Der Riss, durch den das Licht eindringt - Helen Cullen - E-Book

Der Riss, durch den das Licht eindringt E-Book

Helen Cullen

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Beschreibung

»Ein bewegender, eindringlicher Roman von einer der großartigsten neuen Stimmen Irlands.« John Boyne

Ein anrührender, vier Jahrzehnte umspannender Familienroman vor der Kulisse einer irischen Insel.

Auf einer irischen Insel bereitet sich die Familie Moone auf gemeinsame Feiertage vor. Keiner ahnt, dass ihre Mutter Maeve im Sturm aufs Meer gerudert ist, um nicht zurückzukehren. Zehn Jahre sind seither vergangen, doch die Moones haben den Verlust nie verwunden. Ihr Vater Murtagh arbeitet noch immer als Töpfer auf Inis Óg, während die vier Geschwister damit ringen, Frieden mit der Vergangenheit und Maeves Tod zu schließen. Dazu müssen sie die Geschichte enthüllen, die sich hinter der großen Liebe ihrer Eltern verbarg. Gleichzeitig fließt mit den Jahren neue Liebe in die Risse der zerbrochenen Familie. Aus den Scherben erwächst schließlich für Murtagh ein unerwartetes Glück, das nur Maeve einst erahnt hatte.

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Seitenzahl: 408

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Autorin

Helen Cullen ist in Irland geboren, hat Theaterwissenschaften und Englische Literaturwissenschaft studiert und lebt mittlerweile in London. Allerdings kehrt sie zum Schreiben immer wieder in ihre Heimat zurück. Ihr Debütroman »Die verlorenen Briefe des William Woolf« wurde von Lesern wie Presse gefeiert, und die Irish Times zählt die Autorin zu den aufregendsten jungen Stimmen des Landes.

Mehr zur Autorin und ihren Werken auf Twitter und Instagram unter @wordsofhelen

Buch

Auf einer irischen Insel bereitet sich die Familie ­Moone auf gemeinsame Feiertage vor. Keiner ahnt, dass ihre Mutter Maeve im Sturm aufs Meer gerudert ist, um nicht zurückzukehren. Zehn Jahre sind seither vergangen, doch die ­Moones haben den Verlust nie verwunden. Ihr Vater Murtagh arbeitet noch immer als Töpfer auf Inis Óg, während die vier Geschwister damit ringen, Frieden mit der Vergangenheit und Maeves Tod zu schließen. Dazu müssen sie die Geschichte enthüllen, die sich hinter der großen Liebe ihrer Eltern verbarg. Gleichzeitig fließt mit den Jahren neue Liebe in die Risse der zerbrochenen Familie. Aus den Scherben erwächst schließlich für Murtagh ein unerwartetes Glück, das nur Maeve einst erahnt hatte.

Aus dem Englischen von Jörn Ingwersen

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Truth Must Dazzle Gradually« bei Michael Joseph, an imprint of Penguin Books, Penguin Random House UK

Der Abdruck der deutschen Fassung von John Keats’ »Ode an eine Nachtigall« (»Ode to A Nightingale«) erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers Günter Plessow. Sie erschien im Online-Magazin Signaturen sowie in dem Band John Keats, Ballade, Oden, Sonette, Lamia. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Günter Plessow, Verlag EDITION SIGNThUR, CH-Dozwil, 2017.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Wunderraum-Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2022 

Copyright © der Originalausgabe 2020 by Helen Cullen

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign | München,

nach einer Konzeption des Originalverlags Michael Joseph,

an imprint of Penguin Books, Penguin Random House UK

Umschlagmotiv: akg/mauritius images/Schulze

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26574-8V001

www.wunderraum-verlag.de

Gewidmet denen, die immer ein Licht brennen lassen,und ganz besonders Demian Wieland.

Und vom Plattenspieler drang Henry Mancinis Orchester durch das Knistern. Die Anfangstöne von »­Moon River«, sogleich vertraut und doch vielsagend, drangen durch die Risse, und mit ihnen kam das Licht.

EINS QUEEN MAEVE

Inis Óg: 2005

Es war Heiligabend.

Murtagh trug seine braunen, alten Lammfellpuschen.

Hin und her schlurfte er über die abgewetzten Dielen im dunklen Hausflur der ­Moones.

Er strich die störrischen blonden Strähnen aus seiner Stirn. Dann rieb er seine pochenden Schläfen. Die regennasse Strickjacke zog er so fest um sich, dass der kleine Rotkehlchen-Anstecker am Revers kopfstand.

In der Stille klang das Ticken seiner Armbanduhr noch lauter. Ihr Mondgesicht fing den Lichtschein der Straßenlaterne draußen vor dem Fenster ein und warf ihn an die Wand.

Die Tür zum Wohnzimmer blieb fest verschlossen.

Weihnachten wartete direkt dahinter.

Die Zweige des krummen Tannenbaums, den er vor einer Woche übers Feld der Gallaghers nach Hause geschleift hatte, bogen sich unter jahrzehntealten Lamettagirlanden, welche die Kinder, so gut es ging, mit rotem Faden geflickt hatten. Nichts davon wurde jemals weggeworfen, so zerfleddert es auch sein mochte. Jedes Jahr, wenn die ­­Moones sich daranmachten, ihr Cottage weihnachtlich zu schmücken, waren alle Kinder eifersüchtig darauf bedacht, die eigenen Kreationen zu retten. Feierlich entrollte ihre Mutter die Werke aus dem zerfransten weißen Seidenpapier, in dem sie die restlichen achtundvierzig Wochen des Jahres verbrachten. Stück für Stück wurde der Baum geschmückt.

Uneingeschränkte Herrscherin über diese Festivität – wie auch über alle anderen – war Murtaghs Frau.

Seine Queen Maeve.

Keines der Kinder sträubte sich gegen diese Tradition. Ihre Mutter hatte sie ihnen von klein auf eingeprägt.

Eine Prägung, die ihnen ein Leben lang bleiben würde.

Wie liebte er sie für ihre Gabe, sich die kindliche Begeisterung zu erhalten, sich nie für etwas zu schämen, das ihr mal am Herzen gelegen hatte. »Ihr müsst nichts und niemanden je verlieren«, sagte sie ihren Kindern oft. »Wenn ihr nur euren Blick darauf ändert.«

Und doch hatte er sie verloren.

Obwohl er immer für sie da war.

Obwohl er immer auf sich achtgab.

Murtagh war an diesem Morgen einmal mehr in einem halb leeren Bett aufgewacht. Die Decke auf Maeves Seite war kühl und glatt. Er hatte geglaubt, er würde sie am Küchentisch vorfinden, in ihren Hahnentrittschal gewickelt, blass und schmal im Dunkel vor der Dämmerung, eine Strähne von blauschwarzem Haar vor ihrer hohen Stirn, wie ein nasser Krähenflügel, die langen Locken im Nacken mit einem ihrer roten Bleistifte festgesteckt. Er hatte sich schon vorgestellt, wie sie erschrecken würde, wenn er plötzlich in der Tür stand. Wie er – wie immer – über den Moment hinwegsehen würde, den es dauerte, bis sich ihre taubengrauen Augen wieder der Außenwelt zuwandten. Bis ihre Dämonen sie ihm überließen. Der Wasserkessel würde auf dem Herd zischen und speien, während er hinter ihrem Korbstuhl stünde und Wärme in ihre Arme riebe, wenn er sie freundlich dafür tadelte, dass sie nicht genug schlief, und tat, als wüsste er nicht, woran es lag.

Doch Maeve saß nicht am Küchentisch.

Und sie saß auch nicht grübelnd auf der steinernen Stufe an der Hintertür und trank die Milch direkt aus der Flasche.

Sie döste nicht auf dem Wohnzimmersofa, vor dem stumm flimmernden Fernseher, mit einem leeren Whiskeyglas in der Tasche ihres pfauenblauen Morgenmantels, auf den sie in mühevoller Kleinarbeit einen silbernen Starenschwarm gestickt hatte.

Da sah er, dass ihr Mantel nicht wie sonst am Treppengeländer hing.

Als er die Haustür aufmachte, prasselte sofort der Regen auf ihn ein. Der Wind riss an seinem dünnen Pyjama. Murtagh stemmte sich gegen den Sturm und trat hinaus in die Kälte, zog die schwere rote Tür hinter sich ins Schloss. Weil der Messingklopfer ans Holz schlug, hielt er kurz inne, hoffte, dass er die Kinder nicht geweckt hatte. Frierend wich er in seinen Hausschuhen den Pfützen auf dem gepflasterten Weg aus. Am schmiedeeisernen Tor blieb er stehen und suchte die dunkle Insel ab, ob er Maeve irgendwo im Lichtschein einer fernen Straßenlaterne ausmachen konnte.

Meer und Himmel waren kaum zu unterscheiden. Schafe suchten Schutz auf Peadar Ógs Feld, der feuchten Wiese, die zu seiner Rechten an das Land der ­­Moones grenzte. Die blökenden Tiere schienen sich zu beklagen. Murtagh nickte ihnen zu.

Von Maeve war nichts zu sehen.

Als er sich wieder dem Haus zuwandte, sah er, dass Nollaig ihn von ihrem Fenster aus beobachtete. Es kam ihm vor, als würde seine älteste Tochter immer genau die Situationen mitbekommen, von denen ihre Eltern geglaubt – gehofft – hatten, sie könnten sie verheimlichen. Natürlich belastete Nollaig das, was sie gesehen hatte. Schon als kleines Mädchen hatte sie begriffen, dass etwas vor sich ging, und er wusste, dass die Tränen nicht lange auf sich warten lassen würden, weil sie immer alles hinterfragte.

Er winkte ihr zu, als ihn der Wind wieder zum Haus wehte. Später würde ihm schmerzlich bewusst werden, welch dunkle Vorahnung seine Tochter aus dem Bett getrieben hatte.

»Wie lange ist sie schon weg ?«

Mittlerweile stand Nollaig vor dem Flurspiegel und gab sich alle Mühe, ihr krauses mausbraunes Haar in Form zu bringen. Sie raffte es so fest zusammen, dass es wie ein Fuchsschwanz von ihrem Hinterkopf abstand.

»Du solltest deine hübschen Locken leben lassen, Noll«, sagte ihr Vater, »statt sie zu bekämpfen.«

Sie lächelte ihn an, knallte die Bürste aber dennoch auf die Kommode.

»Das sind keine Locken. Ich habe Stahlwolle auf dem Kopf«, stöhnte sie. »Hat sie gesagt, wohin sie wollte ?«

Murtagh drückte sie kurz und ging weiter in die Küche. »Bestimmt macht deine Mutter nur einen kleinen Spaziergang. Alles Gute zum Geburtstag, Liebes. Lá breithla shona duit.«

Er stellte einen kleinen Kupfertopf mit Wasser auf den Herd und bot ihr ein Ei an. Widerwillig nickte sie und rollte sich auf dem grün-golden gestreiften Lehnstuhl vor dem Ofen zusammen.

»Mit deinem weißen Nachthemd könntest du glatt als irische Flagge durchgehen«, flachste er und freute sich über ihr Glucksen.

Schweigend behielt er die Zeiger der Uhr drei Minuten lang im Auge. Rechnete damit, dass jeden Moment seine Frau zur Tür hereinwehen würde. Er war bereit, sie mit einem Handtuch und leisem Vorwurf für ihr unbedachtes Umherwandern in Empfang zu nehmen, doch nichts und niemand unterbrach das Kochen und Kühlen, das Köpfen und Löffeln der Eier. Nollaig gähnte, streckte ihre Arme und Beine von sich.

»Geh ruhig noch mal für eine Stunde ins Bett«, meinte Murtagh. »Dann frühstücken wir nachher alle gemeinsam.«

Misstrauisch musterte sie ihn, fügte sich jedoch. »Wenn Mama nicht bald wieder da ist«, sagte sie, »komm mich wecken. Versprochen ? Dann gehen wir sie suchen. Und erinnern sie vielleicht mal daran, was heute für ein Tag ist.« Murtagh nickte, schob seine Tochter aus der Küche und sah ihr hinterher, wie sie nach oben verschwand.

Da Nollaig am Weihnachtsabend geboren wurde, hatte sie als Einzige das Licht der Welt im Galway Maternity ­Hospital erblickt und nicht in den Armen von Máire O’Dulaigh, der ungeduldigen Inselhebamme. Das gefiel ihr überhaupt nicht, weil es ihr das Gefühl gab, keine echte Insulanerin zu sein. Und hinzukam, dass die Besonderheit ihres Feiertags, an dem alle Aufmerksamkeit doch eigentlich ihr gelten sollte, in der gemeinsamen Begeisterung für das Weihnachtsfest verloren ging. Im Nachhinein war es vielleicht ein Fehler gewesen, sie Nollaig zu nennen, das irische Wort für »Weihnachten«, weil es ihr die Abgrenzung noch zusätzlich erschwerte. Und kein Spitzname blieb je hängen. Sie war nicht so ein Kind, das andere dazu inspirierte, ihr näher sein zu wollen, indem man ihr einen eigenen Namen verlieh.

»Schon alt zur Welt gekommen«, sagte ihre kleine Schwester Sive immer über sie, mit gelangweilter Verachtung.

Nollaig ertrug die Last, die Älteste zu sein, mit quälender Ausdauer, schweren, selbst auferlegten Pflichten. Nicht immer konnte die Mutter ihren Unmut darüber für sich behalten, sodass es nur natürlich, wenn auch unfair zu sein schien, dass Maeve und Sive sich eher zueinander hingezogen fühlten. Das Küken der Familie hatte den Witz und die Wildheit der Mutter geerbt und sprach oft genug laut aus, was der Mutter an Nollaigs Pflichtbewusstsein missfiel.

Sobald es in Nollaigs Zimmer still geworden war, zog Murtagh wasserdichte Anglerhosen über und stieg in seine Gummistiefel. Er kämpfte sich in einen dicken Pullover aus kratziger, grauer Wolle, riss ungeduldig an den Ärmeln seines Pyjamas, als sie an den Ellenbogen festsaßen, und warf sich den Dufflecoat über, der ihm der liebste war, auch wenn dieser seine besten Zeiten längst hinter sich hatte. Mittlerweile war es acht Uhr früh. Die Sonne würde erst um kurz vor neun aufgehen. Als Murtagh aus dem Schrank unter der Treppe eine Taschenlampe nehmen wollte, stellte er erleichtert fest, dass nur noch eine auf dem Regal stand.

Wenigstens hat sie eine Lampe mitgenommen.

Das Licht seiner Taschenlampe zeigte ihm kaum mehr als den nächstmöglichen Schritt, und doch war er froh, sie dabeizuhaben, als er durch die tintenschwarze Nacht stapfte.

Komm zu mir, Maeve.

Zeig dich.

Komm zu mir, Maeve.

Zeig dich.

Auf dem Weg die lange, schmale Straße zum Pier hinunter strich er mit der linken Hand an der moosbewachsenen Steinmauer entlang, während er sein Mantra wiederholte.

Keine Menschenseele regte sich.

Was sollte die Leute denn auch aus ihrem warmen Heim locken, raus in diesen Sturm, in dem man nass bis auf die Haut wurde ?

Wenn das Wetter die Insel derart zornig in die Zange nahm, wurde die Einsamkeit beinahe unerträglich. Die Elemente machten die Insulaner zu Gefangenen, die scheinbar haltlos auf dem Meer trieben, verirrt und alle Leinen los, und nie mehr würden sie das feste Land erreichen.

Als Murtagh sich an das ausgeblichene Schild lehnte, auf dem die Abfahrtzeiten der Fähre vermerkt waren, hellte der Himmel gerade ein wenig auf.

Der Regen ließ nach.

Das Dunkel wich so langsam, dass man kaum von einer Morgendämmerung sprechen konnte.

Vielleicht war Maeve längst zu Hause und nun ihrerseits in Sorge um ihn.

Im trüben Winterlicht stapfte er durch den Sand, folgte den eigenen Spuren zurück, hoffte mit jedem Atemzug, dass zu Hause inzwischen lebhaftes Treiben herrschte.

Zu hören, dass die Zwillinge in der Küche stritten, machte ihm Mut, als er seine Stiefel auf der Matte an der Hintertür abtrat. Achtzehn Jahre waren die beiden Jungen mittlerweile alt und ragten gelegentlich wie ausgewachsene Männer über ihm auf. Dann wieder waren sie immer noch die kleinen Jungs, die im Supermarkt nicht auf demselben Einkaufswagen sitzen wollten und ihre Einwände lauthals kundtaten.

»Mossy, wie schwer kann es sein, Brot zu toasten ?«, fragte Dillon, während er über dem Ausguss an der verkohlten Oberfläche einer Scheibe Sodabrot herumschabte. »Immer dasselbe !« Jede einzelne Silbe unterstrich er mit kräftigem Kratzen des Buttermessers.

Gleichgültig stand Mossy da und trank Orangensaft direkt aus dem Karton, ohne auf die kleinen Rinnsale zu achten, die ihm übers Kinn liefen. Seine Miene hellte sich auf, als der Vater hinter der Küchentür hervorlugte.

»Dad ! Wo warst du ? Was ist mit Frühstück ?« Er stellte den Karton wieder zurück in den Kühlschrank, ließ aber den Schraubverschluss auf der Arbeitsplatte liegen.

»Ja !«, stimmte Dillon mit ein. »Wo ist das Festmahl, das Mama versprochen hat ? Wir sind schon halb verhungert !«

Murtagh schaute sich in der Küche um. »Dann ist sie noch nicht wieder da ? Eure Mutter ?«

Die Zwillinge sahen sich an, bevor ihr Blick wieder auf den Vater fiel, der sich gerade aus seinen Stiefeln kämpfte.

»War sie denn nicht bei dir ?«, fragte Mossy, strich seinen langen Pony aus der Stirn und klemmte ihn sich hinters Ohr.

»Dursohn« nannte seine Mutter ihn. Tomás ­­Moone, der blasse, blonde, spindeldürre Bücherwurm, der nicht nur den Namen seines Großvaters väterlicherseits geerbt hatte, sondern auch dessen Temperament und Haut- und Haarfarbe. »Mollsohn« – sein Bruder Dillon – hatte pechschwarze ­Locken und hohe Wangenknochen, unverkennbar der Sohn seiner Mutter. Er war zu Ehren zweier ihrer Helden benannt – Bob Dylan und Dylan Thomas –, und so lastete das Kreative schwer auf seinen Schultern. Er träumte davon, ein Künstler zu werden, aber es mangelte ihm an der nötigen Entschlossenheit. Dillon hatte kein Interesse daran, sich zu bemühen, und freute sich an dem, was ihm leichtfiel. Mossy war derjenige, der hart arbeitete und gewissenhaft an jeder Aufgabe festhielt, bis sie vollendet war. Manchmal fragte sich Murtagh, wie sich die Jungen wohl entwickelt hätten, wenn ihre Namen bei der Geburt vertauscht worden wären, und ob ihr Schicksal mit der Namensgebung besiegelt war.

Da kam Nollaig in die Küche, trug die weiße Samtschürze und den roten Rollkragenpulli, den ihre Mutter ihr fürs Weihnachtsfest gekauft hatte. »Mama ist also noch nicht wieder aufgetaucht …«, sagte sie gleich.

Murtagh ließ die fragenden Mienen seiner drei Kinder auf sich wirken und schüttelte den Kopf. »Ich gehe mal lieber Sive wecken«, sagte Nollaig und stampfte die Treppe hinauf.

Sive war im Sommer sechzehn geworden und stolz auf diese neue, erwachsener klingende Zahl. Sie war besessen von den Manic Street Preachers, von Suede und Placebo und trug ihr Fansein wie eine Uniform. Ein pechschwarzer Bob umrahmte ihr kalkweiß geschminktes Gesicht wie das Haar der Lego-Figuren, mit denen sie als Kind gespielt hatte. Ihre Augen waren dick von kohleschwarzem Eye­liner umrahmt, die gleichen taubengrauen Augen, die auch ihre Mutter hatte. Der blutrote Lippenstift betonte, wie selten sie lächelte, obwohl die melancholische Musik ihr doch immer wieder Mut machte. Sie schwelgte in der geheimen Welt unter ihren Kopfhörern und träumte davon, nach London zu entfliehen. Ihre musikalischen Seelenverwandten zu finden, hatte ihr geholfen, sich nicht so allein zu fühlen, optimistischer zu sein, was zu erwartende Beziehungen und Ausdrucksformen anging. Vorerst machte sie sich für ihresgleichen erkennbar, indem sie sich so kleidete, wie sie sich kleidete, üblicherweise gestreift, immer rußschwarz, schlachtschiffgrau oder mitternachtsblau, in Schichten übereinander, dazu ein Samtband mit silbernem Stern um den Hals. Ihr wertvollster Besitz war ein langer Kunstpelzmantel mit Leopardenmuster, den sie aus einem Secondhandladen an der Eyre Street in Galway hatte. Diesen trug sie über ihrem Nachthemd, als sie Nollaig widerwillig in die Küche folgte. Sie zog den Mantel fester um sich, da sie die Anspannung im Raum spürte und die heimlichen Rauchsignale zwischen ihren Brüdern bemerkte. Ihr Vater war damit beschäftigt, Würstchen in der Pfanne zu verbrennen. Überrascht hörte sie ihn fluchen, als das brutzelnde Öl ihn anspritzte.

»Und was machen wir jetzt ? Ist Weihnachten abgesagt ?«, fragte Sive und fasste die Kaffeekanne an, um zu sehen, ob sie noch warm war.

Murtagh schenkte ihr einen Becher ein und schnaubte. »Unsinn ! Wir nehmen gleich erst mal eine kleine Stärkung zu uns, und dann gehen wir vielleicht ein bisschen raus und gucken mal, ob wir eure Mutter finden. Sie hat bestimmt nur die Uhrzeit vergessen.«

Sive griff nach dem Becher, und für einen Moment hielten sie ihn beide fest. »Also ein Suchtrupp. Das willst du damit sagen. Na super.« Sie ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen und stieß Mossy mit dem Ellenbogen an, damit er ihr Platz machte.

Ihr Vater kehrte an den Herd zurück. Er klang angestrengt. »Das ist nicht zum Lachen, Si. Und es stimmt auch nicht. Wir wünschen uns doch alle, den Tag gemeinsam zu beginnen. Und ihr kennt eure Mutter. Bestimmt spaziert sie draußen herum und freut sich, wenn ihr einer von uns entgegenkommt.« Er schob den Schweinebraten, den Maeve am Abend vorher zubereitet hatte, in den Ofen und stellte den Timer auf zwölf Uhr mittags.

Bald darauf, als es wieder zu regnen begann, machten sich die Brüder auf den Weg zum rostigen Schiffswrack im Osten der Insel.

Nollaig und Sive beschlossen, zur Kapelle und zum Tigh Ned’s, dem Inselpub, zu laufen und, falls sie ihre Mutter dort nicht fanden, weiter zur Burgruine.

Murtagh brach zum Leuchtturm auf, fest davon überzeugt, dass sie nur dorthin gelaufen sein konnte, wenn sie so lange weg war. Wobei er sich eingestehen musste, dass er gar nicht wusste, wie lange es her war, seit sie das Haus verlassen hatte.

Warum nur hatte er nicht darauf bestanden, dass sie mit ihm ins Bett kam ? Sie sei zu rastlos, hatte sie gesagt. Der Mond raube ihr den Schlaf.

Wenn sie ihr nicht unterwegs begegneten, wollten sie sich wieder am Haus zusammenfinden, statt planlos weiterzusuchen. Die Chancen standen gut, dass ihre Mutter sie inzwischen zu Hause bereits erwartete und sich fragte, wo wohl alle geblieben sein mochten.

Nollaig und Sive kehrten als Erste mutlos zurück. Nollaig fegte den Kamin im Wohnzimmer aus, während Sive das Kleinholz vorbereitete. Schweigend standen sie vor dem Feuer, warteten auf die anderen, wärmten ihre Hände, ohne die Hitze überhaupt zu spüren.

Als Nächstes platzten die Zwillinge herein, klatschnass. Dillons leuchtende Turnschuhe schmatzten bei jedem Schritt. Als sie sahen, dass ihre Schwestern allein waren, verzogen sie sich wortlos. Mossy legte sich unter seine Daunendecke, voll bekleidet, ließ nur seine braunen Halbschuhe über die Bettkante ragen und tat, als würde er in einem Gedichtband von John Keats lesen. Dillon duschte den Heißwassertank leer, und seine Sachen landeten als feuchter Haufen vor der Badezimmertür.

Als Murtagh erschien und nichts vom fröhlichen Geplapper ihrer Mutter zu hören war, kamen Sive die Tränen. Nollaig fuhr sie an, sie solle sich zusammenreißen, und eilte in die Küche, um ihren Vater allein zu sprechen. Wie zum Hohn duftete es im ganzen Haus nach Schweinebraten. Als der Timer piepte, stellte Nollaig den Ofen aus, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen. Sie hoffte, ihre Mutter käme bald nach Hause, um sie für ihre mangelnde Umsicht zu tadeln. Während ihr Vater sich gottergeben einmal mehr bereit machte, den Elementen zu trotzen, fiel Nollaig auf, dass sie gar nicht sicher war, ob sie an diesen Gott überhaupt noch glaubte. Nollaig rief ihre Geschwister zusammen, und gemeinsam teilten sie die Inselpfade für eine zweite Suche untereinander auf. Keiner sagte ein Wort, als sie nacheinander aus dem Haus traten, raus in den Sturm.

Von der hoffnungsvollen Anspannung blieb nach stundenlanger Suche nur bedrückende Sorge. Am Nachmittag waren Murtagh und seine vier Kinder triefnass, erschöpft und gereizt. Vergeblich versuchte der Vater, sie dazu zu bringen, von der lauwarmen Gemüsesuppe zu essen, die er mit der Kelle vorsichtig auf Schalen verteilte. Er kriegte selbst kaum etwas davon herunter, bekleckerte nur seine Strickjacke und ließ den Löffel klappernd auf die Fliesen fallen. Nollaig fing seinen Blick auf. Er nickte.

»Wir brauchen Hilfe«, sagte er, während er sich von seinem Stuhl erhob. »Bin bald wieder da.«

Murtagh lief zum Tigh Ned’s, wo sich die Insulaner vor der Abendmesse auf einen heißen Whiskey und Sheperd’s Pie trafen. Die etwas lieblose Weihnachtsdeko des Wirts bestand aus einem lindgrünen Plastiktannenbaum, dem man ein Galway-Trikot angezogen hatte, und der stand auf der Fensterbank, umringt von Biergläsern mit Bienenwachskerzen, die der Gemeindepfarrer Pater Dónal gestiftet hatte. Daneben lag die extradicke Weihnachtsausgabe der Fernsehzeitung mit einem kleinen Schild davor: Bitte nicht mit nach Hause nehmen. Die warme Luft war feucht und schwer von den nassen Jacken und den vielen Menschen, die sich dort zusammengefunden hatten.

Murtagh sprach Pater Dónal an, dessen weiße Jeansjacke einen starken Kontrast zu seinem schwarzen Hemd und der schwarzen Hose darstellte. An der Brusttasche steckte ein kleiner Stechpalmenzweig. Fingerschnippend versammelte Dónal einen Halbkreis von Insulanern um sich, dann leerte er sein Glas in einem Zug und zerkaute den Eiswürfel, während er Anweisungen gab. Die ­Moone-Kinder sollten in den Pub gehen, damit sie dort etwas zu essen bekamen, keine Widerrede. Murtagh selbst sollte zu Hause auf Maeve warten.

»Falls …«, sagte Pater Dónal, nur um sich schnell zu verbessern, »… ich meine, wenn Maeve von allein nach Hause kommt.«

In Zweier- und Dreiergruppen verteilten sie sich, ließen ihre halb leeren Guinness-Gläser auf dem Tresen stehen, weil sie hofften, bald zurück zu sein.

Und so fand sich Murtagh im Hausflur wieder, wo er auf den Dielen hin und her lief und am Rosenkranz in seiner Strickjacke herumfingerte, eher aus Aberglaube als aus Gottesgläubigkeit. Das wenige Licht, das an diesem Tag seinen Weg durch die Wolken gefunden hatte, war inzwischen wieder in Dunkelheit versunken.

Durch das kleine Fenster im Flur sah er, wie eine Straßenlaterne nach der anderen anging, als die Kuckucksuhr eben fröhlich die vierte Stunde verkündete. Er schrie den kleinen, gelben Vogel an, damit aufzuhören, nur um ihn gleich danach um Entschuldigung zu bitten.

Da klopfte es an der Haustür.

Einen Moment lang stand Murtagh da und hielt sich die Ohren zu. Er wollte nicht wissen, was ein solches Klopfen bedeuten mochte. Er wünschte, die Hand an der Tür gehörte einer Person, die einen Schlüssel hatte, die ins Haus treten und ihn in die Arme schließen konnte.

Er nahm den Rosenkranz fest zwischen die Finger und öffnete die Haustür einen Spalt weit. Draußen stand Pater Dónal in seiner aufgeweichten Jeansjacke und wrang seine Tweedmütze aus. Hinter dem Pfarrer sah Murtagh drüben beim Tor Seamus McCann und Áine O’Connor stehen, die unter einem großen Regenschirm mit Werbung für Tayto Chips Schutz suchten und stur auf ihre Füße starrten.

»Wieso kommen die beiden nicht mit rein, Dónal ?« Murtagh machte die Tür weit auf und winkte ihnen, doch der Pfarrer packte seinen Arm und hielt ihn fest.

»Sag mal, Murtagh … Ist dein Curragh noch im Bootshaus ? Wann hast du es zuletzt rausgeholt ?«

Murtagh wich einen Schritt zurück, der Pfarrer trat einen Schritt vor, hielt noch immer seinen Arm.

»Gestern erst. Wo soll es sonst sein ? Bei diesem Wetter fährt doch niemand raus. Kein Mensch. Warum fragst du mich das ?« Er schüttelte den Kopf und machte sich gerade.

Dónal drückte Murtaghs Arm fester, mit eiskalter Hand in schwarzen, fingerlosen Handschuhen. »Da liegt ein Curragh unten bei den Felsen auf der Westseite. Ein paar von den Männern klettern gerade runter, um es zu bergen. Könntest du mitkommen, Murtagh ? Nur um sicherzugehen, dass es nicht deins ist. Um es auszuschließen.«

Murtagh machte sich vom Pfarrer los und drängte an ihm vorbei, ohne seinen Mantel zu nehmen.

Dónal zögerte kurz, bevor er die Tür hinter ihnen ins Schloss zog und Murtagh den Weg hinunter folgte, die Hände gefaltet.

Murtagh stemmte sich gegen den Wind, als er – wie schon am Morgen – runter zum Anleger lief. Sein Name wies ihn als Beschützer des Meeres aus, doch jetzt flehte er den düsteren Atlantik selbst um Schutz an.

Pater Dónal, Seamus und Áine liefen ihm schweigend hinterher, doch keiner versuchte, mit ihm Schritt zu halten.

Am Bootshaus fand er die Tür entriegelt, was ihn starr im Sand stehen ließ. Áine trat vor, gab der Tür einen sanften Stoß und zog an dem Bändsel der von der Decke hängenden Glühbirne, um Licht zu machen. Sie sah auf den ersten Blick, was Murtagh nicht wahrhaben wollte, so angestrengt er auch suchen mochte.

Das Boot war weg.

Aus der Ferne hörte er Stimmen vom Ufer her. Ohne auf die Einwände des Pfarrers zu hören, er solle warten, bis er mehr wüsste, stolperte Murtagh die Dünen hinunter dorthin, wo eine Traube von Männern im Halbkreis um ein Curragh stand. Als er sich ihnen näherte, kam ihm Peadar Óg, der Besitzer der klagenden Schafe, entgegen. Er war klatschnass, sein Gesicht gerötet von der eisigen Kälte, die Augen wild.

»Tut mir leid, Murtagh«, keuchte er. »Es ist Maeve. Wir haben sie gefunden. Sie war am Curragh festgebunden. Ihre Taschen …«

Seine Stimme brach.

»Ihre Taschen waren voller Steine.«

Er trat beiseite, und Murtagh sank im nassen Sand neben dem Boot auf die Knie. Im silbrigen Licht sah er die zarten blauen Adern auf Maeves Gesicht, wie winzige Risse in einer Porzellanvase. Als er mit dem kleinen Finger darüberstrich, wandten sich die anderen Männer ab.

Pater Dónal fing an, einen Rosenkranz zu beten, und alle anderen stimmten leise mit ein, selbst die Ungläubigen.

Tatsächlich waren das die lautesten Stimmen von allen, während das Dunkel mit jedem »Amen« dunkler wurde.

ZWEI TAGE DER KRÄHE

Dublin: 1. Mai 1978 

Mittag

Es waren die Schuhe, die ihm zuallererst auffielen.

Tomatenrote Plateauschuhe aus Wildleder, mit weißen Schnürsenkeln.

Doppelknoten.

Schräge Schleifen.

Die Beine an den Knöcheln über Kreuz.

Schwarz-weiß gestreifte Strümpfe, die bis über die Knie reichten.

Ein Daumenbreit milchweißer Haut.

Der Rest der Frau, mit der er eines Tages verheiratet sein würde, blieb verborgen hinter einer Ecke vom steinernen Glockenturm des Trinity College. Ihr linker Fuß folgte entschlossen einem Rhythmus, während der rechte Fuß gezwungenermaßen mitwippte.

Murtagh lächelte.

Trat vor.

Zögerte.

Er wechselte die Last seiner Ledertasche von einer Schulter zur anderen. Wischte sich noch einmal vergeblich die Nase (sie lief schon seit Tagen) und steckte das ausgefranste blaue Tuch in die Außentasche seines neuen braunen Dufflecoats.

Später würde Maeve das Blau mit den Augen von Frank Sinatra vergleichen, aber das konnte er jetzt noch nicht wissen.

Und auch nicht, dass der große Zeh an ihrem linken Fuß aus einem Loch in ihren Zebrastreifen-Strümpfen ragte.

Und auch nicht, dass sie diese tomatenroten Schuhe selbst gefärbt hatte, mit einer Spraydose, die sie am Morgen auf der Francis Street neben einem unvollendeten Graffiti von Lady Madonna gefunden hatte.

Vorerst wusste er nur, dass er unbedingt wissen musste, wem diese Schuhe gehörten, diese Strümpfe, diese Knie. Er nickte Sir William Lecky zu, der mit unendlicher Geduld dort auf seinem grünen Granitblock saß, und betrat den Rasen.

Murtagh verzog das Gesicht, als seine Schuhe auf dem aufgeweichten Boden schmatzten. Der Schlag seiner Cordhosen schleifte durch das feuchte Gras vom morgendlichen Sommerregen. Als er den Himmel nach Regenwolken absuchte, um herauszufinden, ob ein weiterer Schauer drohte, sah er zu seiner Erleichterung nur einen dunstigen Schleier von Stratuswolken.

Zu viel mit dem Kopfin den Wolken.

Was seine Mutter – Teresa – immer gesagt hatte. Infolgedessen hatte er gelernt, jede Wolke zu benennen, und wurde so zum offiziellen Wolkenleser.

Nicht alle Kinder hatten das Glück, ihre eigene Mutter Teresa zu haben.

Instinktiv wollte seine Hand den wilden Haarschopf bändigen, als stünde sie plötzlich vor ihm, doch widersetzte er sich dem Impuls. Stattdessen zog er den grünen Schal, den sie ihm gestrickt hatte, fester um seinen Hals.

Murtagh bog um die Ecke vom Glockenturm.

Stand einen Moment lang schweigend da, um das Bild zu vervollständigen.

Sie war von schlanker Gestalt, sodass ihr Rucksack aus Jeansstoff etwas überdimensioniert wirkte. Er war übersät von Aufnähern: gelbe Rosen und rote Sterne, orange-grüne, konzentrische Kreise, zwei Krähen auf einem Ast, ein weißer Leuchtturm mit roter, flatternder Fahne, Regenbogenstreifen, Slogans gegen Apartheid, gegen Atomwaffen, dazu Buttons, die Led Zeppelin und Ramones schrien.

Unter einer dunkelroten Baskenmütze lugte ein loser, schwarzer Zopf hervor, und ihr Kopf ruhte auf einer zusammengeknüllten Militärjacke, die sie als Kissen an die Wand drückte. Je näher er ihr kam, desto deutlicher hörte er ein leises Winseln.

Hatte sie Schmerzen ? Was war los mit ihr ?

Vorsichtig tippte er mit dem Zeigefinger an ihre Mütze, da merkte er, dass er noch Töpferton unter den Fingernägeln hatte. Deshalb zuckte er regelrecht zusammen, als sie überraschend fest sein Handgelenk packte. Die Haut an ihrem Arm war so blass, dass er die feinen Äderchen darunter blau durchscheinen sah. Fasziniert starrte er den pflaumenfarbenen Nagellack an, perfekt auf ihre runden Fingernägel aufgetragen. Sie drehte den Kopf und sah ihn argwöhnisch an. Taubengraue Augen blickten unter einem dichten Pony hervor. Ihr Gesicht glich dem eines Vogels: die Spitze ihrer Nase, die Form des Kiefers, der Wangenknochen, die ausgeprägten Augenbrauen.

»Was soll das werden ?«, fragte sie, ließ seinen Arm los und kam auf die Beine, wobei sie ihren Rucksack abstellte.

Eine Amerikanerin !

Sie war groß, schlank, bedrohlich, trug eine kurze rote Latzhose aus Samt und eine elfenbeinfarben schimmernde Weste, die wie aufgemalt aussah.

Murtagh nahm die Hände hoch, als wäre sie von der Polizei. »Du klangst … Du hast so komische Laute von dir gegeben … Ich dachte, dir ist vielleicht nicht gut.«

Sie lachte dreckig. »Diese komischenLaute waren mein Versuch, einen Song von Patti Smith zu singen. Bin wohl etwas aus der Übung.«

Er sah ihr an, dass sie auf eine Reaktion von ihm wartete, doch als nichts kam, füllte sie das Schweigen selbst.

»Studierst du auch hier ?«, fragte sie und streckte sich gähnend. »Ich warte darauf, dass ich in mein Wohnheim kann, aber die machen nicht vor zwei Uhr auf. Eben wäre ich fast eingeschlafen. Kann ja froh sein, dass keiner mit meiner ­Tasche durchgebrannt ist.«

Murtagh fand seine Stimme wieder, wenn auch nur krächzend, und so brachte er eine Frage zustande, die den Aufwand, den sie ihn kostete, kaum wert war.

»Von wo bist du ?«

Sie neigte den Kopf, balancierte auf einem Bein wie ein Flamingo und blinzelte ihn an.

»Hört man das denn nicht ?« Sie wartete kurz.

Murtagh nickte, und ihm wurde etwas schwindlig, während er sich Mühe gab, ihrem Blick standzuhalten, geblendet von ihrer im Sonnenschein leuchtenden Weste.

»Ich bin aus Williamsburg, Brooklyn. Wenn du es genau wissen willst.«

Er wollte sie fragen, ob New York wirklich so war, wie es in den Filmen wirkte, doch stockte er mitten im Satz. »Himmel noch mal !«, schrie er und hielt sich den Kopf, schwankte vor und zurück, stöhnte, fluchte und stampfte mit den Füßen.

Maeve streckte die Hand nach ihm aus, dann wich sie zurück. »Was ist los ? Hast du einen Anfall oder so was ?«

Er blickte zu ihr auf, die Augen rot, tränennass.

»Eine Biene !

Mich hat eine Biene gestochen !

Ins Ohr !

Fühlt sich an wie glühendes Eisen am Kopf !

Es brennt !«

Maeve verkniff sich ein Schnauben, während sie in ihrem Rucksack herumwühlte und eine Kupferpinzette, ein kleines Fläschchen und eine zerknüllte orangefarbene Papierserviette herausnahm, auf der mit blauer Tinte Zahlen notiert waren.

»Hier, lass mich mal machen !« Sie zog seine Hand von seinem Ohr und sah sich den Stich an. »Setz dich hin. Ich hol das Gift da raus.«

Sie ließ sich neben ihm auf die Steine nieder, rollte ihre Militärjacke auf dem Schoß zusammen und klopfte einladend darauf, damit er sich hinlegte. Er rutschte ein Stück, damit er seinen Kopf auf ihr Bein legen konnte, wandte ihr das verletzte Ohr zu und drückte die Nase in die Falten ihrer Jacke.

Sie roch nach Äpfeln.

Er holte tief Luft und seufzte.

Genau wie in all den Liedern.

Er ballte eine Faust, als sie den Stachel mit der Pinzette aus seinem Ohr entfernte und die Wunde mit Wasser aus ihrer Flasche reinigte. Es tropfte ihm aufs Hemd, aber sie fing das meiste mit der Hand auf. Jeder Nerv seines Körpers war voll konzentriert auf den Kontakt zwischen seiner brennenden Haut und ihren kühlen Fingern. Er hörte, wie sie einen Deckel abschraubte, und ihre silbernen Armreifen klapperten, dann spürte er, dass sie ihm ein Taschentuch aufs Ohr drückte. »Was rieche ich da ? Was ist das ?« Vor Schmerz kniff er die Augen zusammen.

»Kamille«, antwortete sie. »Ich hab alles Mögliche dabei. Meine Großmutter kennt sich mit Naturheilkunde aus und hat mir viel beigebracht. Ich bin kein großer Fan von moderner Medizin.«

Murtagh ahnte, dass es da noch mehr zu erzählen gab, war aber zu angeschlagen, um nachzuhaken. Wie gern hätte er den ganzen Tag dort gelegen und ihrem amerikanischen Akzent gelauscht. Er kam sich vor wie in einem Film, ein Gefühl, das ihm gänzlich unvertraut war, wenn auch außerordentlich faszinierend.

Mit einem kleinen Schubs von Maeve setzte er sich auf, schützte seine Augen mit der Hand vor dem grellen Sonnenlicht.

»Jetzt sollte ich mich wohl besser verabschieden, mich irgendwo verkriechen oder vor Scham im Boden versinken«, sagte er. »Tut mir leid, dass ich dir Umstände gemacht habe.«

Lachend stand sie auf und reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen.

»Ich hab schon Schlimmeres erlebt. Glaub mir. Lass uns was suchen, wo wir Kaffee und Donuts kriegen. Vielleicht hast du ja Lust, mir beim Warten Gesellschaft zu leisten.«

»Bist du sicher ?«, fragte er, ohne sie loszulassen. »Ich weiß nicht, ob ich in der Lage bin, das alles wiedergutzumachen.«

»Ich glaube, ich bin mir sicher«, antwortete sie und schien seine Hand auch nicht loslassen zu wollen. »Das muss fürs Erste reichen, so leid es mir tut. Ich bin übrigens Maeve. Maeve Morelli.«

»Murtagh ­Moone. ­Moone mit einem E am Ende.«

Murtagh trug ihren Rucksack auf dem Rücken, und Maeve hatte sich seine Tasche um den Hals gehängt. Ihre Hand ruhte darauf, während sie zu Ma Reilly’s gingen, dem kleinen Café im hinteren Teil vom Buchladen Finnegans Wake. »Ohne Apostroph«, sagte sie. »Gut so.« Das Café bestand nur aus drei eng zusammenstehenden Holztischen: einmal Kiefer, einmal Eiche, einmal Teak. Die Sitzgelegenheiten stammten vom Ausverkauf im Shannon Hotel: rot gepolsterte Esszimmerstühle mit goldenen Beinen. Staubige, alte Taschenbücher reihten sich in den Regalen aneinander und lagen auf den Tischen herum. Ein rot gelockter Junge in einem überdimensionierten gelben Hemd schlurfte heran. Seine Hand zitterte ein wenig, während er seinen Kugelschreiber bereithielt, um ihre Bestellung in einem kleinen Ringbuch zu notieren, auf dem zwei sich küssende Giraffen mit verschlungenen Hälsen abgebildet waren.

»Also dann: Was für Kaffeesorten habt ihr denn im Angebot ?«, fragte Maeve etwas skeptisch.

Er machte große Augen. »Äh, Nescafé ? Mit Milch oder ohne … oder mit Zucker.«

»Ness-Caffee ? Was ist das ? Französisch ?«

Murtagh beugte sich über den Tisch und berührte ihren Arm. »Das ist Instantkaffee. Der wird dir nicht schmecken, aber was anderes gibts hier nicht.«

Sie rümpfte zwar die Nase, lächelte den Kellner aber dennoch an. Murtagh war wie hypnotisiert von ihren strahlend weißen Zähnen. Wie die Leute im Fernsehen. »Dann bitte zweimal Instant, Sir«, sagte sie, doch Murtagh unterbrach: »Ich möchte lieber einen Tee.«

Entsetzt sah sie ihn an. »Trinkst du keinen Kaffee ?«

Er schüttelte den Kopf. »Ist mir zu bitter.«

Drei Löffel Zucker gab Murtagh in eine geblümte Teetasse, die in seinen großen Händen noch zerbrechlicher wirkte. Als er sich aus der Kanne einschenkte, fiel der Deckel heraus, und heißer Tee schwappte über den Tisch. Hastig rettete Murtagh einen Stapel Flann-O’Brien-Romane und sprang auf, weil er etwas von der brühend heißen Flüssigkeit abbekommen hatte. Maeve griff sich das Geschirrhandtuch aus der hinteren Hosentasche des Kellners, als dieser gerade vorbeiging, und wischte alles auf, ohne sich in ihrem Erzählfluss unterbrechen zu lassen. »Tja, ich habe also dieses Stipendium gewonnen, und jetzt bin ich hier, um den Sommer über meinen Theaterkurs in der Trinity Drama School zu vertreten. Elf Wochen. Sechs Stücke. Und als Allererstes habe ich eine Szene als Desdemona. Kannst du dir das vorstellen ? Ich als Desdemona ?« Das konnte Murtagh, und so nickte er mit Nachdruck. »Und du ?«, fragte sie und nippte mit verkniffener Miene an ihrem Kaffee. Murtagh freute sich schon auf ihr nächstes Naserümpfen.

»Ich bin am NCAD und studiere Keramik. Ich möchte eines Tages Töpfer werden.«

»NCAD ?«

»National College of Art and Design. Ist drüben an der Francis Street, im Liberties.«

»Francis Street ! Da habe ich die Farbe für meine Schuhe gefunden ! Scheint ein nettes Viertel zu sein. Ein Töpfer. Gefällt mir. Gefühlvoll. Meditativ.«

»Moment mal«, sagte er und merkte, dass seine Anspannung ein wenig nachließ. »Was meinst du mit: ›Farbe für meine Schuhe‹?«

Sie lachte und streckte ein Bein aus, um ihren Fuß auf dem Nachbartisch abzulegen, wobei ihre ohnehin kurze Hose ein Stückchen höher rutschte und dabei noch mehr von ihrem Oberschenkel preisgab. Dem Kellner fiel sein Tablett herunter. Murtagh lächelte ihn an.

»Gefällt’s dir ?«, fragte sie. »Hab ich selbst gemacht.«

»Und wie«, antwortete er und legte seinen Fuß direkt neben ihren. »Vielleicht könntest du meine ja auch einfärben.«

Ein staubiger Chelsea Boot und ein tomatenroter Plateauschuh küssten sich.

Und damit war die Sache klar.

So gegen fünf vor vier fing der Kellner an, um Murtagh und Maeve herumzuschleichen, stellte herrenlose Taschenbücher wahllos ins Regal zurück, verspritzte halbherzig Möbelpolitur auf den Tischen und wischte mit einem schmutzigen Lappen darüber. »Wollt ihr Feierabend machen ?«, fragte Murtagh bei einem Blick auf sein Handgelenk, an dem er seine Digitaluhr vermisste, weil sie noch auf der Fensterbank im Atelier lag. Er sah sie förmlich vor sich, wie sie dort lag, die neongrünen Ziffern blinkend im leeren Raum, gleich neben dem halben Apfel, den er ebenfalls dort deponiert hatte, um den Ton von seinen Händen zu waschen.

Der Kellner nickte. »Montagabends legt der Chef hier immer Leuten das Tarot, und das geht nicht, wenn da noch andere Gäste sind, weil die dabei zuhören.«

Maeve merkte auf. »Tarot ? Na, da wollen wir nicht im Weg sein. Ist er gut ?«

Der Kellner sah sich um, als fürchtete er, sein Chef könnte plötzlich auftauchen. »Sparen Sie sich das Geld, Miss. Ich habe mehr als einmal mitbekommen, dass er den Leuten ständig dasselbe sagt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er nennt sich Marcello Pollo, heißt aber eigentlich Marky Platt. Das sagt doch wohl alles, oder ?«

Maeve lachte. »Könnte trotzdem lustig sein. Ich hätte nichts dagegen zu erfahren, was mich in Dublin erwartet. Wir gehen gleich – einen kleinen Moment noch. Ich muss mal kurz für kleine Mädchen.«

In ihrer Abwesenheit beglich Murtagh die Rechnung und nahm ihren Rucksack mit raus vor die Tür, um dort auf sie zu warten. Er fügte ihr Interesse am Okkulten der Liste wissenswerter Dinge hinzu, die er im Laufe des Nachmittags über sie erfahren hatte, und zählte sich diese noch mal auf:

Dass sie sich, wenn ihr alles zu viel wurde, gern ins Gras legte, um die Erde unter sich zu spüren.Dass sie gern Opern hörte, besonders Carmen, aber noch nie in einer war.Dass sie Vegetariern misstraute und das Ganze für bloßes Getue von Langweilern hielt, die was zu erzählen brauchten. Er konnte es kaum erwarten, was sein bester Freund Jeremy dazu sagen würde, der schon seit der Grundschule Vegetarier war.Dass sie noch nie Gummistiefel besessen hatte, aber gern welche hätte, am liebsten rote mit Schottenmuster.Wie sehr sie den Duft von Lilien hasste, weil er sie an Beerdigungen erinnerte, und ebenso den Anblick von Blumen in Plastikfolie, weil die immer aussahen, als müssten sie ersticken.Dass sie Gedichte gern mit Bleistift schrieb, weil man die Fehler ausradieren konnte.Dass sie manchmal nicht einschlafen konnte, ihr aber Lavendel half.

Die vielen Facetten von Maeves Persönlichkeit schienen ihm ebenso faszinierend wie beunruhigend. Er fühlte sich grau angesichts all ihrer fröhlichen Farben. Wenn er vermeiden wollte, dass ihr Interesse an ihm nachließ, würde er die Langeweile abschütteln müssen, die ihn so oft quälte. Es würde nicht genügen, sich durchzuschummeln. Mit Mittelmäßigkeit würde er das Herz von Maeve Morelli nicht ­gewinnen.

Während Murtagh sich seine neuen Erkenntnisse vor Augen führte, stand Maeve vor dem Spiegel auf der Toilette von Ma Reilly’s und warf sich kaltes Wasser ins Gesicht. Das Handtuch am Waschbecken war klamm, also tupfte sie sich mit etwas Klopapier trocken, das sie dann in den Mülleimer zu ihren Füßen warf. Sie stand da und überlegte, ob es vernünftig war, diesen jungen Iren zu ermutigen, sie nach Hause zu bringen. Es musste doch wohl möglich sein, vierundzwanzig Stunden in dieser Stadt zu sein, ohne gleich wieder einen Mann kennenzulernen. Würde es ihr nicht guttun, mal eine Weile allein zu sein ? Sie strich den Samt ihrer Latzhose glatt und zog ihre Strümpfe hoch. Genoss den kurzen Schmerz, wenn sie das Gummi schnalzen ließ. Einmal, zweimal, dreimal. Irgendwann mochte sie stark genug sein, sich abzuwenden. Aber Maeve merkte, dass sie jetzt noch nicht so weit war. Ob sie es wohl jemals sein würde, wenn sie auch weiterhin Angst davor hatte, mit sich selbst allein zu sein? »Hör auf damit, Maeve«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu und kniff sich etwas Farbe in die Wangen. Statt Ausreden für eine Flucht zu überlegen, fädelte sie im Geiste die Informationen, die sie über Murtagh gesammelt hatte, wie Perlen auf und legte sich die imaginäre Kette als eine Art Talisman um den Hals. Sie nahm ein rotes Notizbuch aus ihrer Tasche, löste einen kleinen roten Stift aus dessen Rücken und rollte diesen zwischen ihren Fingern, dann schrieb sie:

Liebes Tagebuch,

ich habe nicht viel Zeit, aber bevor ich es vergesse oder ich es mir aus Gründen der Vernunft anders überlege, kommen hier die Gründe, wieso ich diesen Mann nicht einfach so gehen lassen kann:

Erstens ist er Töpfer ! Die sind wie Dichter, nur mit den Händen. Und seine Hände haben tatsächlich etwas Lyrisches. Zweitens töpfert er nie etwas, wenn er schlecht drauf ist, weil er meint, die negative Energie verdirbt den Ton.Er sammelt alte Kochbücher und kocht liebend gern für andere, nur nicht für sich selbst.Er ist ein Einzelkind, so wie ich, hatte aber nie ein Problem damit, im Gegensatz zu mir.Zwei verschiedenfarbige Tintenflecke an seiner Hemdtasche von auslaufenden Füllern – er hat es beim ersten Mal noch nicht gelernt. Er braucht jemanden, der sich um ihn kümmert ! Wie schön wäre es, zur Abwechslung mal diejenige zu sein, die sich kümmert.Schreibt seiner Mutter jeden Sonntag, ohne jemals etwas von seinem wahren Leben preiszugeben. Tut einfach so, als wäre er der Sohn, den sie sich immer gewünscht hat.Hat seinen Vater kaum erwähnt, nur dass der noch lebt, ein irischer Lehrer, Kapitän vom County-Hurling-Team. Ist selbst kein Hurling-Fan, macht aber gern Schwarz-Weiß-Fotos von den Spielen. »Die Spieler waren in einem früheren Leben alle Ballerinen«, sagte er. »So wendig und anmutig sind sie.«In seiner Gesellschaft merke ich, dass ich weicher werde. Vielleicht könnte ich mal aufhören, mich ständig an meinen eigenen Ecken und Kanten zu stoßen, wenn ich noch mehr Zeit mit ihm verbringe.Diese Hände, hatte ich seine Hände erwähnt ?

Ihr Bleistift brach ab. Sie fluchte. Warf ihn zusammen mit dem Notizbuch in ihre Tasche. Zumindest konnte sie später nicht so tun, als hätte sie es nicht durchdacht. Es war alles niedergeschrieben, wenn auch nur mit Bleistift.

In der kurzen Zeit, die sie getrennt gewesen waren, hatten sie sich ein gutes Stück angenähert. Und so kam es, dass Maeve sich bei Murtagh unterhakte – mit seiner Tasche um die Schulter, die er fast vergessen hätte –, und sich das alles ganz natürlich anfühlte. Es waren nur ein paar Minuten Fußweg zurück zum Trinity College, also schlenderten sie die Grafton Street entlang, um das Ende des Nachmittags hinauszuzögern.

»Ich kann es gar nicht glauben, endlich hier zu sein«, sagte Maeve. »Meine Mutter hat mir früher oft dieses Lied vorgesungen – du weißt schon … Grafton Street’s a wonderland. / There’s magic in the air. / There’s diamonds in the lady’s eyes, / And gold-dust in her hair.«

Erwartungsvoll sah sie ihn an, sodass er unwillkürlich mit einstimmte.

»And if you don’t believe me, / Come and meet me there, / In Dublin on a sunny summer morning.«

Sie baute sich vor ihm auf und legte ihre Hände auf seine Schultern. »Du kennst es wirklich«, sagte sie. »Meine Ma würde sich freuen, wenn sie uns hier sehen könnte.« Der plötzliche Gedanke an ihre Mutter – so weit weg, auf der anderen Seite vom Atlantik – brachte sie emotional ins Stolpern, und sie fiel in ein dunkles Loch. »Würdest du sie gern anrufen ?«, fragte Murtagh. »Bei mir zu Hause gibts ein Telefon, das du benutzen könntest.« Sie drückte seinen Arm. »Hättest du wirklich nichts dagegen ? Ich will es dir auch bezahlen.« Er winkte ab, verdrängte den Gedanken an die möglichen Kosten eines solchen Ferngesprächs.

»Was hältst du davon, wenn ich meine Sachen ins Wohnheim bringe, wir dann zu dir gehen, um zu telefonieren, und ich uns beiden hinterher irgendwo ein Bier spendiere ?« Maeve reichte Murtagh die Hand, die er nahm und schüttelte.

Murtagh konnte nicht wissen, dass Maeves Mutter June in Brooklyn im Hausflur auf und ab lief, weil sie so sehr hoffte, das Telefon möge endlich klingeln, und ihr Vater wiederholt geseufzt hatte, sie hätten das Mädchen nie gehen lassen sollen.

Er hatte keine Ahnung, was Maeve alles auf sich genommen hatte, als sie über den Ozean geflogen war, um in Dublin Frieden zu finden.

Und auch nicht, wie vorübergehend dieser friedliche Zustand sein mochte.

Nicht dass es ihm etwas ausgemacht hätte.

In diesem Moment wäre ihm kein Grund eingefallen, wieso er sich nicht augenblicklich dieser Frau hingeben sollte, die da neben ihm so lebensfroh sprudelte. Es war, als hätte sein Herz nur auf sie gewartet, und sein Zögern, das er anderen Mädchen gegenüber bisher gezeigt hatte, schien ihm nun vollauf gerechtfertigt. Als hätte er sich all die Jahre unbewusst auf Maeves Ankunft vorbereitet. Er nahm sich fest vor, alles zu tun, um ihr Interesse aufrechtzuerhalten, so fest wie sie seine Hand hielt.

Und während Maeve seine Hand hielt, merkte sie, wie gut ihr die bodenständige Art gefiel, mit der er sich in seinem kratzigen Dufflecoat durch diese Welt bewegte. Solche Mäntel kannte sie nur bei kleinen Jungen, aber er stand ihm richtig gut. Noch nie hatte sie sich so geerdet und gleichzeitig so leicht gefühlt.

Alles Schwere hatte sie in Amerika gelassen, da war sie ganz sicher.

Und so wurden im Eingang vom Kaufhaus Brown Thomas an der Grafton Street die Weichen gestellt.

Dublin: 18. August 1978 

Maeves Mutter und Vater gingen davon aus, dass ihre Tochter in zwei Wochen auf dem JFK landen würde. Es schnürte Maeve die Kehle zu, wenn sie sich vorstellte, dass Hank zu diesem Anlass extra einen Anzug tragen würde, und wie die silbernen Manschettenknöpfe aufblitzten, wenn er seinen schneeweißen Oldsmobile Cutlass zum Flughafen steuerte, die Hände bei zehn und zwei Uhr fest am Lenkrad. Wenn sie sich vorstellte, wie June den ganzen Morgen damit verbringen würde, ihr diese kleinen Käsebrötchen zu backen, die sie so gern aß, und ihr altes Zimmer vorzubereiten, während ihre Mutter bei Roy Orbison mitsang, der auf ihrem heiß geliebten kleinen gelben Plattenspieler lief.

Wenn sie den Brief heute noch einwarf, wäre er hoffentlich da, bevor ihre Mutter am Sonntag – wie alle zwei Wochen – in Murtaghs Wohnung anrief. June glaubte, ihre Tochter würde mit Murtagh die Sonntagsmesse besuchen und hinterher noch auf ein Tässchen Tee bei ihm einkehren. Oder zumindest gab sie vor, es zu glauben, und Maeve wollte nichts verderben, indem sie ihr die Wahrheit beichtete.

Maeve saß an ihrem Schreibtisch. Sie riss ein hellblaues Blatt von dem Block mit Luftpostpapier, den ihre Mutter ihr optimistischerweise geschickt hatte, und nahm Edna O’Briens Die Fünfzehnjährigen als Unterlage. Sie wollte verhindern, dass die Blätter darunter etwas von der Tinte abbekamen. In der Linken hielt sie den Füllfederhalter, den der Vater ihr zum Schulabschluss geschenkt hatte, und in der Rechten einen weißen, dreieckigen Stein, den Murtagh am Strand von Bray für sie gefunden hatte. Der Plattenspieler surrte leise, als das Ende von Thin Lizzys Live And Dangerous