Der Schatz unter den Ruinen - Marian Brehmer - E-Book

Der Schatz unter den Ruinen E-Book

Marian Brehmer

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Beschreibung

Der Journalist Marian Brehmer begibt sich auf eine außergewöhnliche Reise. Seine Liebe zur islamischen Mystik und zum Werk von Dschalaluddin Rumi lässt ihn die Lebensstationen des großen islamischen Mystikers bereisen. Den Spuren Rumis folgend, beschreibt er seine Entdeckungen unter Sufis, Suchenden und Weisen in Afghanistan, Iran, Syrien und der Türkei. Er wirft einen spirituellen Blick auf vier Länder, die bei uns vorwiegend Negativschlagzeilen machen, und führt den Leser über eine atmosphärisch dichte Erzählung in die völlig unbekannten Lebenswelten des mystischen Islam. Eine Pilgerfahrt durch innere und äußere Landschaften, die gleichzeitig eine Suche nach unseren tiefsten Wurzeln und Sehnsüchten ist. »Ein ganz außergewöhnliches, berührendes und kundiges Buch, das von Reisen durch den Mittleren Osten ebenso eindringlich erzählt wie von Reisen ins Innere der islamischen Mystik.« Hilal Sezgin  »Marian Brehmer begibt sich auf die Spuren des muslimischen Mystikers Rumi. Er erzählt von der Kraft seiner Weisheit, von der Liebe und davon, was es heißt, ein Reisender zu sein – auf dem Weg zu sich selbst. Ein bewegendes Buch.« Ahmad Milad Karimi  

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Marian Brehmer

Der Schatz unter den Ruinen

Meine Reisen mit Rumi zu den Quellen der Weisheit

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Karte: Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Marian Brehmer

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timisoara

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82732-7

ISBN Print 978-3-451-37516-3

Inhalt

Vorwort

1. Geh über die Form hinausAfghanistan

Balch, Mai 2019

Kabul, Januar 2020

Epilog

2. Ein Laden der EinheitIran

Teheran, Januar 2014

Torbat-e Dscham, März 2019

Neyschapur, April 2019

Teheran, Januar 2017

3. Mit der Sprache des HerzensSyrien

Aleppo, Juli 2009

Epilog

4. Ein Schüler der Liebe Konya

Konya, Dezember 2017

5. Eigne dir den Durst anIstanbul

Beykoz, Dezember 2019

Üsküdar, Mai 2020

Danksagungen

Karte

Über den Autor

Vorwort

Das erste Mal, als ich unter Sufis lebte, wusste ich kaum etwas von Rumi. Ich war Gast in einer osmanischen Moschee, die versteckt in einer Seitengasse im Souk von Aleppo lag. Mir war nicht bewusst, dass acht Jahrhunderte vor mir in dieser Nachbarschaft der größte Mystiker des Islam seine Zelte aufgeschlagen hatte. Zwei Sommer später verwandelte der Bürgerkrieg das alte Aleppo in Ruinen. Das Gotteshaus, in dem ich mit den Sufis gegessen und gebetet hatte, war nur noch ein Haufen Schutt und Trümmer. Doch in mir trug ich einen Schatz an Erfahrungen, die mein Leben verändern sollten.

Gerne hole ich die Erinnerungen an die Anfänge meiner Erkundung des spirituellen Islam hervor. Wenn ich fortan ein muslimisches Land bereiste, suchte ich zuerst nach den Sufis, zu denen ich mich hingezogen und dann zunehmend zugehörig fühlte. Nicht nur Syrien gab mir das Gefühl, ein Schatzsucher unter Ruinen zu sein. Das oft vermittelte Bild, das goldene Zeitalter des Islam sei längst vorüber, verbunden mit den Nachrichten über das tagespolitische Chaos im Mittleren Osten ließ in mir mitunter den Eindruck aufkommen, dass ich in den Ruinen einer Hochkultur nach etwas Vergangenem grabe.

Die Metapher vom Schatz unter der Ruine ist eines der Lieblingsbilder in Rumis Dichtung. Sie ist aus dem Leben gegriffen, denn im Mittelalter wurden Reichtümer oft dort versteckt, wo sie kein Dieb vermuten mochte, etwa unter den Überbleibseln verfallener Häuser. Genauso, erläutert Rumi, ist es mit dem Schatz in uns: Alle Reichtümer und Freuden, nach denen wir im Außen suchen, sind bereits in uns angelegt. Doch wir vermuten sie woanders. In unserer Ahnungslosigkeit sind wir es gewohnt, statt in uns zu buddeln mit einer Bettelschale durch das Leben zu gehen. Rumi fordert uns auf, das „Haus“ unserer Gelüste, Gedanken und Gewohnheiten abzureißen und den Schatz, der unter der Ruine zum Vorschein kommt, endlich auszugraben.

Die Weisheit Rumis ist in der englischsprachigen Welt inzwischen so berühmt, dass sich Brad Pitt einen Rumi-Spruch auf den Bizeps tätowieren ließ und Beyoncé einen ihrer Zwillinge Rumi nannte. Allerdings sind die meisten der Verse, die in den letzten Jahren im Westen populär wurden, nicht direkt aus dem Persischen übertragen, sondern Versionen, die auf akademischen Übersetzungen aus dem frühen 20. Jahrhundert basieren. Moderne Rumi-Zitate sind häufig ihrer islamischen Symbolik entledigt. Rumi wurde damit zwar bei einem Riesenpublikum bekannt, verlor jedoch seine spirituellen Wurzeln. Jeder, der sich näher mit Rumi auseinandersetzt, wird schnell erkennen, dass die austauschbaren New-Age-Aphorismen, die heute millionenfach auf Facebook-Wänden unter Rumis Namen kursieren, wenig mit ihrem eigentlichen Urheber zu tun haben.

Das Problem mit der Entislamisierung von Rumi ist, dass wir dem Islam absprechen, jemanden wie Rumi hervorgebracht zu haben. Wir können Rumi nicht in Einklang bringen mit unseren tendenziösen Zerrbildern des Islam, die auf fataler Unkenntnis beruhen. Indem wir ihn zu einem säkularen Humanisten erklären, verschleiern wir den Blick auf den echten Rumi und verbauen uns einen tieferen Zugang zu seinen Lehren, die bis heute von großer Relevanz sind. Gleichzeitig nehmen wir uns die Chance, einen anderen Islam zu entdecken.

Wer war Dschalaluddin Rumi, und was bedeutet er den Menschen im Herzen der islamischen Welt? Über einen Zeitraum von zehn Jahren bin ich in den Spuren von Rumi durch Afghanistan, Iran, Syrien und die Türkei gereist. Dabei lernte ich – mit Rumi als meinem inneren und äußeren Reiseführer – zwischen Kabul und Istanbul eine Geografie kennen, die mir immer mehr zur Heimat wurde.

Den Orten, die ich bereist habe, ist gemein, dass sie bei uns fast ausschließlich schlechte Presse erhalten. Afghanistan verbinden wir seit der erneuten Machtübernahme der Taliban einmal mehr mit Steinzeitfanatismus, Iran mit einem Mullah-Regime, Syrien mit einem fürchterlichen Bürgerkrieg und die Türkei mit dem ungeliebten Erdoğan. Doch so viel Schönes entgeht uns, wenn wir diese Orte nur auf ein paar politische Versatzstücke reduzieren.

Die vier Länder, in denen Rumi geboren, gereist und gereift ist, gehören zu den drei wichtigsten islamischen Kulturräumen – dem persischen, türkischen und arabischen. Über Jahrhunderte waren diese drei Räume eng miteinander verwoben. Sie sind die Heimat einer islamischen Hochkultur, deren spiritueller Nährboden der Sufismus ist. Auf meiner Suche nach Rumi ließ ich mich von der Frage leiten, wie viel von dieser spirituellen Kultur in unserer Zeit noch übrig ist.

Rumi, der in der persischen Welt unter seinem Ehrentitel „Molānā“ oder, türkisch ausgesprochen „Mevlana“ – das bedeutet „unser Meister“ – bekannt ist, kam Anfang des 13. Jahrhunderts in der zentralasiatischen Region Chorasan zur Welt, die lange eine Wiege der Sufi-Gelehrsamkeit war.

Dem Sufitum als Mystik des Islam liegt ein Religionsverständnis zugrunde, das der inneren Entwicklung des Menschen Vorrang einräumt. Sufis entwarfen seit den frühen Jahrhunderten des Islam ausgefeilte Erziehungssysteme, um den Menschen näher zu sich selbst und damit näher zu Gott zu führen – so wie es in einem berühmten Ausspruch des Propheten Mohammed heißt: Wer sich selbst kennt, der kennt seinen Gott.

Rumi vergleicht die Transformation des Menschen mit der Alchemie, jener alten Wissenschaft der Verwandlung von unedlen Metallen in Gold. Zunächst lernt der Alchemielehrling die Theorie des Handwerks von seinem Lehrer oder aus einem Buch. Dieses theoretische Wissen gleicht den Gesetzen der Religion. Doch die eigentliche Anwendung der Theorien im echten Leben findet erst in der Alchemiewerkstatt, auf dem mystischen Pfad, statt. Nicht allein mit religiösen Dogmen und Exerzitien, sondern über spirituelle Erfahrung und eine ins Leben integrierte Mystik kann das Basismetall in unserem Inneren zu Gold werden.

Rumis gesamtes Werk hat letztlich diese Transformation zum Ziel. Jeder Vers soll dem Menschen Gott ins Gedächtnis rufen. Im Zentrum von Rumis Lehre liegt das islamische Einheitsprinzip, das tauhid. Immer wieder erinnert uns Rumi an die Einheit in der Vielfalt; daran, dass jegliche Unterschiede zwischen den Menschen, etwa in Form von Religion, Sprache oder Ethnie, letztlich Manifestationen einer untrennbaren, allem zugrunde liegenden Realität sind.

Daraus ergibt sich nicht nur ein natürlicher Respekt für jegliche Glaubensformen, sondern ein existenzielles Mitgefühl allen Menschen gegenüber. Wenn wir diese Einheit nicht wahrnehmen können, erklärt Rumi, liegt das an unserer mangelhaften Sehfähigkeit. In der Tat „schielen“ wir die meiste Zeit, das heißt wir sehen zwei, wo in Wirklichkeit nur eins besteht.

Die Tatsache, dass Rumi ein tolerantes, offenes Weltbild besaß, sollte uns aber nicht zu dem Schluss führen, dass er seine Religion gegen eine seichte Esoterik eintauschte. Rumi gelangte zu seiner geistigen Größe nicht, indem er den Islam zurückließ, sondern indem er sich in ihn vertiefte. Er ging der inneren Bedeutung seines Glaubens auf den tiefsten Grund.

Wie alle islamischen Kunstformen entwickelte sich auch die Sufi-Dichtung, eines der reichsten Genres spiritueller Literatur, auf Grundlage des Koran. Die sprachliche Ästhetik des heiligen Buches diente Muslimen als Beweis für dessen göttliche Herkunft. Schließlich gilt der Koran als direkte Offenbarung Gottes.

Die persische Sprache eignete sich besonders für spirituelle Dichtung, mit der Mystiker ihre unaussprechlichen Erfahrungen in Worte zu fassen versuchten – sie ist schön, bilderreich, flexibel und äußerst musikalisch. So haben Persischsprechende bis heute Zugang zu einer riesigen Sammlung mystischer Poesie, die ab dem elften Jahrhundert aus der fruchtbaren Heirat des altpersischen Erbes mit dem spirituellen Impuls des Islam entstand.

Rumi dichtete über sechzigtausend Verse, allerdings erst in seiner zweiten Lebenshälfte. Um zum beseelten, erleuchteten Dichter zu werden, musste er zunächst vierzig Lebensjahre lang reifen. Rumi spricht von diesem Reifeprozess als innerer Reise, die zurückführt zu jener Quelle, nach der sich jeder Mensch sehnt.

Es ist dieses Sehnen, das mich auf Rumis Spuren reisen lassen hat. In manchen der Gesellschaften, die ich besuchte, wird Rumi weiterhin von Millionen zelebriert, in anderen ist von ihm nur noch eine vage Erinnerung übrig. Zu sehr wird das Leben vieler Menschen heute von den Mühlen eines globalisierten Kapitalismus bestimmt, als dass sie sich in die Werke eines Mystikers vertiefen würden – oder sie leiden unter den Folgen von Armut und Krieg, die weite Teile der Region im Griff halten.

Auch Rumi lebte in unsicheren Zeiten. Wenige Jahre, nachdem er mit der Familie seine Heimatregion Balch im heutigen Afghanistan verließ, fielen dort die Mongolen ein und rotteten die Kulturen und Bevölkerungen ganzer Landstriche aus. Krieg, Gewalt, Fanatismus und Machtbesessenheit gab es also bereits zu Rumis Zeiten. Schon deshalb sind die Antworten, die Rumi auf die größten Probleme der menschlichen Existenz findet, zeitlos.

Ungeachtet aller schmerzlichen Verluste existieren jedoch auch heute noch Menschen, die bewusst dem Ruf ihrer Seele folgen und unter Rumis Anleitung in sich graben. Von Begegnungen mit solchen Sinnsuchern und Weisheitshütern handelt dieses Buch.

Der Aufbau des Buches folgt chronologisch den Stationen in Rumis Leben, denen ich zwischen 2009 und 2020 nachgereist bin. Dabei springe ich in meinem Erleben zwischen den Jahren; Rumis Biografie jedoch – von seiner Kindheit bis in die Todesnacht – zieht sich wie ein roter Faden durch die Kapitel. Eine Ausnahme ist das fünfte Kapitel, das von einer Stadt erzählt, in der Rumi nie gewesen ist, wo aber sein Erbe bis in die Gegenwart bewahrt wird, meiner Wahlheimat Istanbul.

Trotz ungenauer Datierungen und einer Vermischung von Realität und Heiligenmythos – etwa im Werk von Ahmad Aflaki, Rumis bekanntem Chronisten – habe ich versucht, Rumis Leben so klar wie möglich nachzuerzählen. Ich orientiere mich dabei an Franklin Lewis’ Studie Rumi – Past and Present, East and West (2000), die wichtige Standards in der Rumi-Forschung gesetzt hat.

Doch vielleicht können wir die Fragezeichen in Rumis Biografie auch als Einladung verstehen, nicht auf der Ebene von Fakten stehen zu bleiben, sondern unsere Aufmerksamkeit auf den spirituellen Rumi zu lenken. Der wiederum lädt uns immer wieder ein, unseren hochmütigen Verstand gegen Verwirrung einzutauschen. Denn nur wer verwirrt ist, macht sich auf die Suche nach jener Klarheit und jenem Frieden, die allein aus unserem inneren Schatz entspringen können:

Verkauf deine Klugheit und kaufe Verwirrung! Klugheit ist Meinung, doch Verwirrung ist Vision.

* * *

Anmerkung zum Text:

Bei der Umschrift von Fachbegriffen sowie Orts- und Personennamen aus dem Persischen, Arabischen und Türkischen habe ich in der Regel versucht, jene Variante zu wählen, die einer deutschen Schreibweise am nächsten kommt.

1. Geh über die Form hinausAfghanistan

Jeder, der seinem Ursprung entrissen wurde, sehnt sich die Zeit zurück, in der er mit ihm vereint war.

Balch, Mai 2019

Kaum zu glauben, dass hier einmal eines der wichtigsten Kulturzentren des islamischen Mittelalters gestanden haben soll. Mein erster Eindruck vom Landkreis Balch ist der einer monotonen Einöde, die von der Morgensonne in ein warmes Gelb getaucht wird. Am Horizont kann ich die letzten Ausläufer des Hindukusch ausmachen. Jungen in Pluderhosen und knielangen Hemden sammeln Weizenähren von staubigen Feldern auf, um sie hinterher zu Bündeln zusammenzubinden. Hin und wieder knattert eine weiße Rikscha, bis an den Rand mit Passagieren beladen, über den Asphalt. Pritschenwagen, die Berge von aneinandergeschnürten Plastikkanistern transportieren, rauschen vorbei.

Es geht durch ein neu errichtetes Betontor, dekoriert mit der Aufschrift: „Das glänzende Balch ist der Geburtsort von Moulawi – der Ort, an dem einhundert spirituelle Sonnen aufgehen.“ Unter dem Spruch stehen zwei Männer in Militärkluft. Maschinengewehre baumeln lässig von ihren Schultern. Ich werde durchgewinkt.

„Willkommen in der Stadt von Rumi“ heißt es dann auf einem Schild am Ortseingang von Balch, das mir auf den ersten Blick wie eine unauffällige Kleinstadt erscheint. Bärtige Männer mit Turbanen dominieren das Treiben, das sich um einen zentralen Kreisverkehr abspielt. Manche Verkäufer sperren gerade ihre Läden auf, während Kinder warmes Fladenbrot aus der Backstube holen gehen.

Balch liegt etwa dreißig Kilometer westlich von Masar-e Scharif, jener Großstadt, die lange als Hafen der Stabilität in Nordafghanistan galt. Die meisten Bewohner von Balch sind Paschtunen. Einige von ihnen pflegten, wie ich zuvor hörte, gute Beziehungen zu den Taliban, andere seien der Gruppe sogar selbst zugehörig. Man könne das nie so genau wissen. Zudem möge man hier keine Ausländer. Im Juni 2021, gut zwei Jahre nach meinem Besuch, sollte die Stadt Balch an die Taliban fallen und dann im August kurz vor der Eroberung Kabuls auch Masar-e Scharif.

Etwas unsicher zurre ich meinen erdbraunen perāhan tunban zurecht. Ich will so unauffällig wie möglich erscheinen. Die afghanische Bekleidungskombo aus Pluderhose und einem knielangen Baumwollhemd hatte ich mir im Jahr 2012 auf meiner ersten Afghanistan-Reise schneidern lassen. Ob ich darin wohl einheimisch genug aussehe? Ich ducke mich in den Sitz. Marktstände mit Okraschoten, Auberginen, Zucchini und Tomaten in der Auslage rauschen vorüber, bevor es noch einmal ein paar Kilometer über die Landstraße geht.

Neben einer Bauernsiedlung zweigt eine Sandpiste von der Straße ab, vorbei an einem improvisierten Fußballfeld, auf dem fünf Jungen bolzen. Die Jungs bleiben regungslos stehen und blicken dem Auto hinterher, in dem ich sitze. Der Kleinste in der Gruppe knabbert verlegen am Saum seines schmuddeligen T-Shirts, wobei der Bauchnabel zum Vorschein kommt.

Viele Besucher kommen anscheinend nicht zu der Lehmruine, die umgeben von Weizenfeldern, vertrockneten Büschen und krummen Strommasten in der Landschaft steht. Das Haus, von dem die Afghanen sagen, es sei das Geburtshaus von Rumi, erinnert an einen überdimensionierten Bienenkorb. An den Seiten hat es vier gewölbte Öffnungen. Unter dem bröckelnden Putz sind noch Reihen von Lehmziegeln erkennbar, doch die Dachkuppel ist fast gänzlich eingestürzt.

Ich klettere ins Innere. Der rissige Erdboden ist mit Dornengestrüpp überwuchert. Fliegen umschwirren frischen Viehkot. Mein Blick wandert nach oben. Schäfchenwölkchen ziehen über den blauen Himmel. Für einen Moment weite ich meine Fantasie aus und versuche mir vorzustellen, wie der junge Dschalaluddin Mohammad hier als Kleinkind gelebt haben mag.

Mit Dschalaluddin, dem „Glanz der Religion“, wählten seine Eltern einen geradezu prophetischen Namen. Denn eines Tages sollte Rumi seine Religion, den Islam, in aller Schönheit aufglänzen lassen.

In der Ferne kräht ein Hahn. Auf dem Rückweg fällt mir ein Bauer auf, der unter der sengenden Mittagssonne seiner Arbeit nachgeht. Obwohl wir uns mitten im Ramadan befinden, gräbt er leeren Magens die Erde seines Ackers mit einem hölzernen Handpflug um. Gottvertrauen spornt Gläubige im Fastenmonat manchmal zu erstaunlichen Leistungen an, welche die physischen Grenzen außer Kraft zu setzen scheinen. Vertraust du Gott, so tue dies arbeitend, heißt es in Rumis großem Lehrwerk, dem Masnawi. Zunächst säe, dann verlasse dich auf den Allmächtigen.

„Manda nabaschid!“, rufe ich – mögen Sie nicht ermüden – und bekomme ein warmes Lächeln geschenkt.

Ob der Bauer wohl weiß, wer genau eigentlich dieser Rumi ist, der vor über 800 Jahren neben seinem Acker geboren sein soll? Ich bezweifle es. Warum auch, wenn sich seine Welt auf ein paar Quadratmeter Feldboden beschränkt, mit denen er seine Familie zu ernähren hat – so wie bereits seine Väter und Vorväter.

Existenznot bestimmt das Leben in vielen afghanischen Dörfern und Kleinstädten. Von der korrupten Regierung in Kabul wurde die Landbevölkerung zwanzig Jahre lang vernachlässigt. In vielen Provinzen gerieten Zivilisten im Krieg der Armee gegen die Taliban zwischen die Fronten. In manchen der Gebiete, welche die selbsternannten Gotteskrieger einnahmen, begrüßte das von Unsicherheit zermürbte Volk die neugewonnene Stabilität, auch wenn diese mit einer drakonischen Herrschaft einherging, die mit afghanischen Traditionen wenig gemein hat.

Die langen Konflikte haben Afghanistans Kultur in Mitleidenschaft gezogen. Jahrzehntelang wurde nahezu sämtliche Energie des Landes in die Kriegsführung gesteckt. Für mystische Poesie und spirituelle Bildung blieb wenig übrig. Während Rumi in den USA inzwischen vielen ein Begriff ist, wurde er in Afghanistan zu einem verschütteten Relikt aus besseren Zeiten. Junge Afghanen finden heute nur noch selten Zugang zu seiner Dichtung. Rumis Weisheitslehre – ein Luxus, dem sich nur jene widmen können, die Zeit und Ruhe für ihr Seelenleben finden.

Nach der herkömmlichen Überlieferung wurde Rumi am 30. September 1207 in Balch geboren, weshalb die Afghanen ihn als „Dschalaluddin Balchi“ bezeichnen. Einige Rumi-Forscher sind der Meinung, dass Rumi in einer rund 250 Kilometer nördlich von Balch gelegenen Kleinstadt namens Vachsch das Licht der Welt erblickt habe. Vachsch liegt heute in Tadschikistan, aber gehörte damals zur Kulturregion Balch.

Für meine Suche sind diese Details zweitrangig. Ich bin kein Historiker, sondern möchte mir die „spirituelle Geografie“ Rumis erschließen, also jene Orte, die Rumi in seinen Gedichten anführte oder die bis heute mit seinem Erbe in besonderer Verbindung stehen. Für Rumi sind wichtige islamische Städte wie Samarkand, in der er als Jugendlicher einige Jahre verbrachte, auch Symbole auf der inneren Landkarte des Menschen.

Wurde Rumi in Konya gefragt, von wo er stammte, soll er jedenfalls „aus Balch“ geantwortet haben. Schließlich war Balch damals ein Name, den auch die Menschen im 4000 Kilometer westlich gelegenen Anatolien schon einmal gehört hatten. Bis zum Einfall der Horden Dschengis Khans im Jahr 1221 war Balch eine wohlhabende Großstadt mit prächtigen Gärten, florierenden Basaren und umgeben von einer massiven Stadtmauer – sie ist das Einzige, was heute noch von der alten Zivilisation übrig ist.

Zudem war Balch in vorislamischer Zeit ein wichtiges Zentrum buddhistischen und zoroastrischen Glaubens. Manche europäische Forscher und Mystiker vermuten, dass sich in der Gegend das sagenumwobene buddhistische Schambhala-Königreich befand. Balch gehörte zu Groß-chorasan, einer Region, die weite Teile der alten Seidenstraße umfasste und sich über Zentralasien bis in den östlichen Iran erstreckte. Heute liegt hier das Grenzgebiet von Iran, Afghanistan, Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan.

„Chorasan“ leitet sich ab vom altpersischen Wort für Sonne, chor, und bedeutet so viel wie „das Land, in dem die Sonne aufgeht“. Der Name Chorasan ist in der islamischen Geschichte fast schon ein Synonym für die Mystik, denn über drei Jahrhunderte gediehen hier islamische Spiritualität und Wissenschaft in voller Blüte. Die Region brachte unzählige Feingeister und Heilige hervor, Höhepunkt war die Geburt Rumis. Rumi bezeichnet sich im Fihi Mā Fih („Was drin ist, ist drin“) – einer Sammlung von Mitschriften aus 71 Ansprachen – selbst als „Chorasaner“.

In der chorasanischen Hochkultur waren Erforschung der Seele und Kenntnis der Materie eng miteinander verwoben. Spiritualität und wissenschaftliche Forschung wurden nicht, wie heute, im Widerspruch zueinander betrachtet, sondern waren Ausdruck eines existenziellen Strebens, einer Wahrheitssuche und Entfaltung des menschlichen Potenzials auf dem Nährboden des Islam. Die Chorasaner waren im wahrsten Sinne des Wortes Philosophen, also Liebende der Weisheit.

Davon zeugt etwa das Genie des berühmten Ibn Sina, bei uns bekannt unter seinem latinisierten Namen Avicenna, der in Chorasan die Grundsteine der modernen Medizin legte. Avicenna war auch ein Mystiker, der den Koran im Alter von zehn auswendig gelernt hatte. Verstandeswissen und mystische Erfahrung hielt er für zwei einander ergänzende Erkenntniswege. Al-Biruni, Astronom, Physiker, Geschichtsschreiber und Linguist, lernte Sanskrit und erforschte indische Weisheitslehre, wodurch er Grundlagen für den interspirituellen Dialog schuf. Der Sufi-Dichter Omar Chayyam, in erster Linie bekannt für seine lebensbejahenden Vierzeiler, war gleichzeitig ein begnadeter Mathematiker.

* * *

Im Markt von Balch fläzen sich die Händler lethargisch auf ihren Ständen. Bis zum Fastenbrechen sind noch acht Stunden totzuschlagen. Einheimisches Handwerk gibt es hier schon lange nicht mehr. Verkauft wird stattdessen Billigware aus China und Indien: Küchengefäße aus Plastik und klimpernde Kunststoffarmreife, synthetische Stoffe für Damenbekleidung, Gummilatschen sowie Drogerieartikel und Kosmetika.

Als ich durch die Gassen ziehe, spüre ich, wie misstrauische Blicke an mir kleben. Um mich besser einzufügen, kaufe ich einem Mädchen, das auf einer Decke Kopfbedeckungen feilbietet, eine jener rot bestickten Kappen ab, die viele in der Stadt zu tragen scheinen. Ich bilde mir ein, mit der Kappe auf dem Kopf weniger aufzufallen. Meiner Haut- und Haarfarbe nach zu urteilen könnte ich auch als Nuristani aus den Bergen durchgehen oder gar als Tadschike aus dem Pandschir-Tal.

Der Platz vor der Grünen Moschee von Balch ist wie ausgestorben. Stünde das Bauwerk aus dem 15. Jahrhundert woanders, würde es viele Touristen anziehen. Die Spuren des Krieges sind überall sichtbar: Der obere Teil des iwān, dem gewölbten Eingangsportal der Moschee, ist weggebrochen, und von den blau gefliesten koranischen Versen, welche einst die Ränder zierten, sind nur noch einzelne Buchstaben übrig. Auch das Minarett steht nur noch zur Hälfte. Wie ein abgeschlagener Baumstumpf erinnert es an die irreparablen Schäden, die das afghanische Kulturerbe erlitten hat.

Im Schatten des iwān sitzt ein mittelalter Herr mit Gebetskappe auf einer weißen Baumwolldecke, die Hand auf dem stehenden Knie abgelegt. „Al-mulk l’illah“ steht über seinem Kopf in Mosaikschrift geschrieben, „die Herrschaft ist Gottes“.

Plötzlich erhebt sich der Rastende, faltet seine Decke zusammen, schreitet auf mich zu und beginnt, ohne sich vorzustellen, auf mich einzureden. Wegen des regionalen Akzents kann ich nur wenig verstehen. Das Persisch, welches ich vor sechs Jahren in Teheran gelernt habe, klingt weicher als das afghanische Dari und ist mit französischen Lehnwörtern durchsetzt, auch wenn es abgesehen von kleinen Differenzen im Vokabular dieselbe Sprache ist.

Dennoch gelingt es mir, einige Sätze seines Monologs aufzuschnappen. „Wir sind Muslime. Doch es gibt keinen Islam hier“, schimpft der Mann. „Schau nur in den Park da drüben, wie die Männer die Mädchen anglotzen. Dabei sollte man doch im Ramadan auch mit den Augen fasten! Außerdem haben die Menschen bei uns nichts zu essen. Ich sage dir, die Leute im Westen sind muslimischer als wir.“

Ich schmunzele in mich hinein und gebe nach außen Laute der Zustimmung von mir. Ich bin mir nicht sicher, ob mich der gesprächige Herr als Westler identifiziert hat oder mich für einen afghanischen Touristen hält. Seine Worte erinnern mich an die Klage des Sufi Abul Hasan Fuschandschi aus dem 10. Jahrhundert: „Heute ist der Sufismus ein Name ohne eine Realität, doch früher war er einmal eine Realität ohne Namen.“

Die Vernachlässigung der spirituellen Essenz zugunsten äußerer Formen ist ein Schicksal, das all die großen Religionen ereilt hat. Rumi warnte vor dieser Schieflage, er unterscheidet zwischen der äußeren Form (surat) und ihrem inneren Sinn (ma’nā). In der Religion besteht die äußere Form aus Dogmen und Ritualen, der innere Sinn ist deren tieferer Sinngehalt. Ohne den Sinn erstarrt die äußere Form zur leblosen Hülle.

Die Sufis veranschaulichen dies mit der Walnuss-Metapher: Die Form ist wie die schützende Schale einer Walnuss. Der innere Sinn wiederum ist der Walnusskern, die göttliche Substanz, die allen Formen zugrunde liegt. Was nützt einem die Schale ohne den Kern? Im Masnawi heißt es:

Geh über die Form hinaus, flieh vor den Namen! Flieh vor allen Titeln und Namen, dem Sinn entgegen!