Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945-2005) - Martin Greschat - E-Book

Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945-2005) E-Book

Martin Greschat

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Beschreibung

60 Jahre sind in der Geschichte der Kirche eine kurze Zeit. Aber wenn man auf Deutschland blickt und insbesondere auf die Bundesrepublik, bietet die Zeitspanne von 1945 bis 2005 dem Betrachter ein Bild rasanter Veränderungen. Die evangelische Kirche und der Protestantismus waren in diese radikalen Umbrüche nicht nur verwickelt und eingebunden, sondern sie agierten von Anfang an gestaltend und prägend mit. Diesen Prozess in seinen Zusammenhängen zu entfalten und seine Kontexte zu erhellen, das ist Greschats Anliegen. Insofern leistet das Buch, was die unübersichtlich gewordene Fülle digitaler Informationen zum Thema nicht kann: Es gibt Orientierung. Christen sollten wissen, woher sie kommen. Denn nur dann sind sie befähigt, verantwortlich zu entscheiden, wohin sie gehen sollen.

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Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen

IV/2

Herausgegeben von Ulrich Gäbler und Johannes Schilling Begründet von Gert Haendler und Joachim Rogge †

Martin Greschat

Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945–2005)

Martin Greschat, Dr. theol., Jahrgang 1934, ist Professor em. für Evangelische Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen und ordinierter Pfarrer i.R. der Westfälischen Landeskirche. Er ist Autor und Herausgeber von Büchern und Aufsätzen Zu Themen der Kirchen- und Theologiegeschichte vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

© 2010 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne

Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Gesamtgestaltung: Jochen Busch, Leipzig

ISBN 9783374034727

www.eva-leipzig.de

Vorwort

Sechzig Jahre sind in der Geschichte der Kirche eine kurze Zeit. Aber wenn man auf Deutschland blickt und insbesondere die Bundesrepublik, bietet jene Zeitspanne dem Betrachter ein Bild rasanter Veränderungen und umfassender Umbrüche. 1945 war Deutschland ein Trümmerfeld. Äußere Zerstörungen und innere Verstörungen prägten den Alltag und die Erfahrungen der Menschen. Armut, Hunger, Elend regierten. Heute leben die Deutschen in einer Wohlstandsgesellschaft mit vielfältigen Annehmlichkeiten, wozu nicht zuletzt soziale und wirtschaftliche Absicherungen gehören. An Problemen fehlt es dieser Gesellschaft sicherlich nicht. Aber sie sind eher harmlos im Vergleich zur damaligen Situation.

In unseren Tagen ist Deutschland international eine geachtete Nation. Die Deutschen leben vereint in einem Staat, wenngleich in engeren Grenzen. Von ihnen geht keine Bedrohung mehr für die Nachbarn aus. Die Bundesrepublik ist gleichberechtigt eingebunden in ein friedliches Europa. Damals war Deutschland in vier Besatzungszonen geteilt, völlig abhängig von den Siegermächten und Gegenstand der Feindschaft, des Hasses und der Verachtung.

Es war ein langer, mühseliger, auch widersprüchlicher und keineswegs einliniger Weg zu den heutigen Verhältnissen. Vielerlei geistige Brüche und mentale Umorientierungen verursachten erhebliche Schmerzen, auch Ängste und leidenschaftlichen Widerspruch. Harte Auseinandersetzungen und erbitterter Streit begleiteten diese gesellschaftlichen und geistigen Prozesse. Alles das betraf in einem eminenten Ausmaß auch die Kirchen. Die evangelische Kirche und der Protestantismus, ihr geistiges und geistliches Umfeld also, um die es in dieser Darstellung geht, waren in diese Vorgänge nicht nur verwickelt und eingebunden, sondern sie agierten in der Bundesrepublik von Anfang an gestaltend und prägend mit. Es ist daran zu erinnern, dass die starke Position beider Kirchen in diesem Staat auch damit zusammenhängt, dass sie nicht nur geistlich und geistig, sondern auch sozial, wirtschaftlich und politisch tätig waren, als es in Deutschland 1945 keinen Staat mehr gab.

Von dieser rund sechzig Jahre dauernden Geschichte ist in diesem Buch die Rede. Es will informieren, einen Überblick bieten über die verwirrende Vielfalt der jüngsten Vergangenheit. Dazu gehört in hohem Maß das Bemühen, die Intentionen der Kontrahenten von damals zu verstehen. Darum sind nicht alle Katzen grau! Vom Vertrauen auf Gottes Wort und dem Zutrauen zum Nächsten ist hier konkret die Rede, vom Glaubensgehorsam und dem Eifer um die Kirche – aber ebenso von Streitsucht, Vorurteilen und Borniertheit. Es geht mir weder um Apologetik noch um Anklagen und Verurteilung. Wichtiger ist zu begreifen, was in jener Vergangenheit gedacht und getan wurde, was geschehen ist und was nicht – und warum das so war.

Die neuen Medien, voran das Internet, überschütten uns mit einer Fülle von Informationen. Mit dieser Dichte kann keine Darstellung konkurrieren. Aber Informationen ohne die Entfaltung von Zusammenhängen bedeuten wenig. In diesem Buch geht es um die Erhellung der Kontexte des Geschehenen und insofern um Orientierungsangebote. Nicht nur alle Menschen, sondern insbesondere Christen kommen mit ihrem Denken und Empfinden immer schon von weither. Wir alle sind stets beeinflusst, wenn nicht sogar geprägt auch von der Vergangenheit der Kirche, ihren Strukturen, Mängeln und Fehlern, ihren Stärken und insgesamt ihrer Frömmigkeit. Das alles fließt sehr selbstverständlich in das gegenwärtige Verhalten, Denken und Tun mit ein. Christen sollten wissen, woher sie kommen. Denn nur dann sind sie befähigt, verantwortlich zu entscheiden, wohin sie gehen sollen und wollen. In diesem Sinn widme ich dieses Buch vor allem den jüngeren und jungen Zeitgenossen, voran meinen Kindern und Enkeln.

Martin Greschat
Münster, Ostern 2010

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Vorwort

Kapitel 1: Die Nachkriegszeit

1. Die Zusammenbruchgesellschaft

2. Besatzungszonen und Kircheneinheit

3. Stuttgarter Schulderklärung und Darmstädter Wort

4. Die Gründung der EKD

5. Zweierlei Staatsgründungen

Kapitel 2: Die Ära Adenauer

1. Westintegration und Wiederbewaffnung

2. Heinemanns Position

3. Der Weg der EKD

4. Einwirkungen aus dem Osten

5. Wahlkampf 1953

6. Kirchliche Öffentlichkeit und persönliche Frömmigkeit

7. Abschluss der Westintegration

8. Militärseelsorge

9. Atomare Bewaffnung

10. Das Ende einer Epoche

Kapitel 3: Ein Jahrzehnt der Umbrüche

1. Das Tübinger Memorandum

2. Die „Ostdenkschrift“

3. Ein veränderter Katholizismus

4. „Kein anderes Evangelium“

5. Die Studentenrebellion

6. „Dritte Welt“ und Ökumene

7. Die EKD-Reform

8. Der Kampf um die Ostverträge

Kapitel 4: Unruhige Beruhigungen

1. Das FDP-Kirchenpapier

2. Politische Theologie

3. Im Schatten des Terrorismus

4. Neue soziale Bewegungen

5. Reformen

6. Die Friedensbewegung

7. Weltverantwortung und Ökumene

8. Letzte Jahre der Bonner Republik

Kapitel 5: Im vereinten Deutschland

1. Anschluss statt Zusammenschluss

2. Schwierige Angleichungen

3. Kirchliche Neuordnungen und Fusionen

4. Leuchtfeuer zur Zukunft

Abkürzungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Personenregister

Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen (KGE)

Endnoten

Kapitel 1 Die Nachkriegszeit

1. DIE ZUSAMMENBRUCHGESELLSCHAFT

Keine andere Organisation besaß im zerstörten und besetzten Deutschland 1945 auch nur annähernd eine derart privilegierte Stellung wie die Kirchen.1 Sie durften ihre Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen unbehindert weiterführen. Ihr Personal und ihre Gebäude standen unter dem Schutz der jeweiligen Besatzungsmacht. Die von den Nationalsozialisten erlassenen antikirchlichen Gesetze wurden aufgehoben, die enteigneten Krankenhäuser, Schulen und Heime schrittweise zurückgegeben. Diese Regelungen basierten auf der Direktive Nr. 21 der im November 1944 in London gebildeten „Europäischen Beratungskommission“ (European Advisory Commission, EAC), der Vertreter aus Großbritannien, den USA und der Sowjetunion angehörten. Die Franzosen kamen erst später dazu. Obwohl die Sowjetunion, teilweise von Frankreich unterstützt, kein Verständnis für die Neubildung kirchlicher Jugend- und Sportvereine aufbrachte und darüber hinaus den Kirchen das Recht bestritt, die Kirchensteuern mit staatlicher Hilfe einzutreiben sowie die Weiterzahlung der Staatszuschüsse zu beanspruchen, bildete diese Direktive eine enorme Privilegierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, zumal die Alliierten sich trotz der unterschiedlichen Entwicklung in den eigenen Besatzungszonen im Wesentlichen an diese Abmachungen hielten. Die Kirchen hatten sich zwar auf den religiösen Bereich zu beschränken, unterlagen dabei jedoch lediglich einer indirekten Kontrolle durch die Besatzungsmacht und konnten im Übrigen ihre Belange selbstständig regeln. Sicherlich schloss das Spannungen und auch Konflikte mit der Militärregierung nicht aus. Dennoch besaßen die Kirchen eine herausgehobene Position in der deutschen Zusammenbruchgesellschaft, die sie befähigte, eine wichtige Rolle in der Öffentlichkeit der unmittelbaren Nachkriegszeit zu spielen.

Das Ausmaß der Zerstörungen in Deutschland war enorm. Millionen Menschen lagen im wahrsten Sinn des Wortes auf den Straßen. Dazu gehörten die Überlebenden aus den Konzentrations- und Arbeitslagern, Fremdarbeiter und Verschleppte. Unterwegs waren ebenso viele der rund 10 Millionen Evakuierten, darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche, die man seit den ständig zunehmenden alliierten Bombenangriffen in angeblich sichere Gebiete des Reiches verschickt hatte. Auf den Straßen bewegten sich sodann die Kolonnen deutscher Kriegsgefangener und die Gruppen der Entlassenen. Mit ihnen mischten sich die vielen, die Familienangehörige oder Verwandte suchten. Doch die mit Abstand drückendsten Probleme entstanden durch die Flüchtlinge und Vertriebenen. Mit dieser pauschalen Bezeichnung pflegt man das Schicksal von rund 12,5 Millionen Deutscher zusammenzufassen, von denen etwa 5 Millionen aus den alten deutschen Siedlungsgebieten in Mittel-, Ost- und Südeuropa stammten, während rund 7 Millionen innerhalb der deutschen Grenzen von 1937 gelebt hatten, also östlich der Oder -Neiße-Linie. Für das Überleben dieser Menschen engagierten sich viele, auch Christen in der Ökumene. So schrieb z.B. der anglikanische Bischof Bell von Chichester im August 1945 im „Spectator“: „Die Wahrheit besteht darin, dass die Not im Reich von Tag zu Tag steigt und dass eine fürchterliche Hungersnot ausbrechen muss, falls nicht schleunigst Hilfe einsetzt. [...] Man muss die Flüchtlinge gesehen haben, um beurteilen zu können, was über sie hereingebrochen ist. Es gibt keine Worte, um ihr Elend beschreiben zu können. Sie haben noch das, was sie am Körper tragen und besitzen weder physische noch geistige Kraft.“2

Diese Flüchtlinge und Vertriebenen kamen in ein weitgehend zerstörtes Land, in dem die große Mehrheit der Menschen ebenfalls um ihr Überleben kämpfte. Luftangriffe und Bodenkämpfe hatten nicht nur Industrieanlagen, sondern auch das Transport- und Verkehrswesen zerschlagen sowie in hohem Maße Wohnraum. In den meisten Städten spielte sich das Leben in Trümmern ab. Die Kriminalität stieg steil an. Zumeist ging es um Eigentumsdelikte, daneben um Prostitution. Die Zahl der Ehe Scheidungen verdoppelte sich gegenüber der Vorkriegszeit. Dasselbe gilt für die unehelichen Geburten.

Dass eine totale Katastrophe vermieden werden konnte, lag am Familienzusammenhalt, an der landwirtschaftlichen Nutzung jedes auch noch so kleinen Fleckchens Land, aber eben auch an Geschäften auf dem Schwarzen Markt, am Betteln und Hamstern und nicht zuletzt an dem, was man „besorgen“, „organisieren“ oder „fringsen“ nannte – nach den Worten des Kölner Erzbischofs Joseph Frings, der 1946 in seiner Silvesterpredigt gesagt hatte: „Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird sich nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise durch seine Arbeit oder Bitten nicht erlangen kann.“3

Zu den Folgen des Hungers und der Kälte gehörte das Nachlassen der körperlichen und geistigen Leistungskraft. Viele Erwachsene und insbesondere Kinder hatten erhebliches Untergewicht. Zehntausende litten unter Hungerödemen. Im harten Winter 1946/47 erfroren allein in Berlin 285 Menschen, 53.000 mussten sich in dieser Stadt wegen Frostschäden ärztlich behandeln lassen. Die Kirchen informierten wiederholt mit bewegenden Berichten den Vatikan und die Ökumene über diese Zustände.

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