Der Schattengänger - Monika Feth - E-Book

Der Schattengänger E-Book

Monika Feth

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Beschreibung

Ich liebe dich …
Ich brauche dich …
Ich werde dich kriegen!


Jettes Mutter, die Bestsellerautorin Imke Thalheim, wird von einem Stalker verfolgt, der besessen von ihren Krimis ist. Er schreibt ihr Briefe, terrorisiert sie mit Telefonanrufen und bricht schließlich in ihr Haus ein. Als sie sich ihm entzieht und für ihn unauffindbar ist, sucht er die Nähe zu Jette und gewinnt deren Vertrauen. Jette ahnt nicht, dass sie sich damit in tödliche Gefahr begibt …

Die fulminante Spiegel-Bestsellereihe von Monika Feth begeistert Millionen Leser:innen. Die Jette-Thriller sind nervenzermürbend, dramatisch und psychologisch brilliant erzählt. Atemberaubende Spannung der Extraklasse!

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Seitenzahl: 497

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Inhaltsverzeichnis
 
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
 
Copyright
DIE AUTORIN
Monika Feth wurde 1951 in Hagen geboren. Nach ihrem literaturwissenschaftlichen Studium arbeitete sie zunächst als Journalistin und begann dann, Bücher zu verfassen. Heute lebt sie in einem Ort in der Nähe von Köln, wo sie vielfach ausgezeichnete Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene schreibt.
Durch den sensationellen Erfolg der Bestseller »Der Erdbeerpflücker«, »Der Mädchenmaler« und »Der Scherbensammler«, den Krimis um Jette, wurde sie über die Grenzen des Jugendbuchs hinaus bekannt. Ihre Bücher wurden in 15 Sprachen übersetzt.
Weitere lieferbare Titel bei cbt: Der Erdbeerpflücker (30258) Der Mädchenmaler (30193) Der Scherbensammler (30339) Das blaue Mädchen (30207) Fee - Schwestern bleiben wir immer (30010) Nele oder Das zweite Gesicht (30045)
 
 
Die Presse über die »Erdbeerpflücker-Thriller«:
 
»Einfach gut geschrieben und zum sofortigen Verschlingen geeignet.«
Saarbrücker Zeitung
 
»Außergewöhnliche Charaktere und ein Spannungsbogen, der auch dann noch fesselt, als die Leser längst begriffen haben, wer der Mörder ist.«
Süddeutsche Zeitung
Ein Wort lesen können, ohne es buchstabieren zu müssen, so etwas Ähnliches ist Intuition.
Miss Marple
 
aus: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus
1
Er blieb ein paar Sekunden reglos sitzen, bevor er die DVD herauszog und den Fernseher ausschaltete. Die plötzliche Stille ließ seine Haut kribbeln und machte ihm erst richtig bewusst, was er da eben erlebt hatte.
Er hatte sie gesehen.
Gehört.
Beinah sogar gefühlt.
Sie war ihm so nah gewesen, dass er gemeint hatte, ihren Atem zu spüren. Er war zärtlich mit der Hand über den Bildschirm gefahren. Nicht mehr lange, und er würde ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.
Er schob die DVD in ihre Hülle zurück und stellte sie zu den anderen, die ordentlich in einem eigens dafür angeschafften Ständer untergebracht waren. Dann ging er in sein Arbeitszimmer, setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Laptop ein.
 
In der Nacht. Rastlos unter deinem Fenster. Stumm. Aber deine Worte IN MIR! Küss mich und liebe den Schattengänger.
 
Etwas bewegte sich am Fuß der Schreibtischlampe. Eine winzig kleine pechschwarze Spinne. Interessiert beugte er sich vor. Stupste sie mit dem Zeigefinger an. Blitzschnell zog sie sich zusammen, stellte sich tot. Er hatte nicht gewusst, dass Spinnen sich so verhalten. Er wusste überhaupt wenig über Spinnen. Und in diesem Moment wurde ihm klar, dass er sie nicht ausstehen konnte. Er zerdrückte sie mit dem Daumen. Wischte sich die Hand an der Hose ab.
Küss mich und liebe.
Wie schön das klang. Wie zärtlich. Und bald schon würden seine Träume wahr werden. Bald.
Sie trug die Post in den Wintergarten und machte es sich in einem der Korbsessel bequem. Rechnungen, die Verträge für die nächsten beiden Bücher, die Einladung zur Teilnahme an einem Krimifestival, ein Schwung von Rezensionen und jede Menge Werbung.
Als Letztes hielt sie einen edlen Briefumschlag aus elfenbeinfarbenem Büttenpapier in den Händen, den ihr Verlag an sie weitergeleitet hatte.
Imke Thalheim.
Noch nie hatte sie ihren Namen so kunstvoll geschrieben gesehen. Jeder Buchstabe war ein kleines Wunderwerk der Kalligrafie. Imke öffnete den Umschlag, indem sie den Zeigefinger zwischen Klebefläche und oberen Rand schob, zog den Brief heraus und faltete ihn auseinander.
Ich liebe dich.
Ich brauche dich.
Ich werde dich kriegen.
Darunter, wie ein Siegel aus bräunlichem Rot, ein walnussgroßer Fleck aus einer getrockneten Substanz.
Imke erstarrte. Es war nicht nötig, den Fleck analysieren zu lassen. Sie war sich sicher, dass er aus Blut bestand. Der Verfasser dieses Briefs hatte statt einer Unterschrift Blut auf das Papier tropfen lassen.
Angewidert warf sie Brief und Umschlag auf den Tisch. Sie hatte das Bedürfnis, sich die Hände abzuschrubben, aber sie konnte sich nicht bewegen. Ekel, Wut und Furcht lähmten sie.
Sie schüttelte den Kopf. Wie oft schon hatte sie Post von wildfremden Menschen bekommen, die in ihrem Bedürfnis nach Mitteilsamkeit und ihrem Wunsch nach Nähe eine Grenze überschritten hatten. Wie oft hatte sie versucht, bizarre, befremdliche Gedankengänge nachzuvollziehen, die ihr ungefragt zugeschickt worden waren. Auch das gehörte doch zu ihrem Alltag.
Warum jetzt diese heftige Reaktion?
Sie überwand sich, hob das Papier mit spitzen Fingern auf, faltete es zusammen und schob es in den Umschlag zurück. Mühsam erhob sie sich und legte den Brief auf die Konsole in der Halle, um ihn später Tilo zu zeigen. Dann ging sie in die Küche, schäumte sich die Hände mit Spülmittel ein, bearbeitete sie mit der Bürste, bis die Haut brannte, und hielt sie danach minutenlang unter den klaren, kühlen Wasserstrahl. Ganz allmählich fühlte sie sich besser.
Mit einem extra starken Kaffee kehrte sie in den Wintergarten zurück, öffnete die Terrassentür und trat in den Garten hinaus. Für Anfang März war es schon recht warm. Die letzten Krokusse leuchteten im Gras und im Unterholz. Die Narzissen, die sich über die Jahre ungestört vermehrt hatten, strahlten wie Hunderte kleiner Sonnen. Weit und blau spannte sich der Himmel über dem Land.
Doch das Licht hatte urplötzlich an Wärme verloren.
Ich liebe dich.
Ich brauche dich.
Ich werde dich kriegen.
Imke stellte die Tasse ab, dass der Kaffee überschwappte, hastete ins Haus, schnappte sich Tasche und Mantel, holte den Wagen aus der Scheune und brauste los.
Eine Flucht. Kopflos. Ohne Sinn und Verstand.
Egal, dachte Imke. Hauptsache weg.
Sie wollte nicht grübeln. Vor allem nicht über die Angst, die plötzlich in ihr wach geworden war. Eine Angst, so kalt und schwer, dass sie Imke die Luft abschnürte.
Wir hatten lange geschlafen und ausgiebig gefrühstückt. Seit wir die Schule hinter uns hatten, wussten wir unsere freie Zeit zu schätzen. Wir arbeiteten beide hart, Merle im Tierheim und ich im St. Marien, wo ich mein freiwilliges soziales Jahr absolvierte. Die Wochenenden waren uns heilig, und wir erlaubten niemandem, sie ohne triftigen Grund zu stören.
Merle hatte Brötchen geholt und die Tageszeitung mitgebracht. Ich hatte den Tisch gedeckt und das Frühstück vorbereitet. Unser Samstagsritual. Es hatte sich ganz von selbst so eingespielt.
Jetzt tranken wir unseren dritten Kaffee, hatten die Zeitung zwischen Brotkrümeln und Eierschalen ausgebreitet und studierten gemeinsam den Immobilienteil. Smoky lag auf dem Sofa hingestreckt, seine beiden Haremsdamen rechts und links neben sich. Er hatte sich gut bei uns eingelebt und ließ sich von Donna und Julchen nach Strich und Faden verwöhnen.
»Hör dir das an«, sagte Merle und las vor, als hätte ich nicht selbst Augen im Kopf. »Birkenweiler, Bauernhof, sechs Zimmer, Küche, Diele, Bad, Wohn-, Nutzfläche 220 Quadratmeter, 2700 Quadratmeter Garten, Scheune, Stallungen, 600 Euro warm plus Nebenkosten plus zwei Monatsmieten Kaution.« Sie verschluckte sich vor Aufregung. »Zweitausendsiebenhundert Quadratmeter«, röchelte sie und versuchte, ihre Stimme wieder in den Griff zu kriegen, indem sie die tränenden Augen aufriss und sich mit der flachen Hand auf den Brustkasten klopfte.
Das war für Bröhler Verhältnisse direkt geschenkt und bei Weitem günstiger als alles, was wir uns bisher angesehen hatten. Ich fragte mich, wo der Haken sein mochte. Wahrscheinlich wellte sich das Linoleum auf den Böden oder es gab ein Plumpsklo auf dem Hof oder das Haus war auf einer ehemaligen Müllkippe errichtet worden oder der Schimmelpilz hatte es sich auf den Wänden gemütlich gemacht. Vielleicht sogar alles zusammen.
Birkenweiler ist ein kleiner, alter Ortsteil im Süden Bröhls, der ursprünglich selbstständig gewesen ist und irgendwann eingemeindet wurde, ohne den dörflichen Charme vergangener Zeiten zu verlieren. Es gibt dort noch eine Reihe von Bauern, die von der Landwirtschaft leben und in ihren Hofläden eigene Erzeugnisse anbieten. Ihre Kunden kommen aus dem gesamten Umland und manche von ihnen haben sich mit der Zeit unter die Alteingesessenen gemischt. Inzwischen gilt Birkenweiler als Paradies für Stadtflüchter, Alternative, Rentner und junge Familien. Genau die richtige Umgebung für eine Wohngemeinschaft.
»Zweitausendsiebenhundert Quadratmeter«, wiederholte Merle mit immer noch brüchiger Stimme.
»Viel zu schön, um wahr zu sein.« Ich notierte die Telefonnummer des Maklers. »Irgendwas ist da faul.«
»Oder es ist ein Ringeltäubchen.«
»Ein was?«
»Ein Ringeltäubchen. Das sagen wir bei uns zu Hause zu ganz besonderen Glücksfällen. Smoky zum Beispiel ist ein Ringeltäubchen. Und du bist eins.« Sie schmatzte mir einen Kuss auf die Wange. »Nicht zu vergessen Mike, Ilka und Mina.«
Mit Mike war unsere WG eigentlich komplett gewesen. Doch dann war nach einer Weile seine Freundin Ilka dazugekommen. Und seit wir Mina kennengelernt hatten, war klar, dass wir uns nach einer neuen Unterkunft umsehen mussten, die für uns alle Platz bieten würde.
Ilka und Mike, die sich nach dem Abi für ein Jahr Auszeit entschieden hatten, befanden sich noch immer auf ihrer Reise durch Brasilien. Mina hatte sich für eine langwierige Psychotherapie in eine Klinik zurückgezogen. Merle und ich hielten so lange die Stellung in Bröhl.
Zu fünft benötigten wir jede Menge Platz. Günstige große Wohnungen jedoch waren heiß begehrt und gingen meistens unter der Hand weg. Also hatten wir beschlossen, lieber nach einem Haus zu suchen. Das war uns sowieso viel sympathischer. Häuser hatten einen Garten. Man musste keine Rücksicht auf andere Mieter nehmen. Und niemand würde sich über die Katzen beschweren.
Falls wir überhaupt einen Vermieter fanden, der keine Vorurteile gegenüber Wohngemeinschaften hatte. Und gegen Katzen.
Wir hatten schon die scheußlichsten Bruchbuden besichtigt und waren auf die unglaublichsten Typen gestoßen. Sehr zum Kummer meiner Mutter, die nur zu gern bereit gewesen wäre, uns mit einem der angesagten Makler zusammenzubringen, die in der oberen Liga spielten und Leute wie uns im normalen Leben gar nicht zur Kenntnis nahmen.
Aber dafür reichten unsere Finanzen nicht aus.
»Geld ist doch kein Problem«, hatte meine Mutter auf meinen Einwand hin erwidert.
Da hatte sie recht. Ihre Krimis lagen stapelweise auf den Bestsellertischen der Buchhandlungen. Nach jeder Neuerscheinung wurde sie in den Talkshows herumgereicht. Imke Thalheim und ihre Thriller waren Kult. Der Rummel um ihre Person war sogar meiner Mutter selbst längst zu viel geworden.
»Wirklich, Jette. Ich habe schon seit einiger Zeit vor, ein Haus zu kaufen. Als Geldanlage, verstehst du? Und das könntet ihr dann doch von mir … sozusagen als eurer Vermieterin …«
Ich hatte sie nicht ausreden lassen. Geld war tatsächlich nicht das Problem meiner Mutter. Es war mein Problem. Ich hatte immer nur so viel von ihr angenommen, wie ich zum Leben brauchte. Es war eine Frage des Stolzes. Der Unabhängigkeit. Des Erwachsenseins.
Inzwischen konnte ich mich allein durchschlagen. Und mit Schickimickimaklern hatten Merle und ich sowieso nichts am Hut.
Der Makler, der den Bauernhof anbot, hieß Heiner Kerres. Er hatte die Finger in beinahe jedem Immobiliengeschäft stecken, das in Bröhl und Umgebung abgewickelt wurde. Sein Ruf war übel, denn er scheute nicht davor zurück, noch die baufälligste Hütte zu vermitteln, solange sie aus eigener Kraft aufrecht stehen konnte. Dass wir bei unserer Suche bislang noch nicht mit ihm zu tun gehabt hatten, war reiner Zufall.
Ich beschloss, dass wir es uns nicht leisten konnten, wählerisch zu sein, griff nach dem Telefon und tippte die Nummer ein. Gleichzeitig wappnete ich mich gegen die Fragen, die unweigerlich auftauchen würden, denn es waren immer hundert Erklärungen nötig, bevor man überhaupt so weit kam, ein Haus besichtigen zu dürfen.
»Maklerbüro Kerres und Söhne, Alice Morgenstern am Apparat, was kann ich für Sie tun?«
Alice. Sollte jemand mit einem solchen Namen nicht lieber Schauspielerin sein oder Sängerin? Alice. Morgenstern. Und eine Stimme wie Blütentau.
Ich hatte mir inzwischen ebenfalls einen Spruch zugelegt, den ich jedes Mal mit leichten Variationen abspulte. »Jette Weingärtner, guten Tag. Ich melde mich auf Ihre Annonce im Bröhler Stadtanzeiger. Sie bieten da ein Haus in Birkenweiler zur Miete an. Ist es noch frei?«
Es war tatsächlich noch zu haben. Ich kam gleich auf die kritischen Punkte zu sprechen und Merle beobachtete gespannt mein Gesicht.
»Eine Wohngemeinschaft?«, hakte Alice Morgenstern nach. »Wie viele Personen?«
»Fünf«, antwortete ich und beschloss, die Katzen erst bei der Besichtigung zu erwähnen. Falls eine Besichtigung überhaupt zustande käme.
»Studenten?«, fragte Alice.
»Noch nicht«, antwortete ich. »Wir haben gerade Abi gemacht.«
Merle hatte die Hände gefaltet und sah mich beschwörend an. Für sie als Tierschützerin wäre ein Bauernhof die Erfüllung eines Traums. Doch zunächst mussten noch die finanziellen Aspekte beleuchtet werden.
»Mit wem würde der Mietvertrag gegebenenfalls geschlossen?«, fragte Alice.
»Am liebsten mit uns allen.«
»Darauf wird sich der Vermieter nicht einlassen. Das wird zu kompliziert.«
»Dann mit mir«, beschloss ich kurzerhand.
»Gut.« Alice machte eine kleine Pause, in der ich Papier rascheln hörte. »Wann hätten Sie denn Zeit für eine Besichtigung?«
»Am liebsten sofort«, sagte ich, und Merle schlug die Hände vor den Mund, um nicht vor Begeisterung loszukreischen.
»Fünfzehn Uhr?«, fragte Alice.
»Perfekt«, entgegnete ich mit dem letzten Rest Selbstbeherrschung, den ich noch aufbringen konnte. Ich schrieb die Adresse auf, beendete das Gespräch und stieß einen Freudenschrei aus, der alle drei Katzen unter das Sofa flüchten ließ.
Merle sprang auf und umarmte mich. Wir tanzten durch die Küche. Wir lachten und kriegten uns gar nicht mehr ein. Daran, dass mit dem Angebot etwas nicht stimmen könnte, dachten wir keine Sekunde länger.
Er liebte ihre Bücher. Er war süchtig danach. Jeder ihrer Sätze war wie für ihn geschrieben. Als hätte sie einen Blick in seine Seele getan.
Wie sie mit den Worten spielte. Und mit den Gedanken.
Wie sie die Mosaiksteine aneinanderfügte, einen nach dem andern, und so die Handlung aufbaute, eine Palette von Gefühlen beim Leser erzeugte und eine schier unerträgliche Spannung.
Ganz zufällig war er auf einen ihrer Krimis gestoßen. Er war durch seine Lieblingsbuchhandlunggestreift, an den prallvollen Regalen entlang und an den verführerischen Tischen mit den Neuerscheinungen, und da war sein Blick auf das Cover gefallen.
Es zeigte das Gesicht eines außergewöhnlich schönen Mädchens. So schutzlos und preisgegeben, dass er augenblicklich befürchtet hatte, jemand könnte dieses Gesicht verletzen. Darüber stand in roter Flammenschrift: Stirb und lächle.
Stirb und lächle!
Was für ein grandioser Gegensatz!
Er hatte das Buch mitgenommen. Es hatte ihn die ganze Nacht wach gehalten. Er hatte es nicht gelesen - er hatte es verschlungen. Als wäre er ausgehungert gewesen nach genau diesen Sätzen, diesen Bildern.
Schon immer hatte er gern gelesen. In der Phantasie war alles möglich. Da gab es keine Einschränkungen. Da wurde man nicht von Skrupeln geplagt. Man konnte alle Gefühle ausleben, unzensiert.
Im Kopf.
Man konnte sogar in die Haut des Mörders schlüpfen. Ihm über die Schulter gucken. Ihm die Hand führen! Und wurde nicht von der Polizei gejagt, nicht vor Gericht gestellt und eingesperrt.
Lesen war absolute Freiheit. Es war noch besser als Kino. Weil keiner, wirklich NIEMAND, eingriff, kein Regisseur, kein Schauspieler, kein Kameramann. Da war nur die Geschichte, und da war er, der sie las.
Lesen war seine Droge gewesen. All die Jahre zu Hause. Eine beschissene, kümmerliche Kindheit lang. Hätte er seine Bücher nicht gehabt, wäre er ausgerastet irgendwann. Sie hatten es ihm ermöglicht, still wegzugehen. An einen Ort, an dem ihn niemand erreichte. Nicht die Eltern, nicht die Schwestern und nicht der Onkel, der bei ihnen lebte und das Klima mit seiner Bosheit vergiftete.
Ein Panoptikum, hatte er oft gedacht. Manchmal hatte er einfach nur dagesessen und sie beobachtet bei ihrem Kleinkrieg, den sie Familienleben nannten. Statt sich die Augen auszukratzen oder die Köpfe einzuschlagen, machten sie sich mit Worten fertig. Sie beschimpften und beleidigten einander, stießen wüste Drohungen aus.
Nicht laut. Niemand verlor die Kontrolle. Man sagte sich die gröbsten Gemeinheiten mit einem kleinen Lächeln. Es brodelte. Aber unter der Oberfläche.
Probleme wurden unter den Teppich gekehrt. Die Leute sollten nichts merken. Die Nachbarn nicht, die viel zu neugierig waren. Und die Bekannten nicht, die allesamt hereinfielen auf das Bild der heiligen Familie.
Und die Freunde? Vielleicht hatte der eine oder andere eine Ahnung. Doch sie bohrten nicht nach, mischten sich nicht ein. Vielleicht hätten sie sonst entdeckt, unter welchen Qualen der kleine Junge litt, der nirgendwo richtig zu Hause war, nicht einmal in sich selbst. Vielleicht hätten sie ihm helfen können.
Die Bücher waren ein Trost. Sie zeigten ihm Menschen, denen es ähnlich erging wie ihm. Die Opfer waren und ihrer Rolle nicht entfliehen konnten.
Sie zeigten ihm aber auch die Täter. Und er fragte sich bei jedem von ihnen, ob sie die Wahl gehabt hatten. Wahrscheinlich nicht. Das Leben stellte jeden an seinen Platz. Man war eine Figur in einem Spiel, das die Götter spielten.
An dem Tag, an dem er achtzehn geworden war, hatte er sein Bündel geschnürt und war weggegangen. Diesmal richtig und für immer. Keiner hatte das Recht gehabt, ihn daran zu hindern oder ihn zurückzuholen. Keiner hatte es versucht. Er war erwachsen und für sich selbst verantwortlich.
Sein Bündel geschnürt. Es war tatsächlich nicht viel gewesen, was er mitgenommen hatte, ein paar Jeans, Pullis, T-Shirts. Er hatte sich vorgenommen, auf der Straße unterwegs zu sein.
On the road again. Für unbestimmte Zeit.
Mit Gelegenheitsjobs hatte er sich über Wasser gehalten. Er hatte immer jemanden gefunden, bei dem er unterschlüpfen konnte für eine Nacht oder zwei. Zur Not tat es auch eine Scheune oder eine Garage.
Und dann war er bei einem seiner Jobs hängen geblieben. Handlangerarbeiten in einer Autowerkstatt. Es war nicht gerade sein Traum gewesen, mit ölverschmierten Händen und einem hartnäckigen Schmutzfilm unter den Fingernägeln an Vergasern und Zylindern zu fummeln, aber der Boss hatte ihm eine Wohnung über der Werkstatt angeboten, gutes Geld und schließlich die Möglichkeit, eine Ausbildung bei ihm zu machen.
Nach der Lehre war er geblieben. Und er war immer noch da.
Es war kein übles Leben. Er hätte es schlechter treffen können. In manchen Augenblicken war er dem Glücklichsein sogar ziemlich nahe gekommen. Und dann hatte er das Buch von Imke Thalheim entdeckt. Es hatte alles auf den Kopf gestellt.
Da sprach ihm jemand aus der Seele. Da war einer, der seine geheimsten Gedanken und Sehnsüchte kannte. Der Ähnliches durchgemacht haben musste wie er.
Er saugte jede Zeile in sich auf, die sie zu Papier gebracht hatte. Und danach alles, was andere über sie geschrieben hatten. Es ging ihm längst nicht mehr bloß um die Bücher dieser Frau. Es ging ihm um sie selbst. Imke Thalheim. Starautorin des Piepenbrink Verlags.
Er liebte sie. Und er hasste sie.
Er hatte längst aufgegeben, das verstehen zu wollen.
Hauptkommissar Bert Melzig hatte beschlossen, sich diesen Samstag endlich einmal Zeit für seine Kinder zu nehmen. Er hatte sogar überlegt, welche Alternativen er ihnen anbieten wollte: eine Fahrradtour, einen Ausflug in den Zoo oder ins Aquarium oder einfach einen gemeinsamen Spieltag zu Hause.
Doch dann waren beide mit Freunden verabredet gewesen.
»Das wundert dich?«, hatte Margot gefragt, nachdem die Kinder freudig aus dem Haus gestürmt waren.
Bert hatte genickt. Ja. Es hatte ihn gewundert. Wie oft hatten die Kinder sich beklagt und ihm vorgeworfen, er habe nie Zeit für sie. Und nun legten sie keinen Wert darauf, mit ihm zusammen zu sein.
»Wie naiv bist du eigentlich?«
Wenn Margot ihren spöttischen Ton anschlug, war ihm danach, die Augen zu schließen und zu vergessen, dass er dieser Frau jemals begegnet war.
»Nie bist du da. Immer ist die Arbeit das Wichtigste für dich. Und dann hast du zufällig mal ein paar Stunden Leerlauf zwischen zwei Fällen, erklärst die Kinder zu deinen Lückenbüßern und erwartest auch noch Begeisterung?«
Sie verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln und fing an, mit großem Getöse die Wochenendeinkäufe auszupacken.
»Ich hab mir das doch nicht …«
»… ausgesucht?«, beendete sie den Satz für ihn. Wie gut sie ihn kannte. Ihn und seine Ausflüchte. Seine Rechtfertigungen. »Mach dir doch nichts vor, mein Lieber.«
Mein Lieber. Was taten sie hier? Ihre Sätze klangen wie aus einem Theaterstück. Und war es nicht wirklich so, dass sie bloß noch ihre Rollen spielten?
»Was willst du eigentlich von mir?«, fragte er angriffslustig.
»Von dir?« Sie hob die Augenbrauen und ihre Stirn legte sich in müde Falten. »Nichts mehr. Nicht das Geringste.«
Sein Handy klingelte.
»Na bitte!« Margot warf die Arme hoch und ließ sie wieder sinken. »Was ist es diesmal? Eine neue Leiche? Entführung? Bewaffneter Raubüberfall? Irgendwas in der Art. Und weißt du was? Es ist mir egal! Es ist mir ab-so-lut gleichgültig, ob du hier bist, in deinem Büro oder sonst wo.«
»Melzig!«
Es war nicht fair, den unschuldigen Anrufer so anzublaffen, aber Bert hatte seinen Vorrat an Friedfertigkeit verbraucht. Er nahm sich seit Jahren zusammen. Immer und immer wieder. Allmählich wünschte er sich ein Ende herbei, wie es auch aussehen mochte.
»Imke Thalheim. Guten Tag, Herr Melzig. Störe ich Sie gerade?«
Ihre Stimme ließ seinen Atem stocken. Er hatte sie so lange nicht mehr gehört.
»Aber nein. Überhaupt nicht. Was kann ich für Sie tun?«
Ihr Zögern jagte ihm einen Schrecken ein. Jedes ihrer Zusammentreffen war durch ein Verbrechen zustande gekommen. Er hoffte inständig, dass nicht wieder etwas passiert war.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie damit behelligen soll«, tastete sie sich vor. »Es ist nur so, dass … ich ein ungutes Gefühl habe.«
Du darfst mich mit allem behelligen, dachte Bert. Jederzeit. Spürst du das denn nicht?
»Dann ist es auf jeden Fall gut, dass Sie sich melden«, sagte er. »Was ist denn los?«
»Ich habe einen seltsamen Brief bekommen.«
»Seltsam?«
»Viele meiner Leser schreiben mir zu meinen Büchern, stellen mir Fragen, bitten um ein Autogramm. Dieser Brief ist anders.«
»Inwiefern?«
Er konnte ihr Schaudern spüren, doch als sie antwortete, war ihre Stimme fest wie immer.
»Es ist ein Liebesbrief, der mich … bedroht.«
Bert registrierte die Diskrepanz in ihren Worten, er bemerkte auch, wie vorsichtig sie die Begriffe wählte. Leise Furcht beschlich ihn.
»Haben Sie schon häufiger solche Post erhalten?«
Wieder ein kurzes Zögern.
»Schwärmerische Briefe, ja. Auch durchaus welche, die übers Ziel hinausgeschossen sind. Ein Drohbrief war noch nicht dabei.«
Erst jetzt fiel Bert auf, dass Margot mit verschränkten Armen am Kühlschrank lehnte und ihm zuhörte. Er drehte sich ein Stück zur Seite.
»Ich würde mir den Brief gern ansehen«, sagte er.
Imke Thalheim stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Als hätte sie Angst davor gehabt, dass er ihr Unbehagen nicht ernst nehmen könnte.
»Ich bin noch unterwegs«, erklärte sie. »Aber in einer Stunde könnte ich zu Hause sein.«
»Gut. In einer Stunde dann.«
Margot bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick, stieß sich vom Kühlschrank ab und begann, mit ohrenbetäubendem Geschirrklappern die Spülmaschine auszuräumen.
Bert zog seinen Mantel von der Garderobe, verließ ohne ein weiteres Wort das Haus, setzte sich in seinen Wagen und machte sich auf den Weg.
2
Merle verliebte sich auf den ersten Blick in das Haus. Sie hatte das Gefühl, niemals mehr woanders leben zu können. Das Sonnenlicht ließ den Sandstein warm aufleuchten. Auf den Bäumen und Sträuchern, hinter denen Haus, Scheune und Stall verborgen waren, zeigte sich bereits ein zaghafter grüner Schimmer. Der Vorgarten war übersät mit wilden Narzissen.
Sie waren ein bisschen früher gekommen, um sich ungestört einen ersten Eindruck zu verschaffen. Hoffentlich ließ Alice Morgenstern noch eine Weile auf sich warten. Merle hatte das Bedürfnis, die Bilder in Ruhe auf sich wirken zu lassen.
Der Bauernhof war so gebaut, dass er ein Viereck bildete und einen Innenhof umschloss, in den man von außen keinen Einblick hatte. Drum herum war viel Platz. Auf dem noch winterdürren Gras standen hier und da vergessene Gerätschaften. Eine Leiter, eine rostige Schubkarre, ein abgehalfterter Rasenmäher, ein paar Eimer mit und ohne Henkel, zwei stumpfe Sicheln.
»Dornröschenschlaf«, murmelte Jette.
Merle hob einen blassen Tontopf auf. Er fühlte sich kalt an, als hätte er den ganzen langen Winter in sich gespeichert. Behutsam setzte sie ihn wieder ins Gras.
Das hier war das Paradies. Keine direkten Nachbarn. Der ideale Ort für die Treffen der Tierschutzgruppe und bestens geeignet, um den aus den Versuchslaboren befreiten Tieren für ein, zwei Tage Unterschlupf zu gewähren, bis man geeignete Pflegefamilien gefunden hätte.
Der Hof wirkte verlassen. Die ersten Anzeichen von Verwahrlosung waren nicht zu übersehen. Aber das machte nichts. Sie würden ihn schon wieder auf Vordermann bringen.
»Komisch, dass das Haus leer steht.« Jette spähte in eines der unteren Fenster. »Man sollte doch meinen, um so ein Goldstück würden die Mieter sich reißen.«
In diesem Moment hörten sie ein Auto heranfahren und drehten sich um.
Alice Morgenstern trug ein dunkles Kostüm mit einer lachsroten Bluse und spitze schwarze Schuhe mit hohen Absätzen. Sie hatte ihr schulterlanges braunes Haar im Nacken mit einer silbernen Spange zusammengefasst und musterte die Mädchen über eine randlose Lesebrille hinweg, bevor sie eine schmale weiße Hand ausstreckte und sich zu einem Lächeln entschloss. Ihr Alter ließ sich schlecht schätzen. Sie konnte Mitte zwanzig, aber ebenso gut auch zehn Jahre älter sein.
Ihre Lippen waren sorgfältig nachgezogen und glänzten feucht. Ihre Haut war sehr hell und schimmerte wie Porzellan. Sie nahm die Lesebrille ab und schob sie sich ins Haar. Ihre Fingernägel waren lang wie Büroklammern und mit einem glitzernden Muster bemalt. Sie trat einen Schritt beiseite und gab den Blick auf ihren Begleiter frei.
»Mein Kollege«, stellte sie ihn vor. »Lukas Tadikken.« Wow, dachte Merle. Den musste sie sich genauer angucken.
Auf den ersten Blick schien er nicht zu seiner Kollegin zu passen. Der zweite Blick bestätigte diesen Eindruck. Er war eher nachlässig gekleidet. Das Blau seines T-Shirts war ausgeblichen, seine Jeans waren an den Knien abgewetzt und die Turnschuhe fleckig und ausgetreten. Einziges Zugeständnis an seine Funktion als Makler war sein Sakko. Allerdings war es eher eine Mischung aus Sakko und Hemd, aus verwaschenem grauen Leinen und ziemlich zerknautscht.
»Hallo.« Lukas Tadikken schenkte Merle und Jette ein breites Grinsen.
»Sie sind nur zu zweit?«, fragte Alice Morgenstern und sah sich suchend um. Anscheinend hatte sie die komplette zukünftige WG erwartet.
Jette nickte. »Die andern sind zurzeit auf Reisen.«
»Auf Reisen. Wie schön.«
Merle war sich nicht sicher, ob sie diese Frau mochte. Alles an ihr wirkte glatt und routiniert, selbst ihre Freundlichkeit war sachlich und kühl. Menschen, die keine Reibungsflächen boten, waren Merle unheimlich. An ihnen scheiterte sie zumeist schon bei den ersten Sätzen.
Alice steckte den Schlüssel ins Schloss und hielt ihnen die Haustür auf. Es roch nach abgelegtem Leben und ungezählten vergangenen Jahren. Es war staubig, düster und kalt. Das Klappern von Alices Absätzen hallte in dem langen Flur.
»Die Küche. Wenn ich mal vorgehen darf.«
Alice hatte die Lesebrille wieder aufgesetzt und blätterte in ihren Unterlagen. »Hier muss ein bisschen was getan werden«, sagte sie und taxierte die fleckigen Wände mit geübtem Blick. »Falls Sie es selbst übernehmen wollen, ist der Vermieter bereit, Ihnen finanziell entgegenzukommen. Dasselbe betrifft die Pflege des Grundstücks. Das kann alles vertraglich geregelt werden.«
Ein bisschen was ist gut, dachte Merle. Dieses Haus hatte schon ewig keine frische Farbe mehr gesehen. Es lechzte nach Aufmerksamkeit, Kreativität und einer Reihe radikaler Verschönerungen.
Die geräumige Wohnküche ließ den engen, dämmrigen Flur vergessen. Der dunkelrote Fliesenboden erinnerte Merle an Ferien in Italien. Die beiden Fenster, die einander gegenüberlagen, waren schmal und hoch und ließen viel Licht herein.
Auf der einen Seite ging der Blick in den sogenannten Garten hinaus, ein riesiges, karges Stück holpriger Wiese, über das ein paar Vögel hüpften. Auf der anderen Seite blickte man in den gepflasterten Innenhof.
Merle stockte der Atem. Sie hatte selten etwas so Schönes gesehen. Da standen verwitterte Blumenkübel zwischen großen bemoosten Findlingen. Efeu und immergrüner Hibiskus rankten an den Bruchsteinmauern empor. Es gab einen alten Brunnen und ein gemauertes Hochbeet, das von noch winterkahlem Strauchwerk bedeckt war. Und über all das breitete ein hoher Baum schützend seine noch nackten schwarzen Zweige.
»Eine Akazie«, erklärte Alice Morgenstern, die Merles Blick gefolgt war. »Blüht weiß und spendet einen angenehm lichten Schatten.«
Hier würden sie im Sommer sitzen. Wenn Mike und Ilka von ihrer Brasilienreise zurück wären und Mina aus der Klinik. Hier würden sich die Katzen auf den warmen Steinen aalen und endlich ihre Freiheit genießen können.
Merle hätte gern Jettes Hand genommen und sie gedrückt, doch die Freundin stand am anderen Ende des Raums, den Kopf in den Nacken gelegt, und betrachtete die Zimmerdecke, an der eine nackte Glühbirne hing.
Merle versuchte es mit Telepathie.
Sag ja. Sag ja. SAG JA!
»Wenn Sie mir bitte folgen würden.«
Alice Morgenstern, die immer wieder nervös auf ihre Armbanduhr sah, schien darauf bedacht, die Besichtigung möglichst zügig hinter sich zu bringen. Mit leisem Bedauern verließ Merle die Küche, die sie im Kopf schon eingerichtet hatte. Sie versuchte, Blickkontakt mit Jette aufzunehmen, doch die Freundin schien in Gedanken versunken. Ebenso wie dieser Lukas Tadikken, der gerade über seine eigenen Füße stolperte.
Einzig Alice Morgenstern war hoch konzentriert. Und nervtötend präsent. Merle wünschte, sie könnten sich allein umschauen. Seufzend tappte sie durch den langen Flur hinter den andern her.
Imke deckte den Tisch im Wintergarten. Für die Terrasse war es noch zu kalt. Der kräftige Sonnenschein täuschte leicht darüber hinweg, dass der Winter noch längst nicht zu Ende war, vor allem hier auf dem Land.
Auf dem Dach der Scheune hockte der Bussard. So reglos, dass man meinen konnte, er sei nicht echt. Wie diese lebensgroßen Kunststoffraben, die vor manchen Geschäften aufgestellt waren, um lästige Tauben von den Auslagen fernzuhalten.
Der Bussard gehörte zu Imkes Leben hier draußen wie die Schafe, die bald wieder auf den Wiesen grasen würden. Er gehörte dazu wie der winterliche Geruch nach Gülle und Schweinefarm und der sommerliche Erdbeerduft, der in den Erntemonaten von den Feldern herüberwehte.
Der Vogel wachte über sie. Ließ nicht zu, dass ihr etwas Böses geschah. Ihr oder den Menschen, die sie liebte.
Pass auf Jette auf, dachte sie unwillkürlich. Behüte meine Tochter.
Erschrocken hielt sie inne, mit den Servietten in der Hand über den Tisch gebeugt. Was tat sie da? Machte sie einen Gott aus diesem Tier?
»Unsinn«, murmelte sie. »In allen Kulturen gibt es Lebewesen, die wegen ihrer besonderen Kräfte verehrt werden. Eulen zum Beispiel. Wölfe. Oder Schlangen. Nur haben diese Kräfte in einer Welt ohne Magie keinen Platz mehr und werden einem fremd.«
Sie griff nach Notizzettel und Kugelschreiber und schrieb den Gedanken auf. Und erschrak wieder. Hatte Jette etwa recht, wenn sie ihr vorwarf, sie würde alles in ihrer Umgebung als Material für ihre Bücher betrachten?
»Quatsch«, beruhigte sie sich ein zweites Mal. Sie unterschied sehr wohl zwischen privat und öffentlich. Niemals würde sie Geheimnisse, die ihr anvertraut worden waren, in ihren Romanen ausplaudern. Noch nie hatte sie die Intimsphäre eines Menschen wissentlich verletzt.
Konzentriert deckte sie weiter den Tisch, stellte einen Teller mit Gebäck in die Mitte und rückte die Obstschale näher heran. Befriedigt rieb sie sich die Hände.
Im nächsten Augenblick war sie auf dem Weg nach oben, um sich umzuziehen. Vor dem geöffneten Kleiderschrank überfiel sie die Ratlosigkeit. Sie griff nach einer Hose und hängte sie wieder zurück, zog einen Rock heraus und überlegte es sich wieder anders. Was war los mit ihr? Wieso konnte sie sich für keines der Kleidungsstücke entscheiden?
Weil du ihm gefallen willst.
Sie lachte, aber das Lachen war nicht echt. Sie lachte nur, um die kleine gemeine Stimme in ihrem Innern zu übertönen.
»Ich will ihm nicht gefallen«, sagte sie trotzig. »Ich weiß, dass ich ihm gefalle.«
Im nächsten Moment hatte sie die Schranktür zugeschlagen. Sie würde sich nicht umziehen. Sie war nicht der Spielball ihrer Gefühle und würde sich nicht dazu machen lassen.
Auf dem Weg nach unten fiel ihr Blick in Tilos Arbeitszimmer. Vor wenigen Wochen erst hatten sie es eingerichtet, damit er nicht länger bloß ein Besucher in Imkes Haus war. An diesem Wochenende nahm er an einer Tagung in Zürich teil. Noch bis zur letzten Sekunde hatte er an seinem Vortrag gearbeitet: »Sind wir Sklaven unseres Unterbewusstseins?«
Imke wandte den Blick ab, als sie an der weit geöffneten Tür vorbeiging. Eher Sklaven unseres Schuldbewusstseins, dachte sie zerknirscht und verbannte den Gedanken sofort aus ihrem Kopf. Zurück im Wintergarten, schaute sie auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Eine kleine Ewigkeit.
Die beiden passten nicht zusammen. Ich fragte mich, wie sie als Team zurechtkommen mochten. War Alice Morgensterns Schreibtisch wie sie selbst? Aufgeräumt, überschaubar und ohne jeden Hinweis auf den Inhalt seiner Schubladen? Und der ihres Begleiters? Wie sah der wohl aus? Unordentlich, kreativ und voller Widersprüche?
Ich ärgerte mich über meine Vorurteile, während ich hinter der kleinen Truppe herging, allen voran Alice Morgenstern, dann Lukas Tadikken, dicht gefolgt von Merle, die mich überholt hatte und wie trunken zu sein schien von den Eindrücken, die auf uns einstürmten.
Der Bauernhof war nicht gerade eine Zierde seiner Art, aber mit Ilkas Phantasie, Minas vielfältigen Fähigkeiten, Mikes Kraft, Merles Organisationstalent und meinem Durchhaltevermögen würde es uns gelingen, etwas Hinreißendes daraus zu zaubern.
Im Augenblick wurde der Eindruck von den zahlreichen Verfallsspuren getrübt, auf die man überall traf. Die Bewohner waren nicht gut zu dem Haus gewesen. Reste ihrer Habseligkeiten lagen in den Räumen verstreut, zwischen Müll und Zeitungsstapeln, achtlos in Plastiktüten gestopft oder einfach weggeworfen.
Der Geruch, der in der Luft hing, war modrig und kalt. Ein grauer Kellergeruch, der sich in allen Zimmern ausgebreitet hatte, der hartnäckig an den Wänden haftete, in die scheußlichen Teppichböden gesickert war und die schmutzblinden Fensterscheiben bedeckte.
»Als hätte Luzifer persönlich einmal tief ausgeatmet«, raunte Merle, die plötzlich neben mir war, schaudernd.
Lukas drehte sich halb nach uns um. Vielleicht hatte er sie gehört. Und sicherlich waren Makler empfindlich, wenn man an der Qualität ihrer Objekte herumnörgelte.
Ich blieb am Badezimmerfenster stehen und blickte auf eine große Fläche nackter Erde hinaus, die einmal ein Hühnerhof gewesen sein musste. Wo Hühner leben, gedeiht keine Blume, kein Grashalm. Hühner scharren alles tot. In Gedanken hörte ich ihr Gackern und Gluckern und das heisere Krähen eines Hahns.
Ich spürte Merles Atem an meinem Ohr.
»Wir könnten uns ein Schwein anschaffen«, flüsterte sie. »Oder besser zwei? Leiden Schweine unter Einsamkeit?«
»Bestimmt.« Ich ließ den Blick über den Hühnerhof hinweg zu dem Feld wandern, das an den Garten anschloss. »Gibt es überhaupt Einzelgänger in der Natur?«
»Ja«, mischte Lukas sich ungefragt ein. »Den Menschen.«
Merle warf ihm einen überraschten Blick zu. Sie mochte Männer mit klaren Vorstellungen und der Fähigkeit zur Ironie.
Aber hatte dieser Lukas das wirklich ironisch gemeint?
Ich hob den Kopf und begegnete seinem belustigten Blick.
»Menschen sind keine Einzelgänger«, behauptete ich, bloß um ihm zu widersprechen. »Sie sind wie Tauben. Oder wie Wale. Die verbringen, glaube ich, auch ihr ganzes Leben zu zweit.«
»Wale und Tauben leben monogam?« Sein Grinsen war fast schon unverschämt. Wollte er mich provozieren?
»Wie die meisten Menschen auch.«
Im nächsten Moment schoss mir die Erkenntnis durch den Kopf, dass meine Eltern mit ihrer Scheidung als leuchtendes Bespiel für das Gegenteil dienen konnten, doch das musste ich Lukas ja nicht auf die Nase binden.
»Das glaubst du doch nicht wirklich«, sagte Merle, die sich tagtäglich mit ihrer Liebe zu Claudio quälte, dem elenden Bigamisten mit seiner Verlobten in Sizilien. Er hatte sich noch immer nicht eindeutig zu Merle bekannt.
»Wenn Sie mir bitte nach draußen folgen wollen«, unterbrach uns Alice mahnend und war schon im Garten verschwunden. Vielmehr in dem, was sich Garten nannte.
Ich dachte nicht mehr an das Wortgeplänkel und ignorierte das kahle Stück Grün, das wir nacheinander betraten. Vor meinem inneren Auge erschien das Bild eines duftenden Kräutergartens, durch den Hummeln und Schmetterlinge flogen. Ich stellte mir einen großen Teich vor, mit Seerosen und Wasserhyazinthen, und hörte einen Springbrunnen plätschern. Wir könnten uns einen gebrauchten Strandkorb zulegen und einen Tisch aus Stein.
»Wahnsinn«, flüsterte Merle. »Die Katzen werden hier ausflippen.«
Das glaubte ich auch. Doch zunächst einmal würden sie vorsichtig die Umgebung erkunden und ihren Radius von Tag zu Tag erweitern. Sie würden Mäuse jagen, Libellen fangen und nach Fischen angeln. Kein Dach, kein Baum wäre vor ihnen sicher.
Weil es hier nicht viel zu besichtigen gab, gingen wir in den Innenhof. Er erinnerte mich an die Laubengänge alter Klöster und erzeugte ein Gefühl in mir, das ich lange nicht mehr gespürt hatte. Voller Angst, dass es sich wieder verflüchtigen könnte, blieb ich stehen und lauschte.
Glück.
Und gleich war es wieder verschwunden.
»Probleme?«
Lukas Tadikken hatte eine angenehme Stimme. Tief und warm - und irritierend. Sie ließ mich beinahe vergessen, warum wir hier waren.
»Ganz im Gegenteil.« Ich lehnte mich an die Hauswand, schloss die Augen und streckte das Gesicht in die Sonne.
»So ein Haus würde ich gern besitzen.« Ganz kurz warf er einen Schatten auf mein Gesicht, als er sich neben mich stellte und sich ebenfalls an die Mauer lehnte. »Man könnte ein wahres Schmuckkästchen daraus machen.«
»Warum tun Sie’s nicht? Wo Sie doch an der Quelle sitzen.«
Das war mir einfach so herausgerutscht und ich hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Es war verrückt, ihn auf die Idee zu bringen, uns dieses Schmuckkästchen wegzuschnappen.
»Mit einem Arbeitstag pro Woche wird man in diesem Job nicht reich«, antwortete er.
»Freier Mitarbeiter?«
»So ungefähr.«
Eine verfrühte Wespe surrte an meinem Gesicht vorbei. Sonst war es ganz still. Etwas in mir ließ los und entspannte sich. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit. Ich hatte Lust, mich hinzusetzen und zu bleiben. Für immer.
Doch Alice führte uns wieder ins Haus. Treppauf. Treppab. Sie fragte nach den übrigen Bewohnern der WG und erkundigte sich nach unserer finanziellen Situation. Natürlich hätte ich ihr anbieten können, eine Bürgschaft beizubringen. Meine Mutter hätte sich liebend gern dafür zur Verfügung gestellt, aber das wollte ich nicht. Ich wollte endlich auf eigenen Füßen stehen.
»Jaaa«, sagte Alice gedehnt und unterzog Merle und mich einer letzten gründlichen Musterung. »Wie gefällt Ihnen das Objekt denn nun?«
Merle und ich guckten uns an. Dabei war die Entscheidung längst gefallen.
»Wir würden gerne hier einziehen«, sagte Merle.
»So bald wie möglich«, ergänzte ich.
»Das freut mich.« Alice packte ihre Unterlagen zusammen und tauschte ihrerseits einen einvernehmlichen Blick mit Lukas. »Sie werden dann von uns hören.«
Die beiden schickten sich zum Gehen an.
»Gibt es noch andere Bewerber?« Sosehr Merle versuchte, ihre Aufregung zu überspielen, ihre erhitzten Wangen und der Glanz in ihren Augen verrieten sie.
»Selbstverständlich«, erwiderte Alice kühl.
Ein Schlag in die Magengrube, der meine Träumereien abrupt beendete und mich unsanft auf dem Boden der Tatsachen landen ließ. Ich blickte Lukas an. Er hielt Alice die Tür auf und zwinkerte mir zu.
Etwas in mir hüpfte auf.
»Mist!«, schimpfte Merle, als wir wieder im Auto saßen. »Die anderen Interessenten brauchen nur verheiratet zu sein, dann haben wir nicht den Hauch einer Chance.«
Mein Renault sprang erst beim vierten Versuch an. Ich würde mich um einen neuen Wagen kümmern müssen, denn irgendwann würde dieser hier mich auf der Autobahn oder mitten auf einer einsamen Landstraße hängen lassen. Gut, dass ich ein bisschen Geld zurückgelegt hatte. Wenn ich ein altes Modell fände, das noch ein paar Jahre durchhielte, käme ich wahrscheinlich darum herum, meine Mutter oder meine Großmutter anzupumpen.
»Den idealen Bewerber gibt es nicht«, beruhigte ich Merle. »Morgen haben wir das Haus. Versprochen.«
»Wie kannst du da so sicher sein?«
»Wegen Lukas.«
»Lukas? Wieso?«
»Er hat mir zugezwinkert.«
»Ach?«
Es wunderte mich ja selbst. Leise fing ich an zu summen, eine kleine Melodie, die mir gerade in den Kopf geweht war.
»Du bist ja enorm gut gelaunt«, stellte Merle mit einem misstrauischen Seitenblick fest.
Sie hatte recht. Es erstaunte sogar mich selbst.
Bert Melzig schluckte. Seine Wut überraschte ihn.
Ich liebe dich.
Was fiel diesem Dreckskerl ein, ihr das zu schreiben?
Ich brauche dich.
Natürlich konnte rein theoretisch auch eine Frau hinter diesem Brief stecken, doch Bert hielt das für unwahrscheinlich. Er spürte den Mann in jeder Zeile. Jede Silbe, jedes Wort verriet das Überlegenheitsgefühl eines Machos, der keine Grenzen akzeptierte.
Oder eines Psychopathen.
Ich werde dich kriegen.
Bert wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, um seine Mimik unter Kontrolle zu halten. Imke Thalheim beobachtete ihn. Sie lauerte auf eine Reaktion, die sie deuten konnte.
Diese Gewalt in den Zeilen. Die unverhüllte Drohung.
Bert nahm einen Schluck Kaffee und schlug die Beine übereinander. Das signalisierte Entspannung und Kompetenz. Genau das, was sie von ihm erwartete.
Dieser obszöne Blutfleck auf dem Büttenpapier. Dass es Blut war, hatte Bert auf den ersten Blick erkannt. Er war zu lange in diesem Geschäft, um sich in solchen Dingen zu irren. Blut ließ die Alarmglocken in seinem Kopf schrillen, egal in welcher Form er es vor sich hatte.
»Was … halten Sie davon?«
Er bemühte sich um den Anschein von Gelassenheit, bevor er den Kopf hob und sie anschaute. Die Furcht in ihren Augen machte ihn hilflos, doch das durfte er ihr nicht zeigen. Er verzog geringschätzig die Lippen.
»Ein Spinner.«
»Mehr nicht?«
»Wohl kaum.«
Sie neigte den Kopf. Betrachtete Bert voller Skepsis. Durfte er die Situation bagatellisieren? Sein Instinkt sagte ihm, dass dieses Schreiben alles andere als harmlos war. Wen wollte er beschwichtigen? Imke oder vielmehr sich selbst?
»Darf ich den Brief mitnehmen?«, fragte er wie beiläufig.
»Er ist übersät mit meinen Fingerabdrücken.«
»Trotzdem.«
Sie nickte. Für eine Weile war alles gesagt, und sie saßen im Wintergarten und schauten hinaus auf das stille Land, nach dem Bert Sehnsucht hatte, seit er es zum ersten Mal gesehen hatte. Auf dem Dach der Scheune hockte ein Raubvogel. Ein Bussard, wie Bert auf den zweiten Blick erkannte. Er erinnerte sich daran, dass dieser Vogel für Imke Thalheim eine besondere Bedeutung hatte.
»Er beschützt mich«, sagte Imke, die seinem Blick gefolgt war, leise.
In diesem Moment hätte Bert gern mit dem Tier getauscht. Er hätte alles getan, um nur selbst ein einziges Mal so von dieser Frau angeschaut zu werden. Und um sie beschützen zu können. Vor dem ganzen Leid der Welt.
Er faltete den Brief zusammen und schob ihn in die Tasche seines Sakkos.
»Ein Spinner?«, kam Imke Thalheim auf ihr Gespräch zurück. »Oder ein Irrer?«
Die wenigsten Menschen hätten zwischen den beiden Begriffen einen Unterschied gemacht. Doch sie als Schriftstellerin wusste, von was sie da redete, und er als Polizeibeamter ebenfalls.
»Eher ein Irrer«, antwortete er zögernd.
»Ein Psychopath?«
»Hören Sie …«
»Ein Psychopath? Ja oder nein?«
Auf einmal wusste Bert, dass es keinen Sinn hatte, auszuweichen. Sie befand sich in Gefahr. Möglicherweise. Nein, bestimmt. Das ließ sich nicht herunterspielen.
»Ich kann Ihre Frage nicht beantworten«, sagte er. »Noch nicht. Aber ich werde mich darum kümmern. Das verspreche ich Ihnen.«
»Gut.«
Sie lächelte und wollte sich wieder dem Bussard zuwenden, doch der war vom Dach der Scheune verschwunden. Bestürzung malte sich auf ihrem Gesicht. Sie verschränkte die Arme vor dem Magen, als wäre ihr kalt.
Bert hätte ihr gern sein Sakko umgehängt, aber er blieb reglos sitzen. Er fragte sich, warum er sich so elend fühlte.
3
Bildete ich mir das ein oder klang die Stimme meiner Mutter irgendwie kleiner? Dünn und farblos, als wäre sie über Nacht geschrumpft.
»Alles okay mit dir?«, fragte ich vorsichtig.
Ihr Lachen war wie immer, und das erleichterte mich. Meine Mutter war eine starke Frau. Das Bewusstsein ihrer Kraft hatte zu meiner Kindheit gehört wie all die kleinen und großen Rituale, die sie geprägt hatten. Eine Pubertät lang hatte ich mich an der Selbstsicherheit meiner Mutter gerieben. Ich war nicht darauf eingestellt, dass sich das ändern könnte.
»Mama?«
»Willst du nicht endlich zur Sache kommen?«, fragte sie zurück.
Nichts lieber als das. Inzwischen war ich mir sicher, dass ich mich geirrt hatte. Meine Mutter war okay. Am Telefon konnten einem Stimmen schon mal Streiche spielen.
»Merle und ich möchten dich auf einen Kaffee einladen«, sagte ich.
»Hast du heute keinen Dienst?«
»Ich hab frei, weil ich neulich eine Vertretung gemacht habe. Aber das ist nicht der Grund für meinen Anruf. Es gibt Neuigkeiten, die wir dir erzählen möchten.«
»Nämlich?«
»Nicht am Telefon, Mama.«
»Du machst es aber spannend.« Ich hörte ihre leise Ungeduld. »Wie wäre es mit einem kleinen Hinweis?«
»Keine Chance. Es ist eine Überraschung. Wenn du sofort losfährst, brauchst du nicht so lange herumzurätseln.«
»Bin schon auf dem Weg.«
Ein Klicken, und das Gespräch war beendet. Ich sah auf die Uhr. Gerade noch Zeit, ein bisschen Ordnung zu schaffen und die Katzenklos sauber zu machen. Merle hatte ihren berühmten Restekuchen gebacken, der so hieß, weil dafür sämtliche übrig gebliebenen Zutaten zusammengeschüttet wurden, die sich in der Küche fanden. Der Duft ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Eine knappe Stunde später saßen wir um den Küchentisch und meine Mutter schaute uns erwartungsvoll an.
»Wir haben ein Haus gefunden«, platzte ich heraus, noch bevor wir den ersten Schluck Kaffee getrunken hatten.
»Einen Bauernhof«, schwärmte Merle mit leuchtenden Augen.
»Der Mietvertrag ist schon unterschrieben«, sagte ich.
»Und wir können sofort einziehen«, sagte Merle. »Das Haus steht nämlich leer.«
»Aber zunächst mal müssen wir jede Menge Arbeit reinstecken«, erklärte ich. »Das Ganze ist ziemlich heruntergekommen.«
»Macht aber nix.« Merle schaufelte meiner Mutter ein mächtiges Stück Kuchen mit gefühlten viertausend Kalorien auf den Teller. »Wir sind immerhin zu fünft. Das bedeutet zehn Hände, die zupacken können. Wenn Ilka, Mike und Mina erst wieder da sind, werden die Ärmel hochgekrempelt.«
Im Lächeln meiner Mutter steckten Zweifel. Sie äußerte sie jedoch nicht.
»Das freut mich für euch«, sagte sie.
»Wollen Sie es sehen?«
Merle sprang auf und setzte sich gleich wieder hin. Sie benahm sich seit dem Anruf von Alice Morgenstern wie ein Stehaufmännchen.
»Unbedingt.«
Merle verschlang in Rekordzeit zwei Stück Kuchen und wischte sich die Krümel von den Lippen. Auf dem Stuhl zappelnd wie ein Kind, das dringend aufs Klo muss, wartete sie, bis meine Mutter nach der Hälfte ihrer Portion kapitulierte.
»Der Kuchen ist köstlich, aber mehr schaffe ich einfach nicht.«
Sämtliche guten Manieren über Bord werfend, schoben Merle und ich unsere Stühle zurück, ohne meiner Mutter eine zweite Tasse Kaffee anzubieten oder sie auch nur ihre erste in Ruhe austrinken zu lassen.
Während der Fahrt schwieg meine Mutter. Vielleicht hörte sie Merle zu, die enthusiastisch die Vorzüge des Landlebens schilderte. Vielleicht konzentrierte sie sich auf den Verkehr. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sie mit ihren Gedanken woanders war.
Es war ein gutes Gefühl, in einem Wagen zu fahren, der keine Macken hatte. Der an den Ampeln nicht ausging und ohne Stottern über die Landstraßen schnurrte. Aber es war ein noch besseres Gefühl, zu wissen, dass ich auch ohne diesen Luxus leben konnte.
Und dann standen wir vor unserem Bauernhof.
»Wunderschön«, sagte meine Mutter. Ihr Gesichtsausdruck jedoch sagte etwas anderes. Vielleicht lag es daran, dass heute die Sonne nicht schien und es kräftig geregnet hatte. Der Vorgarten war eine einzige schlammige Pfütze, und die kalte Feuchtigkeit, die noch in der Luft hing, hatte die Spuren des Verfalls sichtbarer gemacht. Sie drängten sich dem Auge förmlich auf.
Die ausgetrockneten, rissigen Holzrahmen der Fenster mussten dringend gestrichen werden. Die Dachziegel waren von Moos und Flechten überwuchert. Unter der verbeulten Regenrinne hingen bröcklige Schwalbennester und die Mauern waren mit altem Vogelkot beschmiert.
Eine krumme Ölweide hatte einige der Waschbetonplatten, mit denen der Weg zur Haustür gepflastert war, mit ihren starken Wurzeln angehoben und wie Dominosteine ineinandergeschoben. Die Tannen, die zu hoch geworden waren, hatte man in der Spitze gekappt und wie traurige Schachfiguren stehen lassen.
Der Geruch nach Katzenpisse stieg mir beißend in die Nase. Rasch schloss ich die Haustür auf, um in den Innenhof zu gelangen. Der würde meiner Mutter auch bei bedecktem Himmel gefallen.
Tatsächlich blieb sie mitten im Hof stehen und schaute sich staunend um.
»Zauberhaft«, sagte sie.
Der Regen hatte den Staub von den Steinen gewaschen. Nicht mehr lange, und das Grün würde sprießen und den Hof in eine Oase verwandeln. Wir würden einen Tisch aufstellen und hier draußen sitzen und reden und lachen und endlich alle zusammen sein.
»Wenn ihr Hilfe braucht …«
»… wirst du alle Hebel in Bewegung setzen und uns einen Trupp von Handwerkern schicken, der in Wolken von Staub und Krach durch die Räume wirbelt und uns ein toprenoviertes Haus zurücklässt. Lieb von dir, Mama, aber wir wollen das lieber allein hinkriegen.«
Ein Blick in Merles Gesicht zeigte mir, dass meine Freundin das anders sah. Aber sie hielt sich dankenswerterweise zurück.
Meine Mutter zuckte bloß mit den Schultern. Ihre Friedfertigkeit überraschte mich. Kein Vorwurf? Keine Empfindlichkeit? Nicht mal der Versuch, mich von meiner Meinung abzubringen? Ich schaute sie genauer an. Etwas beunruhigte sie. Ich kannte sie lange und gut genug, um das zu erkennen.
Nein, dachte ich. Nicht schon wieder.
Ich war es leid, dass sie sich ständig Sorgen um mich machte. Zugegeben, Merle und ich waren schon einige Male in gefährliche Situationen geraten. Aber wir waren immer wieder herausgekommen. Wie alt musste ich werden, um von meiner Mutter wie ein gleichwertiger Mensch behandelt zu werden?
Unsere Blicke begegneten sich. Und da wusste ich - ihre Besorgnis hatte nichts mit mir zu tun.
»Willst du reden?«, fragte ich sie.
»Reden?« Sie lachte ihr helles Lachen, mit dem sie Merle täuschen mochte, nicht jedoch mich. »Tun wir doch, Schatz. Die ganze Zeit.«
Sie drehte sich um und spazierte ins Haus.
Musik quoll aus dem alten Radio, breitete sich in der Werkstatt aus und sank zwischen den übrigen Geräuschen nieder. Niemand hörte hin. Nur der Lehrling pfiff manchmal mit, fröhlich, falsch und unbekümmert. Er leistete passable Arbeit, war aber alles in allem eine ziemliche Nervensäge. Ständig quatschte er und vergaß im nächsten Moment wieder, was er gerade gesagt hatte.
»Ey, Manu!«, rief er jetzt quer durch den Raum. »Wann is Mittag?«
Wenn er schon keine Armbanduhr trägt, dachte Manuel, kann er doch wenigstens auf die Wanduhr gucken, verdammt. Bin ich die Zeitansage?
Ohne hinzusehen, wies er mit dem Daumen auf die fußballgroße Uhr über der Tür und richtete den Strahl seiner Lampe
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