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Laurie ist eine geniale Geschichtenerfinderin, und mit ihrer besonderen Begabung entführt sie die Kinder einer Polio-Station in eine fantastische Welt. Was als Fabulieren beginnt, wird schließlich so wichtig wie das Leben selbst. In der Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit entwickeln die Kinder einen bewundernswerten Mut. Als ihr Freund Dickie an Kinderlähmung erkrankt, besucht Laurie ihn in der Klinik. Dort lernt sie weitere junge Polio-Patienten kennen. Für die Kinder beginnt Laurie eine Geschichte zu erzählen: vom randalierenden Riesen Collosso und dem Jungen Jimmy, der zum Riesentöter berufen ist. Immer mehr fantastische Wesen treten auf, und schließlich glaubt Dickie, selbst eine Figur im erzählten Geschehen zu sein. Auch die anderen entdecken sich in der Handlung wieder. Sie werden von der Schilderung ganz in den Bann gezogen, und als Laurie nicht mehr weitererzählen kann, helfen sie mit, die Geschichte des Riesentöters zu Ende zu bringen. Damit verändert sich auch ihr Leben in erstaunlicher Weise.
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Seitenzahl: 393
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IAIN LAWRENCE
DER
RIESENTÖTER
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Verlag Freies Geistesleben
FÜR MOM. ICH VERMISSE DICH.
1 DAS MÄDCHEN, DAS IN DIE ZUKUNFT BLICKEN KONNTE
2 DAS MÄDCHEN IN DER EISERNEN LUNGE
3 EIN RIESENTÖTER WIRD GEBOREN
4 DIE GESCHICHTE VON CAROLYN JEWELS
5 DER TRAURIGSTE WUNSCH
6 DER MANN, DER EINHÖRNER JAGTE
7 DER STEUEREINTREIBER KEHRT ZURÜCK
8 SMOKY JACKS LETZTE WORTE
9 DIE MAGIE DES GLÜCKSBRINGERS
10 DIE GNOMTREIBER
11 DIE RÜCKKEHR DES JÄGERS
12 DAS SCHLOSS AM RAND DER WELT
13 DIE HEXE AUF DEM KROKODIL
14 DER MANN, DER DEN WEG ZEIGTE
15 DER SCHATTEN DES STABS
ANMERKUNGEN DES AUTORS
DANKSAGUNG
IMPRESSUM
Als Laurie Valentine sechs Jahre alt war, holte sie ihre Buntstifte heraus und malte die Zukunft.
Sie fing an mit einer Insel, die wie eine Kartoffel geformt war, und in die Mitte malte sie die Zickzacklinie einer Bergkette. Sie malte einen gewundenen Fluss, der nach Süden zur Küste verlief, grüne Wälder und einen scharlachroten See, dann noch einen Klecks Gelb an die Stelle, wo eine Wiese war. Hier kam ein weißes Kreuz hin, dort ein geflügelter Löwe.
Es war ein Donnerstagmorgen im Jahr 1950. Laurie kniete auf einem Küchenstuhl, die Ellbogen auf dem Tisch, während Mrs. Strawberry, ihre Kinderfrau, im Wohnzimmer Staub wischte. Das ganze Haus roch nach Möbelpolitur.
«Ich muss jetzt an den Tisch», sagte Mrs. Strawberry. Sie kam mit ihren Tüchern und einem Staubwedel in die Küche und stellte sich hinter Laurie. «Du meine Güte, was für ein hübsches Bild.»
«Das ist kein Bild, Nanna», sagte Laurie und schaute auf. «Das ist eine Karte meines Lebens. Darauf sind alle Dinge, die ich finden werde, wenn ich auf Entdeckungsreise gehe.»
«Was ist das für ein Kringel?», fragte Mrs. Strawberry. «Das rote Ding neben dem Schloss?»
«Keine Ahnung», sagte Laurie. «Aber ich glaube, ich muss mit ihm kämpfen, wenn ich dorthin komme.»
Mrs. Strawberry lachte. «Du hast wirklich eine lebhafte Fantasie.» Sie strubbelte Laurie über die Haare und wandte sich ab. «Jetzt räum bitte den Tisch frei, Liebes. Es ist bald Zeit für das Mittagessen.»
Laurie pickte blaue Buntstiftkrümel von dem Fluss. «Willst du noch was über meine Karte wissen?», fragte sie.
«Du packst sie besser weg», sagte Mrs. Strawberry. «Heb sie für deinen Vater auf. Er wird sie sicher sehen wollen, wenn er heimkommt.»
«Darf ich sie in den Atlas legen?», fragte Laurie. «Immerhin ist es eine Karte, und …»
«Ja, das ist eine gute Idee.»
«… und sie sollte bei den anderen Karten sein.»
«Ja, ich verstehe schon», sagte Mrs. Strawberry. «Ich weiß, was ein Atlas ist.»
Laurie lächelte. Ohne ein weiteres Wort stellte sie ihre Buntstifte in die Dose, so ordentlich und gerade wie Pfähle in einem Zaun. Dann kletterte sie von ihrem Stuhl, trug die Karte mit beiden Händen in das Wohnzimmer und verstaute sie in dem großen blauen Atlas, zwischen der Antarktis und dem Register.
× × ×
«Ich habe noch nie ein so einsames Kind erlebt», sagte Mrs. Strawberry an diesem Abend zu ihrem Mann. Sie saßen vor dem kleinen weißen Haus, er auf der Hollywoodschaukel, sie auf dem Holzstuhl mit dem Strickzeug auf dem Schoß.
«Es ist traurig, findest du nicht?», sagte sie. «Wenn ein Mädchen ohne Mutter aufwächst, meine ich.»
«Du hast wohl recht», sagte er seufzend. Nicht zum ersten Mal führten sie dieses Gespräch.
«Es ist so traurig, dass die Mutter im Kindbett gestorben ist», setzte Mrs. Strawberry hinzu.
Ihr Mann nickte. «Ja, sehr traurig.»
«Ich weiß nicht, warum er nicht wieder geheiratet hat. Mir tun die beiden leid.» Mrs. Strawberry nahm ihre Stricknadeln auf und zog an dem Wollknäuel. «Der arme Mr. Valentine, er ist so schrecklich beschäftigt. Natürlich leistet er wertvolle Arbeit. Ja, es ist die Arbeit eines Heiligen, könnte man meinen. Immerhin sammelt er das Geld für den Kampf gegen Kinderlähmung. Aber ich wünschte, er hätte mehr Zeit für Laurie.» Ihre Nadeln setzten sich in Bewegung und klickten so regelmäßig wie ein Uhrwerk. «Es scheint fast so, als würde er versuchen, jedes Kind im Land vor Polio zu retten, und dabei vergisst er seine eigene Tochter.»
«Das ist wirklich traurig», sagte Mr. Strawberry, und es klang, als würde er dabei einem Drehbuch folgen.
«Sie ist ihm so ähnlich. Hat jede Menge Grips im Kopf», sagte Mrs. Strawberry. «Aber sie ist auch scheu und still. Du solltest sehen, wie sie spielt. Sie holt alle Bücher aus dem Regal und stapelt sie zu Wänden auf, und dabei quasselt sie unentwegt mit sich selbst. Sie stellt die Bücher immer zu einem Quadrat auf, aber es ist jedes Mal etwas anderes. Mal eine Burg, dann wieder ein Segelschiff, eine Festung oder ein Planwagen. Es spielt sich alles in ihrem Kopf ab, weißt du?»
«Ja», sagte Mr. Strawberry.
Wie immer beendete Mrs. Strawberry das Gespräch mit einem lauten Klicken ihrer Nadeln und einem letzten Wort. «Dieses Kind lebt in einer Fantasiewelt.»
× × ×
Überall gab es Bilder von Mrs. Valentine – schwarz gerahmte Fotos, die wie kleine Pappzelte auf dem Kamin und dem Radiogerät standen, auf der Kommode in der Diele, auf jedem Fenstersims und jedem Tisch. Aber für Laurie waren es Bilder von Fremden – von zwanzig verschiedenen Frauen, allesamt bräunlich und gelblich verfärbt.
Nachts konnte sie manchmal hören, wie ihr Vater mit diesen Bildern sprach.
Er war ihr Held – der zweitklügste Mann auf der Welt. Nur der Nikolaus wusste mehr als Lauries Vater. Er sammelte Geld für die Stiftung «March of Dimes», aber in ihren Augen war er eher eine Art Soldat. Er redete nämlich ständig über das Kämpfen.
«Wir befinden uns in einem Krieg gegen Polio», sagte er. Oder: «Wir haben eine Schlacht gewonnen, aber der Kampf geht weiter.»
Seine Uniform war ein brauner Anzug, und statt eines Helms trug er einen grauen Filzhut. Jeden Morgen, sobald Mrs. Strawberry da war, setzte er diesen Hut auf, gab Laurie einen Kuss und eilte zu seinem Bus. Und Mrs. Strawberry, immer noch mit der Handtasche über dem Arm und den Handschuhen an den Fingern, rückte seinen Krawattenknoten gerade und sorgte dafür, dass er seine Aktentasche nicht vergaß.
«Die Leute halten deinen Vater für zerstreut», sagte sie zu Laurie. «Aber er ist so sehr mit großen Dingen beschäftigt, dass er für die kleinen Dinge einfach keine Zeit hat.»
Laurie hielt sich selbst ebenfalls für eins dieser «kleinen Dinge». Mr. Valentine hatte nie Zeit, um mit ihr zu spielen. Die Abende verbrachte er in seinem Lehnsessel, wo er Pfeife rauchte und die Zeitungen las, die er von der Arbeit mit nach Hause gebracht hatte. Lärm mochte er nicht, genauso wenig wie Musik, und daher war es im Haus sehr still. Das einzige Geräusch war das Rascheln der Zeitung.
Aber bevor sie ins Bett gehen musste, durfte Laurie ein paar Minuten lang auf seinem Schoß sitzen, und der Pfeifenrauch umschlängelte die beiden wie dicke graue Seile. Sie spielte gerne mit seiner Krawattennadel und beobachtete das Licht, das sich auf dem Gold spiegelte.
An dem Tag, als sie die Karte gezeichnet hatte, holte Laurie den Atlas zu seinem Sessel. Sie legte das Buch auf seine Knie und kletterte dann neben ihn. Es war ein so großes Buch, dass sie mit dem Einband gegen seine Pfeife stieß, als sie es aufschlug. Sie kuschelte sich an ihn und fing an, ihm von all den Dingen zu erzählen, die sich auf der Karte ihres Lebens befanden.
«Das ist ja wunderbar», sagte er. Aber er hörte gar nicht richtig zu.
× × ×
Laurie wurde älter, still und scheu.
Sie bekam eine Brille mit Gläsern so groß wie Fenster. Sie war so schwer, dass sie ihr ständig auf die Nasenspitze rutschte, und Laurie schob sie immer wieder mit ihrem Mittelfinger nach oben.
Sie hatte Angst vor Narzissen. Für sie zeigten die gelben Blumen den Beginn der warmen Jahreszeit an und damit auch den Beginn der Polio-Saison.
Von ihrem Vater, der für die «March of Dimes»-Stiftung arbeitete, wusste sie alles über Polio. Aber weil er keine Zeit für Kleinigkeiten wie seine Tochter hatte, war es Mrs. Strawberry, die die Regeln festlegte: «Kein Essen mit anderen teilen. Und bleib um Himmels willen von den Wasserspendern fern. Und niemals, niemals eine öffentliche Toilette benutzen.» Vom Frühjahr bis zum Herbst schrumpfte Lauries Welt auf die Größe eines Atoms. Sie durfte nicht mehr ins Kino gehen, nicht mehr zur Bowlingbahn, nicht ins Schwimmbad und auch nicht auf den Spielplatz. Jeder Ort, an dem Kinder zusammenkamen, war für Laurie Valentine verboten.
«Ich weiß, du hältst mich für eine schreckliche alte Frau», sagte Mrs. Strawberry jedes Jahr. «Aber es ist zu deinem eigenen Schutz. Wenn Polio im Spiel ist, darf man kein Risiko eingehen. Ich habe dir bestimmt schon hundertmal erzählt, dass meine kleine Schwester an Polio gestorben ist.»
Laurie bekam die Geschichte jedes Jahr zu hören, und immer war sie gleich, Wort für Wort.
«Eines Tages ging sie auf die öffentliche Toilette, und das war’s. Nach einer Woche war sie tot. Kinderlähmung. Es war ein schrecklicher, fürchterlicher Tod, und ich werde nicht zulassen, dass dir das Gleiche widerfährt.»
Manchmal stritt Laurie darüber, aber trotzdem gehorchte sie ihrer Kinderfrau. Sie hielt sich von den Schwimmbecken und den Spielplätzen fern und auch von allem anderen. Lauries Sommer war traurig, langweilig und einsam. Aber andererseits traf das auch auf den Winter, den Frühling und den Herbst zu. Laurie Valentine hatte keinen einzigen Freund. Bis 1955.
× × ×
Sein Name war Dickie Espinosa. Am 1. März zog er in das Haus am Ende des Blocks, das kleinste Gebäude in der Nachbarschaft. Gleich am ersten Tag erschien er mit einem Büffelgewehr, einer Waschbärenmütze und einer Hirschlederjacke mit Fransen an den Ärmeln auf der Straße – wie Davy Crockett, der König der Trapper. Er sah genauso aus wie jeder andere Junge im Frühjahr 1955. Das einzig Ungewöhnliche an Dickie Espinosa war, dass er nicht mit all den anderen Davy Crocketts zur Schule ging. An vier Tagen in der Woche kam eine Privatlehrerin zu ihm nach Hause, eine Frau, so dürr wie ein Stecken.
Dickie Espinosa war acht Jahre alt, drei Jahre jünger als Laurie. Sie lernte ihn an einem Samstag kennen, in dem kleinen, runden Park an der Ecke. Dort sprudelte ein Bach aus einer Erdspalte, schoss durch den Park und verschwand wieder in einer anderen Spalte, als ob er Angst vor dem freien Himmel hätte. Laurie ließ zwei Stöcke gleichzeitig schwimmen und stellte sich vor, es seien zwei Ruderboote, die gegeneinander antraten. Sie schaute auf und sah ihn in seinem Davy Crockett-Kostüm am Ufer entlangschleichen. In seinem Gürtel steckte ein hölzerner Tomahawk, und das große Spielzeuggewehr hielt er in den Händen. Er sagte: «Howdy, Fremder.»
So seltsam es klingen mag, aber von diesem Moment an waren sie Freunde. Wenn Laurie nicht in der Schule war oder im Bett lag und schlief, dann spielte sie mit Dickie Espinosa. Er kam manchmal zu ihr nach Hause, aber noch öfters war sie bei ihm. Unten im Keller hatte Dickie ein eigenes kleines Reich, einen Meter zwanzig breit und zwei Meter vierzig lang.
Die Schienen der Spielzeugeisenbahn verliefen durch Städte und Felder, in Tunnel hinein, unter Bergen hindurch, über spindeldürre Brücken und tiefe Schluchten. Winzige Menschen waren mitten in ihren Bewegungen eingefroren: ein Junge mit einer Angel an einem Teich. Eine Frau, die Wäsche auf die Leine hängte. Es gab Autos auf den Straßen und Kühe auf den Feldern. Auf dem Teich aus bemaltem Glas saßen Enten – darunter sogar die Lockente eines Jägers, der beinahe unsichtbar mit seinem Gewehr im Gras lag.
«Stark!», sagte Laurie, als sie es zum ersten Mal sah.
An diesem Tag sauste Dickie zwischen den Holzböcken hin und her, auf der seine kleine Welt stand. Er steckte Stecker in Steckdosen, sauste wieder auf die andere Seite und legte Schalter um.
In den Gebäuden flackerten Lichter auf. Die Flügel einer Windmühle kreiselten langsam, und ein Wasserrad begann sich zu drehen. Ein Brummen ertönte, das lauter wurde, und Laurie hatte das merkwürdige Gefühl, dass jeden Moment die Menschen anfangen würden, sich zu bewegen und ihren Geschäften nachzugehen. Dickie betätigte die Hebel, und die Züge sirrten durch die Berge, die Wälder und die Felder. Schranken senkten sich beim Klingeln einer Glocke und gingen blinkend wieder hoch.
Dickie rannte hierhin und dorthin, rückte dies gerade und jenes zurecht. Dann winkte er Laurie zu sich und übergab ihr die Kontrolle über einen der Züge. Er zeigte ihr, wie man ihn langsamer und schneller fahren ließ und wie man die Weichen so stellte, dass er dahin fuhr, wohin man ihn haben wollte.
Es war ein Personenzug, und Laurie steuerte ihn von einem Bahnhof zum nächsten. Anfangs hielt sie weit vor den Bahnsteigen an, und sie und Dickie lachten bei der Vorstellung, wie wütend die Passagiere deswegen waren. Sie spielten die schreienden Menschen im Zug, die zornig die Fäuste ballten und den dummen Lokführer verfluchten. Aber es dauerte nicht lange, da hatte sie den Bogen raus, und während ihr Zug eine Runde nach der anderen fuhr, erfand sie Geschichten über die Plastikmenschen, die niemals ein- oder ausstiegen. Einer, so sagte sie, sei ein Bauer, der zum allerersten Mal in seinem Leben in die Stadt fuhr. Und sie folgte ihm, wie er an einfachen Dingen vorbeifuhr, die für ihn genauso fremd waren wie Raumschiffe und Zeitmaschinen.
× × ×
Laurie führte Dickie überall in der Gegend herum, sie zeigte ihm jeden Park und jedes Brachfeld. Er nannte das «auskundschaften», und er zog dabei seine Mütze aus Waschbärenfell und die Lederjacke mit den Fransen an. Die Senke, durch die der Bach floss – von Erdspalte zu Erdspalte –, war für ihn «das Tal des Shenandoah». Und wenn es kalt war oder regnete, blieben sie im Haus und erfanden lange Geschichten über die Plastikmenschen.
«Warum gehst du nicht in die Schule?», fragte sie ihn einmal. «Wieso hast du eine Privatlehrerin?»
«Meine Mom macht sich Sorgen», sagte er, «weil ich an meiner alten Schule so viel Unterricht versäumt habe.»
«Weil du krank warst?»
Dickie schüttelte den Kopf. «Weil ich ständig verprügelt wurde.»
Ende März, kurz nach dem St. Patrick’s Day, spielten sie wieder am Shenandoah, bis es fast dunkel wurde. Laurie sah die ersten Narzissen gelb am Ufer des Bachs leuchten, stapfte die Böschung hoch und runter und zertrampelte sie zu Matsch.
Als sie nach Hause kam, lagen wie immer Mrs. Strawberrys weiße Handschuhe auf dem Sideboard – wie die Stiefel eines Feuerwehrmannes –, jederzeit bereit zum Anziehen.
Die Stimme der Kinderfrau drang aus der Küche. «Sind Sie das, Mr. Valentine?»
«Ich bin’s!», rief Laurie. Sie stieß ihre schmutzigen Schuhe von den Füßen. Aber ihre Socken hinterließen feuchte Abdrücke in der Diele und in der Küche.
«Wo warst du?», fragte Mrs. Strawberry. Sie deckte gerade den Tisch und rückte das Silberbesteck zurecht. Als sie hochschaute, blieb ihr der Mund offen stehen. «Jetzt schau dich bloß an! Du bist ja pitschnass!»
Laurie sah, dass ihre Ärmelaufschläge ganz dunkel vor Nässe waren. Ihre Knie ebenfalls. «Wir haben am Bach gespielt», sagte sie.
«Ihr habt was?» Mrs. Strawberry deutete zur Tür. «Geh und wasch dir die Hände.»
«Ich habe sie schon im Bach gewaschen», sagte Laurie.
«Das ist kein Bach, das ist ein Abwasserkanal. Jetzt geh», sagte Mrs. Strawberry.
Laurie rührte sich nicht. Sie war jetzt älter und ließ sich nicht mehr so leicht von ihrer Kinderfrau einschüchtern.
Mrs. Strawberry schien die Veränderung ebenfalls ganz plötzlich zu bemerken, und sie wurde ernst. «Hör zu», sagte sie, «ich weiß, es ist schön, einen Freund zu haben. Ich freue mich für dich. Aber der Sommer steht vor der Tür, und dir ist klar, was das heißt. Ich habe dir das vermutlich schon hundertmal gesagt, aber …»
«O Mann!» Laurie seufzte laut und schaute zur Decke.
«Verdreh bloß nicht die Augen, Fräulein», sagte Mrs. Strawberry.
«Ich weiß Bescheid über Ihre Schwester und diesen blöden Toilettensitz», sagte Laurie. «Ich weiß auch über Polio Bescheid, weil wir in der Schule darüber gesprochen haben. Und wissen Sie was? Man kann sich auf der Toilette nicht damit anstecken.»
«Was ist denn bloß los mit dir, Laurie?» Mrs. Strawberry sah entsetzlich traurig aus, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Sie kämpfte mit den Tränen. «Das ist meine Schwester, von der wir hier reden. Ich glaube, ich weiß es besser.»
Die Haustür ging auf, und Mr. Valentine kam herein. Herausfordernd schaute Laurie Mrs. Strawberry an. «Fragen Sie doch meinen Dad.»
«Nein», sagte Mrs. Strawberry. «Wir wollen deinen armen Vater nicht damit belästigen, wenn er gerade nach Hause kommt. Er muss sich erst einmal ausruhen.»
Aber Laurie war schon aus der Küche und marschierte durch die Diele. Ihr Vater legte gerade seinen Hut auf die Ablage der Garderobe. Sie schob die Brille nach oben. «Dad, kann man sich auf einem Toilettensitz mit Polio anstecken?»
Verwirrt betrachtete er seine Tochter und ihre nasse Kleidung. Dann schaute er zu Mrs. Strawberry, die ebenfalls in die Diele trat, und begriff. Er hatte die Geschichte fast so oft gehört wie Laurie. «Das ist eine gute Frage», sagte er. «Ich glaube, niemand weiß so ganz genau, wie man sich mit Polio ansteckt, aber …»
«Dad, du weißt, es ist unmöglich.»
Natürlich wusste er das, aber er wollte es in Mrs. Strawberrys Gegenwart nicht zugeben. «Das Wichtige», sagte er, «ist nicht, wie man sich mit Polio ansteckt, sondern wie man sich nicht damit ansteckt.»
«Tja, im März steckt man sich gar nicht an», sagte sie. «Sag’s ihr, Dad. Man kann kein Polio kriegen, wenn man im März in einem Bach spielt.»
«Aber Laurie, das solltest du besser wissen.» Mr. Valentine setzte sich in den Sessel und zog die Schuhe aus. «Es ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Für Polio ist es nie zu früh.»
«O Dad!»
In seinem Sessel wirkte Mr. Valentine alt und klein, als er so zu Laurie aufschaute. «Ist dir klar, wie weit wir in unserem Kampf sind? Wie nah der Sieg ist?», fragte er. «Es besteht kein Zweifel daran, dass der Impfstoff wirkt. Fast zwei Millionen Polio-Pioniere sind der lebende Beweis dafür, und die Ergebnisse der Versuchsreihen sind besser als erwartet. Ich weiß, dass es manchmal schwer ist, sich von Teichen, Bächen und anderen Gewässern fernzuhalten. Aber wenn du es noch ein paar Monate länger aushältst, dann wird das Böse bedingungslos kapitulieren.»
Laurie sah ihren Vater plötzlich als kleinen, machtlosen Mann, der versuchte, einen Kriegshelden zu spielen. Sie schämte sich ein bisschen für ihn und war traurig. Aber sie lachte grausam.
Mr. Valentine wurde rot. «Die Regeln wurden zu deinem eigenen Besten festgelegt», sagte er ausdruckslos. «Du bist noch ein Kind, obwohl du das vielleicht nicht glaubst. Solange du in diesem Haus wohnst, wirst du dich an die Regeln halten.»
Laurie funkelte ihn an. «Ihr haltet also zusammen? Ihr habt euch gegen mich verschworen, um mir das Leben schwer zu machen!»
Mr. Valentine seufzte. «Niemand ist gegen dich. Und niemand hat sich gegen dich verschworen.»
Aber genauso fühlte sie sich. Sie wirbelte herum und rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinauf, und knallte ihre Zimmertür zu, so laut sie konnte. Dann warf sie sich bäuchlings auf das Bett und vergrub das Gesicht in den Kissen.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis Mr. Valentine nach oben ging und an ihre Tür klopfte. So steif und aufrecht wie eine Spielzeugfigur setzte er sich auf die Bettkante.
«Wir kämpfen seit hundert Jahren gegen Polio», sagte er. «In einem Monat werden wir die Silberkugel, die das Böse vernichtet, in den Händen halten. Du wirst geimpft und musst dir nie mehr Sorgen wegen Polio machen. Und das wird noch vor dem Sommer passieren.» Er fuhr mit den Fingern über seine Krawatte und strich sie glatt. «Du hast so lange gewartet, kannst du es da nicht noch ein paar Wochen länger aushalten?»
«Ich weiß nicht», sagte sie.
«Aber ich weiß, dass du es kannst. Und du wirst es aushalten.» Er war noch nie so bestimmt gewesen wie gerade jetzt. In seinem Gesicht zeigten sich harte Linien, und seine Stirn lag in Falten. «Polio jagt mir eine Todesangst ein, Laurie. Ich sehe die Kinder mit den Schienen und den Krücken. Du siehst sie doch auch: Kinder, die nie mehr rennen werden, Kinder, die nie mehr laufen können, Kinder im Rollstuhl. Und ich sehe noch die anderen: diejenigen in den Schaukelbetten, auf den Behandlungsliegen, in den Eisernen Lungen. Es sind so viele, und jedes Jahr kommen dreißigtausend dazu. Kannst du dir vorstellen, wie sie sich fühlen, weil sie wissen, dass sie sich im Schwimmbad oder wegen irgendeiner anderen unbedeutenden Vergnügung mit Polio angesteckt haben?»
«Keine Ahnung.» Laurie hatte schon viele Kinder auf Krücken gesehen, aber natürlich hatte sie noch nie mit einem von ihnen gesprochen.
«Nun, ich schon. Ist eine Stunde Spiel und Spaß es wert, dass man jahrelang mit Schienen herumlaufen oder gar sein Leben lang in der Eisernen Lunge liegen muss?» Er schüttelte ratlos den Kopf. «Ich kann dich nicht anbinden, Laurie, oder ständig auf dich aufpassen. Ich kann dich nur bitten, dich an die Regeln zu halten.»
Sie zuckte mit den Schultern und murmelte etwas. Sie wollte ihn daran erinnern, aus reiner Boshaftigkeit, dass er bloß ein Spendensammler war, eine Hilfskraft, und dass er kein Experte für Polio war, bloß weil er für die «March of Dimes»-Stiftung arbeitete. Laurie glaubte nicht, dass ihr Vater wirklich Bescheid wusste.
Aber das tat er.
Für Polio war es nie zu früh.
Zwei Wochen später bildete sich Laurie ein, sie könne fühlen, wie das Virus durch ihren Körper kreiste. Sie konnte es buchstäblich vor sich sehen, wie ein kleiner Wurm, der durch die Tunnel ihrer Nerven kroch.
Manchmal konnte sie sogar genau sagen, wo es sich gerade befand, wenn etwa ihre Haut prickelte und kitzelte, und auf diese Weise verfolgte sie seinen Weg durch ihren Körper. Sie dachte, es bewege sich auf ihr Gehirn zu, und jeden Abend, bevor sie schlafen ging, betete sie, dass sie am nächsten Morgen noch würde aufstehen können, dass sie am nächsten Abend nicht in einer Eisernen Lunge liegen würde.
Genau wie ihr Vater vorhergesagt hatte, wünschte sie plötzlich von ganzem Herzen, dass sie niemals an den Bach gegangen wäre. Und dann wünschte sie sich, sie wäre Dickie Espinosa nie begegnet. Sein Bild blitzte ständig in ihrem Geist auf: Dickie in seiner blöden Waschbärenmütze. Dickie mit seinem blöden Büffelgewehr.
Sie traute sich nicht, ihrem Vater – oder auch nur Mrs. Strawberry – anzuvertrauen, was mit ihr geschah. Aber beide merkten, dass etwas nicht stimmte. Und doch dauerte es einige Tage, ehe Mr. Valentine wieder an Lauries Tür klopfte und geräuschlos wie eine Maus eintrat.
Sie saß im Schneidersitz auf dem Bett und machte ihre Hausaufgaben. Im Radio lief wieder einmal «The Ballad of Davy Crockett», ein Lied, das sie gründlich satthatte, weil sie es schon so oft gehört hatte.
Mr. Valentine schaltete das Radio aus. «Liebes, was ist los mit dir?», fragte er. «Bist du böse auf mich?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Bist du einsam? Ich habe gemerkt, dass der Junge in letzter Zeit nicht mehr da war, und …»
«Das ist es nicht.» Laurie starrte auf ihre Schulbücher. Durch ihre Tränen sahen sie unscharf aus, als würden sie unter Wasser schwimmen. Plötzlich war alles zu viel. Sie schaute auf und platzte heraus: «Ich glaube, ich habe Polio.»
Mr. Valentines Reaktion war so heftig, dass Laurie fürchtete, er würde in Ohnmacht fallen oder einen Herzanfall bekommen. Er wurde kreidebleich und gab ein schreckliches, keuchendes Gurgeln von sich. Er streckte seine zitternden Hände aus, um sich an der Wand festzuhalten. Dann schloss er die Augen und stand einen Moment lang nur da, am ganzen Leib bebend. Schließlich fragte er: «Wo tut es weh?»
«Es tut nicht weh», sagte sie. «Nicht wirklich. Aber ich fühle es in mir drin, Dad.» Sie berührte ihre Kehle, am Ansatz ihres Halses. «Ich glaube, es ist genau da.»
«Deine Arme? Deine Beine? Tun sie weh? Hast du Fieber? Kopfschmerzen?»
«Nein, Dad», sagte sie. «Nichts dergleichen.»
Verwirrt schaute er sie an. «Wieso glaubst du dann, dass du Polio hast?»
Sie sprach rundheraus: «Weil Dickie es hat, Daddy.» So hatte sie ihren Vater nicht mehr genannt, seit sie ganz klein war.
Mr. Valentine setzte sich zu ihr auf das Bett. Er hörte sich an, wie Laurie ihm von dem Tag am Bach erzählte und wie sie die Sache mit Dickie erfahren hatte. «Ich habe ihn ein paar Tage lang nicht gesehen», sagte sie, «also bin ich zu ihm nach Hause gegangen. Anfangs wollte Mrs. Espinosa die Tür nicht aufmachen. Sie hat mich angeschrien, ich solle weggehen. Ich dachte, sie würde sich schämen, weil Dickie etwas angestellt hätte. Ich fragte sie, wo er sei, und sie sagte: ‹Im Bishop’s Memorial Krankenhaus, in einer Eisernen Lunge.›»
«Lieber Gott», sagte Mr. Valentine.
«Ich hätte es dir sagen sollen, Dad, aber ich hatte Angst», sagte sie.
«Wie lange ist das her?», wollte Mr. Valentine wissen.
Laurie wusste es nicht genau.
«Es muss länger als eine Woche her sein», sagte er. «Ist es länger als zwei Wochen?»
«Fast drei», sagte sie.
Er gestattete sich ein winziges Lächeln. «Dann glaube ich, dass du dir keine Sorgen mehr machen musst.»
«Woher weißt du das?», fragte Laurie.
«So ist das mit Polio», sagte Mr. Valentine. «Es bleibt nicht im Verborgenen. Die Symptome zeigen sich recht schnell.»
Laurie wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. «Was wird mit Dickie geschehen?»
«Um das zu sagen, müsste man eine Zigeunerin mit einer Kristallkugel sein», sagte Mr. Valentine. «Selbst die Ärzte wissen das nicht. Vielleicht ist er in ein paar Tagen wieder auf den Beinen, oder er liegt sein Leben lang im Krankenhaus. Das kann niemand vorhersehen.»
«Darf ich ihn besuchen, Dad?»
Mr. Valentine wandte sich ab und schloss die Augen. «Ach, Herzchen, ich weiß nicht.»
Es bestand keine Gefahr, und das wusste er auch. Es gab keinen Grund, warum sie ihn nicht hätte besuchen sollen, aber das wollte er nicht sagen. Sein Verstand sagte ihm, dass Polio nicht lange ansteckend blieb und dass sie die Krankheit von Dickie nicht mehr bekommen konnte. Aber sein Herz wollte nicht, dass sie ging, denn ganz plötzlich war er voller Zweifel: Was, wenn es doch nicht stimmte? Was, wenn man doch auf diese Weise Polio bekommen konnte? Was, wenn etwas schieflief? Er war nicht stolz darauf, aber selbst er berührte niemals ein Kind auf einer Polio-Station im Krankenhaus. Insgeheim scheute er sich sogar davor, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Er hatte zu oft erlebt, wie auch Ärzte Abstand hielten, wie sich Krankenschwestern hinter Masken und Handschuhen versteckten. Zum ersten Mal fragte er sich, ob die Forscher nicht vielleicht mehr wussten, als sie zugaben. Er war doch bloß ein Spendensammler, ein winziges Rädchen in dem riesigen Gefüge der Stiftung.
«Darf ich, Dad?», fragte Laurie.
Er schluckte hart. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Er hatte das Gefühl, es wäre ein Verrat gegenüber seinem gesamten Wissen, wenn er Nein sagte. Aber er war zu feige, um Ja zu sagen. Er hatte seine Frau verloren – seine Tochter zu verlieren, konnte er nicht ertragen.
«Ich möchte ihn sehen, Dad», sagte Laurie.
«Ich sag dir was», erklärte Mr. Valentine. «Wenn Mrs. Strawberry der Meinung ist, du könntest hingehen, dann bin ich auch einverstanden.»
Er war sich ziemlich sicher, wie Lauries Kinderfrau reagieren würde, und er täuschte sich nicht. Mrs. Strawberry stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete Laurie kopfschüttelnd.
«Eine Polio-Station? Hast du den Verstand verloren?», rief sie aus. «Wenn es nach mir ginge, wäre das der letzte Ort auf Erden, den du betrittst, junge Dame.»
× × ×
Das Bishop’s Memorial Krankenhaus war nur ein paar Blocks von Lauries Haus entfernt. Wenn sie von der Schule aus einen kleinen Umweg machte, konnte sie durch den kleinen Park des Klinikgeländes gehen, wo Mütter ihre Kinderwagen schoben und Menschen an Teichen auf Bänken saßen und Enten und Eichhörnchen fütterten.
Sie war oft in diesem Park gewesen, manchmal mit Mrs. Strawberry. Es gab eine Bank an einem Teich, auf der sie als Kind sehr gerne gesessen hatte. Von dort aus konnte man zwischen den Trauerweiden hindurch die Fenster des vierten Stocks sehen, wo die Poliopatienten untergebracht waren, und oft hatte sie dagesessen und hinaufgestarrt, hatte versucht, sich vorzustellen, wie es da drinnen aussah: ein Zimmer mit Eisernen Lungen, ein anderes voller Schienen und Krücken, und überall Kranke, die sich taumelnd und hinkend durch die Gänge schleppten. Nur einmal hatte jemand durch das Fenster nach draußen geblickt – ein Junge mit blonden Locken. Ein Junge, so bleich und dünn, dass er ausgesehen hatte wie ein Gefangener. Wenn sie später an ihn dachte, dann sah sie ihn als einen Prinzen, der in einem Turm eingesperrt war, und das Bild, wie er durch das Fenster zu ihr hinunterschaute, stand ihr immer noch scharf wie eine Fotografie vor Augen. Sie hatte danach noch oft hinaufgeblickt, in der Hoffnung, sie würde ihn wiedersehen, aber vergeblich. Er war nie mehr gekommen.
An einem Tag im April, als sie durch das Nordtor ging, war Laurie allein im Park. Es war Nachmittag und es nieselte. Überall auf den Wegen standen Pfützen. Niemand war unterwegs, niemand fütterte die Enten.
Laurie ging durch einen Tunnel aus Weidenzweigen und schaute zu den Fenstern des vierten Stocks empor. Sie ging weiter.
Das Gebäude war riesig. Es sah eher aus wie eine Festung als wie ein Krankenhaus, eine Burg ohne Türmchen und Zinnen. Ein grauhaariger Gärtner stand auf einer Leiter und kämpfte – wie so oft – mit dem Efeu. Blätter und Stängel regneten auf den Rasen und den dahinterliegenden Weg.
In den Bäumen hockten Vögel und auf den Straßen fuhren Autos. Die Wagenräder zischten auf dem nassen Asphalt. Ein schlanker roter Wagen, ein Starlight, kam um die kurvige Einfahrt gebogen und fuhr hinter das Gebäude, wo die Parkplätze für die Ärzte waren.
Laurie ging unter dem Vordach zum Haupteingang.
Sobald sie das Krankenhaus betrat, überkam sie ein vertrautes Gefühl. Der Geruch, die gedämpften Geräusche, all das kannte sie von damals, als ihr die Mandeln entfernt worden waren. Sie erinnerte sich noch, wie sie sich gegen die Ärzte gewehrt hatte, die sie mit einer Rollliege abtransportiert hatten und sie dabei festhalten mussten. Sie konnte sich noch ganz deutlich an das Surren der Räder erinnern, an das eilige Klatschen der Sohlen des Arztes auf dem Linoleum, wie die Deckenlichter an ihr vorbeigezuckt waren. Einer der Ärzte hatte ihr eine Maske auf das Gesicht gedrückt und sie angewiesen, von Zehn an rückwärts zu zählen. Sie hatte den Atem angehalten, weil sie Angst hatte, er wolle sie umbringen. Aber irgendwann hatte sie atmen müssen, und das Nächste, was sie wusste, war, dass sie mit Halsschmerzen erwachte.
Sie lag in einem fremden Bett an einem fremden Ort, hatte Angst und fühlte sich allein. Abends hatte sie angefangen zu weinen, und sie weinte so lange, bis eine Schwester zu ihr kam und sie mit scharfen Worten und mit der Stimme einer Hexe zurechtwies: «Wenn du so weitermachst, Fräulein, dann reißen die Nähte wieder auf.»
***
In der Eingangshalle befand sich ein Informationsschalter; hinter der Telefonanlage saß eine Dame mit silbernem Haar, einem roten Pullover und einem so knalligen Lippenstift, dass ihr Mund aussah wie eine klaffende Wunde.
Laurie sagte zu ihr: «Ich möchte Dickie Espinosa besuchen.»
Die Dame blätterte in einem großen Ordner. «Weißt du, in welchem Zimmer er liegt?»
«Nein.» Laurie schob ihre Brille nach oben. «Ich glaube, er ist in dem Zimmer, in dem die Eisernen Lungen stehen.»
«Ach je.» Die Dame sah sie traurig an. «Hast du deine Eltern mitgebracht?»
«Nein. Meine Kinderfrau ist zu Hause und mein Vater auf der Arbeit», sagte Laurie.
«Du bist ganz allein gekommen, um deinen Freund zu besuchen?»
Laurie nickte, und dabei rutschte ihr die Brille wieder auf die Nasenspitze.
«Warte mal einen Moment.» Die Dame rief eine Krankenschwester an, und die Frau, die ein paar Minuten später auftauchte, war halb so alt und doppelt so hübsch wie Mrs. Strawberry. Sie hatte kleine, kohlschwarze Ringellöckchen mit einer weißen Kappe obendrauf, die leicht schräg saß, wie bei einem Matrosen. An einer Kette um ihren Hals hing verkehrt herum eine herzförmige Uhr.
Sie stellte sich als Miss Freeman vor. «Ich bin aus der Polio», sagte sie, als ob es sich bei der Krankheit um ein Land wie die Mongolei oder die Schweiz handeln würde. «Du bist also eine Freundin von Dickie? Dann bist du bestimmt Laurie Valentine.»
«Ja», sagte Laurie.
«Ich habe das Gefühl, dass ich dich schon gute kenne, so viel hat er über dich erzählt. Wie ihr am Bach wart, der für euch der Shenandoah war, wie ihr mit dem Zug und den Spielzeugfiguren gespielt habt. Er hat so gehofft, dass du ihn besuchen kommst.»
«Ich hatte ein bisschen Angst», sagte Laurie.
«Aber natürlich! Wer hätte die nicht?» Miss Freeman war so fröhlich wie ein Singvogel. «Wir hatten einen Jungen hier, dessen Eltern nie zu Besuch kamen, nicht ein einziges Mal in vier Jahren, weil sie Angst hatten, dass sie Polio zu Hause einschleppen könnten und sich die Schwester des Jungen dann anstecken würde. Sie begriffen nicht, dass Polio nur wenige Tage lang ansteckend ist.»
«Meine Kinderfrau ist auch so», sagte Laurie.
«Sie weiß nicht, dass du hier bist?»
«Nein. Sie würde an die Decke gehen.
Miss Freeman verzog das Gesicht. «Eigentlich sollte ich dich nicht ohne Erlaubnis deiner Eltern auf die Station lassen», sagte sie. «Aber wenn Dickie erfahren würde, dass du da warst und ich dich abgewiesen habe, würde ihm sein kleines Herz brechen. Also, ausnahmsweise. Einverstanden?»
«Danke», sagte Laurie.
Sie nahmen den Fahrstuhl, standen nebeneinander und schauten zu, wie die beleuchteten Ziffern über der Tür wechselten. Als aus der 2 eine 3 wurde, fragte Laurie: «Wie ist es auf der Polio?» Und Miss Freeman antwortete: «Egal, was du erwartest, es ist anders.»
Der Fahrstuhl ruckelte kurz, als er am dritten Stock vorbeifuhr. Laurie konnte sich die Polio-Station nur in Schwarz-Weiß vorstellen, wie sie es in Filmen und auf Plakaten gesehen hatte. Sie sah endlose Reihen Eiserner Lungen vor sich, Dutzende von Krankenschwestern, die schweigend herumliefen, einen Patienten, der mal mit dem Kopf, mal mit den Füßen nach oben auf einem Schaukelbett gefahren wurde, und Kinder mit Schienen, die wieder das Laufen übten.
Eine leise Glocke ertönte, und der Fahrstuhl hielt an. Die Türen glitten auf, und Laurie schaute auf eine grüne Wand, auf ein Plakat mit einem kleinen Jungen, der von seinem vergitterten Bett wegging, weil er Polio überwunden hatte. Er marschierte wie ein Soldat, und darunter stand in großen Buchstaben: «March of Dimes – Ihre Spende hat mir geholfen!»
«Komm weiter», sagte Miss Freeman. Sie trat aus dem Fahrstuhl, und Laurie folgte ihr.
Sie waren erst ein paar Schritte weit gekommen, als Laurie den Schrei eines Kindes hörte. Er kam aus der Richtung der nächsten Biegung, und kurz darauf ertönte ein zweiter Schrei, der eindeutig von einem anderen Kind stammte. Dann hörte sie das Rumpeln von Rädern, die sich schnell drehten. Miss Freeman wich zur Wand aus, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. Hinter ihrem Rücken winkte sie Laurie zu. «Du solltest besser aus dem Weg gehen», sagte sie.
Laurie drückte sich an die Wand. Sie dachte, gleich würde eine Liege um die Ecke biegen, von rennenden Ärzten geschoben. Aber was kam, war ein Rollstuhl, der die Kurve mit Karacho nahm und dabei nur auf zwei Rädern fuhr. In dem Stuhl saß ein Mädchen mit langen Haaren, deren Hände die Räder so schnell antrieben, dass statt der Speichen nur noch eine feste Silberscheibe zu sehen war. Der Stuhl geriet ins Wanken, kam dann wieder in die Spur, und das Mädchen schaute hinter sich und schrie wieder – ein Laut voller erregter Glückseligkeit.
Hinter ihr her kam ein Junge. Aber nicht in einem Stuhl. Er lang bäuchlings auf einem Brett mit vier Rädern, wie es von Mechanikern benutzt wurde, um unter ein Auto zu rollen. Er paddelte mit den Füßen und stieß sich mit den Händen ab, und er kam um die Ecke geschossen wie eine Flipperkugel.
Das Mädchen raste vorbei. Dabei hob sie kurz die Hand über den Kopf. «Hei-ho!», jubelte sie im Vorbeifahren.
Der Junge folgte ihr in kurzem Abstand, wobei er sich vor Lachen kaum noch einkriegen konnte. Sein Rollbrett schlitterte seitwärts, und er paddelte und kickte wie ein hektischer Schwimmer, der in eine Strömung geraten war. Er wurde gegen die Wand geschleudert und prallte ab. «Hallo, Miss Freeman!», schrie er.
Miss Freeman winkte ihm zu, als er davonsauste. «Siehst du, was ich meine?», fragte sie Laurie. «Ständig halten sie irgendein Rennen ab. Letzte Woche habe ich acht Kinder auf einem Rollstuhl gesehen, eins über dem anderen, wie eine Pyramide.»
«Wirklich?», fragte Laurie.
«Wirklich. Es kann hier manchmal ziemlich verrückt zugehen.»
× × ×
Laurie folgte Miss Freeman um die Biegung, vorbei an einem großen Zimmer, in dem sich viele Leute – meistens Kinder – mit den unterschiedlichsten Dingen beschäftigten. Ein kleines Mädchen mit Beinschienen schob eine Puppe in einem Kinderwagen vor sich her. Ein Junge baute mit Lincoln Logs-Bauklötzen eine flache Blockhütte. Andere saßen vor einem winzigen Fernseher, der in einem riesigen hölzernen Vitrinenschrank stand.
Wieder machte der Gang eine Kurve. Laurie schaute durch halb offene Türen in Krankenstationen mit hohen Pflegebetten auf Rädern und Gittern an den Seiten. Ein Zimmer nach dem anderen zog an ihr vorbei, und alle sahen sie gleich aus. Dann kam noch eine Biegung, und sie hatte das Ende des Gangs erreicht. Die letzte Tür stand offen. Miss Freeman blieb davor stehen.
«Das ist der Beatmungsraum», sagte sie. «Hier ist es nicht so lustig.»
Ihr Ausdruck hatte sich verändert. Sie lächelte nicht mehr.
Laurie konnte nur eine Ecke des Zimmers sehen. Sie hörte das Summen und Sirren von Maschinen und ein rhythmisches Zischen von Luft.
«Hör zu», sagte Miss Freeman. «Wenn du Dickie siehst, wird das erst mal ein Schock für dich sein. Du wirst Mitleid mit ihm haben, aber lass dir das nicht anmerken. Okay? Wenn du glaubst, dass du weinen musst, dann geh zum Fenster und schau hinaus. Es würde ihm nicht guttun, wenn er merkt, dass die Leute ihn bedauern.» Die Schwester schaute Laurie in die Augen. «Schaffst du das?»
«Okay», sagte Laurie.
«Es sind noch zwei andere in dem Zimmer», sagte die Schwester. «Beide sind schon eine Weile da, und eine wird vermutlich nie wieder hier herauskommen. Aber auch sie musst du nicht bemitleiden, denn sie sind nicht so allein, wie du denkst. Manchmal bekommen sie Besuch von Schauspielern, von Zauberkünstlern und von Clowns.»
Miss Freeman machte einen Schritt auf die Tür zu und blieb dann wieder stehen. «Das sind die tapfersten Kinder, die du je kennenlernen wirst», sagte sie. «Du kennst doch die Geschichte von David und Goliath, nicht wahr? Für mich sind das alles Davids, so sehe ich sie. Sie wurden von etwas Furchtbarem niedergeworfen, aber jeden Tag stehen sie wieder auf – und sei es nur im Geiste – und werfen immer wieder ihre kleinen Steine.»
Miss Freeman rieb sich mit dem Handrücken über die Nase. Sie schniefte und sagte: «Bitte entschuldige. Manchmal packt es mich einfach.» Dann trat sie mit einem strahlenden Lächeln und einer fröhlichen Stimme über die Türschwelle. «He, Dickie, rate mal, wer hier ist!»
× × ×
Laurie hatte noch nie leibhaftig eine Eiserne Lunge gesehen, nur in den Dokumentarfilmen der Stiftung. Jetzt standen vier Stück vor ihr, und sie konnte kaum glauben, wie riesig sie waren, wie hoch sie auf den Metallbeinen aufgebockt waren. Sie erinnerten sie an die Raumschiffe der Marsianer aus dem Film Krieg der Welten, diese gigantischen Zylinder, die mit voller Wucht auf der Erde gelandet waren, und darin befanden sich winzige Kreaturen. In der ersten Eisernen Lunge steckte ein blondes Mädchen, ein Junge in der zweiten und der kleine Dickie in der dritten. Aber nur ihre Köpfe ragten an einem Ende der Metallbehälter heraus. Sie ruhten auf gepolsterten Ablagen. Es sah aus, als ob ihre Körper von den Zylindern verschluckt worden wären, denn diese Metallgehäuse wirkten regelrecht lebendig. Das Keuchen und Zischen, das Laurie gehört hatte, war das Atmen der Maschinen. Die Gummilungen, riesige Blasebälge, befanden sich unterhalb ihrer Leiber, und Laurie sah zu, wie sie sich ausdehnten und schrumpften, sich füllten und wieder leerten.
Die vierte Maschine war leer. Still und reglos, mit erstarrten Lungen, schien sie tot zu sein. Oder als warte sie auf etwas.
Laurie erfasste das alles in einem einzigen Moment, der nur so lange dauerte, bis die Kinder ihre Köpfe zu ihr gedreht hatten. Dickie grinste. «Mann!», sagte er. «Es ist Laurie!»
Die anderen starrten sie bloß an: der Junge in der Mitte mit einem neugierigen Blick, das Mädchen völlig ausdruckslos. Die Haut auf ihren hageren Gesichtern war bleich. Dickie rief: «Laurie ist meine beste Freundin.» Und das Mädchen sagte: «Jippie.»
Laurie eilte an ihr und dem anderen Jungen vorbei und ging zu Dickie. Es war genauso, wie Miss Freeman es vorausgesagt hatte: Ihn so zu sehen, auf dem Rücken liegend, gefangen in der Eisernen Lunge, war ein Schock für sie. Rings um seinen Hals wurde die Öffnung von einem Gummikragen versiegelt, der im Rhythmus des Maschinenatems pulsierte. Ein, aus, ein, aus – wie die Kehle eines Froschs. Dickie war so klein, dass er bei jedem Atemzug ein Stück vor- und zurückrutschte, als würde er eingesogen und wieder ausgestoßen, wie von einem Reptil, das unaufhörlich versuchte, ihn zu verschlingen. Aber er schien so fröhlich wie immer zu sein. Auf seinem Gesicht lag ein breites Grinsen.
«Mensch, ist das toll, dass du gekommen bist», sagte er.
Sie schauten einander an, während die Maschine summte und keuchte. An der Vorderseite der Eisernen Lunge hingen Dickies Mütze aus Waschbärenfell und der hölzerne Tomahawk. Streben und Schienen hielten einen Spiegel über seinem Kopf in einem bestimmten Winkel, sodass er aus dem großen Fenster schauen konnte. Entlang der Schienen steckten cremefarbene Umschläge mit Checklisten und medizinischen Daten. Dazwischen hatte jemand ein kleines Bild von Fess Parker geschoben, ausgeschnitten aus einer Fernsehzeitschrift.
Laurie wurde traurig beim Anblick der Mütze und des Tomahawks, weil sie wusste, dass Dickie nicht einmal nach oben greifen und sie anfassen konnte. Seine Arme steckten fest in dem Beatmungsapparat. Es kam Laurie gemein vor, ihm diese Dinge vor die Nase zu halten, obwohl er nicht an sie herankam – wie eine Karotte, die man einem Esel vor das Maul band.
Sie sah, dass sein Grinsen verschwand. Er musterte sie besorgt. Sie zwang sich zu einem Lächeln, aber es war zu spät. Dickie wandte den Kopf ab.
Schon jetzt wünschte sich Laurie, dass sie nicht gekommen wäre. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, genauso wenig wie er. Erst hatten sie einander bloß angeschaut, und jetzt schauten sie überall hin, bloß nicht zum jeweils anderen.
«Wow. Tolle Freundin», sagte das Mädchen in der Eisernen Lunge.
Miss Freeman kam zu Laurie. «Dickie hat nicht vor, lange hierzubleiben», sagte sie und lächelte ihn an. «Er will am Eröffnungstag in Disneyland sein, und weißt du was? Ich glaube, er wird es schaffen. Wenn das erste Dampfboot nach ‹Frontierland› ablegt, wird Dickie am Bug stehen. Stimmt’s, Dickie?»
«Darauf können Sie wetten.» Da war es wieder, sein Grinsen. «Ich kann meine Finger bewegen, Laurie. Willst du mal sehen, wie ich meine Finger bewege?»
«Klar will sie das», sagte Miss Freeman. Sie führte Laurie an die Seite der Eisernen Lunge, wo schmale Fenster in das Metall eingelassen waren. Dickies Körper war mit einem weißen Tuch bedeckt. Seine nackten Füße und Fußgelenke ragten unten heraus, seine nackten Schultern oben. Seine rechte Hand lag neben seinem Körper.
«Guckst du?», fragte er.
Die Muskeln in seinem Nacken traten hervor. Sein Gesicht wurde krebsrot vor Anstrengung. Aber die Hand rührte sich nicht.
Sein Mund verzog sich zu einer Grimasse. Die Augen hatte er geschlossen, und ein angestrengtes Grunzen stahl sich aus seiner Kehle. Dann zuckten seine Fingerspitzen.
Sie hoben sich einen halben Zentimeter von der Matratze ab. Sie streckten sich kaum merklich. Dann fielen sie wieder nach unten, und Dickie schien völlig erschöpft zu sein. Er war unglaublich stolz, aber ganz und gar erledigt.
In Lauries Augen war es das Jämmerlichste, was sie je gesehen hatte. Vor wenigen Wochen noch war Dickie am Ufer des Shenandoah entlanggerannt, war von Ufer zu Ufer gesprungen, während die Fransen an seiner Hirschlederjacke auf und ab hüpften und der Waschbärenschwanz an seiner Mütze hinter ihm her wehte. Und jetzt brachte er nichts weiter zustande als ein kaum merkliches Zucken seiner Finger? Sie konnte nicht verstehen, wie man darauf so stolz sein konnte.
Aber Miss Freeman quietschte vor Entzücken. «O Dickie», rief sie und klatschte in die Hände. «Das ist fantastisch! Disneyland wartet auf dich!»
Dickie schaute Laurie an, und bei seinem strahlenden Grinsen hätte man meinen können, dass er gerade einen Home Run in einem voll besetzten Baseballstadion hingelegt hatte. «Hast du’s gesehen?», fragte er.
«Ja», sagte Laurie. «Das war toll.» Sie hielt einen Moment inne. «Aber, weißt du, ich glaube, ich sollte jetzt …»
Ich glaube, ich sollte jetzt gehen, hatte sie sagen wollen, aber wieder mischte sich Miss Freeman ein. «Ich glaube, du solltest jetzt die anderen kennenlernen.» Und sie fing mit dem Mädchen an.
× × ×
Ihr Name war Carolyn Jewels.
Sie war etwa vierzehn Jahre alt, und obwohl ihr Gesicht sehr dünn und sehr bleich war, war sie so schön wie ein Filmstar. Sie hatte Haare wie Rapunzel, einen goldenen Zopf, der von ihrem Kopfkissen bis fast auf den Boden fiel. Sie schaute Laurie nicht an, sondern blickte nach oben in ihren Spiegel.
«Carolyn ist seit fast acht Jahren bei uns» sagte Miss Freeman. «Nächste Woche gibt’s ’ne tolle Party, nicht wahr, Carolyn? Ein echter Heuler!»
«Klar.» Das Mädchen konnte immer nur dann sprechen, wenn die Eiserne Lunge ausatmete, wenn die Blasebälge unter ihr schrumpften. «Dann tanzen wir alle Cha-Cha-Cha.»
«Oh, Carolyn!» Miss Freeman verdrehte die Augen. Sie stieß ein kleines Seufzen aus, aber das Lächeln blieb in ihrem Gesicht. «Du willst doch nicht, dass Laurie dich für einen Griesgram hält, oder?»
Die Blasebälge füllten sich und schrumpften dann wieder. «Das ist mir so was von egal», sagte Carolyn.
× × ×
Der Junge in der Mitte war älter als Dickie, aber jünger als Carolyn. Seine Haut war so geschrumpft, dass sie an den Knochen klebte, und seine Kopfhaut schimmerte weiß durch das kurz geschnittene Haar. Es war offensichtlich, dass er für Miss Freeman schwärmte. Jedes Mal, wenn er sie sah, bekam er einen Dackelblick.
«Hallo, Miss Freeman», sagte er.
«Hallo, Chip.» Die Schwester nahm ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte damit das Kinn des Jungen ab, wo sich eine Spur aus getrocknetem Speichel gebildet hatte. «Chip kam letzten Sommer zu uns. Er lernt gerade, wieder eigenständig zu atmen. Und seine Beine sind völlig in Ordnung. Es wird nicht lange dauern, und er wird hier zur Tür hinausmarschieren.»
Die Vorderseite seiner Eisernen Lunge war mit unzähligen Bildern beklebt, die einander wie Dachschindeln überlappten. Die meisten waren Ansichtskarten aus fernen Ländern und Illustrationen von Autos, aus Zeitschriften ausgeschnitten, hauptsächlich Ford Woodys, Pickups und schlanke, flache Sportwagen. Aber dazwischen hingen Fotografien, manche in Farbe, manche in Schwarz-Weiß, von Menschen, die einfache, alltägliche Dinge taten. Genau in der Mitte befand sich das Foto von einem Mann und einem Jungen vor einer offenen Garage. Hinter ihnen im Schatten stand ein seltsames Auto. Der Mann trug ein T-Shirt mit einem Päckchen Zigaretten in dem aufgerollten Ärmel. Er hatte die Hand auf die Schulter des Jungen gelegt und den Kopf lachend in den Nacken geworfen. Der Junge war etwa acht Jahre alt, stark und sonnengebräunt. Aber sein Gesicht war so mit schwarzer Schmiere befleckt, dass er aussah wie ein Indianer auf dem Kriegspfad.