcher Disziplin ich mich denn als Nächstes widmen würde, musste ich nicht lange nachdenken – es war klar, dass es um Physik gehen würde. Mathematik habe ich studiert, und sie ist für mich immer noch die Königin der Wissenschaften (und ich würde auf sie das Eingangszitat von Feynman anwenden), aber die Physik fasziniert mich nicht weniger. Schafft die Mathematik aus quasi nichts als einem durch die Evolution geformten Säugetierhirn die komplexesten Gedankenwelten, so gehen die Physiker noch einen Schritt weiter und sagen: Wir können mit mathematischen Gleichungen und Modellen die Welt beschreiben, vielleicht sogar komplett. Denn die anderen Naturwissenschaften sind ja nichts als Fortschreibungen der Physik: Die Chemie beschäftigt sich mit den Reaktionen zwischen Molekülen, die von der Physik beschrieben werden, die Biologie ist die Wissenschaft vom Leben, das sich durch chemische Reaktionen beschreiben lässt, die wiederum auf die Physik zurückgehen. Damit will ich keinesfalls einem totalen Reduktionismus das Wort reden – ab einer gewissen Stufe der Komplexität hilft die Physik nicht mehr weiter, der Laplace’sche Dämon ist ja ein Fabelwesen (siehe Seite 191). Aber die Physik liegt eben tatsächlich jedem Phänomen in dieser Welt zugrunde, selbst der Entstehung des gesamten Universums.

Aber keine Sorge, um die physikalischen Modelle, mit denen die Urknall- oder Stringtheoretiker rechnen, geht es in diesem Buch nicht. Wie schon der Mathematikverführer, so befasst sich auch der Physikverführer vorwiegend mit jenen Grundlagen der Wissenschaft, die für Laien nachvollziehbar sind. Von den Kapiteln 8 und 14 abgesehen, in denen es um Relativitäts- und Quantentheorie geht, heißt das: Wir beschäftigen uns mit einer Welt, in der praktisch alle Phänomene auf die Kollision kleiner oder großer Massen zurückzuführen sind. Größen wie Kraft, Beschleunigung und Energie reichen aus, um diese Welt zu beschreiben, sei es im Makroskopischen – etwa wenn Autos zusammenstoßen – oder im Mikroskopischen: Temperatur ist die mittlere Bewegungsenergie von Teilchen, die wir uns wie kleine Gummibälle vorstellen, und Druck ist, wenn diese Gummibälle gegen die Wand eines Behälters knallen. Das Buch zeigt, wie weit ein solch naives physikalisches Modell reicht: Immerhin erklärt es, warum Flugzeuge fliegen und warum es unmöglich ist, ein Perpetuum mobile zu bauen. Das ließe sich noch ausdehnen auf elektrische und magnetische Phänomene, die ich in diesem Buch nur am Rande streife.

Aber Moleküle sind keine Gummibälle, sie bestehen aus Atomen, diese wiederum setzen sich aus kleineren Elementarteilchen zusammen. Und wenn Sie immer noch glauben, dass ein Atomkern ein brombeerartiger kleiner Knubbel aus Neutronen und Protonen ist, um den in einiger Entfernung Elektronen kreisen wie Mücken um eine Glühbirne – dann lassen Sie es sich gesagt sein: Auch das sind nur Hilfsvorstellungen, die unsere Phantasie anregen sollen. In der «wirklichen» Physik zerrinnen all diese Kügelchen irgendwann zu Wellenfunktionen, die durch den leeren Raum wabern und nur noch Wahrscheinlichkeiten beschreiben. Konkret vorstellen können sich das auch Physiker nicht mehr, und es gibt einen fast religiösen Streit darüber, wie man die – experimentell gut bestätigten – Resultate der Theorie interpretieren soll (siehe Kapitel 14).

Wie schon der mathematische Vorgänger, so enthält auch der Physikverführer Formeln. Ich glaube immer noch, dass eine gute mathematische und physikalische Formel einen Zusammenhang besser auf den Punkt bringt als ein blumiger Satz. Andererseits weiß ich, dass man Formeln nicht lesen kann wie einen unterhaltsamen Text, dass man Muße dazu braucht und manchmal sogar Papier und Bleistift zum Nachrechnen. Deshalb habe ich die Abschnitte, in denen gerechnet wird, noch deutlicher kenntlich gemacht. Sie können Sie überschlagen oder für später aufheben und trotzdem den Gedankengang des Kapitels verstehen. Absolut verzichtbar sind sie nicht – sonst hätte ich ja drauf verzichtet!

Der Physikverführer ist kein Lehrbuch und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er soll dem Leser einige physikalische Begriffe anhand von amüsanten Geschichten vermitteln oder wieder ins Gedächtnis zurückrufen, und wenn Sie einen Bereich vermissen, dann liegt es wahrscheinlich daran, dass mir dazu keine amüsante Geschichte eingefallen ist oder das Buch schon voll war. Ich muss ja kein Curriculum abarbeiten, sondern freue mich, wenn ich bei dem einen oder anderen genug Spaß und Neugier auslöse, dass er die Lücken auf eigene Faust stopfen kann.

Danken möchte ich an dieser Stelle meiner Agentin Heike Wilhelmi und meinem Lektor Frank Strickstrock bei Rowohlt; Bernd Schuh und Max Rauner für das Gegenlesen des Manuskripts und einige wichtige physikalische Hinweise; Rüdiger Dammann von Booklett, der die Idee zum Mathematikverführer hatte, ohne den es keinen Physikverführer gäbe. Und meinem Sohn Lukas Engelhardt für die Überarbeitung der Grafiken in diesem Buch.

Hamburg, im Oktober 2010

Christoph Drösser

2Die letzte Abfahrt

oder

Wieso Dicke schneller rutschen

Es ist ein großer Moment im Leben jedes Jungen, wenn er zum ersten Mal seinem Vater davonläuft. Endlich schneller! Ein Moment des Triumphs – nicht weil man den anderen besiegt hat, sondern weil dieser Sieg einen Übergang bedeutet, den Übergang von der Kindheit in eine Zeit, in der man jedenfalls körperlich für voll genommen wird.

Es ist ein sehr zwiespältiger Moment im Leben eines Mannes, wenn ihm zum ersten Mal der eigene Sohn davonläuft. Es ist nicht das Gefühl, ein Rennen verloren zu haben, schließlich gönnt man dem eigenen Nachwuchs alles, und das bedingungslos. Nein, aber diese Niederlage ist eine unumkehrbare – der Sohn wird auch jedes folgende Rennen gewinnen, und der Abstand wird wachsen. Auch für den Erwachsenen ist es ein Moment des Übergangs.

Diese Gedanken gehen Stefan Putzer durch den Kopf, als er am Abend zusammen mit seinem Sohn Marcel im Restaurant «Zur Sennerin» im österreichischen Skiort Sölden eine große Portion Kaiserschmarrn verspeist. Der Tag auf der Skipiste ist für beide anstrengend gewesen, beide werden von einem gehörigen Muskelkater geplagt, aber Stefan Putzer plagt zusätzlich noch die Einsicht: Sein Sohn fährt besser Ski als er, zumindest schneller.

Seit zwölf Jahren nun fahren Vater und Sohn schon gemeinsam zum Skilaufen. Einmal pro Jahr geht es für eine Woche vom Norddeutschen Tiefland in die Berge der Alpen, nach Österreich, nach Südtirol oder in die Schweiz. Putzer erinnert sich noch, wie er Marcel den ersten Schneepflug beibrachte, wie er mit dem Kind zwischen den Beinen den Hang hinunterkurvte.

Schon im dritten Skiurlaub war dem Kind das Fahren mit dem Vater zu langweilig geworden, es jagte lieber mit seinesgleichen die Pisten hinunter. Der Vater ging es zunehmend ruhig an, aber wenn man dann bei der letzten Abfahrt des Tages zusammen hinunter ins Tal fuhr, ließ er doch gern auf den steilen Stücken noch einmal sein Können aufblitzen. Schließlich musste doch klar sein, wer hier das erfahrenere Ski-Ass war.

Aber heute war es nichts gewesen mit dem Aufblitzen-Lassen. Marcel fuhr ihm auf der letzten Abfahrt einfach auf und davon. «Hey, fahr nicht so riskant!», rief ihm Stefan Putzer noch hinterher – aber er wusste, dass es gar nicht an Marcels Wagemut lag. Äußerst sicher und elegant stob der 16-Jährige die Piste hinunter, während der 45-Jährige bisweilen das Gefühl hatte, an seine Grenzen zu kommen.

«Was für eine Abfahrt!», schwärmt Marcel, noch immer berauscht von der Geschwindigkeit – und natürlich auch von der Tatsache, dass er als Erster an der Talstation angekommen ist. «Perfekter Schnee, super Wetter – so macht das Skifahren Spaß!»

«Genau», pflichtet der Vater ihm bei. Klang es auch begeistert genug? Putzer hofft es.

«Und morgen fahren wir ein kleines Rennen, abgemacht?», fordert ihn Marcel heraus. «Auf dem Slalomkurs, wo man für einen Euro die Zeit nehmen lassen kann, okay?»

«Abgemacht», sagt der Vater. «Ich zahle. Und der Verlierer gibt dem Gewinner einen Jagatee aus.»

«Den hab ich schon mal sicher», lacht Marcel. Der Vater lächelt nur.

In der Nacht schneit es, und am nächsten Tag ist das Wetter wieder so, wie es sich ein Skifahrer wünscht: blauer Himmel, frischer Pulverschnee, gutpräparierte Pisten. Die beiden fahren den ganzen Tag zusammen, machen nur eine kurze Mittagspause, und am Nachmittag geht es dann auf den Slalomparcours, der für die Touristen abgesteckt worden ist.

Und natürlich kommt es so, wie es beide vorhergesehen hatten: Stefan Putzer hat gegen seinen Sohn keine Chance. Die zwölf Lehrjahre machen sich bezahlt, behände schwingt der Sohn um die Slalomstangen herum und ist gut zwei Sekunden schneller unten als der Vater, der noch dazu im Ziel heftig keucht. Auch eine Wiederholung ändert nichts an der Wahrheit: Marcel hat seinen Vater endgültig abgehängt.

«So, damit wäre die Frage beantwortet, wer hier der bessere Skifahrer ist», sagt Marcel mit einer Spur zu viel Überheblichkeit in der Stimme. «Lass uns schnell runter ins Tal, ich möchte meinen Gewinn kassieren!»

«Du hast ja recht», antwortet der Vater, immer noch ein bisschen außer Atem. «Aber diesen Unterton kannst du dir sparen!» In seiner Stimme liegt eine Spur zu viel Nicht-verlieren-Können. «Aber lass uns nicht die schwarze Abfahrt nehmen, ich bin nach dem Tag doch ein bisschen groggy. Ich schlage vor, wir nehmen die langgezogene Schussfahrt durch den Wald!»

«Klar, können wir machen», antwortet sein Sohn. «Und, fahren wir das wieder als Rennen?»

In diesem Moment fährt ein Gedanke durch Stefan Putzers Kopf. Ein Gedanke, der von einem spielerischen Gefühl der Revanche begleitet ist. Putzer ist Physiklehrer, und der Physiker in ihm wittert hier eine letzte Chance, seine heutige Niederlage noch in einen Sieg zu wenden.

«Einverstanden, aber wir fahren nach folgenden Regeln: Wir stellen uns oben nebeneinander hin und lassen uns einfach den Hang runtergleiten – ohne Anschieben, ohne Hilfsschritte. Und wer zuerst unten ankommt, der hat nicht nur das Rennen gewonnen, sondern den ganzen Tag.»

«Alles oder nichts, was?», lacht der Sohn. «Und mit Können oder gar Sport hat das dann ja überhaupt nichts mehr zu tun, wir lassen uns einfach nur von der Schwerkraft ins Tal ziehen.» Dann denkt er kurz nach. «Also du verstehst mehr von Physik als ich, aber wir haben vor zwei Jahren die schiefe Ebene in der Schule durchgenommen. Und da kam heraus, dass auf der alles ähnlich passiert wie im freien Fall – alle Körper rutschen oder rollen gleich schnell ins Tal, vorausgesetzt, die Reibung ist dieselbe. Da wir die gleichen Skier haben, sollte das so sein, also müsste ein Dicker wie du genau gleichzeitig mit einem Dünnen wie mir unten ankommen!»

«Wenn du meinst», sagt der Vater und kann ein leichtes Grinsen nicht vermeiden. «Und das mit dem Dicken möchte ich überhört haben. Ich bin größer als du und ein bisschen kräftiger gebaut. Lass es uns ausprobieren!»

Die beiden stellen sich Skispitze an Skispitze am Beginn der langgezogenen Piste auf und stützen sich mit den Skistöcken ab. Auf «Los!» nehmen sie die Stöcke hoch, die Skier setzen sich fast grotesk langsam in Bewegung. Aber schon nach ein paar Metern nehmen Vater und Sohn Fahrt auf. Die Piste ist blau gekennzeichnet, sie wird nie so steil, dass ein geübter Skifahrer gezwungen wäre, Schwünge zu machen – man kann die Ski einfach «laufen lassen», ohne die Kontrolle zu verlieren.

Und schon nach wenigen hundert Metern muss Marcel einsehen, dass sein Vater zwar nicht mehr der bessere Skifahrer ist, aber immer noch der bessere Physiker: Zentimeter für Zentimeter schiebt sich der Alte an ihm vorbei, nach der Hälfte der zwei Kilometer langen Strecke hat er schon einen Vorsprung von zehn Metern. Marcel geht in die Hocke, aber das tut Stefan Putzer auch.