7,99 €
Ein wildfremdes Land voller phantastischer Kreaturen entdecken! Die Junior-Forscher Stella, Beanie, Shay und Ethan dürfen endlich ihre erste Expedition mit dem legendären Polarbären-Entdeckerclub antreten. Doch als eine Eisbrücke unter ihnen einstürzt, werden sie von der Gruppe getrennt und sind plötzlich in Eis und Schnee auf sich allein gestellt. Wie sollen die abenteuerlustige Schneewaise Stella, der ängstliche Halbelf Beanie, der mysteriöse Wolfsflüsterer Shay und der hochnäsige Ethan aus dem verfeindeten Meereskraken-Club das nur überstehen – wo doch gruselige Frostelfen, gesetzlose Schneeräuber und fleischfressende Kohlköpfe hinter jeder Eisscholle lauern? Den Kindern bleibt nichts anderes übrig, als sich zusammenzuraufen sich und den Gefahren zu stellen. Denn so unterschiedlich sie auch sind: Dass sie einander brauchen, wird ihre größte Stärke sein! Band 1 des großen phantastischen Abenteuers voller wundersamer Welten und magischer Entdeckungen! Mit zahlreichen Illustrationen von Iacopo Bruno Bei Antolin gelistet Alle Bände der Serie: »Der Polarbären-Entdeckerclub. Reise ins Eisland« (Band 1) »Der Polarbären-Entdeckerclub. Insel der Hexen« (Band 2)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2018
Alex Bell
Der Polarbären-Entdeckerclub
Reise ins Eisland
Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt
Mit Illustrationen von Iacopo Bruno
FISCHER E-Books
Für meinen Seelengefährten,
Neil Dayus
Sie hatten sich blitzschnell in eine Vertrautheit begeben, aus der sie nicht wieder auftauchten.
F. Scott Fitzgerald, Diesseits vom Paradies
Stella Starflake Pearl wischte Eisblumen vom Turmfenster und blickte finster in den Schnee hinaus. Eigentlich hätte sie bester Laune sein müssen, denn morgen hatte sie Geburtstag. Und noch toller als Geburtstage fand sie eigentlich nur Einhörner. Trotzdem wollte sich die Vorfreude nicht recht einstellen. Schuld daran war Felix, der sich weiter hartnäckig weigerte, Stella auf seine Expedition mitzunehmen. Sosehr Stella auch gebettelt und gefleht, geschmeichelt, gedroht und getobt hatte – alles vergeblich. Ihr wurde ganz übel bei der Vorstellung, wieder bei Tante Agatha zurückgelassen zu werden. Die konnte nämlich gar nicht gut mit Kindern umgehen und war auch oft sehr verwirrt im Kopf. Einmal hatte sie Stella zum Beispiel einen Kohlkopf als Schulimbiss mitgegeben. Nicht etwa Schokodinos, Marshmallows oder irgendwas anderes Leckeres – nein, einzig und allein einen idiotischen nutzlosen Kohlkopf. Doch damit nicht genug: Tante Agatha wuchsen auch noch Haare aus der Nase. Und Stella konnte nicht anders, als wie gebannt darauf zu starren, wenn sie der Tante gegenüberstand.
Schon als Stella noch klein gewesen war, hatte sie davon geträumt, Entdeckerin zu werden – oder, genauer gesagt, Seefahrerin. Sie tat kaum etwas lieber, als Landkarten und Weltkugeln zu studieren, und ein Kompass war für sie das Wunderbarste auf der Welt. Nur Einhörner fand sie, wie gesagt, noch wunderbarer.
Und überhaupt: Wenn sie nicht dazu bestimmt war, Entdeckerin zu werden – weshalb hatten die Feen ihr dann einen zweiten Vornamen gegeben? Jeder wusste doch, dass nur Entdecker drei Namen besaßen. Von Felix hatte sie ihren Nachnamen bekommen, Pearl, aber da ihm kein vernünftiger Vorname eingefallen war, hatte er die Feen um Rat gefragt. Was vermutlich ein Glücksfall gewesen war, denn Felix hatte eine ausgeprägte Vorliebe für sehr sonderbare Namen wie Mildred, Wilhelmina oder Barbaretta. Die Feen hatten sich schließlich für zwei Namen entschieden: Stella und Starflake, was Sternflocke hieß und ganz sicher bedeutete, dass Stella dazu bestimmt war, Entdeckerin zu werden.
Jetzt hockte sie sich auf die kleine Bank im Turmfenster, zog die Beine an und legte das Kinn auf die Knie. Es wurde allmählich dunkel draußen, und Felix würde bestimmt bald nach ihr suchen, um ihr das Dämmerungsgeschenk zu überreichen. Das war ein alter Brauch bei ihnen beiden: Am Vorabend ihres Geburtstags durfte Stella bereits ein Geschenk aufmachen. Doch heute war sie so wütend und enttäuscht, dass sie nicht mal Lust auf Geschenke hatte. Deshalb hatte sie sich ins Türmchen verkrochen. Wenn sie sich auf der Sitzbank zusammenkauerte, konnte sie vom Korridor aus nicht gesehen werden.
Es war nur etwas unpraktisch, dass Gruff sich auch mit Vorliebe im Türmchen aufhielt. Weshalb er dann prompt angetapert kam und seine Nase in ihre Taschen steckte, um dort vielleicht Kekse aufzustöbern. Mrs Sap, die Haushälterin, war alles andere als begeistert gewesen, als Felix eines Tages ein verwaistes Eisbärenkind mitgebracht hatte. Doch Gruff, der kleine Bär, wäre sonst gestorben. Er hatte seine Eltern verloren und hätte überdies mit seiner verkrüppelten Pfote niemals in freier Natur überleben können. Stella fand es großartig, einen Eisbären im Haus zu haben, auch wenn Gruff sie beim Kuscheln manchmal fast erdrückte. Eisbären sind nämlich auch schon als Jungtiere erstaunlich riesig.
Stella kramte einen Fischkeks aus ihrer Tasche und hielt ihn Gruff hin. Ganz behutsam nahm der Eisbär ihn zwischen die Zähne und zermalmte ihn dann glücklich. Dabei bekam Stella einen Regen aus Krümeln und Eisbärensabber ab. Das machte ihr aber nichts aus, denn daran war sie gewöhnt. Doch leider hatte Gruff nun ihr Versteck verraten, und so wurde sie kurz darauf von Felix entdeckt.
»Ah, hier bist du«, sagte er und trat zu ihr. »Ich hab überall nach dir gesucht.« Stella schaute auf und betrachtete Felix’ Gesicht. Für sie war es das liebste Gesicht auf der Welt – das erste, das sie zu Beginn ihres Lebens gesehen hatte. Denn wie Gruff war auch Stella eine Schneewaise. Hätte Felix sie nicht als Baby gefunden, wäre sie wohl in Schnee und Eis gestorben, einsam und alleine. Stella war bislang nie jemandem begegnet, der wie sie aussah: schneeweiße Haare, perlweiße Haut, Augen, so klar und blau wie Eissplitter. Die meisten Menschen, die sie kannte, hatten rosafarbene Haut, aber Stellas Haut war von Kopf bis Fuß weiß wie eine Perle. Was sie immer schon gestört hatte – vor allem, weil sie ihrem Adoptivvater kein bisschen ähnlich sah.
Felix war weder besonders gutaussehend noch vornehm, und er trug auch keinen Schnauzbart oder Koteletten, wie das zurzeit in Mode war. Hauptsächlich deshalb, weil Felix fand, es gäbe einhundertvierunddreißig spannendere Arten, seine Zeit zu verbringen, als sich um die Pflege von Gesichtsbehaarung zu kümmern. Zu diesen einhundertvierunddreißig interessanten Beschäftigungen zählte auch, Listen von spannenden Tätigkeiten zu erstellen.
Felix’ Nase war ein bisschen krumm, aber Stella liebte die Lachfältchen, sein goldbraunes Haar, das meist ein wenig zu lang war und sich am Kragen kringelte – und seinen Mund, der immerzu lächeln wollte. Für düsteres Stirnrunzeln hatte Felix gar nichts übrig. Damit verschwende man nur gute Muskelkraft, fand er.
Stella hielt Felix für einen ganz besonderen Menschen. Dass er Feenforscher war, trug natürlich auch dazu bei. Feen sprachen äußerst selten mit Menschen, aber Felix schätzten sie sehr. Wenn er in den Sommermonaten aus dem Haus ging, hockte so gut wie immer eine Fee auf seiner Hutkrempe oder seiner Schulter und säuselte ihm etwas ins Ohr. Deshalb war es Stella völlig einerlei, ob Felix mit ungekämmten Haaren, zweierlei Socken oder falsch geknöpftem Hemd herumlief. Außerdem konnte er Hochrad fahren, beherrschte Zaubertricks mit Spielkarten und faltete zauberhafte kleine Vögel aus Papier – so jemand konnte ja nur Stellas Lieblingsmensch sein!
»Zeit fürs Dämmerungsgeschenk«, verkündete er jetzt und hielt eine weiße Schachtel mit einer etwas schiefen rosa Schleife hoch.
Stella musste sich sehr anstrengen, um den Satz hervorzubringen, doch es gelang ihr. »Ich will es nicht«, sagte sie und starrte dann zum Fenster hinaus.
»Nun, das kann ich kaum glauben«, erwiderte Felix und versuchte Gruff beiseitezuschieben, der jetzt neben dem Fenstersitz auf dem Boden lag. Aber einen Eisbären dazu zu bringen, sich zu bewegen, ist etwa so, als versuche man einen Berg zu versetzen. Deshalb kletterte Felix schließlich über Gruff hinweg und ließ sich auf dem Fenstersitz gegenüber von Stella nieder.
»Ich würde dich doch sofort mitnehmen«, sagte Felix, »wenn Mädchen bei Expeditionen zugelassen wären.«
»Es ist total ungerecht, dass Mädchen nicht Entdecker werden können!«, gab Stella zurück. »Gemein und total idiotisch ist das!«
Sie zitterte am ganzen Körper vor Wut über so viel Ungerechtigkeit. Seit jeher hatte Stella Felix’ Berichten gelauscht, wenn er von seinen Expeditionen zurückkehrte, und diese Geschichten immer geliebt. Aber irgendwann will ein Mädchen schließlich auch eigene Abenteuer erleben, anstatt sich immer nur die von anderen anzuhören.
Viele Entdecker nahmen ihre Söhne zu ihren Forschungsreisen mit. Sogar Stellas Freund Beanie durfte bei dieser nächsten Expedition seinen Onkel begleiten, den berühmten Insektenforscher Benedict Boscombe Smith. Beanie war so alt wie Stella, aber ein halber Elf und deshalb ganz anders als die Kinder an der Schule. Er konnte alles Mögliche nicht ausstehen, darunter dämliches Gequassel, bissige Bemerkungen, Händeschütteln, Umarmungen und Haareschneiden. Beanie verabscheute alles, was mit körperlicher Berührung verbunden war.
»Du hast vollkommen recht«, erwiderte Felix. »Es ist nicht gerecht und idiotisch. Eines Tages wird sich das auch sicher ändern. Doch leider wandelt sich die Welt oft nicht so schnell, wie wir uns das wünschen.«
Stella starrte jetzt angestrengt nach draußen auf den Schnee, um Felix nicht in die Augen schauen zu müssen. »Ich dachte, Regeln sind dir egal«, sagte sie schließlich und nagte an ihrer Lippe.
Tatsächlich hatte Felix immer behauptet, es sei okay, gegen Regeln zu verstoßen; bei manchen sollte man das sogar regelmäßig tun, weil es gut sei für die Gesundheit. Als Tante Agatha erklärt hatte, sie bräuchten unbedingt eine Frau im Haus, damit Stella eine anständige Erziehung bekäme, hatte Felix sich immer dafür eingesetzt, dass Stella dennoch auf ihrem Einhorn übers Gelände galoppieren, in der Bibliothek ein Fort aus Büchern bauen oder Luftballontiere knoten durfte, anstatt sich mit nervtötender Stickerei herumplagen zu müssen.
»Es gibt jedoch Regeln, gegen die man niemals verstoßen darf«, hatte Felix stets betont. »Zum Beispiel, dass man lieb und gütig sein und andere so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte. Aber ob man nun für wunderlich gehalten wird, weil man anders ist als andere – das spielt keine große Rolle im Weltenplan.«
»Es würde ja niemandem schaden, wenn ich an der Expedition teilnehmen würde, nicht wahr?«, brachte Stella vor, um sich Felix’ eigene Gedanken zunutze zu machen. »Und wenn andere Leute es komisch finden, dass ein Mädchen bei einer Expedition dabei ist, ist das doch deren Problem, nicht meines.«
Felix seufzte und legte das Geschenk auf die Sitzbank zwischen ihnen. »Mein Liebes, ich wünschte, es wäre so einfach. Aber ich bin nicht verantwortlich für die Regeln im Polarbären-Entdeckerclub.« Er schob das Geschenk ein wenig näher zu Stella. »Komm, mach es doch mal auf. Lass das nicht deinen Geburtstag verderben.«
»Tu es weg, ich will es nicht«, entgegnete Stella kalt. Doch sobald sie das ausgesprochen hatte, kam sie sich abscheulich vor, weil sie so schroff gewesen war. Und weil sie es auch gar nicht ertragen konnte, auf Felix wütend zu sein, spürte sie jetzt ein fieses Stechen im Bauch.
»Tut mir leid«, platzte sie heraus. »Das war gemein.«
Felix nahm das Geschenk und drückte es ihr in die Hände. »Mach es auf«, wiederholte er. »Wird sonst zu stickig darin für die armen Kleinen.«
Das machte Stella nun doch neugierig. Sie zog die Schleife auf, nahm den Deckel der Schachtel ab und blickte verblüfft auf ein kleines Iglu inmitten von rosa Seidenpapier. Mit einem Begeisterungsruf nahm sie das Iglu heraus und spürte dabei, dass jeder der kleinen Quader aus echtem Eis bestand. Raureif glitzerte auf dem runden Dach wie zahllose winzige Brillanten.
»Es ist verzaubert«, erklärte Felix. »Deshalb schmilzt es nicht. Ich hab es bei einem Magier erstanden, dem ich bei meinen Reisen durch Snuffleville begegnet bin. Schau mal rein.«
Stella hob das Iglu hoch und spähte durch die halbrunde Öffnung. Ihr stockte fast der Atem vor Freude, als sie eine Familie winziger Pinguine erblickte, die vergnügt auf einer Eisfläche umherschlitterten.
»Das sind Polartierchen«, erklärte Felix. »Weil sie verzaubert sind, müssen sie nicht gefüttert oder anderweitig betreut werden. Der Zauberer meinte allerdings, sie mögen es, wenn man ihnen ab und zu etwas vorsingt. Es gab auch noch ein Iglu mit Eisbären und eines mit Seehunden, aber ich dachte mir, die Pinguine gefallen dir bestimmt am besten.«
»Wie süß sie sind!«, rief Stella aus.
»Es hätte sogar ein Iglu mit winzigen Schneekobolden gegeben, aber davor bin ich doch zurückgeschreckt. War mir nicht klar, was man mit denen anfangen soll. Als ich reingeschaut habe, haben sie grade versucht, sich gegenseitig mit Ästen die Augen auszustechen. Ziemlich gewalttätige Burschen.«
»So was hätte mir bestimmt Tante Agatha geschenkt«, murmelte Stella, die beim Gedanken an die Tante gleich wieder vom Trübsinn übermannt wurde.
Stella war begeistert von den niedlichen Pinguinen in ihrem winzigen Iglu. Auch die anderen Kuriositäten, Schätze und hübschen Kleinigkeiten, die Felix ihr von seinen Reisen mitgebracht hatte, hatte sie immer wunderschön gefunden. Doch ihr sehnlichster Wunsch war, ihre eigenen Kleinode und Wunderdinge zu entdecken und mit nach Hause bringen zu können. Nichts wünschte sie sich so sehr wie ein eigenes Studierzimmer mit Land- und Seekarten an den Wänden, in dem sie sich nach Lust und Laune stundenlang aufhalten konnte. Sie würde dann dort ihre Kostbarkeiten bewundern, Packlisten erstellen und ihre Reisen in wildfremde, geheimnisvolle Länder am anderen Ende der Welt planen.
»Deine Tante tut, was sie kann«, sagte Felix. »Sie ist eben nur … nun ja, sie findet uns eben ein wenig sonderbar. Aber sie mag dich …« Jetzt runzelte Felix tatsächlich leicht die Stirn und blickte aus dem Fenster. »… auf ihre eigene Art«, vollendete er dann den Satz.
Davon war Stella keineswegs überzeugt. Felix stellte sie überall als seine Tochter vor, und sie wusste, dass er sie liebte wie ein leiblicher Vater, obwohl sie nur ein verwaistes Findelkind war, das er im Schnee entdeckt hatte. Tante Agatha jedoch betrachtete Stella immer mit dem gleichen abfälligen Blick, mit dem sie Gruff ansah, wenn er einen seiner langen, lauten Fischkeksrülpser von sich gab.
Aber weil Stella nicht weiter mit Felix herumzanken wollte, gab sie ihm einen Gutenachtkuss, kraxelte über Gruff hinweg und ging in ihr Zimmer. Sie stellte das kleine Iglu auf den Nachttisch, zog sich um und schlüpfte ins Bett. Dann lag sie da und schaute zum Mobile hinauf, das sich langsam über ihr an der Decke drehte. Auch wenn sie eigentlich schon zu groß für solches Spielzeug war, ihr Mobile liebte sie. Felix hatte es für sie gebastelt, als sie noch ganz klein gewesen war, damit sie sich hier zu Hause fühlte. Und damit sie nicht vergaß, wo sie herkam, hingen daran winzige zottige Yetis, schneeweiße Einhörner, mächtige wollige Mammuts und silbrig glitzernde Sterne. Sogar furchterregende Schneemänner und Yaks hatte Felix aus Ton, Perlen, Wolle und funkelnden Glassteinchen erschaffen.
An ihr Leben, bevor Felix sie gefunden hatte, hatte Stella keine Erinnerung. Zwar träumte sie manchmal, wie sie als kleines Mädchen auf einem Bett saß und mit einem wunderschönen Diadem spielte, auf dem Kristalle, Diamantsplitter und Juwelen, so weiß wie Eis, glitzerten. Doch immer wieder verschwamm das Bild, und plötzlich war sie draußen in der Kälte, sah rote Blutstropfen im Schnee …
Stella ahnte zwar, dass sie wohl niemals erfahren würde, was aus ihren wahren Eltern geworden war. Doch die eisige Wildnis war einst ihr Zuhause gewesen, und sie wollte dieses Land mit eigenen Augen sehen. Und wenn Felix mit seiner Expedition als erster Entdecker den Kältepol des Eislands erforschen würde, wollte Stella unbedingt mit dabei sein. Ihr fehlte nur noch eine zündende Idee, wie sie Felix überreden konnte.
Sie seufzte, drehte sich auf die Seite, kuschelte sich unter ihre Decke und schlummerte ein, während die Pinguine in dem kleinen Iglu fröhlich vor sich hin posaunten.
Am nächsten Morgen schien die Sonne durchs Fenster und wärmte Stellas Zehen, die unter der Bettdecke herausragten. Stella setzte sich auf und versuchte herauszufinden, ob sie sich anders fühlte, weil sie zwölf Jahre alt geworden war. Eigentlich wusste sie ihr wahres Alter nicht genau, aber Felix glaubte, dass sie etwa zwei gewesen war, als er sie gefunden hatte. Da er meinte, jeder Mensch müsse einmal im Jahr Geburtstag feiern (noch besser zweimal), hatte Felix den Tag, an dem er Stella gefunden hatte, zu ihrem offiziellen Geburtstag erklärt.
Plötzlich hörte Stella ein gedämpftes Tröten aus dem Mini-Iglu neben sich. Sie griff danach und spähte hinein. Offenbar feierte auch einer der Pinguine Geburtstag, denn alle trugen bunte Hütchen und pusteten in Luftrüssel, und auf einer fischförmigen Torte flackerten farbige Kerzen. Das Geburtstagskind – ob es Junge oder Mädchen war, ließ sich bei Pinguinen schwer erkennen – klatschte begeistert mit den Flossen und trompetete aufgeregt herum. Stella erinnerte sich an Felix’ Worte und sang Happy Birthday, worauf die Pinguine aufgekratzt auf dem Eis umherwatschelten, was wegen ihrer großen Füße lustig platschte. Stella lächelte und stellte das Iglu auf den Nachttisch zurück.
Sie zwang sich dazu, die Gedanken an Felix’ baldige Abreise und die Gefangenschaft bei Tante Agatha aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Damit wollte sie sich nun wirklich nicht ihren Geburtstag ruinieren. Man wird schließlich nur einmal im Leben zwölf.
Stella schlüpfte in ihr Lieblingskleid für ganz besondere Anlässe. Es war taubenblau und hatte polarbärenförmige weiße Knöpfe und einen wundervollen Petticoat, der sich herrlich aufbauschte, wenn Stella sich im Kreis drehte. Sie kam sich darin immer vor wie eine der Zuckerfeen, die sie manchmal um Mitternacht im Garten tanzen sah.
Dann band Stella ihr weißes Haar mit einer blauen Schleife zusammen und spazierte die breite Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Wie die meisten Entdecker war Felix sehr wohlhabend. In ihrem großen Anwesen gab es mehrere Speisezimmer und Küchen und jede Menge Köche und Bedienstete. Waren andere Entdecker zu Gast – was häufig vorkam, wenn neue Expeditionen geplant wurden –, nahm man das Frühstück im Salon ein. Doch waren Felix und Stella alleine, dann frühstückten sie in der Orangerie. Felix nannte den großen Wintergarten noch immer so, obwohl dort längst etwas ganz anderes untergebracht war als Orangenbäume. Als Stella durch die Tür trat, war sie sofort von warmer Luft umgeben, die noch immer leicht nach Orangen duftete. Weil Wände und Dach aus Glas bestanden, war die Orangerie der wärmste Teil des Anwesens und hatte damit genau das richtige Klima für die Pygmäendinosaurier. Manche Leute nannten sie auch Feendinos, weil sie so klein waren – sogar der Tyrannosaurus Rex, Stellas Lieblingsdinosaurier, war nicht größer als ein Kätzchen. Er hieß Buster und kam sofort angerannt, als Stella den Wintergarten betrat. Stella nahm ihn hoch und strich ihm sachte über den schuppigen Kopf, worauf er sich wohlig räkelte und mit seinen Vorderkrallen ihren Daumen umklammerte.
Felix hatte die Pygmäendinos bei einer Reise zu den Gewürzinseln des tropischen Südens entdeckt und erforschte sie seit geraumer Zeit. Das hatte sich herumgesprochen, und wenn jemand einen kranken oder verletzten Pygmäendino fand, fragte man sofort Felix, ob er ihn aufnehmen wolle. Und Felix sagte nie nein, so dass nun in der Orangerie Dutzende kleiner Dinosaurier lebten.
»Ah, da ist ja das Geburtstagskind!«, rief Felix vom Tisch herüber, der in der Mitte des Wintergartens stand. »Komm, es gibt Frühstück!«
Stella freute sich riesig, als sie den großen Eisbecher mit bunten Streuseln, Karamellstäbchen und flüssiger Schokoladensoße sah, der sie erwartete. Und sie staunte begeistert über die zahllosen Einhörner, die Felix aus Luftballons geknotet und an den Häuschen der Pterodactylen aufgehängt hatte. Dann und wann kam einer dieser Flugsaurier angeschwebt, beäugte verwirrt die rosa Einhörner und flatterte dann hastig davon.
Stella setzte sich an den Tisch und gab Buster, der auf ihrem Schoß hockte, ein Karamellstäbchen, das er sofort gierig verschlang. Dann machte sich Stella über das Eis her, bevor es zu schmelzen begann. Alles war prima, bis sie ein Klopfen hörten. Als sie sich umdrehten, sahen sie draußen Tante Agatha stehen, die mit grimmigem Gesicht hereinstarrte.
»Ich dachte, sie sollte mich erst heute Nachmittag abholen«, sagte Stella, der dieser Anblick augenblicklich die Laune verdorben hatte, und sah Felix vorwurfsvoll an.
»Ja, so war es auch geplant. Sie muss einen früheren Zug genommen haben.« Felix seufzte. »Aber jetzt, wo sie uns schon gesehen hat, können wir uns auch nicht mehr verstecken.« Also winkte er Agatha zu und rief: »Komm rein, die Tür ist offen!«
Stella widmete sich dem Eisbecher, während ihre Tante draußen auf die Tür zusteuerte. Kurz darauf kam Agatha hereingestapft. Sie trug ein violettes Kostüm und einen breitkrempigen violetten Filzhut mit Feder. Tante Agatha war sehr stämmig, und Stella fand, dass sie wie ein dicker violetter Frosch aussah – einer von der Sorte, die man lieber nicht küssen sollte, weil sie bestimmt giftig war.
»Schön, dich zu sehen, Agatha«, sagte Felix höflich, stand auf und rückte einen Stuhl zurecht. »Möchtest du auch etwas Eis?«
»Eis?«, wiederholte Tante Agatha so entsetzt, als habe Felix ihr geschnetzelte Tintenfischlippen angeboten.
»Zum Frühstück?«, fuhr sie fort. »Also wirklich, Felix! Das ist doch unerhört!«
»Stella hat Geburtstag«, erwiderte Felix lediglich und setzte sich wieder.
»Ach ja, richtig. Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe«, sagte Agatha, die Stella vorher keinerlei Beachtung geschenkt hatte.
»Danke, Tante Agatha«, erwiderte Stella artig.
Ihre Tante pflanzte sich auf den Stuhl und umklammerte dabei ihre Handtasche, als wolle jemand sie ihr wegreißen. Dann blickte sie finster auf den Tisch. »Felix, weshalb um alles in der Welt sitzt ein Dinosaurier in dieser Müslischale?«
»Das ist Mildred«, antwortete Felix ungerührt. »Sie ist ein Diplodocus.«
Das Dinomädchen saß in der Tat in einer Schale neben Felix’ Ellbogen, halb untergetaucht in Milch.
»Ich habe mich nicht danach erkundigt, was für ein Dinosaurier das ist, sondern weshalb er in der Schale sitzt«, entgegnete Tante Agatha mit einem tiefen Seufzer.
»Sie hat einen Ausschlag«, erklärte Felix, »den ich mit Milch und Fruitloops behandle. Bislang funktioniert das prima. Bist du ganz sicher, dass ich dich nicht für ein bisschen Eis begeistern kann? Sonst gönn dir doch wenigstens ein Karamellstäbchen.«
»Es ist ausgesprochen unhygienisch, in diesem Raum zu essen, wo überall Dinosaurier herumrennen«, zeterte Tante Agatha. »Und außerdem ist es viel zu warm hier drin.« Sie kramte einen monströs großen Fächer aus ihrer Tasche hervor und begann sich damit dramatisch Luft zuzufächeln.
Stella kratzte den letzten Rest Eis aus dem Becher und hielt Buster den Löffel zum Ablecken hin, bevor sie den kleinen T-Rex auf den Boden setzte. Wo er unseligerweise auf der Stelle zu Tante Agatha flitzte und seine Zähne in ihren Schnürsenkeln versenkte. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und wollte mit dem Fächer auf ihn einschlagen, aber Felix hielt sofort schützend die Hand über Buster.
»Nur die Ruhe«, sagte er, nahm den Pygmäendino hoch und setzte ihn auf sein Bein. Der kleine T-Rex starrte Agatha nun drohend an. Das konnte er besonders gut. Stella wollte gerade fragen, ob sie vielleicht aufstehen dürfe, denn sie wollte viel lieber bei ihrem Einhorn im Stall sein (oder überhaupt irgendwo anders), als mit ihrer miesepetrigen Tante hier herumzusitzen. Im selben Moment sagte Agatha zu ihr: »Stella, meine Liebe, geh doch eine Weile draußen spielen. Ich habe einiges mit meinem Bruder unter vier Augen zu besprechen.«
Tante Agatha sagte immer »mein Bruder«, niemals »dein Vater«, wenn sie von Felix sprach. Stella zuckte die Achseln und hopste von ihrem Stuhl, als sei es ihr einerlei und als habe sie ohnehin viel Wichtigeres zu tun. Doch dass die Tante mit Felix »unter vier Augen« sprechen wollte, konnte nur bedeuten, dass sie vorhatte, über Stella zu reden. Und wie jedes schlaue Kind hatte Stella die feste Absicht zu lauschen, wenn man sie zum Gesprächsthema machte.
Deshalb lief sie rasch ins Haus zurück, holte ihren Umhang und flitzte nach draußen zum Marshmallowstrauch neben der Orangerie. Der Strauch war nicht sehr groß, doch wenn Stella ihren Petticoat zusammenraffte und sich reglos in den Schnee duckte, würde man sie nicht sehen können. Sie hingegen konnte zwischen den Blättern und den weichen rosa Marshmallows Tante Agatha und Felix genau erkennen und deutlich jedes Wort hören, das gesprochen wurde.
»Also wirklich, Felix, das geht nun eindeutig zu weit!«, empörte sich Tante Agatha. »Fledermäuse im Belfried, Dinosaurier in der Orangerie, Feen im Kaminholz … ich meine, wo soll das alles noch hinführen?«
»Agatha, bitte«, entgegnete Felix. »Wir haben keine Fledermäuse im Belfried. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht einmal, was ein Belfried ist, bin aber sicher, dass wir hier keinen haben. Die Fledermäuse sind im Rauchsalon. Früher haben sie sich gerne in der Bibliothek aufgehalten, aber seit diesem Zwischenfall mit den Bücherwürmern bevorzugen –«
»Ach, die Fledermäuse sind mir doch völlig einerlei!«, unterbrach ihn die Tante ungeduldig – was Stella ausgesprochen unhöflich fand angesichts der Tatsache, dass Agatha selbst die Fledermäuse zum Thema gemacht hatte. »Es geht jetzt darum, was aus diesem Mädchen werden soll.«
»Diesem Mädchen«, wiederholte Felix ruhig. »Sprichst du vielleicht von meiner Tochter Stella?«
»Bitte nimm Vernunft an, Felix. Sie ist nicht deine Tochter. Nicht wirklich jedenfalls.«
Felix stand unvermittelt auf, und es entstand ein Schweigen, in dem er sicher stumm bis zehn zählte. Denn Felix war der Meinung, dass man immer bis zehn zählen sollte, wenn man Gefahr lief, auf jemand anderen wütend zu werden. Doch Stella hatte Felix so gut wie nie wütend erlebt. Tante Agatha schien so ziemlich der einzige Mensch zu sein, der Felix’ gelassene Heiterkeit erschüttern konnte.
Schließlich sagte er: »Stella ist meine Tochter, in absolut jeder Hinsicht.«
»Hör zu, ich bin deshalb früher gekommen, weil ich mit dir ernsthaft darüber reden wollte, was künftig mit ihr geschehen soll. Ich meine, sie wird ja nicht ewig ein Kind bleiben. Was soll aus ihr werden, wenn sie heranwächst? Sie kann ja nicht für immer hier leben, nicht wahr?«
Felix nahm eine Gießkanne voller Milch aus einem Kühlschrank und begann in aller Seelenruhe Mildred zu begießen, die sich genüsslich in ihrer Müslischale aalte. »Was würdest du denn vorschlagen, Agatha?«, fragte er.
»Nun, ich habe großartige Neuigkeiten, Felix. Ich habe das Problem nämlich bereits gelöst.« Die Feder auf dem violetten Hut wippte energisch, als Agatha sich aufrichtete. »Ich habe Stella in einem Mädcheninternat angemeldet, wo man eine junge Dame aus ihr machen wird.«
Felix stellte die Gießkanne ab. »Aber Stella geht hier vor Ort zur Schule. Außerdem achte ich selbst auch auf ihre Erziehung –«
Tante Agatha pikte mit dem Zeigefinger in Felix’ Richtung. »Du hast ihr lediglich einen Haufen Blödsinn aus Büchern in den Kopf gesetzt. Stella muss nützliche Dinge lernen – zum Beispiel nähen und sticken und wie man ein Kleid trägt, ohne es binnen fünf Sekunden zu ruinieren.»
Stella blickte betroffen an sich herunter und sah, dass Buster mit seinen Krallen Fäden gelockert hatte, als er auf ihrem Schoß gesessen hatte. Der Saum des Petticoats hing ziemlich kläglich im Schnee, und es schien auch, als habe Buster einige Sabberflecken hinterlassen. Stella seufzte. Pygmäendinos neigten zu fürchterlichem Sabbern, sobald sie ein Karamellstäbchen zu Gesicht bekamen.
»In einem Mädcheninternat wird sie singen und zeichnen lernen«, fuhr Tante Agatha fort. »Man wird ihr beibringen, dass es sich für ein Mädchen nicht schickt, auf einem Einhorn durch die Gegend zu galoppieren und über staubigen alten Landkarten zu brüten. Und man wird ihre Haltung korrigieren. Die Mädchen dort schreiten pro Tag eine Stunde mit Büchern auf dem Kopf einher.«
Felix starrte sie fassungslos an. »Im Ernst?«
Agatha nickte nachdrücklich. »Jawohl. Manchmal auch zwei Stunden.«
»Es wäre doch wohl sinnvoller, die Bücher in dieser Zeit zu lesen, oder nicht?«
»Das Internat hat einen hervorragenden Ruf«, fuhr Agatha fort, als habe sie den Einwand nicht gehört. »Wenn Stella dort auch nur ein Schuljahr zubrächte, würdest du dich wundern, wie verändert sie dann wäre.«
»Das bezweifle ich nicht im Geringsten«, versetzte Felix trocken.
»Man wird ihr beibringen, wie man sich nach der neuesten Mode frisiert.« Agatha geriet zusehends in Fahrt. »Sie würde lernen, wie man tanzt, wie man mit Puder und Rouge umgeht und sich für die Herren hübsch macht. Wenn sie dann älter ist, kann man einen passenden Gatten für sie finden, und dann sind wir die Verantwortung für das Mädchen los. Ich habe das alles sorgfältig durchdacht, Felix – es ist die einzige Möglichkeit. Ich weiß, dass du eine Schwäche für diese Schneewaisen hast, aber ein Mädchen ist ja wohl etwas ganz anderes als ein Eisbär. Das muss doch selbst dir klar sein.«
Stella hielt den Atem an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Wenn Felix nun Tante Agatha beipflichtete? Würde er Stella wegschicken, dann würde ihr Herz brechen, das wusste sie ganz genau. Warum nur war sie am Abend zuvor so gemein zu Felix gewesen? Jetzt wünschte sie sich sehnlichst, sie wäre eine bessere Tochter gewesen und hätte ihrem Vater fünfzigmal am Tag gesagt, wie sehr sie ihn liebhatte.
Felix wandte sich vom Tisch ab, und Stella sah mit Schrecken, dass er genau auf die Glaswand zuging, an der sie hinter dem Strauch hockte. Sie duckte sich noch tiefer und starrte reglos auf Felix’ Stiefel, die nun direkt vor ihr haltmachten. »Das ist ein sehr guter Plan, Agatha«, hörte Stella ihn zu ihrem Entsetzen sagen. »Aber ich glaube nicht, dass Stella sich fürs Sticken begeistern könnte.«
Sie riskierte einen Blick zwischen den rosa Marshmallows hindurch und stellte erstaunt fest, dass Felix sie ansah. Er zog einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln hoch und zwinkerte ihr zu. »Außerdem«, fuhr er fort und kratzte sich an der Wange, »erscheint es mir als grauenvolle Verschwendung, mit Büchern auf dem Kopf durch die Gegend zu spazieren. Ich bin freilich kein Experte für Frauenthemen, aber das Leben eines jungen Mädchens sollte ja wohl aus mehr bestehen als nur aus Singen und Tanzen, nicht wahr? Mädchen sind schließlich keine Zirkusäffchen.«
»Felix, ich muss darauf bestehen. Es ist bereits alles arrangiert. Stella wird dort schon morgen zur Schule gehen.«
»Meine liebe Agatha, ich weiß, dass du es gut meinst, aber du hast in dieser Angelegenheit kein Recht, auf irgendetwas zu bestehen. Stella wird nicht auf dieses Internat gehen – morgen nicht und auch zu keinem anderen Zeitpunkt.« Felix wandte sich wieder seiner Schwester zu. »Ich danke dir fürs Herkommen, aber es ist auch gar nicht nötig, dass du dich zurzeit um Stella kümmerst.«
»Du hast doch nicht etwa vor, sie hier zurückzulassen, nur bei den Dienstboten und diesen grauenhaften Dinosaurierviechern?«, rief Agatha empört aus. »Stella muss doch eine vernünftige Aufsicht haben!«
»Ich werde sie vernünftig beaufsichtigen. Sie wird mich bei der Expedition begleiten.«
Stella keuchte verblüfft, und Tante Agatha blieb der Mund offen stehen. »Aber du kannst doch ein Mädchen nicht auf eine Expedition mitnehmen, Felix! Das ist ganz und gar unmöglich!«
»Und weshalb?«, entgegnete Felix wie aus der Pistole geschossen. »Ganz gewiss sind viele außergewöhnliche und weltbewegende Dinge erreicht worden, obwohl es Stimmen gab, die sie für unmöglich erklärt haben. Vielleicht sogar genau deshalb!«
»Mädchen können nicht Entdecker werden! Was für eine abstruse Idee! Kannst du dir im Ernst vorstellen, wie Mädchen mit Pferdeschlitten und Kompass in der Einöde herumkutschieren, unter Schneelawinen geraten und zu Kannibalen werden und weiß Gott was noch alles? Nein! Ausgeschlossen! Viel zu gefährlich und ganz und gar unschicklich!«
»Erstens bin ich seit zwanzig Jahren Polarforscher«, erklärte Felix ruhig und unterstrich seine Worte, indem er an den Fingern abzählte, »und ich bin noch nicht ein einziges Mal in eine Lawine geraten. Zweitens werden unsere Schlitten von Wölfen und Einhörnern gezogen und nicht von Pferden, und drittens ist es seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen, dass Entdecker sich gegenseitig aufaßen. Wirklich seit vielen Jahrzehnten, Agatha. Forschungsreisen laufen heutzutage ganz anders ab. Und wenn zwölfjährige Jungen mitkommen dürfen, sehe ich nicht ein, weshalb das nicht auch für Stella gelten soll.«
»Das kann einfach nicht dein Ernst sein, Felix«, ereiferte sich Agatha. »Ich bin deinen Irrsinn ja gewohnt, aber so weit wirst doch selbst du nicht gehen. Das halte ich für ausgeschlossen.«
»Ich versuche möglichst oft nicht allzu ernst zu sein, Agatha – im Moment jedoch bin ich es. Noch nie zuvor im Leben war es mir ernster mit etwas. Tut mir leid, dass du die Reise umsonst gemacht hast. Bitte iss noch ein Marmeladebrötchen oder irgendetwas, bevor du wieder aufbrichst. Und entschuldige bitte, wenn ich nicht länger plaudern kann, aber Stella und ich haben noch sehr viel zu packen.«
Felix ließ die vor Wut schäumende Agatha in der Orangerie zurück, während Stella beinahe über ihre Röcke stolperte, als sie ins Haus zurückpeste, auf Felix zuhechtete und ihm die Arme um den Bauch schlang. Ein schöneres Geburtstagsgeschenk hätte sie gar nicht bekommen können!
»Und du meinst das wirklich ernst?«, keuchte sie.
»Aber sicher doch, Zuckerstück«, antwortete Felix. »Hab ich jemals etwas gesagt, das ich nicht ernst gemeint habe?«
»Aber die Regeln vom Polarbären-Entdeckerclub –«
»Sind mir gerade gleichgültig«, sagte Felix. »Damit befassen wir uns, wenn wir dort sind. Jetzt ist erst mal das Allerwichtigste, dass wir unser Gepäck rechtzeitig fertigbekommen, um morgen den Zug zu erwischen. Kannst du deine Siebensachen alleine packen, oder soll ich dir helfen?«
»Ich schaff es alleine«, versprach Stella.
Der Rest des Tages verging mit einem Wirbel aus Vorbereitungen. Nachdem Tante Agatha noch einen vergeblichen Versuch unternommen hatte, Felix zu überreden, stapfte sie erbost von dannen. Felix gab Stella einen großen alten Koffer, über und über beklebt mit ausgebleichten Souvenirbildchen von seinen Reisen. Er war staubig und roch nach Mottenkugeln, aber für Stella war er perfekt. Sie flitzte umher, warf Kleider in den Koffer und überlegte dabei, was sie sonst noch für die Expedition brauchte. Zwischendurch spähte sie in das Mini-Iglu und stellte fest, dass die Pinguine auch eifrig mit Kofferpacken beschäftigt waren – sie schienen allerdings ausschließlich Räucherfisch mitzunehmen. Stella rümpfte die Nase wegen des Geruchs und stellte das Iglu behutsam wieder auf den Nachttisch.
Dann zog sie die Schublade darunter auf und holte den goldenen Kompass heraus, den Felix ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Ein vernünftiger Entdecker-Kompass war nicht auf die vier Himmelsrichtungen Norden, Süden, Westen und Osten beschränkt, sondern zeigte bis zu zwanzig Ziele an, allen voran Proviant, Schlafplatz, Yetis, Wasser und Wütende Gnome. Stella wusste nicht so genau, was das zu bedeuten hatte – sie war noch nie einem Gnom begegnet und schon gar keinem wütenden, hoffte aber zuversichtlich, bei dieser Expedition endlich einen kennenzulernen. Denn Stella wollte absolut alles erleben.
Am Spätnachmittag waren sie mit Packen fertig und konnten auf dem See hinter dem Haus noch eine Stunde eislaufen, bevor es Abendessen gab. Als sie zurückkamen, hatte der Koch für das Geburtstagsfestmahl Stellas sämtliche Leibspeisen zubereitet: winzige Hotdogs, riesige Pizzen, violette Macarons und Wackelpudding-Drachen. Alles war auf dem langen Tisch im Salon angerichtet. In dem großen Granitkamin flackerte ein lebhaftes Feuer, und Gruff lag auf dem Teppich davor und döste zufrieden.
Stella war schon mächtig vollgefuttert, als sie später in ihr Zimmer ging. Doch als sie die Tür öffnete, sah sie, dass die Feen da gewesen und ihr auch ein Geschenk hinterlassen hatten. Im ganzen Zimmer leuchteten Zauberblumen in sämtlichen Farben und erfüllten den Raum mit funkelndem, magischem Licht. Als Stella die Blumen berührte – die köstlich nach gebuttertem Popcorn rochen –, öffneten sich die Blüten und offenbarten glasierte rosafarbene Kuchenhäppchen in Form kleiner Einhörner.
Stella stellte fest, dass es doch noch ein bisschen Platz in ihrem Magen gab, und futterte vorm Zubettgehen sämtliche Einhornküchlein. Sie war ohnehin so aufgeregt, dass sie fürchtete, gar nicht schlafen zu können. Beim Gedanken an die Expedition morgen schienen sich in ihrem Bauch jede Menge Schmetterlinge zu tummeln. Aber der Tag war doch so ereignisreich gewesen, dass sie vor Erschöpfung einschlief, bevor sie es überhaupt merkte.
Am nächsten Morgen erwachte Stella sehr früh und sprang sofort aus dem Bett, regelrecht zittrig vor Reisefieber. Rasch zog sie ihren Pyjama aus und schlüpfte in ein weißes Kleid mit sternförmigen Knöpfen, einer Kapuze mit Fellbesatz und besonders langen Ärmeln.
Eine Stunde später war ihr Einhorn, Magic, bereits vor den Schlitten gespannt und bereit, Stella und Felix mit ihrem Gepäck zum Bahnhof zu bringen. Beide trugen ihre wärmsten Umhänge, dick gefüttert mit Yeti-Wolle, und kuschelten sich in einen Haufen Felle und Decken. Die Bediensteten hatten genaue Anweisungen für den Umgang mit Gruff und den Pygmäendinos erhalten, und so konnte es endlich losgehen. Mr Pash, der Stallmeister, stieg auf den Kutschbock und zog an den Zügeln – und Magic trabte los. Mit leise sirrenden Kufen glitt der Schlitten durch den Schnee, und das prächtige Anwesen wurde hinter ihnen immer kleiner und kleiner und blieb schließlich in der Ferne zurück.