Der Prinz der Illusionen (Die Mächte der Moria 2) - Zoraida Córdova - E-Book

Der Prinz der Illusionen (Die Mächte der Moria 2) E-Book

Zoraida Cordova

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Teil 2 der magischen Fantasy-Dilogie von Zoraida Córdova Von den Rebellen verraten und von der Krone verfolgt, schließt Renata ein Bündnis mit ihrem Erzfeind Prinz Castian. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach dem Messer der Erinnerung, um einen Krieg zwischen Puerto Leones und den Moria zu verhindern. Kann Renata die gestohlenen Erinnerungen bezwingen? Auf der Reise an die Grenzen der bekannten Welt kämpft Renata nicht nur gegen die Truppen des Königs, sondern auch mit ihren Gefühlen für Castian. Doch die größte Gefahr lauert in ihrem Gedächtnis, denn die gestohlenen Erinnerungen brechen immer wieder hervor. Renata muss ihre magischen Kräfte kontrollieren, wenn sie das Volk der Moria retten will. Eine gefährliche Reise, knisternde Gefühle und ein atemraubender Showdown – begleite Renata auf ihrer finalen Mission!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zoraida Córdova

Der Prinz der Illusionen

Aus dem Englischen von Barbara Imgrund

Von den Rebellen verraten und von der Krone verfolgt, schließt Renata ein Bündnis mit ihrem Erzfeind Prinz Castian. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach dem Messer der Erinnerung, um einen Krieg zwischen Puerto Leones und den Moria zu verhindern. Auf der Reise an die Grenzen der bekannten Welt kämpft Renata nicht nur gegen die Truppen des Königs, sondern auch mit ihren Gefühlen für Castian und den Rebellenführer Dez. Doch die größte Gefahr lauert in ihrem Gedächtnis, denn die gestohlenen Erinnerungen brechen immer wieder hervor. Wird sie sie kontrollieren können und das Volk der Moria retten?

Eine gefährliche Reise, knisternde Gefühle und ein atemraubender Showdown – begleite Renata auf ihrer finalen Mission!

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Viten

FÜR MICH

GESUCHT:RENATA CONVIDA

Für Verbrechen am Volk von Puerto Leones, Mord, Verdunkelung und die gesetzwidrige Anwendung von Robári-Magie. Zuletzt mit aufständischen Flüsterern beim Verlassen von Andalucía auf dem Camino Mayor gesichtet. Gilt als bewaffnet und gefährlich. Gute Bürger des Reichs, die Renata Convida oder anderen Moria Unterschlupf gewähren, müssen der Zweiten Welle davon Meldung machen — gegen eine Belohnung von 10 000 Pesos.

Bestätigt von Richter Alessandro

Königreich Puerto Leones

Jahr 40 der Herrschaft Seiner Majestät König Fernando

317

DAS LIED DER MORIA-KÖNIGIN

Ich singe euch das Lied

der Moria-Königin.

Verloren an das Meer,

mir zweimal verloren,

doch in meinen Träumen

erinnere ich mich an sie.

Ich singe euch das Lied

der Moria-Königin.

Ihr Herz strahlte

wie von tausend Sternen.

Ihr Lächeln hieß mich beugen

die Knie.

Ich singe euch das Lied

der Moria-Königin.

Ich werde sie wiederfinden

in tiefster Nacht,

im Danach, im Dahin,

im Salz der See.

Ich singe euch das Lied

der Moria-Königin.

PROLOG

JAHR 317 NACH DER EROBERUNG

Während Fernando, König von Puerto Leones, Bewahrer des Friedens und rechtmäßiger Erbe der Fajardo-Dynastie, zusah, wie der junge Soldat ertrank, erkannte er, dass in seinem Königreich etwas im Argen lag. Nicht nur, dass er gezwungen gewesen war, seine Fragen zu wiederholen – als der Junge den Zorn Seiner Majestät zu spüren bekam, wollte er immer noch keine zufriedenstellenden Antworten geben.

Obwohl die meisten Menschen Fernando für grausam um der Grausamkeit willen hielten, brachte er stets die Namen jener in Erfahrung, die er hinrichten ließ. Wenn ihre Stunde geschlagen hatte, sprach er ihre Namen aus, damit sie keinen Grund hätten, seinen eigenen zu nennen, wenn sie sich ins Jenseits aufmachten.

Der Name des ertrinkenden Jungen war Delios Urbano. Siebzehn Jahre alt und ein Frischling in der Armee, ohne Familie, die seine Schande würde ertragen müssen. Seine Vergehen waren schlicht. Dank seiner Nachlässigkeit hatten die Moria-Aufständischen das Sonnenfest mit einem Anschlag auf das Leben des Königs gestört. Wenn er nicht gerade nach Luft schnappte, bettelte Delios um Vergebung, konnte aber immer noch nicht erklären, warum er seinen Posten verlassen hatte.

Am Morgen nach dem Sonnenfest, nach dem Angriff auf Richter Méndez, nach der Flucht der Rebellen und nach der Befreiung der Gefangenen aus dem Kerker hatte man Delios Urbano auf einem der Innenhöfe des Palasts aufgefunden, nach seinem eigenen Schmutz und abgestandenem Branntwein stinkend. Er wäre im Kerker geblieben, aber nach fast zwei Wochen der Sackgassen und gescheiterten Versuche, den Widerstand der Rebellen zu brechen, hatte König Fernando genug gehabt. Wenn er keine Antworten bekam, würde er sich eben mit Blut zufriedengeben.

»Bitte«, flehte der Junge.

König Fernando wischte sich einen kalten Tropfen Wasser von der Wange. Er drängte den Gardisten zur Seite und drückte Delios’ Kopf ins Fass hinab. Der Schrei des Jungen verwandelte sich in Gurgeln. Und dann, nach den letzten Zuckungen, wurde er still. Er hatte sein Königreich zum letzten Mal enttäuscht.

»Delios Urbano, möge der Vater der Welten dir deine Vergehen verzeihen«, sagte Fernando.

Dann zerrten zwei seiner jüngsten, aber auch treusten Leibgardisten die Leiche ohne Umschweife nach draußen, wo sie auf den Karren zu den anderen gelegt wurde, um zu Forschungszwecken ins Studierzimmer der apothecura gebracht zu werden.

»Es ist geschafft, Eure Majestät«, versicherte Analiya und reichte ihm ein Tuch.

Fernando trocknete sich die Hände ab, während sein Blick wie magisch von dem Blut angezogen wurde, das den Boden und die Wände aus Stein befleckte. Dies war der Ort, an dem man Richter Méndez halb tot aufgefunden hatte. König Fernando hatte die Botschaft recht gut verstanden. In einer einzigen Nacht hatten seine Feinde beinahe alles vernichtet, was er so mühevoll aufgebaut hatte. In den darauffolgenden Tagen hatte er die Kerker wieder gefüllt und jeden einzelnen Untertan im Palast befragt. Es hatte nichts geändert. Seine Waffe war weg, Méndez weit entrückt und der Prinz verschleppt. Und niemand war imstande, dem König zu erklären, wie all das hatte geschehen können. Er war umgeben von Verrätern und Dummköpfen. Raserei brannte in seinen Adern und entfachte den Hass, der schon immer in seinem Herzen schmorte. Als er sich umdrehte, wäre er fast über ein Paar eiserne Handschellen gestolpert.

Analiya hob sie auf und reichte sie dem König. Das Metall war verformt, als wäre es beim Tragen geschmolzen.

»Was könnte so etwas verursacht haben?«, fragte Nazar. Dann griff er nach der Schnur mit den hölzernen Gebetsperlen, die er unter seiner schwarzen Uniform verborgen trug.

Nicht was. Wer? Renata Convida. Die Róbari, die ihm das Leben gerettet und sich dann als die Viper zu erkennen gegeben hatte, die sie war.

Fernando schleuderte die Handschellen gegen die Wand. Schlug einen Stuhl in Stücke. Trat das Fass um. Das Wasser, in dem ein halbes Dutzend Männer ihr Leben ausgehaucht hatten, wusch das Blut anderer fort. Er keuchte schwer und blinzelte, bis sich seine Sicht wieder klärte. »Versiegelt diesen Raum. Ich will ihn sehen.«

Analiya ging durch die labyrinthartigen, modrig riechenden Tunnel voran. Anders als Nazar schreckte sie nicht vor dem menschlichen Dreck zurück, der auf den Kerkerstufen festgebacken war. Schade, dass er nie eine Tochter wie sie gehabt hatte.

Sie erreichten das Ende eines Korridors, der auf den Innenhof zwischen dem Palast und der Kathedrale führte. König Fernando holte im flackernden Fackelschein tief Atem. Der Geruch von Weihrauch und schalem aguadulce hing immer noch schwer in der Luft, als sie schon auf dem Weg zu Richter Méndez’ Schlafgemach waren.

»Eure Exzellenz.« Analiyas Stimme klang fest. »Ihr solltet das nicht sehen.«

»O doch«, erwiderte Fernando.

Richter Méndez war für ihn der Mensch, der einem Freund am nächsten kam. Sie wollten der bekannten Welt ein neues Gesicht geben. Sie wollten die unnatürliche Magie ihrer Feinde für ihre Zwecke nutzen, sodass Puerto Leones mit Triumphgebrüll in ein neues Zeitalter aufbrechen konnte. Er hatte alles dafür geopfert. Aber der Vater der Welten wollte mehr und immer mehr. Nun war es an Fernando, zu Ende zu bringen, was er fast vier Jahrzehnte zuvor begonnen hatte.

Er betrat den spärlich erleuchteten Raum. Richter Méndez saß auf der Bettkante. Seine grauen Augen starrten ins Leere. Seine Haut sah aus wie zerknittertes Pergament. Er war gebadet und in seine Räumlichkeiten gebracht worden, damit er es bequem hatte. Die apothecuras hatten alles versucht, obwohl sie wussten, dass es kein Heilmittel für sein Leiden gab. Jemand hatte ihm die Bibel der Welten in die Hand gedrückt, in der nichtigen Hoffnung, dass sie den gottesfürchtigen Mann aus seiner Krankheit aufrütteln könnte. Aber Méndez durchlitt etwas, das viel schlimmer als Krankheit war. Er war ein Ausgehöhlter, Gedächtnis und Geist waren eine leere Hülle. Nur sein Körper lebte noch.

König Fernando hatte schon früher gesehen, was Robári anrichten konnten. Diese besondere Spielart der Moria-Krankheit nahm dem Betroffenen alle Erinnerungen. Jemand hatte es einmal so zu erklären versucht: Ihre verfluchte Herrin der Schatten hatte diesen Moria die Fähigkeit verliehen, fremde Erinnerungen zu rauben, indem sie den Robári ihr eigenes Lebenselixier einflößte. Sowohl der König als auch der Richter hatten geglaubt, sie könnten davon absehen, diese monströse Magie auszumerzen, und sie ihrerseits zum Wohle des Landes einsetzen. Sie waren ihrem Ziel so nah gekommen.

»Gibt es gar nichts, was man tun kann?«, fragte Analiya.

»Der Körper wird in diesem Zustand nicht mehr essen, schlafen oder sprechen«, antwortete er. »Er wird einfach schwinden. Man sagt, das Los der Ausgehöhlten sei schlimmer als der Tod. Ich habe ihn bereits zu lange leiden lassen. Ich muss ihm Barmherzigkeit erweisen.«

König Fernando zückte einen Dolch, den er unter seinem schwarzen Wams an der Brust verborgen getragen hatte. Der Knauf war mit Saphiren verziert – ein Verlobungsgeschenk der ersten Frau, die zu lieben er den Fehler begangen hatte. Er wusste nicht, warum er ihn bei sich trug, wünschte er sich doch nichts mehr, als sie zu vergessen. Der Himmel wusste, dass er es versucht hatte. Der Rest der Welt hatte sie bereits vergessen. Vielleicht war das Chaos dieses Tages schuld daran, aber er musste plötzlich an sie denken, an die Königin, die nie eine geworden war.

Doch so rasch das Gefühl aufgetaucht war, wischte er es wieder weg. Fernando zog Méndez auf die Füße und in seine Umarmung. Der gebrechliche Körper fühlte sich noch durch die Tunika hindurch kalt an.

»Ich werde Euch rächen, alter Freund. Ich schwöre es.«

Dann trat der König von Puerto Leones zurück und zog die Klinge über Richter Méndez’ weichen Hals. Arterielles Blut spritzte in sein Gesicht, auf seine Kleider, das Bettzeug. Méndez stieß einen langen, gurgelnden Laut aus. König Fernando wischte den Dolch nicht ab, bevor er ihn wieder in die Scheide steckte, und er wartete auch nicht auf seine Gardisten, als er den Raum verließ.

»Trefft alle Vorbereitungen für das Begräbnis. Lasst jede citadela wissen, jedes Dorf, jeden einsamen Weiler und jedes Gehöft an den Pilgerstraßen, dass Richter Méndez von den aufständischen Flüsterern umgebracht worden ist.« Er reichte Nazar ein Stück Pergament mit einer Liste von Namen darauf. »Rufe diese Leute in meine Gemächer.«

»In Eure Gemächer?«, fragte Nazar verwirrt. Dann, als wäre ihm aufgegangen, dass es ein Fehler war, die Befehle des Königs infrage zu stellen, stammelte er: »Sofort, Eure Majestät.«

König Fernando blieb auf der Brücke stehen, die zwei der Palasttürme miteinander verband. Die blauen Mosaiksäulen glitzerten im Mondlicht. »Ich habe eine besondere Bitte an dich, Analiya.«

»Zu Euren Diensten, mein König.«

Er händigte ihr einen Umschlag aus, auf dem sein Siegel prangte. »Sorge dafür, dass diese Einladung zugestellt wird. Ich will, dass du sie selbst hierhergeleitest.«

Analiya verbeugte sich und stieß die Fersen zusammen. »Ja, mein König.«

Fernando kehrte in seinen Flügel zurück. Er musste sich auf seine Gäste vorbereiten und auf ein Geheimnis, das er in der Nacht des Angriffs zu entwirren begonnen hatte. Er war einmal mehr verraten worden. Und diesmal würde alle Welt sehen, was mit Verrätern geschah.

Das Feuer prasselte im Kamin. Zehn Kristallkelche waren bis zum Rand mit Wein gefüllt, doch niemand trank. Die Flasche lagerte kühl in einem silbernen Gefäß, und kondensiertes Wasser floss das Glas hinab – fast so schnell wie der Schweiß, der den Anwesenden in König Fernandos Salon ausgebrochen war. Man munkelte, dass er niemals Gäste in seinen Privatgemächern empfing, abgesehen von Konkubinen oder seiner Gemahlin. Zugegen waren alle, die er herbestellt hatte. Alle bis auf einen.

Da war der Richter, Alessandro. Bei seinem Anblick verzog der König höhnisch die Lippen, vielleicht, weil Méndez’ getrocknetes Blut noch immer seine Haut sprenkelte, als hätte er Sommersprossen. Die neuen Gewänder des Richters waren zu weit für seine schmalen Schultern geschnitten. Zu seiner Linken stand seine Frau, Lady Nuria, Duquesa von Tresoros. Sie war vielleicht die einzige Person im Raum, die nicht schwitzte, aber ihre dunklen Augen wanderten über die Wandteppiche und die auserlesene Schar, die am Tisch saß, und hinüber zu Nazar und General Hector, die die Tür bewachten.

König Fernando hatte nur »Bitte behaltet Platz« gesagt, bevor er selbst den Vorsitz am Tisch einnahm. Er wollte, dass sie schwitzten. Wollte, dass Ängste sie zerrissen, während sie sich fragten, warum sie herzitiert worden waren, ausgerechnet hierher, in dieser Zeit der Unruhe.

Der junge Duque Arias räusperte sich und lockerte sein Halstuch. Lady Roca fächelte sich Luft zu. Die neunzig Jahre alten Lider des königlichen Priesters fielen flatternd zu. Duque Sól Abene rupfte an seinem schwarzen Bart. Fernandos schöne Königin zupfte an der Spitze ihres Mieders und verzog ihre vollen Lippen zu einem Schmollmund. Diese Dinge waren nichts für sie, aber sie musste sie sehen. Er wollte, dass sie all ihren Zofen, ihren Vertrauten, ihren Geheimnisträgern sowohl in Puerto Leones als auch in ihrem Heimatland Dauphinique jenseits des Meers von dieser Versammlung hier erzählte. Er wollte, dass alle Welt erfuhr, was in diesem Raum geschah.

»Warten wir noch auf jemanden, Eure Majestät?« Alessandro wies auf den leeren Platz. Als der König nicht antwortete, fragte der Richter weiter: »Und warum ist Leonardo hier? Er ist nur ein Diener.«

Nuria legte ihre zierliche Hand an die Brust. Die siennabraune Haut dort war makellos. König Fernando fiel auf, wie ihr Auge beim Klang der Stimme ihres Mannes zuckte. Der Diener, von dem die Rede war, Leonardo, sandte seiner Herrin einen Blick und schüttelte den Kopf.

Schwere Stiefeltritte ertönten auf dem Gang, und alle Anwesenden wandten sich der Tür zu.

Analiya trat ein. Sie verbeugte sich vor ihrem König, bevor sie einer jungen Frau Platz machte. Die Fremde rauschte erhobenen Hauptes in den Raum. Sie trug eine feine grüne Seidenhose, die mit schimmernden Perlen und Fäden bestickt war. Ihre Jacke hatte einen hohen Kragen und Schöße, außerdem konisch zulaufende Ärmel. Schmale Goldreifen schmückten ihre Finger und ihren schlanken Hals. Sie hatte die bronzefarbene Haut, die hohen Wangenknochen und das dichte schwarze Haar, die für das Volk des Empirio Luzou charakteristisch waren. Doch das Grün ihrer Augen ließ sich eher den östlichen Regionen von Puerto Leones zuordnen. Wie bei ihrem Vater.

»Lady Las Rosas«, sagte König Fernando fast vergnügt. »Danke, dass Ihr meiner Einladung nachkommt.«

Sie legte die Hände auf dem Rücken zusammen wie jemand, der niemals aufhören würde, Soldat zu sein. Aber obwohl sie nun da stand, machte sie keine Verbeugung. Der König beobachtete, wie die höchsten Familien von Puerto Leones auf ihren Titel reagierten. Diese Ablenkung war genau das, worauf er gehofft hatte.

»Ihr seid zu freundlich, Eure Majestät«, sagte das Mädchen, während es seinen vollen Mund zu einem falschen Lächeln verzog. »Aber ich bin keine Lady, da ich den Titel meines Vaters nicht erben kann.«

Fernando ignorierte die spitze Bemerkung des Mädchens und deutete auf den leeren Platz zu seiner Linken. »Setzt Euch.«

Lady Las Rosas tat, wie ihr geheißen war.

»Freut Ihr Euch über die Rückkehr zum Volk Eures Vaters, Lady Las Rosas?«

Ein Muskel ihres Unterkiefers spannte sich an. »Am Hof von Empirio Luzou sind wir weniger formell. Ich heiße Leyre, Eure Hoheit.«

»Aber wir sind hier nicht in Luzou, oder? Und nach Lage der Dinge seid Ihr von Rechts wegen Halbleonesserin. Vor seinem Prozess wegen Hochverrats kürzlich hat Euer Vater sein Testament geändert und Euch als Alleinerbin seiner Ländereien und seiner Handelsgesellschaft eingesetzt.«

Die Lords und Ladys horchten bei dieser Neuigkeit auf. Duque Arias betrachtete den hübschen Mund des Mädchens, dessen Augen noch sinnlicher wirkten dank des grünen Puders, den es auf den Lidern verteilt hatte.

Leyre Las Rosas musste eine ausgezeichnete Ausbildung durchlaufen haben, denn das Erschrecken, das sie womöglich empfand, spiegelte sich nicht in ihrem Gesicht wider. Sie hob ihren Kelch hoch, doch als sie feststellte, dass niemand sonst trank, setzte sie ihn wieder ab.

»Das war mir neu, da mein Vater seit Wochen in Euren Kerkern eingesperrt ist«, gab sie zurück.

Fernando achtete nicht auf den Groll in ihren Worten. Als die Gedächtnisdiebin im Palast eingetroffen war, hatte sie den Verräter Las Rosas vor dem versammelten Hof in einen Ausgehöhlten verwandeln sollen. Doch Renatas Macht versagte. Zweifellos nur eine weitere Täuschung. Der König umfasste die Armlehne seines Stuhls und ließ die Erinnerung wieder ziehen.

»Welch ein ungemein glücklicher Zufall für Euren Vater, dass seine Henkerin am Abend des Sonnenfests aus diesem Palast geflohen ist«, sagte er. »Ich habe Lord Las Rosas ins Gefängnis von Soledad verlegen lassen. In der Zwischenzeit werdet Ihr seinen Platz in dieser Versammlung einnehmen. Und nun brauche ich die Hilfe aller Anwesenden hier, um ein Mysterium zu lüften.«

Im Raum war es so leise, dass man eine Fliege summen hören konnte, die sich schließlich auf dem Rand von Alessandros Kelch niederließ.

»Wie ist es möglich, dass der große Palast der Hauptstadt Andalucía, dem Juwel dieses Königreichs, von einer Handvoll halb verhungerter Rebellen angegriffen werden konnte?«

Alle hielten den Atem an; im Folgenden war ein schwacher Laut zu hören, mit dem die Fliege auf der hölzernen Tischplatte landete. Tot.

»Niemand?« König Fernando legte die Fingerspitzen zusammen. Der Löwenkopf auf seinem Familienring war der einzige Schmuck, den er sich bei dieser düsteren Zusammenkunft erlaubt hatte. Er blickte durch den Raum. »Ihr wart alle dabei. Einer von Euch muss etwas Außergewöhnliches beobachtet haben. Etwas, das mir hilft, zu enträtseln, wie ich betrogen werden konnte.«

König Fernando fuhr mit einem Finger über seinen alabasterfarbenen Unterkiefer und rieb das getrocknete Blut weg. Er wollte, dass sie ihn so sahen. Er wollte ihnen das Gefühl geben, dass bald ihr eigenes Blut seine Wanne füllen könnte und er darin baden würde.

»Ich habe Euch schon alles gesagt …«, begann Alessandro.

»Und Ihr werdet es mir noch einmal sagen«, schrie Fernando. »Lasst keine Einzelheit aus. Fehler wurden von allen gemacht, sogar von meinem zuverlässigsten Freund, Richter Méndez. Möge er in Frieden ruhen.«

»Möge er in Frieden ruhen«, wiederholten sie.

Einer nach dem anderen erzählten sie vom Sonnenfest. Nicht einmal seine Gemahlin, die junge Königin, wurde von dieser Befragung ausgenommen. Sie legte Rechenschaft über die Zeit ab, die sie zum Ankleiden und für den Rundgang mit ihren Eltern, dem König und der Königin von Dauphinique, durch die Außenanlagen gebraucht hatte.

»Und wohin seid Ihr während des Tanzens verschwunden?«, fragte ihr Gemahl.

Königin Josephines Mund wurde kreisrund vor Überraschung. Ihre hübsche schwarze Haut spiegelte den Schein des Kaminfeuers wider, und ein Teil von ihm genoss es zuzusehen, wie sie sich wand. »Einer der Höflinge aus Dauphinique. Ich habe ihm die Statuen gezeigt, die Ihr für mich im Garten habt aufstellen lassen.«

König Fernando blickte zu Analiya, die das mit einem knappen Nicken bestätigte.

Dann war Alessandro an der Reihe, der am längsten sprach und sie alle daran erinnerte, dass er Renata Convida nie getraut hatte, jener Robári, die Richter Méndez zu einem Ausgehöhlten gemacht hatte.

Lady Roca gestand einen ehelichen Fehltritt, behauptete aber, sie würde die Rebellen niemals unterstützen. Sie verbürgte sich für all ihre Hofdamen, die einen Großteil des Abends damit verbracht hatten, Prinz Castian beim Tanz mit der Gedächtnisdiebin zu beobachten.

»Wie er sie gehalten hat«, fügte Lady Roca theatralisch hinzu.

»Wie er sie für sich beansprucht hat«, fiel Duque Arias ein. Er bekam endlich sein Halstuch auf und schob es in die Rocktasche. »Ich habe sie gesehen. Wenn Méndez sie nicht unterbrochen hätte, dann hätte Prinz Castian sicher –« Der Duque blickte zu Lady Nuria. »Ich dachte, er wollte es mit ihr treiben.«

»Stattdessen hat sie versucht, ihn umzubringen«, entgegnete Leonardo ruhig.

»Du warst in der Bibliothek, als der Anschlag auf den Prinzen verübt wurde!« Alessandro zeigte mit dem Finger auf den Diener. »Woher wissen wir denn, dass du ihr nicht geholfen hast?«

Leonardo räusperte sich und rutschte ganz nach vorn auf die Stuhlkante. »Ich war, äh, mit einer Liebschaft beschäftigt. Der Raum war zu jedem Zeitpunkt leer.«

Lady Nuria streckte die Hand aus und drückte die Schulter des jungen Mannes, ohne auf das Kichern zu achten, das im Zimmer die Runde machte. »Ich will gar nicht daran denken, was geschehen wäre, wenn du nicht dort oben gewesen wärest, um den Prinzen vor dem sicheren Tod zu retten.«

Lady Roca schnalzte mit der Zunge. »Ich könnte schwören, Prinz Castian zur selben Zeit im Ballsaal gesehen zu haben, als die Schreie von dem Anschlag auf ihn zu hören waren.«

»Vielleicht wollten die anderen Moria für Ablenkung sorgen«, überlegte Alessandro. »Während diese elende Renata versucht hat, ihn zu ermorden.«

»Was ist mit Euch, Lady Nuria?«, fragte König Fernando. »Ich erinnere mich, dass Ihr eine ganze Weile mit ihr zusammen wart.«

Nuria erstarrte. Ihre onyxfarbenen Augen richteten sich auf die des Königs. Scham zeichnete sich darin ab. »Ich erbitte Eure Vergebung, Eure Majestät. Ich habe versucht, das Mädchen dazu zu überreden, mir eine meiner Erinnerungen zu nehmen.«

»Welche Erinnerung war das?«

Ihre Brust hob und senkte sich rasch. Sie fasste sich an die Schläfen und blinzelte, als blickte sie angestrengt in die Ferne. »Ich habe sie nicht mehr. Aber ich weiß, dass sie mich … und Castian betraf.«

Alessandro gab sich alle Mühe, beim Namen des Prinzen nicht das Gesicht zu verziehen. Selbst wenn Nuria nichts Genaueres mehr darüber sagen konnte, errieten sie doch alle, dass es eine intime Erinnerung gewesen sein musste. Als die versammelte Tafel wild und unwirsch zu wispern und zu tratschen begann, verließ General Hector seinen Posten an der Tür und trat vor.

»Verzeiht, Eure Majestät, aber wir sollten uns vor allem anderen fragen, wie eine Bande Rebellen in den Palast gelangen konnte. Die Robári hat nie ihr Zimmer verlassen. Ich habe dafür gesorgt.«

»Vielleicht hat sie sich davongestohlen, als Ihr Euch betrunken habt und eingeschlafen seid«, sagte Alessandro anklagend.

Bestürzt verstummte General Hector und kehrte zur Tür zurück, wobei er seine Holzhand schützend vor die Brust hielt.

König Fernandos Stuhl schabte über den Boden. Er schlenderte hinüber zum Kamin und hielt die Hände so nah über die Flammen, dass sie an seinen Fingerspitzen leckten. Die Puzzleteilchen jenes Abends fügten sich allmählich zusammen, aber es gab noch immer einiges, was er sich nicht erklären konnte.

»Warum sollte sie mein Leben retten und dann versuchen, meinen Sohn zu töten?«, fragte er.

»Natürlich um den letzten verbliebenen Erben des Königs zu vernichten«, antwortete Duque Sól Abene.

Bei der versteckten Erwähnung seines toten Sohns fühlte König Fernando, wie sich etwas Altes und Verdorrtes in ihm regte. Als Castian seinen kleinen Bruder im Säuglingsalter ertränkt hatte, hatte der König befürchtet, Penelopes Wahnsinn habe auch seinen letzten Erben angegriffen. Aber Fernando hatte den Jungen zurechtgebogen. Castian hatte sich als stark erwiesen. Skrupellos. Gerissen auf eine Art, die selbst Fernando Sorge bereitete. An seinem Sohn war eine Doppelzüngigkeit, die der König nicht durchschaute. Aber bald würde er die Antworten bekommen, die er brauchte.

»Dies ist, was ich weiß«, sagte der König, während er zu seinem Platz zurückkehrte. »Wir wurden von unseren Feinden in unserem eigenen Haus überfallen. Unser Richter wurde ermordet. Hunderte Gefangene wurden befreit. Eine kleine Einheit Fußsoldaten wurde niedergemetzelt. Sie konnten das Gefängnis von Soledad angreifen, die Fortschritte der letzten Jahre zunichtemachen und meinen Sohn verschleppen.«

»Es waren Dutzende«, fiel Alessandro hastig ein. »Wir waren in der Unterzahl. Ich schwöre bei meinem Leben, dass wir sie uns holen werden.«

König Fernando spießte Alessandro mit seinem schwarzen Blick auf. »Mein neuer Richter, Ihr habt nicht den Mumm, halb so viele Dinge zu tun wie Méndez. Wisst Ihr, was ich in diesem Raum sehe? Lügen. Ausflüchte. Sie haben meinen Sohn. Was haben wir? Ich kann gar nicht anders, als …«

Alessandro betupfte sein Gesicht mit einem Tuch. Lady Roca war regelrecht grün. Der Priester schreckte aus seinem Schlaf hoch, um schnell ein Gebet für ihrer aller Seelen zu murmeln.

»… einen Trinkspruch auszubringen«, sagte König Fernando.

Trotz der allseitigen Verwirrung erhoben die Anwesenden ihre Kristallkelche.

»Eines dieser Gläser enthält alacrisches Gift. Unter Euch ist ein Lügner. Wenn Ihr aufrichtig und treu wart, dann trinkt.«

Blicke huschten vom einen zum anderen. Die Königin trank als Erste, gefolgt von Lady Nuria und Leonardo. Dann Alessandro. Lady Las Rosas und Duque Sól Abene. Lady Roca. Der Priester.

»Eure Majestät«, sagte Duque Arias und sah zu König Fernando auf. Er war der Einzige, der seinen Kelch nicht angesetzt hatte. Er griff in sein Wams. Analiya und Nazar zogen die Schwerter und gingen auf den jungen Lord los. »Bitte, ich flehe Euch an, lasst es mich erklären!«

Duque Arias war ein Schurke und schlechter Verlierer. Er hatte mit einigen Ländereien seiner Familie Spielschulden bezahlt. Fernando war früher mit seinem verstorbenem Großvater gesegelt, dem hochdekorierten Admiral Joaquín Arias, und er hatte dem jungen Duque sein Benehmen nachgesehen, als dessen Vater in der Schlacht von Riomar umgekommen war. Er hatte nicht erwartet, dass dieser Lump den Schneid haben könnte, seine Stimme zu erheben. König Fernando zog eine Augenbraue hoch, doch er nickte knapp. »Fahrt fort.«

»Castian hielt sich vor einigen Monaten zu einem abendlichen Fest auf meinem Gut auf. Ich verlor eine Wette. Mein Wetteinsatz war ein beliebiger Gegenstand aus meinem Haus. Ich glaubte, er würde sich die hundert Jahre alte Flasche mit aguadulce meines Vaters aussuchen, aber stattdessen nahm er etwas anderes.«

»Was wollte er haben?«

Die Stimme des Duque wurde heiser. »Die Truhe meines Großvaters aus seinen Tagen als Admiral. Sie ist ohne jeden Wert. Meeresmuscheln und Kompasse und die Logbücher eines alten vertrottelten Seemanns voll von Geschwafel. Karten von Orten, die es nicht gibt. Ich bot ihm Gold, Land, alles, aber nichts davon wollte er. Castian wollte nur die Truhe. Meine Mutter ist fürchterlich wütend auf mich, noch mehr, seitdem ich dieses Schiff an Piraten verloren habe. Ich dachte, dass ich … na ja … am Abend des Sonnenfests, während der Prinz anderweitig beschäftigt war, in seine Gemächer gehen könnte, um mir die Truhe zurückzuholen.«

»Ihr habt den Prinzen bestohlen?«, fragte Alessandro ungläubig.

»Das habe ich nicht! Ich habe sie gar nicht gefunden. Mich plagt mein schlechtes Gewissen, seitdem ich erfahren habe, dass Castian entführt wurde.« Arias zitterte so heftig, dass er Wein aus seinem Kelch verschüttete, doch er stellte ihn nicht ab. »Ich hätte es melden müssen. Ich weiß nicht, welche Verwendung Prinz Castian für das Gefasel meines toten Großvaters haben könnte. Ich schwöre es –«

König Fernando blickte auf den jungen Lord und lächelte. Ein schlauer Bursche, sein Sohn. All diese Jahre, und Fernando hatte es nie in Betracht gezogen …

»Es sei Euch vergeben, Lord Arias. Ich bin ein wohlwollender König. Denkt daran, wenn Ihr diesen Raum verlasst. Was den Rest von Euch betrifft, so kehrt in Eure provincias zurück. Stockt die Spähtrupps an den Hauptstraßen auf. Haltet Schiffe in den Häfen fest. Ruft alle im Kampfesalter zusammen und schickt sie auf die Übungsplätze. Sprecht mit Euren Leuten. Sagt ihnen, dass wir jetzt mehr denn je wachsam sein müssen gegen die Bedrohung durch die Moria. Der Krieg wird nicht leicht werden, aber er wird für immer vorbei sein, wenn mein Sohn zurück ist und unsere Feinde sich ergeben haben. Und jetzt geht.«

Einer nach dem anderen verließen sie den Raum.

»Ihr nicht, Lady Las Rosas.« König Fernando winkte sie zu sich.

»Ihr ehrt mich mit Eurer Aufmerksamkeit, Eure Majestät«, antwortete sie und senkte den Blick.

»Ehre ist vielleicht nicht das Wort, das angebracht ist, aber es ist gut zu wissen, dass der Hof von Luzou Euch nicht Eurer Manieren beraubt hat.«

Das Mädchen runzelte die Stirn und ballte die Fäuste, sagte aber nichts. Sie sah zur Tür, zu den Fenstern, aber sie waren die Einzigen, die noch im Raum waren.

»Ich werde Euch nicht wehtun«, versicherte er ihr.

»Was wollt Ihr dann von mir, Eure Majestät?«

»Ihr habt eine vielversprechende militärische Laufbahn zur See aufgegeben, um Eurer Mutter bei der Führung eines kleinen Handelsimperiums behilflich zu sein. Ihr sucht für sie in allen Winkeln der Welt seltene und schöne Gegenstände zum Verkauf zusammen. In der jüngsten Vergangenheit konntet Ihr das nicht mehr tun, weil sie krank ist. Ihr müsst Euch verlassen vorkommen, wenn man bedenkt, dass Euer Vater nun auch noch im Gefängnis sitzt.«

»Ich habe mich damit abgefunden.«

»Es war eine aufreibende Zeit, und so will ich freiheraus sprechen, Leyre Las Rosas.« Er sprach ihren Vornamen leise aus. Lej-reh. »Das Leben Eures Vaters liegt in meinen Händen. Und ich brauche Eure Fähigkeiten als jemand, der seltene Dinge aufzuspüren weiß.«

»Ihr glaubt, dass es mich interessiert, was aus meinem Vater wird«, sagte sie, und ihre tiefe Stimme klang hart.

»Als wir Euren Vater gefangen genommen haben, habe ich Euer Haus besucht. Ich sehe mir gern selbst die Häuser der Menschen an, die mich verraten. Und wisst Ihr, was ich gefunden habe?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Einen Mann, der den Wein liebt. Einen Mann, der seine Tochter liebt. Einen Mann, der sein Königreich liebt. Ich weiß, dass Euer Vater verleumdet wurde. Aber von wem? Mir fallen nur die Flüsterer ein, obwohl das vor Gericht schwer zu beweisen wäre. Ich habe mich dazu überreden lassen, ihn zu begnadigen, mein Wohlwollen zu zeigen. Wisst Ihr, ich habe jeden Brief gelesen, den Ihr je an Euren Vater geschrieben habt. Er hat jeden Fetzen aufbewahrt, auf den Ihr gekritzelt habt, seitdem Ihr schreiben könnt. Obwohl Ihr der Bastard aus einem Seitensprung seid, seid Ihr sein Ein und Alles, und er liebt Euch. Ich lege sein Schicksal in Eure Hände, Leyre. Alles, was Ihr tun müsst, ist, den Gegenstand zu suchen, den ich begehre. Es sind zwei, aber sie gehören untrennbar zusammen.«

Er hob Duque Arias’ Weinglas hoch und trank daraus. »Das war ein guter Jahrgang. Es ist ein Tempranillo aus der Gegend Eurer Familie, glaube ich.«

Eine Erkenntnis dämmerte in Leyres jadegrünen Augen. »War überhaupt in einem der Gläser Gift?«

»Nein.«

»Woher wollt Ihr wissen, dass jemand nicht lieber Gift trinken würde, als sich Eurem Zorn zu stellen?«

Fernando zog eine Augenbraue hoch. »Das würde zumindest eine gewisse Haltung zeigen. Ich bin interessierter daran, die Feiglinge aufzuspüren, die nicht sterben wollen. Die Fajardos sind immer schon Risiken eingegangen. Haben wir eine Abmachung?«

»Was wird mit mir geschehen, wenn ich versage?«, fragte sie.

»Euer Vater würde im Gefängnis von Soledad bleiben. Ihr würdet nach Luzou zurückkehren, und die Ländereien der Las Rosas würden der Krone zufallen.« Er ließ ein Lächeln aufblitzen, als er sah, dass sie vor Wut schäumte. Das war der Schlüssel.

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, und als er sie schüttelte, war nicht sie diejenige, die als Erste losließ. »Worum handelt es sich bei dem Gegenstand, den ich aufspüren soll?«

König Fernando stand auf, um ein verborgenes Fach am Kaminsims zu öffnen. Er holte ein Holzkästchen heraus und stellte es vor sie hin. »Es enthält alles, was Ihr braucht, um zu finden, was man mir genommen hat.«

Leyre griff in das Kästchen und zog einen goldenen Sextanten hervor, der klein genug für ihre Faust war. Diamantene Sternbilder waren ins Gold eingelassen.

»Das ist schön«, sagte sie.

»Da ist noch mehr.«

Sie wühlte weiter und stieß auf ein Stück Pergament mit der Abbildung einer prächtigen Waffe. »Ihr wollt, dass ich Euch ein Messer bringe?«, spottete sie.

»Es ist nicht wie jedes andere Messer«, entgegnete er mit einer Heftigkeit, die er nicht hatte zeigen wollen. »Es wurde mir vor langer Zeit genommen. Ich dachte, es sei auf immer und ewig verloren. Aber ich habe ein Komplott aufgedeckt, das alles bedroht, worauf ich je hingearbeitet habe. Jetzt weiß ich, dass jemand anders ebenfalls nach diesem Messer sucht. Er wird Euch zum richtigen Ort führen, aber was er nicht weiß, ist, dass man diesen Sextanten braucht, um dorthin zu gelangen.«

»Und wenn ich die Waffe habe?«

»Tötet Ihr ihn.«

Sie runzelte die Stirn. »Wem soll ich das Leben nehmen?«

Seinem eigen Fleisch und Blut. »Meinem Sohn natürlich. Prinz Castian.«

1

Ich erinnere mich daran, vor nicht allzu langer Zeit auf diesem Marktplatz gestanden zu haben, und ich weiß nicht, wer sich mehr verändert hat: das Dorf oder ich. Die alte Schotterstraße ist jetzt mit abgenutzten Kopfsteinen gepflastert. Neue Verkaufsstände aus Holz mit windschiefen Dächern bieten fässerweise Datteln und importierte Nüsse an. Ein Händler, dessen Zähne so viele Löcher haben wie der Hartkäse, den er feilbietet, hält mir eine Kostprobe hin, die ich ablehne. Gesichter, die ich so gut kenne, sind voller Runzeln und Grau. Wann wurde die Herberge oben auf dem Hügel um zwei Geschosse aufgestockt?

In meinem Hinterkopf flüstert ein Mädchen mir immer und immer wieder seinen Namen zu. Ich bin Renata Convida, sagt sie, und sie wiederholt es so lange, bis ich das Gefühl habe, selbst zu verblassen.

Ich erinnere mich daran, vor nicht allzu langer Zeit auf diesem Marktplatz gestanden zu haben, aber diese Erinnerung gehört nicht mir.

Ich bin Renata Convida, und ich bin in meinem eigenen Kopf gefangen.

Mein Körper verharrt wie betäubt reglos vor einem Verkaufsstand. Mir ist bewusst, dass die Bäckersfrau mir eine Frage stellt, aber die Geräusche aus der gestohlenen Erinnerung lähmen mich. Die äußersten Winkel meines Gesichtsfelds verschwimmen bunt, als würde ich durch ein Prisma in gebrochenes Licht blicken – Lachen und Musik verzerrt wie hinter Glas. Dann bluten die Farben des grünen Dorfes, der Bäckerin, all dessen hier aus. Ich gleite in eine Leere, die mein gesamtes Gedächtnis verschluckt, in der es nur noch entsetzliche Stille gibt.

Aber von irgendwoher bohrt sich ein Geräusch in meinen Bauch und zerrt mich zurück in die Wirklichkeit.

»Ich habe gesagt: Wollt Ihr einfach nur herumstehen?«, ruft die hagere Bäckerin. »Oder wollt Ihr etwas kaufen?«

Vielleicht ist es der schrille Klang ihrer Stimme, der mich aus meinem Anfall zurückholt. Ich bin jedenfalls so dankbar, dass ich auf ihre Grimasse mit einem erfreuten Lächeln reagiere. Solche Augenblicke kommen und gehen seit zwei Wochen. Es beginnt mit einer unbehaglichen Empfindung im Bauch und endet gefangen in einer Erinnerung, die so lebensecht ist, dass es sich anfühlt, als wären mein Körper und mein Geist von jemand anderem besessen. Diese letzte Erinnerung hat bisher am längsten angehalten.

Mein ganzes Leben lang war meine Macht ebenso für mich wie für die Ältesten meines Volkes ein Rätsel. Ich kann den Lebenden Erinnerungen stehlen, die dann mir gehören. Ich habe so viele Erinnerungen an mich genommen, dass ich ein eigenes Gewölbe in meinem Verstand erschaffen habe, das Grau, in dem sie alle aufbewahrt sind. Manchmal entschlüpfen mir Erinnerungen wie flüchtige Gespenster. Aber das hier, was auch immer es ist, fühlt sich anders an. Ich gehe eine Straße entlang, und ohne Vorwarnung werde ich von der Empfindung überfallen, dass ich nicht ich bin. Ich sehe ein vertrautes Gesicht, und unter Aufbietung aller Kräfte muss ich es mir verkneifen, einen Namen zu rufen. Ich stehe auf diesem Marktplatz, und ich sehe, wie er früher war.

Ich habe festgestellt, dass ich mich selbst von einem solchen Erinnerungsanfall befreien kann, indem ich mir im Geiste eine Reihe von Sätzen vorspreche: Ich bin Renata Convida. Ich bin eine Robári. Ich bin eine Moria. Früher war ich Rebellin, eine der Flüsterer. Jetzt bin ich einfach nur noch eine Verräterin. Es ist dreizehn – nein, vierzehn – Tage her, dass ich mein Volk verraten und beschlossen habe, mich meinem Feind anzuschließen, Prinz Castian. Auch wenn sie mich zuerst verraten haben, muss man dazu sagen.

Die Gerüche von kandierten Walnüssen, Bier und Brot erinnern mich daran, wo ich bin: im Dorf Acesteña, in der Provinz Sól Abene im Königreich Puerto Leones.

Brot.

Ich habe die Herberge verlassen, um welches zu kaufen.

Die Bäckerin mustert mich. Wie die meisten Leute aus der Provinz Sól Abene hat sie eine helle Gesichtsfarbe, obsidianschwarze Augen und dichte schwarze Brauen. Ihr Haar, so weiß wie Milch, aber noch immer voll, muss einst ebenfalls schwarz gewesen sein. Ihre einfache braune Tunika ist mehlbestäubt. Ihr schlauer starrer Blick verweilt auf meiner Kleidung – einer cremefarbenen Bluse mit langen Ärmeln und einem züchtigen hohen Kragen, einem dunkelblauen Leinenrock mit staubigem Saum. Mein Haar, dunkel wie Krähenfedern, ist zu einer Krone geflochten, und einzelne Strähnen haben sich an meinen Schläfen gelöst, weil ich noch nie gut in diesen Dingen war. Meine vernarbten Hände – die mich als Robári enttarnen würden – stecken in feinen Spitzenhandschuhen. Aber hier in Sól Abene tragen verheiratete Frauen traditionell ihr Haar hochgesteckt und bedecken Hände, Beine und Hals, sodass ich nicht auffalle. Zumindest hoffe ich das.

»Zwei Brote, eine Haselnusstorte und einen Olivenölkuchen, bitte.« Ich wühle in meiner Tasche nach meiner Geldbörse.

Der zerknitterte, mürrische Blick der Bäckerin verwandelt sich in ein erfreutes Nicken. »Ihr seid zum Carnaval hier, was?«

Ich nicke meinerseits. Wir sind nicht wegen des Carnaval de Santa Cariña hier, aber er ist die perfekte Tarnung. Während das Dorf voller Feiernder aus allen provincias ist, werden Castian und ich wie zwei weitere Gäste aussehen, die sich an dem kulinarischen Angebot und der wohlklingenden Musik der Sackpfeifen erfreuen werden, wenn wir Castians Informanten treffen.

»Und zu unseren Flitterwochen«, sage ich herzig. Ich hoffe, es klingt herzig. Immer, wenn ich versuche, wie Sayida aus meiner alten Einheit zu klingen, endet es damit, dass ich den Leuten ins Gesicht schreie und dabei lächle, als wäre ich geistesgestört. Sayida würde wahrscheinlich auch noch ihren Zuckerbrotzopf umsonst bekommen.

Die Bäckerin wendet sich von mir ab. Ja, definitiv geistesgestört, nicht herzig. Sie schlägt den Olivenölkuchen in braunes Fleischpapier ein und bindet das Paket mit einer hübschen goldfarbenen Schnur zu. »Ihr seht nicht allzu glücklich darüber aus, was?«

Ich erbleiche. Dabei sollte ich doch inzwischen an die schroffe Art von Sól Abene gewöhnt sein.

»Keine Sorge, Schätzchen. Trotzdem sind wir noch ein bisschen jung für das alles, oder? Na ja, beim ersten Mal hab ich noch aus Liebe geheiratet. Liebe kann alles überstehen, außer natürlich der Plage. Beim zweiten Mal hab ich wegen der Bäckerei geheiratet. Wenns mit dem Ersten nicht klappt, schaut, dass Ihr den Zweiten überlebt, dann bleibt Euch das Geschäft.«

Noch immer wortlos grabe ich tiefer in meiner Geldbörse und wünsche mir, sie wäre so groß, dass ich darin versinken könnte. »Äh – danke schön. Das ist sehr weise.«

»Die Weisheit gibt es umsonst. Die Brote und der Kuchen kosten zwanzig Pesos.«

»Zwanzig?« Händler von den benachbarten Ständen recken die Hälse. Ich lehne mich zu der Bäckerin hinüber und senke die Stimme. »Vor einer Woche hat mein … Ehemann dasselbe gekauft und nur zehn bezahlt.«

Die Bäckerin schürzt die Lippen. »Gewiss, aber vor einer Woche hatte der König die Steuer auf Weizen auch noch nicht verdoppelt. Ganz zu schweigen von den Gebühren für das Olivenöl, das aus der provincia Zaharina kommt. Selbst so komme ich kaum über die Runden, was? Ich geb Euch die Brote aufs Haus, weil Ihr in den Flitterwochen seid. Fünfzehn für den Kuchen. Fünf für die Torte.«

Die Steuer auf Weizen verdoppelt. Schon wieder. Beim letzten Mal haben König und Richter ihre Kriegskasse damit gefüttert. Ich sollte mich glücklich schätzen. Als ich noch mit meiner Rebelleneinheit unterwegs war, stahlen wir auf unseren Missionen, plünderten und jagten, um etwas zu essen zu haben. Jetzt habe ich eine Geldbörse voller Münzen. Natürlich sind sie gestohlen – ich habe sie heute Morgen mitgehen lassen. Castian war schon fort und hatte nur eine Nachricht hinterlassen: Ich bin zum Abendessen wieder da. Dein Dein Mann. Ich zerknüllte sie und warf sie in die ersterbende Glut des Feuers. Dann griff ich in die Geheimtasche in seinem Beutel, von der er glaubt, dass ich sie nicht kenne, und entwendete ein paar Münzen.

Aber zwanzig Pesos für Backwaren sind ein Luxus, den wir nicht verdienen. Nach der zweiwöchigen Suche nach Dez und dem Messer der Erinnerung ist die Spur, die wir hatten, kalt geworden. Dez, früher der Anführer meiner Einheit, war derjenige, der mir beigebracht hat, wie man seine Spuren verwischt. Ich dachte, ich würde ihn gut genug kennen, um ihn zu finden. Darauf hatte Castian gesetzt. Aber vielleicht hat Dez mir nicht all seine Kniffe beigebracht. Vielleicht will er nicht gefunden werden – nicht einmal von mir.

Je länger Dez spurlos verschwunden bleibt, desto mehr streiten der Prinz und ich. Ich rede mir selbst gut zu, dass ich mir nach all den Auseinandersetzungen diesen Kuchen verdient habe, und so krame ich die großen Pesostücke heraus und lege sie in die ausgestreckte Hand der Bäckersfrau. Sie steckt sie in die Tasche ihrer Schürze, händigt mir die Backwaren aus und wendet sich den anderen Kunden zu.

Auf dem Weg über den Markt trifft mich eine Welle der Übelkeit. So beginnen die Anfälle üblicherweise, gefolgt von einer Empfindung, als würde jemand mit einem Beil auf meinen Schädel einschlagen. Mit dem Korb vor der Brust eile ich die Straße entlang auf die Herberge zu. Ich versuche, mich auf die Anhöhe vor mir zu konzentrieren, auf die Gegenwart und nicht auf die gestohlenen Erinnerungen, die mich immer wieder zu überwältigen versuchen. Jeder schwerfällige Atemzug bringt mich meinem Ziel einige Schritte näher. Ich schlängle mich durch den Strom der Fußgänger und versuche, die Gerüche zu benennen – gebratenes Fleisch, Essig, gepökelter, von verschiedenen Küsten importierter Fisch. Ich versuche, meine Liste an Wahrheiten, die mich erden sollen, herunterzubeten, da bemerke ich, dass mich jemand beobachtet.

Schweißtropfen brennen in meinen Augen, aber ich sehe ihn noch immer. Einen bärtigen jungen Mann mit sonderbaren blauen Augen und einem Blutfleck auf der Wange. Er bahnt sich den Weg durch eine Schafherde, die ein Mädchen in einem blassgrünen Kleid hütet. Wie lange folgt er mir schon?

Ich bleibe stehen, um ein älteres Paar anzulächeln. Auch er bleibt stehen, und als sich das Paar weiterbewegt, geht er wieder los. Ich werde schneller. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Hat er mich von den Suchplakaten erkannt? Die meisten sind von dürftiger Qualität und könnten auf jedes Mädchen mit braunen Augen und schwarzem Haar in Puerto Leones zutreffen. Außerdem würde die Zweite Welle nach einer schmutzigen Rebellin Ausschau halten und nicht nach einer frischgebackenen Ehefrau in den Flitterwochen.

Als ich einen Blick über die Schulter werfe, ruft der junge bärtige Mann etwas, aber ich verstehe ihn durch die Musik und den Lärm des Markts nicht. Ich bemerke die Messer an seiner Hüfte und den groben Sack über seiner Schulter, aus dem Blut sickert. Mir fallen die Geschichten ein, die die Flüsterer immer im Dunkeln erzählt haben: von gefährlichen Jägern, die für den König arbeiten. Sie gehören weder dem Militär an, noch sind sie ehrbare Leute. Sie jagen einfach nur Moria wie mich und zerstückeln uns, um unsere Körperteile wie Trophäen zu verkaufen.

Ich renne los.

Meine Schenkel brennen von dem schnellen Aufstieg. Mir fällt ein Brot aus dem Korb, aber ich halte nicht an. Ich hasse die Angst, die zwischen meine Rippen kriecht. So soll ich nicht gefasst werden. Wut bohrt ihren Stachel in mich, weil ich weiß, dass ich auf unserem Zimmer hätte bleiben sollen. Ich hätte es nicht ohne Castian verlassen sollen.

Ich erreiche die Hügelspitze, und der Mann brüllt wieder nach mir. Diesmal nennt er mich beim Namen. Nicht bei dem Namen auf den Plakaten. Gesucht: Renata Convida. Robári. Mörderin. Stattdessen ruft er mich bei einem Namen, den nur mein Vater verwendet hat.

Einen Augenblick lang verschwindet die Herberge. Der Marktplatz ist weg. Vor und hinter mir ist nur schwarze Leere. Ich kneife die Augen zu. Es kann nicht schon wieder losgehen. Nicht jetzt.

»Nati!« Seine tiefe Stimme ist direkt an meinem Ohr. »Was ist in dich gefahren?«

Die Gegenwart kehrt in einem kalten Schwall zurück. Ich lasse meinen Korb fallen und versinke in dem Druck hinter meinen Schläfen. Plötzlich geht mir auf, dass ich in Castians Armen liege. Ich klammere mich an die abgeschabte Baumwolle seiner Tunika und spüre seinen rasenden Herzschlag unter meiner Hand, während er mich aufrichtet. Castian ist der sonderbare bärtige Mann. Ich hatte seine Illusion vollkommen vergessen, das Gesicht, das er heute trägt.

Ich kann es mir nicht leisten zu vergessen.

»Ich – ich habe dich nicht erkannt«, sage ich und schiebe ihn weg. Hebe meine Einkäufe auf. Der Olivenölkuchen ist ein wenig zerdrückt, aber selbst wenn er voller Schmutz wäre, würde ich ihn essen. »Du hast mir Angst eingejagt.«

Ich lasse ihn stehen und setze meinen Weg zur Herberge fort. Dank seiner langen Beine ist er in wenigen Schritten wieder an meiner Seite.

Sein Haar ist schlammbraun und klebt an den Schläfen. Er zupft an seinem kurzen braunen Bart. »Ich habe dir Angst eingejagt?«

»Vielleicht hättest du dich für ein Gesicht entscheiden sollen, das man sich besser merken kann!«

»Vielleicht solltest du mir einfach die Wahrheit sagen.«

»Wovon redest du?« Ich zucke zusammen angesichts der Kopfschmerzen, die schon auf dem Markt angefangen haben.

Tief aus seiner Kehle dringt ein Knurren. »Etwas stimmt nicht, und es wäre vorteilhaft für den Rest unserer Mission, wenn du mich nicht mehr ausschließen würdest, so wie du es tust, seitdem du beschlossen hast, mir aus jenem Fenster zu folgen.«

Wir erreichen die Sagrada-Schenke. Eine der Aufwärterinnen, die Castian schöne Augen machen, beobachtet unseren Streit, während sie einen Blumenbogen über der Tür anbringt. Ich fahre zu ihm herum. Da ist Schmutz auf seiner Stirn. Ich würde ihn am liebsten wegwischen, aber ich schließe die Faust um meinen Weidenkorb.

Er gibt sich seufzend geschlagen und sagt: »Wir sollten nach oben gehen.«

»Nein, sprich weiter. Du bist der Experte in Sachen Ehrlichkeit. Was genau glaubst du denn, das ich vor dir verberge?«

Ich weiß, dass er es nicht aussprechen wird. Nicht, wenn wir belauscht werden könnten. Es ist nicht fair von mir, ihn so zu provozieren.

»Ähem«, lässt sich ein hohes Hüsteln von jemandem vernehmen, den ich in der Zwischenzeit nur allzu gut kenne. Die Herbergsmutter und Inhaberin, Doña Sagrada. Ihr ergrauendes Haar ist ordentlich zu einem Dutt zusammengedreht, und zur Feier des Tages hat sie sich eine rote Rose hinters Ohr gesteckt. Sie streicht ihre Schürze glatt und strahlt Castian mit ihren großen braunen Augen an. »Dachte ich doch, dass ich da meine Lieblingsturteltäubchen höre. Natürlich streitet und benehmt Ihr Euch wie ein Ehepaar, Señor Otsoa, aber seid dabei doch bitte etwas leiser. Wir hatten Beschwerden von Euren Zimmernachbarn. Ich habe ihnen gesagt, dass Ihr in Euren Flitterwochen zum Carnaval hier seid. Wobei mir einfällt: Eure Kaution wird einen Schaden am Bett nicht abdecken.«

Ich denke daran, dass ich gestern möglicherweise Castians Stiefel nach ihm geworfen habe oder auch nicht, als wir über seinen Bruder sprachen. Darüber, dass wir seine Spur verloren haben. Darüber, dass ich einmal mehr versagt habe.

»Ich versichere Euch …« Ich will schon jedes Eheglück abstreiten, da unterbricht mich Castian mit einem umwerfenden Lächeln.

»Dass wir mehr Zurückhaltung üben werden.«

»Ach, das macht doch nichts. Nun, habt Ihr es mitgebracht?«, fragt Doña Sagrada und klatscht in ihre dicken kleinen Hände.

Castian vermeidet es, mich anzusehen, doch selbst seine Illusionári-Magie kann die Röte nicht verbergen, die vom Ausschnitt seiner Tunika bis in seine Wangen hinaufkriecht. Er reicht ihr den blutigen Sack. »Ja. Ich hatte Glück und habe zwei erwischt. Eines ist für Euch.«

»Oh, Señor Otsoa!« Die Matrone strahlt und legt ihm die Hand auf seinen muskulösen Unterarm. »Gesegnet seid Ihr!«

»Bitte, ich habe es Euch doch gesagt – nennt mich Will.«

»Was ist das?«, will ich wissen.

Die Herbergsmutter gluckst vor Lachen. »Warum ruiniert Ihr die Überraschung, Marcela? Als Will sagte, dass Ihr Euch nach dem Kaninchenfrikassee verzehrt, das uns ausgegangen ist, habe ich geantwortet, dass der Fleischer nur Rind und Schwein zu Carnaval dahat – aber wenn er ein Kaninchen fangen könnte, würde ich es schon für Euch zubereiten.«

Gestern, nachdem wir einander grausame Wörter an den Kopf geworfen hatten, war ich müde und hungrig gewesen. Wir aßen gebratenes Schwein und Salzkartoffeln, und ich bemerkte beiläufig, dass ich das Kaninchenfrikassee vermisste. Dann kroch ich zwischen die Kissen und Decken auf dem Boden und schlief vor dem Feuer ein.

Castian weicht meinem Blick aus, aber er ist viel besser im Schauspielern als ich. Er nimmt mir sanft den Korb ab. Mir ist entgangen, dass er das Brot aufgehoben hat, das ich in der Eile habe fallen lassen.

Doña Sagrada nickt. »Es ist das Rezept meiner Urgroßmutter. Sie war zu ihrer Zeit Köchin der Blaublütigen im alten Palast. Der Duque Sól Abene kommt zum Essen hierher, wenn er sich nicht in der Hauptstadt aufhält. Er kehrt immer zu Carnaval heim, aber ich rechne nicht mit ihm in diesen schwierigen Zeiten.«

Ich lächle gequält. »Ja, das habt Ihr schon erwähnt.« Ein- bis fünfzehnmal.

Castian ergreift rasch die Hand unserer Wirtin und küsst sie. Die Frau errötet und sieht mich an, als würde sie mich für die glücklichste Braut im ganzen Königreich halten. »Wir danken Euch, Doña Sagrada. Wirklich.«

Wir. Ich und Castian. Ein Blitz aus Schmerz bohrt sich zwischen meine Augen, und ich kann nicht sagen, ob das mein gebrochener Geist oder nur der Hass auf Castian ist, den ich bislang nicht abschütteln konnte.

Als wir der Matrone in die Schenke folgen, entdecke ich eine rote Uniform. Zwei junge Soldaten aus der Zweiten Welle sitzen an einem Tisch und trinken aus Biergläsern. Sie lachen, und bevor einer zu mir aufsehen kann, fahre ich herum zu Castian und hänge mich an ihn, als könnte ich nicht genug von diesem Mann, meinem Gatten, bekommen. Er zuckt nicht einmal mit der Wimper, aber ich spüre ihn starr werden.

»Wir sind auf unserem Zimmer, Doña Sagrada«, sagt er, und seine raue Stimme verrät mir, dass ich nicht allein mit meiner Angst vor der Nähe des Königs bin.

Die Wirtin legt mir den Handrücken auf die Stirn. Ihre Knöchel sind schwielig, aber warm. Einen Augenblick lang erinnere ich mich an etwas, das ich lange weggesperrt hatte: daran, wie meine eigene Mutter prüfte, ob ich Fieber hatte. Ich sehe ihr Gesicht nur kurz, aber es reicht, um mich ins Wanken zu bringen. Castian verstärkt seinen Griff um meine Hüfte, und ich wehre mich nicht. Fürs Erste bin ich dankbar, nicht allein zu sein, selbst wenn das heißt, dass ich mit ihm zusammen sein muss.

»Oje. Ihr seid ganz erhitzt, Señora Otsoa. Ich schicke Euch frisches Wasser und Kamillentee. Das hat bei mir in den ersten Monaten der Schwangerschaft Wunder gewirkt.«

Castian ist so verdutzt, dass ich in dem Gold, in dem eine seiner Haarlocken schimmert, seine Illusion ein wenig flackern sehe.

»Das wäre reizend«, antworte ich zuckersüß und schrill. »Gehen wir, Schatz.«

Ich lasse die ebenso freundliche wie ahnungslose Herbergsmutter stehen, einen blutigen Beutel voller Wild an sich gedrückt, und zerre Castian an der Hand die Treppe hinauf. Dabei werfe ich einen flüchtigen Blick auf die Soldaten, die aufstehen, ohne zu zahlen, um ihren Rundgang fortzusetzen.

Castian nestelt mit dem Schlüssel herum und öffnet die Tür. Als er sie zugeschlagen hat, schwindet die Illusion, und das echte Blaugrün seiner Augen wird sichtbar, und sein langes goldenes Haar lockt sich wieder auf seinen breiten Schultern. Ein Höcker durchbricht den glatten Rücken seiner Nase, und der dichte braune Bart schwindet, bis nur noch ein gestutzter goldener Dreitagebart übrig ist.

»Wir müssen uns unterhalten«, sagt er. Dann sieht er auf seine Füße.

Ich stelle den vollen Korb auf den Tisch. »Dann los.«

Aber wir stehen nur da, und keiner von uns sagt ein Wort. Ich ziehe jeden Streit Augenblicken wie diesem vor.

Es gibt so vieles, worüber wir sprechen sollten. Ich würde damit beginnen, dass wir inzwischen eine Woche hier sind und nun zum ersten Mal Gardisten in Königsrot aufgetaucht sind. Ich habe eine dicke Narbe an meinem Hals von meinem letzten Zusammenstoß mit der Zweiten Welle zurückbehalten – Soldaten, die Castian früher selbst ausgebildet hat und die jetzt vom König und vom Richter befehligt werden. Dann ist da noch Dez, Castians Bruder und mein einstiges Ein und Alles. Außerdem der Umstand, dass ich Doña Sagradas Kräutertee nicht abgelehnt habe, weil ich fürchte, dass sie recht haben könnte. Die Ungewissheit, ob unsere Mission irgendetwas ausrichten wird oder das Königreich dem Untergang noch näher bringen wird. Und dann wäre da noch unsere konfuse Vergangenheit – Jahre, bevor Castian dieser grässliche Prinz wurde, war er mein bester Freund. Mein einziger Freund.

Castian und ich haben beschlossen zusammenzuarbeiten, aber wie soll das gehen, wenn wir einander nicht vertrauen? Er hat recht, ich verheimliche ihm etwas. Aber wenn ich ihn so ansehe, wirklich ansehe, weiß ich, dass noch etwas anderes nicht stimmt.

»Was ist los?«, frage ich.

Er zieht ein zerknülltes Pergament aus seiner Tasche. Obwohl ich direkt vor ihm stehe, vermeidet er es, mich anzuschauen. Ich nehme das Pergament entgegen, ohne den Blick von seinem Gesicht zu wenden. Wut in der Furche zwischen seinen Augenbrauen. Schmerz in dem einsamen Zittern seiner Unterlippe. Nichtwahrhabenwollen in der Art, wie er tief einatmet, die Arme vor der Brust verschränkt und seufzt.

Ich streiche das Pergament glatt in der Annahme, eine neue Zeichnung meines Konterfeis mit einer neuen Belohnung zu sehen. Stattdessen steht dort auf die Mitte des Blatts hingekritzelt eine einzige Zeile.

Hört auf, mir zu folgen. Ich bin schon fort.

Dez.

2

Ganz gleich, wie oft ich die Worte lese, sie fühlen sich unwirklich an. Ich streife meine Handschuhe ab und fahre mit den Fingerspitzen über die vertraute Handschrift. Was denke ich mir dabei? Dass die Tinte erhaben sein könnte wie die Narben auf meinen Händen? Dass so Erinnerungen wieder lebendig werden?

Hört auf, mir zu folgen. Ich bin schon fort.

Ich habe wochenlang in dem Glauben gelebt, dass Dez tot ist. Seine Hinrichtung in Andalucía mag eine Illusion gewesen sein, die Castian erschaffen hat, aber meine Verzweiflung und mein Kummer waren echt.

»Dez weiß, dass wir ihn aufzuspüren versuchen«, sage ich.

Castian bringt so viel Abstand wie möglich zwischen uns. Das Hochzeitszimmer ist der größte Raum in der Herberge. Es gibt eine eigene Badewanne, einen Kamin, ein Bett, in das gut und gern eine kleine Leonesser Familie passen würde, ein Esstisch für zwei Personen und zwei Plüschläufer und Überdecken, die ich in den letzten Tagen für mich beansprucht habe. Und doch hat sich dieser Raum noch nie so erstickend klein angefühlt.

Ich reibe den Ehering mit dem Smaragd, den ich trage, seitdem wir zusammen weggegangen sind. »Dez weiß, dass ich weiß, dass er am Leben ist.«

Castian ist sich durchaus im Klaren darüber, aber ich muss die Worte laut aussprechen, sonst rede ich mir noch ein, dass es eine grausame List ist.

»Er muss mir gefolgt sein«, erwidert Castian und zieht die Vorhänge auf. Strahlen der Nachmittagssonne brechen sich im silbernen Spiegel und fallen auf den Tisch. Er krempelt die Ärmel hoch, gießt Wasser aus dem Krug in das Porzellanbecken und wäscht sich die Hände mit einem Stück Seife. »Er hat es an den Baum genagelt, neben dem ich meine Falle aufgestellt hatte.«

»Er kann noch nicht weit sein«, überlege ich. »Das Dorf hat eine Hauptstraße. Er wird die Wachen dort meiden und sich durch die Wälder schlagen.«

»Du hast gesagt, Andrés sei der beste Jäger von allen Flüsterern gewesen. Er könnte inzwischen überall sein.«

Ich zerknülle das Pergament zwischen den Fäusten. »Was soll ich deiner Meinung nach tun? Nichts?«