Inhaltsverzeichnis
DIE AUTORIN
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Copyright
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DIE AUTORIN
Monika Feth wurde 1951 in Hagen geboren. Nach ihrem literaturwissenschaftlichen Studium arbeitete sie zunächst als Journalistin und begann dann, Bücher zu verfassen. Heute lebt sie in einem kleinen Ort in der Nähe von Köln, wo sie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene schreibt. Ihre Bücher wurden vielfach ausgezeichnet und in 15 Sprachen übersetzt.
Weitere lieferbare Bücher von Monika Feth:
omnibus:
Die blauen und die grauen Tage (20542) Weihnachten steht vor der Tür (20421) Und was ist mit mir? (21166) Herz geklaut (21809)
cbt:
Der Erdbeerpflücker (30258) Der Mädchenmaler (30193) Der Scherbensammler (30339) Das blaue Mädchen (30207) Fee - Schwestern bleiben wir immer(30010) Nele oder Das zweite Gesicht (30045)
»Eine verrückte Geschichte, spannend und witzig.« Sender Freies Berlin
»Ein Buch, das Mut macht für den Sprung in die Eigenständigkeit.« Darmstädter Echo
Für Hans, der die Dinge schweben lässt, wenn ich am wenigsten darauf gefasst bin …
1
Nele steigt vom Rad. Sie kennt diese Unruhe und weiß, dass ihr gleich schwindlig werden kann. Sie blinzelt in das fahle Dezemberlicht und ist auf der Hut.
Plötzlich ist die Landschaft wie ein Bild. Keine Bewegung, kein Laut, kein Geruch. Die Zeit bleibt stehen. Nele spürt ein Klopfen im Hals.
Ihre Füße bewegen sich weiter. Ihre Hände halten das Fahrrad. Nele merkt nichts davon. Sie starrt auf die kahlen Pappeln, nimmt gleichzeitig den flachen Nebel über den Feldern wahr und die dünne Eisschicht auf dem Tümpel.
Sie atmet heftig. Es ist wie in einem Traum. Sie will aus diesem Traum erwachen, bevor etwas passiert, das sie erschreckt. Ihr Körper versteift sich in Abwehr. Ihre Zähne knirschen aufeinander. Dann ist es vorbei.
Nele fühlt wieder den Wind auf dem Gesicht. Sie hört das ferne Rattern eines Traktors und Betties heiseres Gebell. Erleichtert stößt sie den Atem aus. Geschafft! Sie hat es zurückgedrängt und die Bilder nicht zugelassen.
Der Kopf tut ihr weh. Tausend Stiche in den Schläfen. Und sie hat Schweiß auf der Stirn.
Nele schiebt das Rad weiter. Ihr ist tatsächlich ein wenig schwindlig, und ihr Mund ist trocken, als wäre sie den ganzen Weg gerannt.
Es beginnt bereits zu dämmern. Die Dunkelheit fällt schnell um diese Zeit. Heute ist es seit dem Morgen nicht richtig hell geworden. Nele stolpert. Sie zwingt sich, darauf zu achten, dass sie die Füße hoch genug hebt. Nicht mehr lange und sie wird zu Hause sein.
Das Haus schimmert durch das hohe Gesträuch. Jeder in der Gegend kennt es. Es ist das einzige weiße Haus im weiten Umkreis. Alle anderen Häuser sind rot.
Nele begrüßt die alte Bettie, die ihr mit kraftlosem Schwanzwedeln entgegenkommt, und stellt das Rad in der Scheune ab. Ihr Erscheinen scheucht die Tauben auf, die sich hier vor der Kälte verkriechen. Nele reibt sich die Arme und geht zum Stall hinüber, aus dem das gleichmäßige Summen der Melkmaschine dringt.
Opas Kopf taucht zwischen den Leibern der Kühe auf und verschwindet wieder. Nele lehnt sich gegen die Wand, überlässt sich der Wärme, der Helle und dem vertrauten Geruch. Erst jetzt beginnt sie zu zittern.
Eine ganze Weile steht sie da, ehe Opa sie bemerkt. Er winkt sie zu sich heran. »Du kommst spät.«
Nele nickt und verschränkt die Arme vor der Brust, um das Zittern zu verbergen.
Opa richtet sich langsam auf, klopft Mora den Rücken. Mora ist ein nervöses Tier. Man muss sie beruhigen, um sie melken zu können. Opas Hände sind groß und breit. Unter hundert Händen würde Nele sie erkennen.
Der Vater bringt die ersten Heuballen. »Bist spät dran. Solltest doch bloß den Tee abgeben.«
»Onkel Helge hat sich den Fuß verknackst«, sagt Nele zögernd.
»Und du hast ihn wieder gerichtet!« Zornig wirft der Vater die Heuballen ab. »Kann er sich nicht zum Doktor fahren lassen?«
»Komm, Nele«, sagt Opa. »Fass mit an. Wir müssen fertig werden. Mit Berthe ist es bald so weit.«
Nele schaut zu Berthe hinüber. »Heute schon?«
Opa nickt. »Es kann jeden Moment losgehn.«
Nele zieht den Anorak aus und hängt ihn an einen der Haken neben dem Tor. Sie streift die Schuhe ab, schlüpft in die Stallstiefel, die unterm Fenster stehen, krempelt die Ärmel hoch, greift nach dem Besen und fängt an, die Fladen durch den Rost zu drücken.
Sie arbeitet schweigend. Der Schmerz in ihren Schläfen wird schwächer. Es tut gut, bei den Kühen zu sein.
Nachdem sie den Bullen und die Kälber versorgt hat, bringt sie den Schweinen ihr Futter, danach den Kaninchen und den Hühnern. Sie stellt die Stiefel an ihren Platz zurück, zieht die Schuhe wieder an, nimmt den Anorak vom Haken und geht zum Haus hinüber.
Tim sitzt am Küchentisch und macht Hausaufgaben. Die Mutter steht am Herd und kocht. Oma füllt das Gebäck, das sie am Nachmittag gebacken hat, in die Weihnachtsdose. Sie dreht sich zu Nele um, lächelt und wird gleich wieder ernst. »Kopfweh?«
»Ein bisschen«, sagt Nele. »Ist schon fast vorbei.« Sie setzt sich zu Tim auf die Eckbank.
Oma reist nach Afrika, schreibt Tim in sein Heft. Es ist eine weite Reise. Er sieht auf. »Schreiben ist vielleicht blöd!«
»Aber du schreibst schön.« Nele beugt sich über sein Heft. »Echt weltmeisterlich.«
»Trotzdem ist Schreiben blöd.«
»Alter Trödler«, sagt die Mutter. »Wir wollen essen.«
»Ich trödle ja gar nicht.« Tim macht sich an den nächsten Satz. »Wenn es doch so schwer ist, das alles abzuschreiben.« Die Zungenspitze schaut ihm zwischen den Lippen hervor. Er zerrauft sich das Haar, stöhnt.
Nele holt die Teller aus dem Schrank.
»Kommt Friedrich zum Essen?«
Die Mutter schüttelt den Kopf. »Er hat heute den ganzen Abend in der Werkstatt zu tun. Du weißt ja, wie dein Bruder ist. Er kann keine Arbeit liegen lassen.«
Nele schluckt die Enttäuschung hinunter. Schon wieder ein Abend ohne ihn. Er weiß doch, wie sehr er ihr fehlt.
Tim klappt das Lesebuch zu, trägt das Heft zu Oma und zeigt ihr, was er geschrieben hat.
»Afrika«, sagt Oma. »Für nichts auf der Welt würd ich so eine Reise machen. Viel zu heiß. Und alles so fremd. Obwohl …« Sie zögert, gibt Tim das Heft zurück. »Man müsste das alles sehen können, ohne wirklich hinzufahren.«
»Träumen«, sagt Tim.
Oma nickt und tauscht mit Nele einen raschen Blick.
Als alle am Tisch sitzen, trägt die Mutter das Essen auf. Es dampft aus den Schüsseln. Die Fensterscheiben sind beschlagen. Dahinter ist es schwarz.
»Du bist so blass«, sagt die Mutter zu Nele.
»Sie hat Helges Fuß gerichtet«, erzählt der Vater wütend.
Oma horcht auf. »Was war mit Helges Fuß?«
»Nur verknackst«, beruhigt Nele sie. »Ist vom Traktor gesprungen und falsch aufgekommen.«
»Lass die Finger davon«, sagt der Vater. »Die Leute fangen schon an zu reden.«
Oma sieht von Nele zum Vater. »Übertreibst du nicht ein bisschen?«
Der Vater zeigt mit der Gabel auf Nele. »Schau sie dir doch an! Weiß wie die Wand. Und Kopfschmerzen hat sie auch schon wieder. So ist es jedes Mal, wenn sie es gemacht hat.«
Oma legt das Besteck auf den Teller, obwohl sie das Essen kaum angerührt hat. »Du weißt nicht, wie es wäre, wenn sie es nicht machen würde.«
Der Vater zerdrückt ärgerlich die Kartoffeln auf seinem Teller. »Wir sind Bauern, Mutter. Nicht arm, nicht reich, aber von jedermann geachtet. Ich will nicht, dass Nele ins Gerede kommt.«
Opa ist mit dem Essen fertig. Er schiebt seinen Stuhl zurück und steht auf. »Die Leute«, sagt er verächtlich. »Die reden immer. Ich geb nichts auf ihr Geschwätz.« Er berührt Oma leicht an der Schulter. »Ich seh mal nach Berthe.« Und damit verlässt er den Raum.
Die Mutter stellt Friedrich das Essen warm und schickt Tim ins Bett. Nele räumt gerade das Geschirr in die Spülmaschine, als sie Opa rufen hört. Sie dreht sich zur Mutter um. »Darf ich?«
Die Mutter nickt. »Lass nur stehn.«
Nele zieht sich eine Strickjacke über und läuft zum Stall. Berthe hat sich hingelegt. Ein Teil der Fruchtblase ist schon zu sehen.
Opa schiebt die Ärmel hoch und fährt mit dem rechten Arm bis zum Ellbogen in Berthes Scheide. Dann zieht er den Arm wieder heraus und das Fruchtwasser schießt in einem heftigen gelben Strahl hervor. Opa springt zur Seite, wird aber trotzdem bis zu den Hüften nass.
Mit raschem, sicherem Griff reißt er die Haut der Fruchtblase auseinander. Wieder stürzt Fruchtwasser hervor. Noch einmal fährt Opa mit dem Arm in Berthe hinein. »Es liegt falsch«, sagt er mit gepresster Stimme.
Er versucht, das Kalb in Berthes Leib zu drehen. Sein Gesicht wird dunkelrot von der Anstrengung. Er keucht. Schweiß tritt ihm auf die Stirn. Seine Füße suchen vergeblich festen Halt auf dem glitschigen Boden. Der Vater wartet neben ihm, einen Strick in der Hand. Berthe wendet den Kopf nach ihnen, stöhnt auf.
Nele geht neben Berthes Kopf in die Hocke und umfasst ihren Hals. »Ruhig«, sagt sie. »Ganz ruhig. Gleich ist es vorbei.« Berthe schnauft, stößt sie an und beruhigt sich ein wenig.
»In Ordnung.« Opa greift nach dem Strick. Die Hufe des Kälbchens sind schon hervorgekommen. Opa bindet den Strick an ihnen fest. Die Männer ziehen. »Nele!«
Nele fasst mit an. Der Strick ist so nass und glitschig wie der Boden. Das kleine Maul wird sichtbar und verschwindet wieder. Neles Hände gleiten ab und fassen wieder zu.
»Es ist zu groß«, sagt Opa. »Viel zu groß. Noch einen Strick, Nele, schnell!«
Nele bückt sich nach einem der Stricke, die der Vater bereitgelegt hat, und reicht ihn Opa. Es dauert zu lange. Und Berthe ist zu unruhig. Dabei bekommt sie ihre Kälber sonst immer ganz leicht.
Opa befestigt den Strick am Kopf des Kälbchens. Sie ziehen mit aller Kraft. Der Vater rutscht aus, fängt sich wieder. »Na komm, Berthe, altes Mädchen, hilf mit!«
»Irgendwas stimmt nicht«, sagt Opa. »Vielleicht sind es auch zwei. Ich konnte es nicht richtig fühlen.«
»Den Geburtshelfer, Nele«, sagt der Vater.
Neles Herz klopft heftig, als sie läuft, um das Gerät zu holen. Es wird nur im Notfall benutzt, denn es zieht das Kälbchen mit einer solchen Gewalt heraus, dass es daran sterben kann.
Der Vater befestigt die Stricke am Geburtshelfer, bewegt den Hebel auf und ab. Die Stricke straffen sich. Berthe stöhnt dunkel und laut. Ihr Hinterteil hebt sich. »Achtung! Jetzt!«
Sie springen zur Seite. Das Kalb fällt auf den Boden. Opa geht neben ihm auf die Knie. »Lebt«, sagt er knapp, schabt ihm mit den Fingern den Schleim aus dem Maul und massiert ihm das Herz. Im Laufschritt tragen die Männer es auf den Hof. Nele sperrt Bettie in den Zwinger.
Der Vater hat das Kalb an den Hinterbeinen gefasst und schleudert es im Kreis über den Boden, damit sich Schleim und Wasser lösen und nicht in der Lunge festsetzen. Nele besorgt kaltes Wasser.
Sie schüttet es über den Körper des Kälbchens. Opa massiert wieder das Herz. Der Vater schiebt dem Kalb die Lider hoch, sieht sich die Augen an. »Mehr Wasser!«
Nele spürt die Kälte kaum, während sie mit klammen Fingern Eimer um Eimer mit Wasser füllt und hinausträgt.
Schleudern, Wasser, Massieren. Schleudern, Wasser, Massieren. Still lässt das Kalb es mit sich geschehen.
Nele besorgt Stroh, um es damit trockenzureiben. Das Kalb atmet, aber es atmet rasselnd und schwer. Opa fährt sich mit dem Arm über die Stirn. Seine Hände, sein Gesicht, alles an ihm ist blutverschmiert.
Sie tragen das Kälbchen in den Nebenstall. »Jetzt können wir nur noch abwarten«, sagt der Vater. »Aber es sieht nicht so aus, als ob es die Nacht überstehen würde.«
»Ich bleib noch ein bisschen.« Nele schaut den Männern nach, die mit müden, breiten Schritten den Stall verlassen, um sich um Berthe zu kümmern. Dann beugt sie sich über das Kalb. »Du kannst es schaffen«, flüstert sie. »Ich weiß es. Du musst es nur wollen.«
Sie nimmt Stroh und reibt über das Fell, dreht das Kalb vorsichtig auf die andere Seite, reibt weiter. Zärtlich streichelt sie ihm das Maul, den Kopf, legt ihm die Hände auf den Leib. Ihre Hände fahren in kreisenden Bewegungen darüber hin, zuerst sacht, dann kräftig und fest.
Das Kälbchen liegt da wie tot. Nele schließt die Augen und tastet den immer noch feuchten Körper mit flachen Händen ab. Sie konzentriert sich, so stark sie kann.
Und dann spürt sie, wie ihre Hände warm werden. Die Wärme nimmt rasch zu, fließt in die Fingerspitzen, die nun in langen, kraftvollen Strichen über das Fell fahren.
Das Kalb atmet tiefer. Das Rasseln wird schwächer. Nele zieht die Hände zurück, öffnet die Augen und hebt den Kopf.
Oma, die unbemerkt hereingekommen ist, steht neben ihr und sieht ernst auf sie herab.
»Es wird leben«, sagt Nele mit heiserer Stimme. »Ich bin so froh.«
Oma zieht sie auf die Füße. Sie drückt sie an sich und streicht ihr übers Haar. »Ich weiß«, sagt sie. »Aber du bist todmüde und musst jetzt schlafen. Komm, ich bring dich ins Haus.«
2
Nele träumt. Es ist Sommer. Der Malvenstrauch vorm Küchenfenster blüht. Ein feiner Glanz liegt auf den Blättern der Birken. Der Himmel ist von einem durchsichtigen Blau.
Das weiße Pferd wirft den Kopf herum, um die Fliegen zu vertreiben, die sich auf seinem Rücken niedergelassen haben.
Doch die Fliegen lassen sich nicht vertreiben. Surrend schwirren sie auf und fallen wieder auf den Rücken des Pferdes zurück. Ihre Leiber schillern grünlich im Sonnenlicht.
Das Pferd rollt mit den Augen. Entsetzt starrt Nele die große Wunde auf seinem Rücken an, die schwarz ist von Fliegen. Sie versucht, die Fliegen mit den Händen zu verscheuchen, doch da legt sich das Pferd schon zum Sterben hin. Sein Atem rasselt laut.
Nele schreckt auf. Mondlicht erhellt das Zimmer. Sie springt aus dem Bett, vergewissert sich mit einem raschen Blick, dass Tim schläft, zieht Hose und Pullover an, öffnet die Tür und steigt leise die Treppe hinunter.
Aus dem Schlafzimmer der Eltern dringt das gleichmäßige Schnarchen des Vaters. Nele versucht, die knarrenden Stellen auf dem Holzfußboden zu umgehen. Es gelingt ihr nicht ganz. Sofort stockt das Schnarchen, hört auf. Nele bleibt stehen und hält die Luft an. Erst als das Schnarchen zögernd wieder einsetzt, wagt sie sich weiter.
Sie schlüpft aus der Diele hinaus ins blasse Licht, überquert den Hof, beschwichtigt die vor Freude winselnde Bettie und öffnet die Tür zum kleinen Stall.
Das Kalb ist unruhig. Seine Augen fahren ruckartig hin und her, sein Atem geht heftig. »Hab keine Angst«, flüstert Nele. »Ich bleibe ein bisschen bei dir.« Sie kauert sich neben das Kalb ins Stroh und nimmt seinen Kopf in beide Hände.
Es schließt die Augen. »So ist es gut«, murmelt Nele. »Mach die Augen zu. Ich helfe dir.«
Nele massiert ihm behutsam die Stirn. Sie wird müde, summt leise vor sich hin, um wach zu bleiben. Der schwache Schein der Lampe erhellt den Stall nur spärlich. Durch das trübe Fensterglas kann Nele den Mond sehen, von feinen Wolkenschleiern verhangen, die der Wind dann und wann auseinander reißt.
Ihre Fingerkuppen beginnen zu schmerzen, der Arm wird ihr steif, ihre Nackenmuskeln verspannen sich. Nele summt alle Melodien, die sie kennt. Als ihr keine Melodie mehr einfällt, sagt sie Gedichte auf. Und als sie kein Gedicht mehr weiß, reiht sie einfach Worte aneinander, die ihr in den Sinn kommen.
Das Kälbchen ist längst eingeschlafen. Nele findet keine Worte mehr. Der Schweiß bricht ihr aus vor Erschöpfung. Ihre Hände bleiben schwer auf dem Kalb liegen, das Kinn sinkt ihr auf die Brust, sie sackt in sich zusammen und fällt augenblicklich in Schlaf.
Sie wacht davon auf, dass jemand eine Wolldecke über sie breitet. Nele öffnet die Augen und sieht in Friedrichs Gesicht. »Ich dachte mir«, sagt er, »du frierst vielleicht.«
Nele setzt sich und zieht die Decke fest um die Schultern. Ihr ist wirklich kalt. »Lieb von dir. Wie spät ist es?«
»Halb zwei. Ich wollte nach dem Kalb sehen. Aber das hast du ja nun schon besorgt.« Er blickt auf das Kälbchen, das ebenfalls wach geworden ist. »Opa hat mir eine Nachricht auf den Tisch gelegt. Er hat dem Kalb keine Chance gegeben.«
Nele lächelt. »Aber ich. Und davon hab ich es einfach überzeugt.«
Friedrich setzt sich neben sie. Er schüttelt den Kopf. »Wie machst du das bloß? Ich begreif’s nicht.«
Nele lehnt sich schläfrig gegen ihn. »Ich doch auch nicht.« Sie gähnt. »Jedenfalls macht es müde. In der Schule werden mir die Augen zufallen.« Ein Kälteschauer läuft ihr über die Haut. Ihre Zähne klappern aufeinander.
Friedrich legt ihr den Arm um die Schultern und drückt sie an sich. »Sei bloß froh, dass ich es war, der dich hier gefunden hat, und nicht Papa. Du weißt, wie er sich wieder aufregt, wenn er merkt, dass du irgendwas gemacht hast mit dem Kalb.«
Nele nickt. Sie reibt sich die Augen. »Wir könnten es Mond nennen. Der Mond hat geschienen, als es geboren wurde.«
»Mond«, sagt Friedrich. »Ein reichlich merkwürdiger Name für einen kleinen Bullen, findest du nicht?«
»Nö.« Nele gibt Friedrich einen Kuss auf die unrasierte Wange. »Nicht merkwürdiger als ein Bruder wie du.«
»Na, herzlichen Dank.« Friedrich lacht leise auf. »Würdest du deinem merkwürdigen Bruder wohl trotz seiner Merkwürdigkeit einen Zipfel von der Decke abgeben?«
Nele schlägt das eine Ende der Decke zurück und Friedrich legt es sich um die Schultern.
Mond ist wieder eingeschlafen. Sie bleiben bei ihm sitzen, eng aneinander gekuschelt, und hören seinem Atmen zu, das tief und regelmäßig geworden ist.
Dann werden Nele die Augen schwer. Friedrich spürt es sofort. »Komm«, sagt er und hilft Nele auf, »sonst klappst du mir noch zusammen.«
Nele torkelt vor Müdigkeit. Sie schleichen über den Hof, unbemerkt von Bettie, und betreten geräuschlos die Küche. »Na los«, flüstert Friedrich. Er legt die Decke an ihren Platz auf der Bank zurück. »Ab ins Bett. Und mach bloß keinen Lärm.«
Nele huscht die Treppe hinauf, in ihr Zimmer und schließt leise die Tür hinter sich. Sie zieht sich im Dunkeln aus, um Tim nicht aufzuwecken, und klettert ins Bett.
»Es hat die Nacht tatsächlich überlebt«, sagt der Vater beim Frühstück verwundert. »Das hätte ich nie für möglich gehalten.«
Oma streift Nele mit einem prüfenden Blick. Nele wird rot und senkt den Kopf.
Die Mutter macht die Pausenbrote für Nele und Tim zurecht. »Wann bist du nach Hause gekommen?«, fragt sie Friedrich.
»Irgendwann heute früh.« Friedrich schenkt sich Kaffee ein.
»Das sieht man dir an«, sagt der Vater barsch.
Opa lächelt. Doch er sagt nichts. Er mischt sich nicht gern ein.
Die Mutter wickelt die Brote in Papier. »Du weißt doch, dass wir uns Sorgen machen, wenn du so spät noch unterwegs bist.«
Friedrich nimmt einen Schluck vom Kaffee, verbrüht sich die Lippen und verzieht das Gesicht. »Ich bin neunzehn, Mama.«
»Und du glaubst, mit neunzehn kann dir nichts passieren? Seit du diese Höllenmaschine hast, mach ich mir mehr Sorgen um dich als je zuvor.«
»Mama, ein Motorrad ist keine Höllenmaschine. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Autofahren ist mindestens genauso gefährlich.«
»Ist es nicht!« Die Mutter fasst Friedrich am Arm. »Ruf das nächste Mal wenigstens an, wenn es später wird.«
»Okay, okay.« Friedrich hebt ergeben die Hände. »Aber jetzt muss ich los. Wir haben heute viel zu tun in der Werkstatt.«
Er steht auf, rubbelt Tim und Nele durchs Haar und gibt der Mutter und Oma einen Kuss auf die Wange. »Bis heute Mittag.«
Nele bringt Bettie das Fressen und stellt der Katze Milch hin. Dann verstaut sie ihr Pausenbrot im Rucksack. Sie geht in die Diele, zieht Stiefel und Anorak an und bindet sich einen Schal um den Hals. »Ich warte im Stall auf dich!«, ruft sie Tim zu und schließt die Tür hinter sich.
Es hat gefroren. Das Wasser, das sie am Abend verschüttet haben, hat sich in einer großen Pfütze gesammelt und ist zu Eis erstarrt. Nele atmet die kalte Luft tief ein. Sie mag den Winter und seinen Geruch, mag seine Stille und seine Farben. Sie mag die Dunkelheit am Morgen und am Abend, mag das Viereck aus Licht, das dann vom erleuchteten Küchenfenster aufs Pflaster fällt.
Das Kalb liegt noch genauso da, wie Nele es verlassen hat. »Mond«, spricht sie es leise an. Mond öffnet die Augen und wendet den Kopf ein wenig.
Sacht fährt Nele mit den Fingern über das gekrauste Fell auf seiner Stirn. »Du musst jetzt allmählich zusehn, dass du auf die Beine kommst. Sie sind zwar noch staksig und dünn, aber glaub mir, sie tragen dich.«
»Mann, ist das hässlich«, sagt Tim da hinter ihr. »Es sieht kein bisschen wie Berthe aus. Es ist ja ganz scheckig.«
Behutsam hebt Nele Monds Kopf an. »Aber seine Augen«, sagt sie. »Hast du jemals ein Kalb mit so schönen Augen gesehn?«
Tim beugt sich vor und starrt Mond an. »Ganz normale Augen«, stellt er fest. »Warum willst du unbedingt, dass es besonders schön sein soll?«
»Ich hab es Mond genannt«, sagt Nele.
»Mond?« Tim sieht sie verständnislos an.
»Weil der Mond geschienen hat letzte Nacht.« Nele lässt Monds Kopf vorsichtig wieder auf das Stroh zurücksinken, streichelt ihm noch einmal über die Stirn und richtet sich auf. »Es wird Zeit.«
Sie holen die Räder aus der Scheune. Nele horcht auf das leise Gurren der Tauben. Der Abschied fällt ihr jeden Morgen schwer.
Zwischen den Feldern ist der Wind schneidend kalt. Er hat gedreht, kommt seit Tagen nicht von der Nordsee, sondern vom Land. Die ersten Möwen lassen sich auf den Äckern nieder, um hier die Flut abzuwarten. Nele zieht die Kapuze über den Kopf und schiebt sich den Schal über die Nase. Die Wolle wird warm und feucht von ihrem Atem und beginnt zu kratzen.
Tim redet ohne Unterlass. Das ist bei ihm immer so. Er redet zu viel oder zu wenig, je nachdem. Nele hört kaum hin. Ihre Hände halten das Lenkrad, ihre Füße treten die Pedale, ihr Kopf schläft noch halb.
Vorm letzten Haus auf dem Weg klingelt sie. Fast im selben Augenblick tritt David aus der Tür. Sein Rad steht schon bereit. David wickelt sich den Schal ein paarmal um den Hals und schwingt sich auf den Sattel.
cbt - C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House
2. Auflage
Erstmals als cbt Taschenbuch August 2004
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform © 2004 C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München Alle Rechte vorbehalten
Die ursprüngliche Version erschien 1992 unter dem Titel »Der Weg durch die Bilder« beim Sauerländer Verlag, Frankfurt.
Die vorliegende Fassung wurde von der Autorin bearbeitet.
Herstellung: ih
ISBN 3-570-30045-5
www.cbj-verlag.de
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