Der Schneegänger - Elisabeth Herrmann - E-Book

Der Schneegänger E-Book

Elisabeth Herrmann

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Beschreibung

Ein kleiner Junge wird entführt – und alle Ermittlungen laufen ins Leere. Vier Jahre später wird sein Skelett im Wald gefunden. Polizeimeisterin Sanela Beara muss dem Vater die schlimme Nachricht überbringen. Doch die Begegnung mit dem gut aussehenden Darko, der in den Wäldern Brandenburgs als Wolfsforscher arbeitet, löst Zweifel in ihr aus: War es wirklich eine Entführung? Oder wurde der Junge aus einfachen Verhältnissen etwa verwechselt? Doch alle Beteiligten schweigen eisern. Für Sanela gibt es nur eine Chance, Licht ins Dunkel zu bringen: Sie schleust sich undercover in die Villa der schwerreichen Familie Reinartz ein, bei der die Mutter des ermordeten Jungen damals gearbeitet hat – und wird hineingezogen in einen Strudel aus Hass, Gier und Verachtung, der sie selbst an ihre äußerste Grenze treibt ...

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Text zum Buch

Ein kleiner Junge wird entführt – und alle Ermittlungen laufen ins Leere. Vier Jahre später wird sein Skelett im Wald gefunden. Polizeimeisterin Sanela Beara muss dem Vater die schlimme Nachricht überbringen. Doch die Begegnung mit dem gut aussehenden Darko, der in den Wäldern Brandenburgs als Wolfsforscher arbeitet, löst Zweifel in ihr aus: War es wirklich eine Entführung? Oder wurde der Junge aus einfachen Verhältnissen etwa verwechselt? Alle Beteiligten schweigen eisern. Für Sanela gibt es nur eine Chance, Licht ins Dunkel zu bringen: Sie schleust sich undercover in die Villa der schwerreichen Familie Reinartz ein, bei der die Mutter des ermordeten Jungen damals gearbeitet hat – und wird hineingezogen in einen Strudel aus Hass, Gier und Verachtung, der sie selbst an ihre äußerste Grenze treibt …

Elisabeth Herrmann

Der Schneegänger

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe Copyright © der Originalausgabe Januar 2015 by Wilhelm Goldmann Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenCovergestaltung: Uno Werbeagentur, MünchenCovermotiv: Dragan Todorovic; Paulo Dias/Trevillion ImagesSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-15506-3V004

www.goldmann-verlag.de

Für Shirin,meine wunderbare Tochter!

Prolog

Ich finde dich. Verlass dich drauf, ich finde dich.

Darko trieb den Pick-up immer tiefer in den Wald. Die Schlaglöcher auf dem holprigen Weg ließen das Scheinwerferlicht über das Dickicht tanzen. Er warf einen Blick in den Rückspiegel – dunkle, umschattete Augen, gehetzter Blick –, der Motor heulte auf, als die Reifen eine morastige Senke durchpflügten. Wütende Verzweiflung ließ ihn viel zu schnell von der Kupplung gehen, der Wagen machte einen Sprung, der Motor ging aus. Hastig drehte er den Zündschlüssel, legte den ersten Gang ein und wollte weiterfahren. Die Reifen drehten durch, eine Schlammfontäne spritzte auf. Der Pick-up saß fest. Er schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad. Alles ging schief, die Zeit lief ihm davon.

Darko stieg aus und zwang sich, ruhig zu bleiben. Kein Grund zur Panik. Er würde zu Fuß weitergehen. Den Wagen hätte er sowieso bald stehen lassen müssen. Er wollte sich anschleichen, den Überraschungsmoment ausnutzen, aber die Zeit wurde knapp. Vielleicht war er nicht schnell genug. Warum jetzt? Verdammt! Warum ausgerechnet jetzt und nicht ein, zwei Kilometer weiter?

Egal wo du bist, ich finde dich.

Er holte sein Handy aus der Tasche seiner Jacke und schaltete es ein. Eine Karte erschien und auf ihr der kleine, pulsierende Punkt. Sein Wegweiser. Der geheime Sender. Er verriet ihm alles. Jede Bewegung, jedes Ziel. Darko hatte geglaubt, mit diesem Sender die totale Kontrolle zu haben. Nun stand er nachts mitten im Wald und musste mit ansehen, wie sie ihm entglitt. Aber es war noch nicht zu spät. Er schaltete die Lichter des Pick-ups aus.

Tiefe samtene Dunkelheit hüllte ihn ein. Er schloss die Augen und wartete darauf, dass die letzten Reflexe auf seinen Pupillen verschwanden. Dass er eins wurde mit der Nacht. Dass er ruhig wurde. Ein Jäger. Fokussiert auf nichts anderes als seine Beute, diesen winzigen glühenden Punkt auf der Landkarte. Das war seine Aufgabe in dieser Nacht, die einzige, die jetzt noch zählte. Er atmete tief durch.

Er roch Laub und feuchte Erde. Alten Farn und frisch geschlagenes Holz.

Bis vor kurzem war es noch warm gewesen. Ein später Altweibersommer, der morgens aus dem Frühnebel stieg und die Steine über Mittag aufheizte, versonnen wie das Lächeln eines alten Mannes, dem der Wind ein paar Takte eines längst vergessenen Liedes zuwehte. Doch seit einigen Tagen war das vorbei, der Wind hatte sich gedreht und kam nun aus dem Osten. Es hatte geregnet, kein sanfter Landregen, sondern eisige, fast wütende Schauer, und nasse gelbe Blätter fielen von den Bäumen, als ob sie sich den letzten Rest des goldenen Oktobers aus den Ästen schütteln wollten. Der Himmel war den ganzen Tag bedeckt gewesen, sodass sich sofort nach Einbruch der Dunkelheit tiefe Nacht über die dünn besiedelte Landschaft gelegt hatte. Nacht, schwarz wie Kohle. Nacht, dicht wie die Einsamkeit, in der er lebte. Nacht, die schwarze Kathedrale, in der man das Rauschen des eigenen Blutes nicht mehr unterscheiden konnte von dem der dichten Wälder.

Nacht, in der er nichts lieber getan hätte, als allein vor seinem Laptop zu sitzen, zufrieden damit, einen Punkt auf der Landkarte zu sehen und nichts anderes zu tun, als ihn zu beobachten … bis sich die Ereignisse überschlagen hatten.

Nun stand er da, das Gewehr in der Hand, spürte sich, sein Fieber, seine Angst, seine Begierde vom Scheitel bis zur Sohle. Er war bereit. Die Jagd konnte beginnen.

Ein leiser, kalter Wind kam auf. Er kroch unter die Plane auf der Ladefläche und hob sie an. Darko vermied es, den Körper anzusehen. Das Blut, das in die Ritzen des Blechs geronnen war, trocknete bereits. Er zwang sich, noch einmal zurückzugehen und die Plane festzuzurren. Vielleicht kam jemand vorbei und wunderte sich über das verlassene Auto auf einem Waldweg. Wunderte sich, was der Wagen geladen hatte, war neugierig, wollte nachsehen … Egal. Er musste das Risiko eingehen.

Keine Zeit. Später.

Er lief los, hinein in die Dunkelheit. Trockene Zweige knackten unter seinen Sohlen. Die Geräusche schienen sich zu vervielfachen, eilten ihm voraus, waren Warnung und Ankündigung zugleich. Er versuchte leiser zu sein, langsamer zu werden. Je tiefer er in den Wald eindrang, desto mehr übertrug sich die Stille auf ihn, ließ ihn ruhiger werden. Er dachte an den toten Körper auf der Ladefläche, und der Zorn loderte in ihm auf. Er dachte an den kleinen grünen Punkt auf der Landkarte, und ein heiserer Schrei der Ohnmacht saß in seiner Kehle, den er nur mühsam unterdrücken konnte. Er dachte an seinen Sohn und an das, was er vorhatte, und für einen Moment glaubte er, seine Füße wollten ihn nicht mehr tragen.

Er wusste, was er tun musste.

Töten … töten, was man liebt.

Die Last des Gewehrs schien zentnerschwer. Darko blieb stehen und musste sich an einem Baum abstützen. Der Wind trieb die Wolken vor sich her, und für einen kurzen Moment schimmerte silbernes Mondlicht durch die kahlen Äste. Wie viel Schuld trug er selbst? Alle. Er war unterwegs, um die Unschuld zu töten.

Ich habe dich großgezogen. Ich habe dich ins Leben begleitet. Es wird so sein, als würde ich mir mein eigenes Herz aus dem Leib schneiden. Es tut mir leid. Entsetzlich leid.

Er sah das Blut an seinen Händen. So viel Tod in einer Nacht. Der raschelnde Wald um ihn herum war das Bühnenbild zu einer Tragödie. Als er sein Telefon noch einmal herausholte, zitterten seine Hände.

Es gibt keine andere Lösung. Vertrau mir. Es wird schnell gehen. Du wirst es gar nicht merken. So oft haben wir uns hier getroffen. Du wirst kommen, mich sehen, und in der Kürze eines Atemzugs wird alles vorbei sein. Frag nicht, warum es so ist. Ich kann dich nicht weiterleben lassen, nicht in dieser Welt. Frag die Welt, nicht mich …

Sie waren nur noch fünfhundert Meter Luftlinie voneinander entfernt.

Er streifte das Gewehr ab und überprüfte den Bolzen. Die Lichtung lag direkt vor ihm. Wenn er daran dachte, wie oft er hier schon mit seinem Sohn gewesen war … aus, aus, vorbei. Nicht daran denken. Das war Vergangenheit.

Er wartete. Es war das Vertrauen, das sein Gegenüber auf die Lichtung locken würde. So oft hatten sie dieses Spiel gespielt. Er kniff die Augen zusammen. Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit. Er spürte, wie ihm eine Träne übers Gesicht lief. Der Körper unter der Plane. Das Blut an seinen Händen. Sein Sohn, der ihm vertraute. Graue Augen in der Nacht, die zu ihm herübersahen und ihn erkannten. Er legte an. Er spannte den Hahn. Er schoss.

Vier Jahre später

1

Die Kälte erwürgte die Stadt.

Verlassen die Boulevards, klirrend die Einsamkeit über den Straßen und Plätzen. Die Schneeberge am Rand der Bürgersteige waren nur mühsam zu erklimmen. Es war noch dunkel, der Schein der Straßenlaterne erhellte kaum die Kreuzung und schon gar nicht die vereisten Spurrillen, in denen die Autos herumschlingerten wie in schlecht ausgehobenen Gleisbetten. Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring rutschte mehrfach aus und hielt sich mühsam balancierend an seinem Wagendach fest, um auf die Fahrerseite zu gelangen. Wie viel Restalkohol hatte er wohl noch im Blut? Seine Mordkommission war in Bereitschaft. Er als ihr Leiter hätte um 05:30 Uhr morgens fit und ausgeschlafen den neuen Unbekanntfall übernehmen sollen.

Stattdessen glitt ihm auch noch der Autoschlüssel aus den klammen Fingern. Die Fahrertür bekam er erst im dritten Anlauf und mit ziemlicher Kraftanstrengung auf. Die Dichtung dankte es ihm mit einem unheilvoll reißenden Geräusch, das an das Öffnen eines Klettverschlusses erinnerte. Endlich hatte er sich hinter das Lenkrad gezwängt, behindert von der dicken Winterkleidung, startete den Motor und lenkte die eiskalte Heizungsluft auf die zugefrorenen Scheiben. Er hoffte, dass ihn niemand bei diesem umweltpolitischen Frevel beobachtete. Sein Handy klingelte. Mühsam wühlte er in der Tasche seines Wintermantels, bis er es gefunden, einmal in den Fußraum fallen gelassen und endlich am Ohr hatte.

»Ja?«, bellte er.

»Ich bin’s.« Die glockenhelle Stimme von Angelika Rohwe klang exakt so, wie er sich eigentlich fühlen sollte.

Seit der Weihnachtsfeier vor sechs Wochen meldete sie sich nicht mehr mit ihrem Namen, wenn sie bei ihm anrief. Ein weiteres Indiz dafür, dass er an jenem Abend eine Grenze überschritten hatte. Sie hatten das Vereinsheim eines Schützenverbandes am Müggelsee gemietet. Es hatte von Anfang an kein guter Stern über diesem Abend gestanden, zumindest nicht für ihn. Die rustikale Enge, eine weit jenseits von Geschmacksdiskussionen liegende Musikauswahl und die Aussicht, in seine halb leere Wohnung mit halb eingepackten Weihnachtsgeschenken zurückzukehren, hatten ihn unvorsichtig werden lassen. Ein trunkener Gang über den Parkplatz weit nach Mitternacht, einer den anderen stützend, ihr keckes Lächeln, als sie seinen Wagen als Erste erreicht hatte, der flüchtige Abschiedskuss, der sich zu einer veritablen Knutscherei ausdehnte, blonde Haare, blaue Augen, Sommersprossen, sogar die Größe kam hin. Beim Aufwachen hatte er sie mit Susanne angesprochen, und bis heute hoffte er inständig, dass sie den Ausrutscher überhört hatte. Er hatte eine Entschuldigung gestammelt und war überstürzt aus ihrer Wohnung geflohen. In stillschweigender Übereinkunft hatten sie diese Nacht nie wieder angesprochen. Doch seitdem meldete Angelika sich mit »Ich bin’s«, und Gehring wusste nicht, wie er sie dazu bringen konnte, das bleibenzulassen. Er wollte sie nicht verletzen, redete er sich seine Feigheit schön.

»Ich muss sowieso über Köpenick. Soll ich dich mitnehmen?«

Gehring erinnerte sich nicht daran, Angelika gegenüber jemals erwähnt zu haben, wo er wohnte.

»Danke. Ich bin schon im Wagen. Bis gleich.«

Er legte auf und sah in den Rückspiegel. Ihm blickte das entgegen, was er im Stillen sein Montag-alle-zwei-Wochen-Gesicht nannte. Das, was von ihm übrig blieb, wenn er die Kinder am Sonntag bei seiner Ex und ihrem Neuen abgeliefert hatte und den Rest des Abends nicht in einer Wohnung verbringen wollte, in der benutzte Müslischalen und zerwühlte Betten Zeugnis ablegten von dem, was im Allgemeinen Umgangsrecht genannt wurde.

Auf seiner rechten Wange klebte noch ein winziges, blutdurchtränktes Stück Toilettenpapier. Nassrasur. Mit steifen Fingern pflückte er es ab.

Im Eis der Scheibe erschien ein dunkles Loch mit verblassenden Rändern. Die Wetterlage versprach als einzigen Trost Beständigkeit: Das Tief lag wie ein Gletscher auf der Polkappe. Es rückte nicht von der Stelle und hielt die Stadt in seinem Klammergriff. Vielleicht ging es noch Wochen so weiter. Gehring schaltete das Licht ein und versuchte, seinen Wagen aus der Parkbucht herauszuzwingen. Nach mehreren Anläufen mit aufheulendem Motor gelang es ihm schließlich. Im Schritttempo fuhr er aus der Wohnstraße auf die breitere, gestreute Köpenicker Landstraße.

Skelettfund im Grunewald. Am anderen Ende der Stadt. Er berechnete die Fahrtzeit mit circa vierzig Minuten und versuchte sich an die mageren Fakten zu erinnern, die man ihm durchgegeben hatte. Schutzpolizei und Kriminaldauerdienst waren schon vor Ort, die Rechtsmedizin und der Tatortfotograf informiert. Vier seiner acht Mitarbeiter befanden sich ebenfalls auf dem Weg Richtung Schildhorn. Um diese Uhrzeit war es besser, das Treffen gleich am Fundort auszumachen. Es würde eine Menge los sein im verschneiten Wald. Er hatte die Pressestelle gebeten, die Meldung so lange zurückzuhalten, bis er sich persönlich ein Bild gemacht hatte. Als sein Navigationsgerät ihn von der Heerstraße auf die Havelchaussee leitete, konnte er am Himmel bereits das fahle Licht der Morgendämmerung erahnen. Im Auto war es warm, und er spürte einen überwältigenden Unwillen bei dem Gedanken, es bald wieder verlassen zu müssen.

Eine Straßensperre. Wütende, graugesichtige Pendler, die auf der engen Fahrbahn wendeten. Blaulicht. Gehring zeigte seinen Ausweis und wurde durchgelassen. Er sah eine Polizistin mit Thermoskanne auf dem Weg zu dem blausilbernen Kleinbus, in dem ein verstörter Mann mit einem Hund saß. Vermutlich der Revierförster. Er parkte ein paar Meter weiter. Erst wollte er an den Fundort. Zwei Kollegen, die Kommissare Manteuffel und Kramer, unterbrachen ihre Unterhaltung und kamen auf ihn zu. Die Begrüßung fiel wohltuend kurz aus. Angelika war noch nicht eingetroffen. Sie beschlossen, nicht zu warten, sondern gleich einem der Männer vom KDD ins Dickicht zu folgen.

Der Wald musste eine majestätische Ruhe ausstrahlen, wenn sie nicht gerade durch die anlaufende Operation einer Mordermittlung gestört wurde. Tiefe Spuren im verharschten Schnee zeugten von regem Wildwechsel. Hasen, Rehe, Wildschweine … Gehring hätte vielleicht die Fährte eines Fuchses von den Abdrücken einer Krähe unterscheiden können, doch zu mehr reichte sein Wissen über die heimische Fauna nicht. Es war so gottverdammt kalt. Glücklicherweise hatte er daran gedacht, zwei Paar Socken und eine lange Unterhose anzuziehen, aber selbst diese Ausstattung reichte nicht. Er spürte, wie seine Wangen taub wurden und die Nasenhaare beim Luftholen knisternd zusammenfroren – es roch nach brennendem Frost, trockenem Schnee und bleichem Licht. Diese Kälte tötete alles, sogar die Gerüche.

Manteuffel, groß, kräftig, auf jeden Fall von der Kondition her besser für diesen ungewöhnlichen Ausflug geeignet als sein schwächelnder Vorgesetzter, fasste zusammen, was bis jetzt bekannt war. Seine sonst dröhnende Stimme klang gedämpft, fast so, als ob sie eine Kirche betreten hätten. Für einen Moment hatte Gehring das Gefühl, in Feindesland einzudringen. Dabei war es nur ein Winterwald. Doch in diesem fahlen Zwielicht kurz vor Morgengrauen wirkte die Umgebung wie eine andere Welt jenseits der großen Stadt. Ehrfurchtgebietend. Einschüchternd. Heilig.

Um 05:22 Uhr hatte der Revierförster Egon Schramm (was um Himmels willen trieb selbst einen Revierförster um diese Uhrzeit an einem Februarmorgen vor die Tür?) einen Notruf abgesetzt. Sein Hund war laut bellend in den Wald gestürmt. Er musste irgendetwas Außergewöhnliches gewittert haben – vermutlich einen Zwölfender, juxte Kramer und lachte. Jedem seiner Witze schickte er ein trockenes Lachen hinterher, als ob er dem dünnen Flachs, den er spann, selbst nicht ganz traute. Kramer war ein zäher, magerer Mann Ende dreißig, der seine frühe Halbglatze damit begründete, dass seine fünf Kinder ihm die Haare vom Kopf fräßen. Fünf Kinder. Als er in Gehrings Team gekommen war, hatte Kramer gleich den ersten seiner brüllend komischen Witze nachgeschoben: Ja, er habe auch noch andere Hobbys.

Egon Schramm, fuhr Manteuffel ungerührt und mäßig erheitert fort, war seinem Hund gefolgt. Quer hinein ins verschneite Dickicht, bis er in einer Senke mit der Ursache des Gebells konfrontiert wurde: einem halb ausgegrabenen menschlichen Schädel.

»Tierfraß?« Gehring hatte das Gefühl, dass sogar seine Kiefer eingefroren wären.

»Haussmann ist schon da«, antwortete Manteuffel mit einem vagen Schulterzucken. Es bedeutete, dass er genauso wenig wusste wie der Leiter seiner Truppe. »Der Boden ist zwanzig, dreißig Zentimeter tief gefroren. Ein Glück, denn es waren wohl schon Tiere dran. Viel können sie im Moment noch nicht sagen, nur dass jemand die Leiche vergraben hat.«

Gehring nickte und stapfte weiter. Damit war die Möglichkeit eines Unfalls oder Suizids ausgeschlossen. Er hätte die Kollegen gerne gefragt, wie lange sie noch durch den Schnee stiefeln mussten, aber er wollte nicht dastehen wie ein Weichei. Die Polizisten an der Straße hatten wattierte Jacken an, Mützen mit Ohrenschützern, dicke Handschuhe und Stiefel, um die er sie trotz der plumpen Hässlichkeit glühend beneidete.

»Da vorne.«

Der Kollege vom KDD blieb so abrupt stehen, dass Gehring fast in ihn hineingelaufen wäre. Schnee stäubte wie Puderzucker von den dürren Zweigen. Mehrere Superlites erhellten die Szene. Hinter Baumstämmen tauchten ab und zu geisterhafte Gestalten in Weiß auf, die Spurensicherung durchkämmte den weiteren Umkreis. Eine Kamera klickte, der Fotograf nickte den Neuankömmlingen kurz zu und machte ihnen Platz. Gehrings Blick wurde vom Mittelpunkt der Szene angezogen, der Plastikplane, die um eine Senke gespannt war. Zwei unförmige Männer in weißen Overalls saßen in der Hocke nebeneinander und begutachteten das, was der Schäferhund kurz zuvor vor den Augen seines verstörten Herrchens schwanzwedelnd ausgescharrt hatte: einen skelettierten Schädel. Einer der Kollegen ließ gerade ein Maßband ins Gehäuse zurückschnurren.

»Guten Morgen.« Gehring nickte zwei weiteren Uniformierten zu.

Zähneklappernd traten sie von einem Fuß auf den anderen und wünschten sich wahrscheinlich nichts sehnlicher, als zurück auf der Wache zu sein. Einer der beiden Männer in der Senke stand auf und drehte sich um. Gehring erkannte Professor Haussmann erst jetzt – in dem prall sitzenden Overall sah der hochgewachsene, schlanke Rechtsmediziner aus wie ein Michelin-Männchen.

»Herr Gehring.« Haussmanns helle Augen, fast unerträglich wach, leuchteten auf. Er hob den Arm zu einem kurzen Gruß, weil er die Handschuhe nicht ausziehen wollte. »Kommen Sie, kommen Sie.«

Manteuffel und Kramer wechselten einen kurzen Blick. Ihnen war nicht entgangen, dass der Rechtsmediziner sich ausschließlich an ihren Chef gewandt hatte.

Der zweite Mann in der Senke richtete sich nun ebenfalls auf und war … eine Frau: Dörte Kapelnik von der Spurensicherung. Die tief ins Gesicht gezogene Wollmütze reichte ihr fast bis an die weiße Nasenspitze, und auch ihre Gestalt hatte durch die Schutzkleidung eine unförmige Kompaktheit bekommen. Kleine haselnussbraune Augen musterten ihn nicht ganz so wohlwollend wie Haussmann. Das mochte an der Kälte liegen oder daran, dass er sie gestört hatte, oder vielleicht auch an dem, was sie gerade entdeckt hatten. Ihr Gesicht war vom Frost gerötet. Gehring bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sowohl der Folienkoffer als auch der »Chemiebaukasten« noch geschlossen waren. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie entweder noch gar nicht richtig angefangen hatten oder es im Moment nicht viel zu bergen gab. Die Asservatentüten sahen ebenfalls relativ übersichtlich aus. Vielleicht würden sie mit Generatoren und Heizgebläsen anrücken müssen oder gleich mit Schneidfräsen, um einen Block aus der tiefgefrorenen Erde zu schneiden.

»Skelettierte Leiche eines schätzungsweise acht- bis zehnjährigen Kindes. Ein Junge. Er war einen halben Meter tief vergraben. Tierspuren, vermutlich Füchse. Obere Erdschicht aufgewühlt und zum Teil abgetragen. Der strenge Frost hat eine weitere Offenlegung verhindert.«

Haussmann sah kurz zu der Senke, Gehring folgte seinem Blick. Schnee, gesprenkelt mit Laub und Erde, mehr nicht. Aber die Superlites blendeten, und Gehrings Augen tränten plötzlich, weshalb er sich mit dem Handrücken darüberwischen musste.

»Der Förster wartet im Bus an der Straße. Wenn Sie hier fertig sind, würden wir mit der Bergung beginnen.«

In Gehrings Magen rumorte es. Manteuffel und Kramer kamen näher. Der Kommissar spürte, dass sich gerade etwas veränderte. Da unten lag ein Kind. Erst jetzt erkannte er einzelne Teile des Skeletts, die aus der Erde ragten. Brustkorb, Becken, Oberschenkel, zum Teil bedeckt von Kleidungsfetzen.

»Wie … Also, können Sie mir Näheres über die Todesumstände sagen?«

Kapelnik, etwas kleiner als Gehring und trotz ihrer einengenden Kleidung wesentlich gewandter, nickte. Haussmann trat einen Schritt zur Seite, um dem Kriminalhauptkommissar den Vortritt zu lassen. Die Frau mit dem ernsten Gesicht steckte mit ziemlicher Mühe eine Nummerntafel neben den Schädel, in dem hinter dem Schläfenbein ein zwei Zentimeter großes Loch klaffte.

»Umschriebener lochartiger Bruch, nach erstem Dafürhalten vital, nicht postmortal«, erklärte Haussmann. »Ich vermute so etwas wie ein Baumarkthammer.«

»Keine Bisse? Verletzungen durch Tiere?«, murmelte Gehring.

Die letzte absurde Hoffnung auf etwas anderes als Mord verflog. Was hatte er denn geglaubt? Dass jemand den Grunewald mit einem Friedhof verwechselt hatte? Er ging in die Knie. Haussmann und Kapelnik hatten vorsichtig begonnen, das Skelett freizulegen. Ein Teil befand sich immer noch unter der krümeligen, gefrorenen Erde.

»Post mortem, ja. Einige Kratzer an der Schädeldecke, vermutlich Füchse. Wir haben schon Fotos von den Spuren ringsherum gemacht. Die meisten stammen wohl vom Schäferhund des Försters.« Kapelnik war eine der Erfahrensten und Ruhigsten unter den Kollegen. Umso erstaunter war Gehring, dass ihre Stimme leicht zitterte. »Für mich sieht das nicht nach dem Tatort aus.«

»Warum nicht?«, fragte er und blickte sich um.

Die Straße war nah genug, um nach vollbrachter Tat schnell zu fliehen, die Senke bot zu allen Jahreszeiten genügend Schutz vor neugierigen Blicken. Wer brachte ein Kind im Wald um? Was hatte der Täter ihm zuvor angetan? Er wappnete sich, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Aber nicht jetzt. Jetzt war es wichtig, sich alles einzuprägen. Die Lage des Skeletts. Die Umgebung. Das Gefühl beim Betreten des Leichenfundortes. Fass es in ein Wort. Der Letzte, der dieses Kind lebend gesehen hat, ist sein Mörder. Hier liegt das Zeugnis seiner Tat. Und wir sind die Ersten, die den Ort dieses schrecklichen Geheimnisses wieder betreten. Dies ist der Moment, in dem wir einander so nah sind wie nie. Der Mörder und die Jäger. Was hast du zurückgelassen? Was hast du gefühlt, als du dich zum letzten Mal umgedreht und in diese Senke geblickt hast?

Kälte, schoss es ihm durch den Kopf. Eine entsetzliche, bittere Kälte. Sie schien ihm wie ein Menetekel der Tat.

Kapelnik nahm einen Pinsel und strich vorsichtig über das Schläfenbein des Schädels. »Er liegt auf dem Rücken. Mit dieser schrecklichen Wunde im Kopf. Er ist nicht gefallen. Er wurde hier hineingeworfen.«

Gehring hörte einen leisen, unterdrückten Seufzer von Haussmann. Der Rechtsmediziner hatte ihm einmal anvertraut, dass ihn trotz aller Routine getötete Kinder immer noch aus der Fassung brachten.

»Natürlich kann der Täter das Opfer auch gezwungen haben, sein eigenes Grab zu schaufeln.« Haussmann zog das Maßband zwanzig Zentimeter aus seinem Gehäuse und ließ es zurückschnalzen.

Bei dem Geräusch zuckte Gehring zusammen. Haussmann und Kapelnik fiel es gar nicht mehr auf.

»Wann?«, fragte Gehring. Bei Kapelnik war es die Stimme, bei Haussmann der Atem, bei ihm der Magen. Er hätte wenigstens eine Kleinigkeit frühstücken sollen. Nein, besser nicht.

Haussmann zog die Schultern hoch. Zumindest versuchte er es. »Unter den üblichen Vorbehalten und wenn wir davon ausgehen, dass der Junge die ganze Zeit über hier gelegen hat, nehmen Sie eine Zeitspanne von nicht unter drei Jahren.«

Wie viele Jungen in dem Alter blieben so lange vermisst? Nicht viele. Natürlich konnte es auch ein nicht gemeldetes Kind sein, eines, das offiziell nie in die Bundesrepublik eingereist war.

»Was ist das?« Gehring deutete auf einen Stoffrest, dunkelblau, mit einem etwas heller schimmernden kleinen Emblem.

»Ein Pullover. Pullover, Jeans, Stiefel.« Aus der Erde ragte der Schaft eines braunen Lederboots. »Keine Jacke. Bis jetzt nicht. Aber wir haben ja noch gar nicht richtig angefangen.«

Der Stiefel war aus echtem, robustem Leder, gefüttert mit etwas, das wie Kunstfell aussah. Das Kind war nicht im Hochsommer gestorben. Der Pullover schien aus dicker, wärmender Wolle gestrickt zu sein. Gehring kannte das Emblem. Es gehörte zu einer angesagten amerikanischen Sportmodefirma, die ihre Massenware einzig und allein durch den Preis exklusiv machte. Solche Kleidung trug kein Flüchtlingskind. Der Junge war nach bundesrepublikanischen Maßstäben leicht überdurchschnittlich gut gekleidet. Eine Ahnung breitete sich in ihm aus.

Aber Haussmann war noch nicht fertig. Er deutete mit seinem Pinsel auf das Gebiss des kleinen Schädels. »Sehen Sie das?«

Gehring beugte sich vor, schüttelte dann den Kopf.

»Die Zähne. Erkennen Sie den Farbunterschied? In der Pathologie kann ich es Ihnen genauer zeigen. Der Junge hat eine Klebebrücke getragen.«

Die beiden oberen Schneidezähne sahen heller aus als der Rest. Während Witterungseinflüsse und Erosion den Zahnschmelz des natürlichen Gebisses angegriffen hatten, strahlten diese beiden Zähne in einem fast unnatürlichen Weiß.

»Man setzt eine solche Brücke ein, wenn das Kieferwachstum noch nicht abgeschlossen ist. Später wird sie meist durch Implantate ersetzt. Der Junge hat die oberen Schneidezähne verloren, und zwar nach der Diphyodontie.«

»Der … was?«

»Dem Zahnwechsel. Er hat seine bleibenden zweiten Schneidezähne verloren. Ich vermute, durch einen Unfall, denn sein Gebiss sieht ansonsten einwandfrei aus.«

Gehring nickte. Einwandfrei hätte er in diesem Fall nicht gesagt. Er wandte den Blick ab von der schwarzen Erde und den Geweberesten rund um das, was einmal ein fröhlicher, lachender Mund gewesen war.

»Vielleicht können Sie ihn so schneller identifizieren.« Haussmann stand auf und gab damit das Zeichen, dass er jetzt gerne weiterarbeiten würde.

Gehring kam nur mit Mühe auf die Beine. Er war fit, trainiert. Warum nur hatte er dann das Gefühl, an diesem schändlichen kleinen Grab keine Kräfte mehr zu haben?

Dörte Kapelnik schenkte ihm ein, wie sie wohl glaubte, aufmunterndes Lächeln. Es wirkte in ihrem frostroten Gesicht wie eine Maske. »Sie haben Kaffee im Wagen.«

»Danke.«

Er drehte sich um und stapfte zurück zu seinen Kollegen.

Bevor er den Mund öffnete, holte er tief Luft. Der Frost brannte in seiner Lunge. »Wahrscheinlich ein Junge. Etwa neun Jahre alt. Seit mindestens drei Jahren tot.« Dabei sah er Manteuffel an, weil Kramer noch nicht so lange bei ihnen war.

Der bullige Polizist verzog keine Miene. »Abwarten«, brummte er.

Gehring nickte. Doch er hatte in Manteuffels Augen etwas aufblitzen sehen. Eine Erinnerung. Einen Zusammenhang. Eine Erkenntnis.

Wenn man seinen Beteuerungen glauben wollte, kannte Egon Schramm selbst den letzten Eichelhäher noch mit Namen. Kriminalkommissarin Angelika Rohwe, mittlerweile eingetroffen, war bei ihm und zog die Schiebetür des Vans hinter Gehring wieder zu. Sie schenkte ihrem Chef ein strahlendes, frisch gewaschenes Lächeln, das er mit einem knappen Nicken beantwortete. Wie immer seit Weihnachten, wenn sie beide in einem Raum waren, meinte Gehring, eine leise Anspannung zu spüren. Er bat den Revierförster, sich in seinen Ausführungen nicht stören zu lassen und fortzufahren.

»Dann hat meine Rita angeschlagen. Ich sag noch, bei Fuß, aber sie war die ganze Zeit schon so nervös. Das liegt an den Wölfen, die ja jetzt wieder überall rumstreunen dürfen. In so einem Winter kommen sie bis an die Stadtgrenze.« Grimmig verzog er das Gesicht und wartete darauf, dass man ihm zustimmte. »Irgendwas war da. Meine Rita spurt sonst wie eine Eins. Aber heute …«

Schramm trank schlürfend den letzten Schluck Kaffee. Er hatte die ganze Thermoskanne geleert, was Gehring ihm übel nahm. Ansonsten schien er ein korrekter Forstbeamter zu sein, in Loden, gewalkter Wolle und eingefetteten Stiefeln unterwegs, Ende fünfzig, von der Kraft und Statur eines Mannes, der sich den größten Teil seines Lebens in der Natur aufgehalten hatte, aber mit einem seltsam leeren, leicht abwesenden Ausdruck auf dem kantigen Gesicht. Seine Stimme klang etwas zu laut. Seine breiten Hände ruhten etwas zu selbstbewusst auf seinen Knien. Er würde niemals zugeben, unter Schock zu stehen, weil es diesen Gemütszustand bei Männern seines Schlages schlicht nicht gab.

»Heute hat sie erst gebellt, als ob sie etwas gestellt hätte, und dann ist sie einfach losgerannt.«

»Was hat sie gewittert? Ein Tier? Einen Menschen?«, fragte Angelika und notierte etwas auf ihrem Klemmbrett. Wenn sie Gehrings angespannte Stimmung spürte, so ließ sie es sich nicht anmerken.

»Weiß ich nicht.« Der Jäger tätschelte den Kopf seiner Schäferhündin.

Rita lag zu Schramms Füßen, was die Befragung in der Enge des Wagens noch unangenehmer machte. Die Standheizung lief auf vollen Touren, trotzdem hatte Gehring lediglich die Handschuhe ausgezogen. Nach der Kälte draußen am Fundort und dem Marsch durch den Wald war ihm in der stickigen Enge des Wagens nur noch heiß. Und schlecht. In seinem Kopf spukte etwas herum, dem er gerne in einer ruhigeren Minute als dieser nachgegangen wäre. Aber dieser Schramm war ein Mensch, der sogar schweigend dröhnte.

»Ist ja ein kluges Mädchen, die Rita. Aber reden kann sie noch nicht.« Schramms nervöses Lachen erstickte noch im Ansatz, als er in Gehrings müdes Gesicht blickte. »Entschuldigung. Keine Ahnung. Ein Tier, nehme ich mal an. Irgendwas, das ihr nicht alle Tage vor die Nase läuft. Kein Mensch. Menschen geht sie nicht an. Was, meine Süße?«

Wieder ein Tätscheln. Rita schüttelte den Kopf und sabberte Gehrings Stiefel voll.

»Also ein Tier.« Gehring kapitulierte vor der Mühsal und der Sinnlosigkeit dieser Befragung.

Mehrere Jahre hatte die Leiche eines Kindes keinen halben Meter unter der Erde im Wald gelegen. Der Mann hatte nichts gesehen, nichts gehört, hatte noch nicht einmal seinen Hund im Griff und war nur durch Zufall über den Schädel gestolpert. Das hätte er auch einem der Polizisten da draußen erzählen können. Gehring öffnete die Tür und stieg aus. Er wusste, dass er auf der Suche nach jemandem war, dem er die Schuld an seinem Ärger und seiner Resignation zuschieben konnte, und Schramm hätte sich hervorragend dafür geeignet.

»War’s das schon?«

»Ja. Ihre Personalien haben wir. Nehmen Sie sich den Tag frei.«

Schramm schüttelte den Kopf. Diese Möglichkeit schien ihm nicht in den Sinn zu kommen. Angelika verabschiedete sich etwas höflicher und besaß die Geistesgegenwart, ihn aus dem Van zu bitten, sonst hätte er gegen Mittag womöglich noch nach Streuselkuchen verlangt. Kopfschüttelnd stapfte der Förster davon. Erst jetzt bemerkte Gehring, dass der Mann ein Gewehr bei sich trug.

»Und?«, fragte Angelika. Die Munterkeit in ihrer Stimme verursachte ihm Kopfschmerzen. Es war kurz nach acht, und er hatte immer noch keinen Kaffee.

»Wir warten noch die Drohne ab. Besprechung um zehn, bis dahin müssten zumindest die ersten Ergebnisse der Spurensicherung vorliegen. Gibt es irgendwo noch Kaffee?«

»Ich frag mal nach.«

Sie stürmte davon in Richtung Absperrband und hinterließ, nach all ihrer unerträglichen Munterkeit, um Gehring herum ein Vakuum. Kramer und Manteuffel waren schon auf dem Weg zu ihrem Wagen. Gehring holte sie gerade noch ein und erteilte ihnen den Auftrag, den Rest der Truppe in der Sedanstraße zusammenzutrommeln, dann setzte er sich in sein Auto und schaltete die Standheizung an, um auf den Staatsanwalt zu warten. Er überlegte einen Moment. Schließlich griff er zu seinem Handy und wählte eine Nummer. Wie zu erwarten, ging sie um diese Uhrzeit nicht an den Apparat. Die Computerstimme des Anrufbeantworters ratterte die Telefonnummer herunter und forderte ihn auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Gehring räusperte sich kurz, weil seine Stimme belegt war.

»Guten Morgen, Frau Schwab. Ich bräuchte mal das Retent der Akte Darijo Tudor. Fragen Sie auch beim Sachgebiet Sonderermittlung nach. Gut möglich, dass der Fall mittlerweile dort gelandet ist. Erpresserischer Menschenraub, vielleicht erinnern Sie sich noch daran. Ich befürchte …« Er stockte und überlegte, ob er einer Untergebenen seine Befürchtungen mitteilen sollte. Dann fuhr er fort: »Kommen Sie um zehn zur Lage, wenn Sie es einrichten können.«

2

Gerlinde Schwab kam natürlich nicht um zehn, sondern erst eine halbe Stunde später. Ihr vorsichtiges Klopfen unterbrach Manteuffel, der gerade hinter den hufeisenförmig zusammengeschobenen Tischen stand und die Fotos vom Fundort erläuterte.

Alle wandten die Köpfe zur Tür. Als sie die übergewichtige Frau mit dem gestressten Gesichtsausdruck erkannten, drehten sie sich wieder zurück zu ihrem Kollegen. Angelika neigte sich zu Kramer und flüsterte ihm etwas zu. Sie grinste flüchtig.

Wahrscheinlich ein Scherz über Schwabs BMI oder die Vielzahl ihrer Beschwerden, mit denen sie ihren Kollegen auf die Nerven fiel, weil sie stets ausufernd und larmoyant vorgetragen wurden. Gehring wusste, dass Gerlinde Schwab sich seit einiger Zeit bemühte, ihr Gewicht etwas zu verringern. Er schätzte sie seit dem Moment, in dem sie sich entschlossen hatte, ihm als Vorgesetztem zu folgen und sich nicht länger zu verweigern. Sie hatte sich als eine verschwiegene, loyale, herausragende Mitarbeiterin erwiesen, die mit ihrer Exaktheit und Akribie genau am richtigen Platz saß – in der Aktenführung. Schwab selbst sah das natürlich anders.

Auch jetzt machte sie eine Miene, als hätte man sie zu einer komplizierten Wurzelbehandlung beim Zahnarzt gezwungen. Erst als sie im Halbdunkel der zugezogenen Vorhänge Gehring entdeckte, huschte ein erkennender Gruß über ihre weichen, stets etwas leidend wirkenden Züge. Zu einem Lächeln vor aller Augen konnte sie sich nicht durchringen. So unauffällig, wie es ihre Leibesfülle zuließ, drückte sie sich zwischen Wand und Stuhlreihe zu ihm durch. Gehring entging nicht, dass niemand die Höflichkeit hatte, wenigstens andeutungsweise ein paar Zentimeter näher an den Tisch zu rücken. Allein Dörte Kapelnik nickte der Kollegin freundlich zu. Als Gerlinde Schwab den freien Platz neben ihm erreichte, auf dem Manteuffel gesessen hatte, ließ sie sich auf den Stuhl sinken und schob Gehring ohne ein Wort das Retent zu – die Aktenkopie des Falls Darijo Tudor, deren Original bei der Staatsanwaltschaft lag und dort bis zur Verjährung oder Lösung des Falls auch bleiben würde.

»Danke«, flüsterte er.

Die Schwab nickte schnaufend. Sie roch nach Eau de Cologne und dem Desinfektionsmittel, das seit Neuestem überall in den Gängen und auf den Toiletten bereitstand.

Manteuffel ging gerade auf die Kleidungsreste ein, und Gehrings Truppe lauschte wieder aufmerksam. Das eine oder andere Mal warfen sich zwei Beamte vielsagende Blicke zu. Offenbar war er nicht allein mit seiner Ahnung. Die Älteren konnten sich noch gut an den Fall erinnern. Wenn Haussmann bestätigte, dass es sich bei dem Jungen aus dem Grunewald um Darijo Tudor handelte, dann hatten sie nicht nur einen der spektakulärsten Entführungsfälle der letzten Jahre wieder auf dem Tisch, sondern auch die Geschichte eines schmerzlichen und von niemandem richtig verwundenen Scheiterns.

»Ist er das?«, flüsterte Gerlinde Schwab. Manteuffel zeigte noch einmal eine Totale der Senke. Das halb ausgegrabene Skelett war gut zu erkennen. »Das war Ihr Fall. Einer der ersten, nicht wahr? Und jetzt bekommen ausgerechnet Sie ihn wieder auf den Tisch.«

Gehring schwieg. Dann zog er die Aktenkopie zu sich heran, öffnete sie und betrachtete das Foto von Darijo Tudor. Ein schmaler, sommersprossiger Junge, der viel zu ernst in die Kamera blickte. Das Bild war ein Passfoto, der Kleine war gestriegelt und geschrubbt worden, kein Härchen lag falsch, und der Blick aus seinen braunen Augen war abwartend und aufmerksam. Kein Lächeln, biometrisch einwandfrei. Klick. Das war’s auch schon. Der Nächste bitte. War er danach aufgesprungen und nach draußen gestürmt? Oder hatte er schüchtern zu seinen Eltern hinübergesehen und darauf gewartet, dass sie ihm das Aufstehen gestatteten?

Er blätterte weiter zu der Vermisstenanzeige, die am Morgen kurz vor dem ersten und einzigen Erpresseranruf aufgenommen worden war. Dunkelblauer Pullover, Jeans, Stiefel. 1,40 Meter groß, schmächtig … Alles passte. Nur eines nicht: Der Junge hatte einen schwarzen Anorak getragen.

An der Wand erschien nun das Foto des Schädels. Obwohl Gehring darauf vorbereitet war, traf ihn der Anblick dieser Metamorphose mitten in die Magengrube. Vom ernsten Gesicht des Kindes war bloß ein Totenschädel übrig geblieben, verkrustet von schwarzer Erde. Manteuffel erläuterte die Lage und die ersten Erkenntnisse, dass Fundort und Tatort höchstwahrscheinlich nicht identisch waren. Der Mörder hatte den Jungen im Wald verscharrt, Jahre waren ins Land gegangen, und wenn er damals irgendwelche Spuren hinterlassen hatte, so war davon zumindest vor Ort nichts mehr zu finden gewesen.

Bevor Manteuffel sich dem lochartigen Bruch und der vermutlichen Tatwaffe zuwandte, vertiefte sich Gehring wieder in die Akte. Das Opfer – er mochte dieses Wort nicht, es machte die Tat zu passiv erduldetem Leid –, der Junge also, Sohn eines Biologen und einer Hauswirtschafterin, war am 10. Oktober 2010 vermisst gemeldet worden. Die Schuld an seinem Verschwinden hatten sich zunächst die Eltern gegeben, und zwar gegenseitig. Bis ein Lösegeldanruf beim Arbeitgeber der Mutter eingegangen war, aus irgendeinem Internetcafé am Kurfürstendamm. Mit verstellter Stimme war eine Million Lösegeld gefordert worden, die die Eltern nie im Leben aufbringen konnten.

Wir haben den Jungen. Keine Polizei. Sie haben vierundzwanzig Stunden. Dann ist er tot.

Gehring erinnerte sich an die Wohnung der Tudors in einem ehemaligen Kutscherhaus in Wannsee. Es stand auf demselben Grundstück wie die Villa des Besitzers, wirkte jedoch im Vergleich zu dem herrschaftlichen Anwesen ziemlich heruntergekommen. Die ehemaligen Ställe im Erdgeschoss waren inzwischen Garagen. Die drei Räume darüber mussten früher einmal den Stallmeister beherbergt haben. Nun wohnten die Tudors dort. In seiner Freizeit half Darko im Garten, Lida hatte wohl einen Vierundzwanzig-Stunden-Job, der neben Putzen, Kochen und Bügeln auch die Verwaltung des Herrschaftshaushaltes umfasste. Eine ziemlich verantwortungsvolle Aufgabe, wie Gehring fand, und eine, die Vertrauen voraussetzte. Er würde jemanden, der für das Wohl seiner Familie zuständig wäre, anders unterbringen. Die schmale Treppe war nachträglich an die linke Außenwand des Häuschens angebaut worden, ohne schützende Wände, der Außenputz rieselte und bildete an vielen Stellen Salpeterausblühungen. Eine uralte, einfache Holztür, abgetretenes braunes Linoleum im Flur. Aber es war warm gewesen, sauber und ordentlich, sehr eng, sehr einfach, mit einem typischen unaufgeräumten Kinderzimmer, für das sich die Mutter unentwegt entschuldigte.

Lida. Eigentlich Lidija Tudor. In Kleidung und Auftreten war sie unscheinbar, fast schüchtern. Doch dann veränderte sich sein Eindruck. Vielleicht war es die Art, wie sie sprach: ein beinahe perfektes Deutsch, an den Endungen zu weichen Vokalen abgerundet. Vermutlich der letzte Rest des donauschwäbischen Dialekts, mit dem sie in ihrer Heimat Kontakt gehabt haben musste oder der in ihrer Familie noch gesprochen wurde. Dazu ein fast katzenhafter, leiser Gang. Ihre geschmeidige Art. Die eleganten Bewegungen, mit denen sie so profane Handgriffe wie das Hinstellen einer Tasse adelte. Von dieser Frau ging eine verstörende, subtile Anziehungskraft aus, die den Beschützerinstinkt weckte. Sie war Anfang dreißig, sehr schlank, fast grazil, mädchenhaft mit ihren schulterlangen braunen Haaren und von einer unbeabsichtigt wirkenden Sinnlichkeit. Dunkle, etwas schräge Augen, volle Lippen. Er erinnerte sich sogar daran, dass sie einen abgetragenen Pullover mit einem Polo-Ausschnitt übergeworfen hatte, der vielleicht einen Knopf zu weit geöffnet war. Als sie sich vorgebeugt hatte, um ihm eine Tasse Tee einzuschenken, war sein Blick auf den Ansatz ihrer Brüste gefallen, verdeckt von einem Hauch Spitze und Seide. Sie trug teure Unterwäsche unter alter Kleidung. In diesem Augenblick erkannte er, dass diese Frau sich ihrer Wirkung auf andere sehr wohl bewusst war.

Darko, ihr Mann. Darijos Vater. Hatte er Gehrings Blick bemerkt? Groß, dunkel, wortkarg. Selten hatte ein Name besser zu seinem Träger gepasst. Nichts Weiches in der Stimme, die so hart und schroff war wie er selbst. Mit zweiunddreißig war er zwei Jahre älter als seine Frau, aber man hätte ihn durchaus auch auf Anfang vierzig schätzen können. Stoppelkurze braune Haare, breite, wahrscheinlich einmal gebrochene Nase, schmaler Mund, kantiges Kinn. Rote, entzündete Augen. Ein unberechenbarer, aufbrausender Typ, der im Laufe der Ermittlungen immer aggressiver und lauter geworden war, der nicht begreifen wollte, dass sie alles Menschenmögliche unternommen hatten, um den Jungen zu finden. Er hatte den Chef seiner Frau tätlich angegriffen und einmal nachts versucht, in dessen Haus einzudringen. Schwer alkoholisiert, musste er von Polizisten abgeführt werden. Selbst die erfahrenen Beamten hatten ihre Not gehabt, ihn zu bändigen. »Er war’s!«, hatte er gebrüllt. »Er ist schuld!«

Mit »er« war Lidas Chef gemeint, Dr. Günter Reinartz. Nur einen Steinwurf entfernt von dem Kutscherhaus residierte er in seiner Villa wie auf einem anderen Stern. Mitte fünfzig, groß, kräftig, mit seinem dichten, schulterlangen Haar und der randlosen Brille der Typ hemdsärmeliger Intellektueller, den seine Studentinnen anhimmelten. Lehrauftrag für Baustofftechnik an der TU. Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Einer, der Ochsen am Spieß braten konnte und sie anschließend auf Tafelsilber servierte. Sehr zuvorkommend, um Aufklärung bemüht, sogar mit einem gewissen Verständnis, was Darkos Übergriff und dessen wüste Verwünschungen betraf. Einer, der sich für humanistisch hielt und zu wissen glaubte, wie die Menschen ticken. Gehring erinnerte sich, dass er Günter Reinartz nicht gemocht hatte. Er hatte dem Mann dieses verständnisvolle Getue nicht abgekauft. Erst recht nicht, nachdem er die Vorgeschichte erfahren hatte.

Reinartz hatte den amerikanischen Traum verwirklicht: vom Glaser zum Millionär. Erst solide handwerkliche Ausbildung im Mariendorfer Geschäft seines Vaters, dann Ausbau der Glaserei zum Zulieferbetrieb der boomenden Nachwendemetropole Berlin. Mittlerweile stattete Reinartz nicht nur Regierungsgebäude mit schusssicheren Fenstern aus, er hatte auch ein neues Beschichtungssystem für Schienenfahrzeuge und Busse erfunden und sich damit quasi eine Monopolstellung gesichert. An irgendeiner transsilvanischen Universität hatte er seinen Doktor gemacht, den bis heute niemand ernsthaft unter die Lupe genommen hatte. Er war ein gern gesehener Gast diverser Talkshows, in denen er wirtschaftsliberale und angebotspolitische Thesen verbreiten durfte, was ihm auf Gewerkschaftsseite nicht gerade Freunde bescherte. Verheiratet war Reinartz mit … Gehring blätterte weiter … Eva, einer geborenen Pollinger, die er damals nur am Rande wahrgenommen hatte. Vermutlich weil sie wie alles andere von der Physis ihres Mannes an die Wand gedrückt wurde.

Und dann war Darijo entführt worden, und der Erpresseranruf war nicht bei den Eltern, sondern bei Reinartz eingegangen. Gehring erinnerte sich noch gut, wie eifrig der Mann ihn darauf hingewiesen hatte, dass es sich um eine Verwechslung handeln könnte. Wie er Personen- und Objektschutz verlangt hatte, wie er sich plötzlich aufgeschwungen hatte zum Fürsprecher der Tudors, die, von den Ereignissen völlig überrollt, nicht mehr aus noch ein wussten. Darko, der Vater, rastete aus. Lida, die Mutter, erlitt einen Nervenzusammenbruch.

Eine Verwechslung, konnte das wirklich sein? Reinartz hatte zwei Söhne, einer ungefähr im gleichen Alter wie das Entführungsopfer. Alle drei Jungen, die beiden reichen und der arme, hatten auf einem Grundstück gelebt. Aber warum waren dann die Stunden dahingegangen, die Tage, die Wochen, die Monate, und kein weiterer Anruf war erfolgt? Reinartz hatte sogar angeboten, das Lösegeld zu zahlen. In der Abendschau des RBB hatte er sich an die Entführer gewandt, gemeinsam mit der in Tränen aufgelösten Mutter.

Gehring war bei der Aufzeichnung dabei gewesen. Er hatte sie in doppelter Hinsicht als Tiefpunkt empfunden. Zum einen, weil sein Versagen damit nicht öffentlicher gemacht werden konnte, zum anderen, weil für einen bitteren Moment sein Hass auf Reinartz ins Unermessliche gestiegen war. Der hatte sich anschließend den Puder aus dem Gesicht gewischt und war auf den Jahresempfang der IHK geeilt, wo er sich den Pressefotografen als Vorzeigechef präsentieren konnte, der für das Glück selbst der geringsten seiner Untergebenen eine Million aus der Portokasse spendierte.

Gehring atmete tief durch. Die Erinnerung wütete wie ein Messer in seinem Bauch. Er brauchte einen Moment, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Er blätterte weiter, überflog die Zeugenaussagen, die Vernehmungen, die Protokolle, all das, was letzten Endes die Machtlosigkeit eines ins Leere gelaufenen gigantischen Apparates demonstrierte. Sie hatten Darijo nicht gefunden. Die Entführer mussten den Irrtum bemerkt haben, denn sie ließen die Million Million sein und nie wieder etwas von sich hören.

Reinartz selbst, das musste Gehring widerwillig zugeben, hatte die Ermittler damals auf seine Söhne aufmerksam gemacht. »Das Kind einer Putzfrau, verzeihen Sie mir, ich will nicht zynisch klingen, aber dafür würden Erpresser doch nicht eine solche Summe fordern. Für einen meiner Söhne hingegen durchaus. Oder? Wie sehen Sie das, Herr Kriminalhauptkommissar?«

Die Söhne des Multimillionärs. Tristan und Siegfried. Damals elf und sechzehn Jahre alt. Siegfried, der Ältere, ein vor sich hin pubertierender, verschlossener Gymnasiast. Tristan, lebhaft, interessiert, schmal, blond, wies tatsächlich eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Sohn der Putzfrau auf. Keine Jacke. Im Grunewald war keine Jacke gefunden worden …

Manteuffel verstummte. An den Tischen raschelte Papier. Die Männer und Frauen der Mordkommission 9 sahen zu ihrem Chef hinüber. Er hatte die letzten Sätze nicht mitbekommen. Der Beamer warf eine Luftaufnahme einer Drohne vom Fundort an die kahle Wand. Gehring hörte Schwabs leises Schnaufen neben sich. Kurzatmig selbst im Sitzen – er machte sich Sorgen um sie.

»Danke.«

Der Vortragende nickte knapp und blieb in der Ecke an die Wand gelehnt stehen, um Gerlinde Schwab nicht von seinem Stuhl zu vertreiben. Angelika stand auf und zog die Verdunklungsvorhänge zur Seite.

»So weit die Fakten.« Gehring schlug die Mappe zu. »Frau Schwab, wären Sie so freundlich, für uns alle Kopien hiervon zu erstellen? Dies ist die Akte von Darijo Tudor.«

Beim letzten Satz senkte Manteuffel den Blick. Ein unmerkliches Ausatmen, ein leises Seufzen glitt durch den Raum. Es war, als ob alle auf diesen Namen gewartet hätten. Sogar jene, die damals gar nicht an den Ermittlungen beteiligt gewesen waren. Neun Mordkommissionen. Und ausgerechnet in ihrer Bereitschaft war der Skelettfund gefallen. Gehring glaubte nicht an Menetekel und düstere Omen. Das war kein Wink des Schicksals. Es war Zufall. Eins zu neun. Auf der Rennbahn in Hoppegarten setzte er meist bei viel schlechteren Quoten.

»Laut Professor Haussmann ist der unbekannte Junge seit drei bis vier Jahren tot. Außer dem Fall Tudor gibt es keine uns bekannten Vermisstenfälle, die in dieses Zeitfenster passen. Wir werden erst am Nachmittag das Ergebnis des DNA-Abgleichs vorliegen haben. Es könnte aber schneller gehen. Angelika, kannst du herausfinden, bei welchem Zahnarzt Darijo Tudor in Behandlung war?«

Die Angesprochene nickte.

»Der tote Junge im Wald hat eine Klebebrücke anstelle der oberen Schneidezähne getragen, was ungewöhnlich für dieses Alter sein dürfte. Sein Zahnstatus müsste für die Identifizierung reichen.«

Er wandte sich an Kramer. »Du findest heraus, ob die Eltern noch unter der alten Adresse gemeldet sind. Sobald wir Klarheit darüber haben, ob es sich bei dem Skelett um die sterblichen Überreste von Darijo Tudor handelt, müssen wir mit ihnen reden. Die Aktenführung wird Frau Schwab übernehmen.«

Er sah seine Sitznachbarin an, die unter den prüfenden Blicken der Kollegen noch eine Schattierung röter wurde und sich räusperte.

»Ich hab aber schon so viel …«, begann sie mit ihrer dünnen Stimme, die klang, als hätte man einem kleinen Mädchen den Lutscher weggenommen und in den Spielplatzsand geworfen.

Gehring unterbrach sie. »Ich werde den Kriminaldirektor bitten, Sie von Ihren anderen Aufgaben zu entbinden. Wenn der Fall Tudor tatsächlich wieder aufgerollt wird, dann brauche ich die Besten der Besten an genau dem Platz, an dem sie das auch beweisen können.«

Sein Blick wischte Angelika das kaum aufgesetzte spöttische Lächeln vom Gesicht. Es war bekannt, was die ganze Dienststelle von Gerlinde Schwab hielt. Keiner wollte freiwillig mit ihr zusammenarbeiten. Sie war nicht nur anstrengend und zeitraubend, sondern auch kaum belastbar. Er und seine Leute würden noch einmal ganz von vorne anfangen müssen. Längst erkaltete Spuren ausgraben, alte Wunden aufreißen, sich der Niederlage von damals erneut stellen, noch einmal alles Menschenmögliche mobilisieren. Da konnte und wollte er nichts, was auch nur den Ansatz von Mobbing in sich trug, in seinem Umfeld dulden.

Gerlinde Schwab öffnete den Mund, was bei ihr immer an einen Karpfen im Abfischbecken erinnerte, und schloss ihn dann wieder. Ihr Glück.

Gehring wandte sich erneut an die Runde. »Ich erwarte von allen, die damals nicht dabei waren, ein ganz besonderes Input. Sehen Sie sich das Bewegungsprofil des Jungen an, die Zeugenaussagen, die operative Fallanalyse. Hinterfragen Sie. Prüfen Sie. Schenken Sie uns, die wir damals nicht weitergekommen sind, einen frischen Blick auf diesen Fall. Wer sich noch an die Geschehnisse erinnert …« Er nickte Manteuffel und Großjohann zu.

Letzterer, ein ehrgeiziger Mann mit akkurat geschorenem Bart und einem fast grafischen Haarschnitt, der seine wie gemeißelt wirkenden, römisch anmutenden Gesichtszüge noch betonte, ernst, humorlos, manchmal zu verbissen – vielleicht lag es daran, dass Gehring und er gleich alt waren, aber nur einer Leiter der Mordkommission sein konnte. Großjohann also starrte auf die Tischplatte, während sein Unterkiefer mahlte. Manteuffel vermied es, irgendjemandem in die Augen zu sehen. Beide waren damals gemeinsam mit Gehring bis ans Äußerste ihrer Belastbarkeit gegangen. Sie hatten die Nächte durchgearbeitet, waren jeder noch so winzigen Spur nachgegangen, hatten selbst die aberwitzigsten Zeugenaussagen überprüft, wochenlang.

Der Fall Tudor war schließlich zu einer länderübergreifenden Sache geworden, als gleich zwei Fernsehmagazine ihre ganz eigene Sicht auf die Unfähigkeit der Berliner Polizei verbreitet hatten. Doch sie hatten sich nicht beirren lassen. Sich immer wieder den bohrenden, verzweifelten Fragen der Eltern gestellt, sich vom Zynismus der Presse, die von Polizeiarbeit so gut wie keine Ahnung hatte, nicht anstecken lassen. Bis die Staatsanwaltschaft irgendwann die Reißleine gezogen hatte. Nein, in einem Fall wie dem von Darijo Tudor wurden die Ermittlungen nicht eingestellt. Aber es hatte bald andere Delikte gegeben. Weitere Morde. Überfälle. Erpressungen. Gewaltexzesse. Bandenkriege. Häusliche Gewalt, misshandelte Kinder. Berlin war arm, hatte noch nicht einmal genug Beamte für die neuen Fälle. So wurde Darijo ganz langsam von anderen, aktuelleren Ermittlungen an den Rand gedrängt. So weit, bis sie ihn in der alltäglichen Arbeit aus den Augen verloren, bis sie dieses nagende Gefühl der Enttäuschung nicht mehr spürten oder gelernt hatten, es zu ignorieren. Doch es verschwand nicht, genauso wenig wie ein Mensch verschwinden konnte. Etwas blieb. Die Erinnerung. Der Schmerz der Eltern. Der Schatten einer ungesühnten Tat. Ein Skelett im Wald.

»Immerhin haben wir einige neue Erkenntnisse«, fuhr Gehring fort. »Es hat Kraft gebraucht, den Jungen in den Wald zu bringen. Das Grab auszuheben, die Spuren zu verwischen. Vermutlich wurde ein Auto benutzt. Wir kennen nun den Ort, an dem Täter und Opfer definitiv ein letztes Mal zusammen waren.«

Gehring spürte den Unwillen der Kollegen. Ein kalter Fall. Ein ungelöster Mord. Vier Jahre Vergessen. Das war wie eine Einladung zum Abendessen, bei dem man abgelaufene Dosenrouladen vorgesetzt bekam.

»Die Leichenschau übernehme ich. Lage unmittelbar im Anschluss. Dann werden wir mehr über den Tod des Jungen wissen. Danach gehen wir an die Presse, im Fokus dieses Mal die Havelchaussee. Vielleicht erinnert sich jemand noch daran, dort rund um den zehnten Oktober zweitausendzehn etwas Ungewöhnliches oder Auffälliges bemerkt zu haben. Den Namen im Fall einer zweifelsfreien Identifizierung geben wir erst heraus, wenn ich mit den Eltern gesprochen habe. Ich danke euch.«

Stühlescharren, leise Gespräche. Die Kollegen von der Spurensicherung eilten zurück ins Labor. Angelika, Kramer und Manteuffel verließen gemeinsam den Raum. Schließlich blieben nur noch Gehring und Gerlinde Schwab übrig. Sie kramte in der Tasche ihres zeltförmigen Blazers und holte einen Kaugummi hervor, den sie ihm reichte. Verblüfft nahm er ihn an.

»Sie haben eine Fahne.«

Er wickelte den Streifen aus und schob ihn sich in den Mund. Er hätte gerne das Fenster geöffnet, doch die Kälte saß ihm immer noch in den Knochen.

»Die Eltern des Jungen sind Kroaten«, sagte sie.

Gehring kaute. »Arbeitserlaubnis, EU, alles in Ordnung.«

»Damals war kein Dolmetscher dabei.«

Er warf ihr einen scharfen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu. »Sind Sie deshalb zu spät gekommen? Weil Sie sich das alles schon vorher durchgelesen haben?«

»Ich dachte, Sie wollten einen frischen Blick.«

Ja, den wollte er. Aber nicht in diesem besserwisserischen Ton. »Es war nicht nötig. Die Eltern haben hervorragend Deutsch gesprochen. Die Mutter zumindest.«

»Die ganze Zeit?«

Er kaute weiter. Lange. Schließlich stand er auf. »Frau Schwab, worauf wollen Sie hinaus?«

»Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn jemand bei den Vernehmungen dabei gewesen wäre, der ihre Sprache spricht. Hier drin«, sie tippte auf das Retent, »sind die Aussagen, die in einem Vernehmungsraum vor einem Mikrofon bei der Polizei gemacht wurden. Alles Dinge, die Leute einschüchtern. Sie waren doch damals bei den Tudors zu Hause. Haben die da auch nur Deutsch gesprochen?«

Jede andere hätte Gehring zum Wagenwaschen geschickt. »Nein, natürlich nicht.«

»Sehen Sie?« Mühsam erhob sie sich und griff nach der Akte. »Mit dem Vater ist nicht gerade gut Kirschen essen, meine ich. Diese Entführung war, wie soll ich es sagen, in meinen Augen keine normale Entführung.«

»Was ist in Ihren Augen eine normale Entführung?«

Sie zwängte sich an den zurückgeschobenen Stühlen vorbei Richtung Ausgang. »Jemand will Geld, späht sein Opfer aus, kidnappt es, vereinbart eine Übergabe, hält sich daran, lässt das Opfer frei und wird geschnappt.«

»Ja.« Gehring unterdrückte ein Stöhnen und folgte ihr. Der Kollegin Schwab beim Kombinieren zu folgen war ähnlich spannend wie Gartenschach. »Wir haben eine Aufklärungsquote von fast neunzig Prozent. Das heißt im Umkehrschluss, zehn Prozent kommen davon. Sind das dann alles keine normalen Entführungen?«

Sie öffnete die Tür. Der Geruch von Teppichkleber, der durch die Heizungsluft und die geschlossenen Fenster im Winter stärker wurde, stieg ihm in die Nase.

»Mir ist nur aufgefallen, dass die Eltern des Jungen selbst bei der Vernehmung sehr emotional reagiert haben.«

»Ich bitte Sie. Ihr Kind ist verschwunden.«

»Ja, natürlich.«

Er musste nach rechts, sie nach links. Abwartend blieb Gehring stehen.

»Frau Schwab, wir haben damals alles, wirklich alles Menschenmögliche unternommen. Gibt es irgendetwas, auf das Sie mich hinweisen möchten?«

Sie sah ihn lange an mit ihren hellgrauen Augen. »Ja. Auf Medea.«

Sie wandte sich um und ging mit den wiegenden Schritten einer schwer beladenen Marktfrau davon.

3

Haussmann hatte die Leichenschau für 14:00 Uhr angesetzt. Während der Fahrt zur Rechtsmedizin rief Gehring sich die wenigen halbherzigen Theaterbesuche ins Gedächtnis, zu denen ihn Susanne überredet hatte. Der Arturo Ui am Berliner Ensemble, an den konnte er sich erinnern. Mit dem grandiosen Martin Wuttke, der sogar einen Fernseh-Tatort geadelt hatte. Medea … die große Tragödiengestalt spielte auch in der Forensik eine Rolle. Das Medea-Syndrom. Töten, was man liebt, nur weil man es einem anderen nicht gönnt. Wie kam die Schwab darauf? Darko und Lida Tudor waren vielleicht nicht wie liebende Eheleute miteinander umgegangen. Aber er hatte die beiden auch nur ein- oder zweimal außerhalb des Vernehmungsraumes gesehen, dazu noch in einer emotional hochexplosiven Situation. Er wünschte, er könnte sich daran erinnern, was ihm vor langer Zeit in einem Hörsaal über dieses seltene, unbegreifliche Motiv vorgetragen worden war. Eine riesige Wand voller Blut … Kassandras verzweifelte Klage … nein, das war Aischylos gewesen, am Deutschen Theater. Eine der wenigen Inszenierungen, die ihn atemlos gemacht hatten, denen er gefolgt war von der ersten bis zur letzten Minute. Vielleicht müsste er mal wieder ins Theater gehen. Oder in ein Konzert. Irgendetwas unternehmen, das seine Zeit nicht raubte, sondern ihr etwas gab. Selbst wenn es nur das befriedigende Gefühl war, zwei Stunden in einem engen, unbequemen Theatersessel ausgeharrt zu haben.

Er fuhr auf den Parkplatz der Rechtsmedizin und wunderte sich. Er war kein Theatertyp. Kein Operngänger. Kein … Ihm fiel auf, dass er eigentlich alles, was im weitesten Sinne des Wortes mit Kultur zu tun hatte, mied wie der Teufel das Weihwasser. Haussmann war so ein Typ. Hatte wahrscheinlich Bücherregale bis unter die Decke und besuchte jede Premiere und jedes zweite Konzert in der Philharmonie. Manchmal pfiff er bei der Arbeit. So kam Gehring das eine oder andere Mal in den Genuss einer gefälligen Melodie, die der Rechtsmediziner knapp mit »Freischütz-Ouvertüre« oder »Liebestod« betitelte.

An diesem Nachmittag pfiff Haussmann nicht. Als Gehring wie immer mit einem beklommenen Gefühl den Sektionsraum betrat, war der Professor gerade dabei, seine Erkenntnisse leise, aber überdeutlich und akzentuiert in das Mikrofon zu sprechen, das von seinem Hals baumelte. Er nickte dem Ermittler kurz zu und beugte sich, eine Pinzette in der Hand, über Darijos skelettierten linken Unterarm, an dem noch einige Stofffetzen, Erde und Reste der Muskulatur zu erkennen waren.

»Kommen Sie, kommen Sie.« Er schaltete das Gerät aus und winkte Gehring heran. »Sehen Sie? Hier, zweite und dritte Rippe, Serienfraktur.«

Haussmann deutete auf den kleinen Brustkorb. »Da der Junge weder an Altersschwäche noch an Osteoporose gelitten hat, kommt nur ein Unfall oder Gewaltanwendung infrage. Er hat sich die Brüche ungefähr zwei, drei Monate vor seinem Tod zugezogen.«

Haussmann richtete sich auf. »Ich habe den Zahnstatus mit dem des vermissten Darijo Tudor verglichen.«

»Und?«

»Er ist es. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Das Ergebnis der DNA-Analyse wird das bestätigen.«

Gehring atmete tief durch. Das Wissen um den Tod eines Opfers war immer noch etwas anderes als die Ahnung.

»Ich habe übrigens mit dem Zahnarzt des Jungen telefoniert.« Haussmann zog einen der hölzernen, altmodischen Rollstühle heran und deutete auf einen zweiten. Gehring nahm Platz. »Ein Weddinger Alleskönner von altem Schrot und Korn. Er hat dem Kleinen die Klebebrücke nicht gemacht. Als der Junge das letzte Mal bei ihm war, ein paar Monate vor seinem Verschwinden, war noch alles in Ordnung mit dem Gebiss.«

Die Röntgenaufnahmen des Skeletts hingen vor einem Lichtkasten. Haussmann deutete auf die Fotografie des Oberkiefers.

»Eine Füllung, handwerklich okay, Kassenstatus. Mit acht hat er eine Zahnspange bekommen, die wir am Fundort nirgendwo entdeckt haben. Ebenfalls ein Kassenmodell. Nichts dagegen zu sagen. Eine absolut ordentliche Durchschnittsversorgung.«

Gehring holte sein Notizbuch hervor und schrieb Zahnspange auf. Haussmann zog einen blauen, offenen Kunststoffkasten zu sich heran und nahm mit der Pinzette zwei verblockte Schneidezähne heraus.

»Aber das hier, das ist die Königsklasse. Ich schätze zwei- bis dreitausend Euro.«

Gehring stieß einen leisen Pfiff aus. Der Rechtsmediziner legte die Brücke vorsichtig in den Kasten zurück.

»Wenn ein Neunjähriger seine Schneidzähne verliert, ob durch einen Unfall oder Gewalteinwirkung, bekommt er normalerweise eine Prothese. Ein Teilgebiss. Nicht schön, aber als Provisorium absolut okay, bis der Kiefer ausgewachsen ist. Eine Klebebrücke statt einer Teilprothese ist natürlich viel schöner. Allerdings auch viel teurer.«

Hatten die Tudors das Geld für so einen Luxus? Zahnersatz für einen Neunjährigen im Wert von mehreren tausend Euro?

»Was ist denn der Vorteil einer solchen Brücke?«

»Sie muss nicht herausgenommen und gereinigt werden. Sie sitzt fest, man lebt damit fast so gut wie mit den echten Zähnen.«

»Sie fällt also nicht auf.«

»Im Gegensatz zu einer Prothese, die der Junge zum Beispiel beim Sportunterricht herausnehmen müsste, nein.«

»Und der Zahnarzt des Jungen hat sie definitiv nicht gemacht?«

»Ganz genau.«

Gehring nickte und notierte sich Zahnarzt, Labor, Privatpatient, das Letzte mit einem Fragezeichen.

»Wie ist Darijo Tudor gestorben?«

»Durch äußere Gewaltanwendung mit einem stumpfen Gegenstand.«

Haussmann stand auf und ging zurück zum Sektionstisch. Gehring folgte ihm. Gemeinsam betrachteten sie das, was von dem aufgeweckten Neunjährigen übrig geblieben war. Wieder dieses Gefühl, wie eine geballte Faust in der Magengrube. Der Junge wäre jetzt dreizehn. Wäre vielleicht zum ersten Mal verliebt, wahrscheinlich in eine hübsche Referendarin. Sammelte Panini-Bilder. Rauchte heimlich die erste Zigarette irgendwo hinter einem Busch auf dem Schulhof. Stöberte mit roten Ohren auf irgendwelchen Internetseiten herum, die erst ab achtzehn waren, und rief nervös durch die zum ersten Mal abgeschlossene Tür seines Kinderzimmers, dass er bloß Hausaufgaben mache. Stand noch mit einem Bein in der Kindheit und mit dem anderen, unsicher, tastend, immer bereit zum sofortigen Rückzug, schon in der wilden, berauschenden Welt der Heranwachsenden. Zählte die ersten Haare unter den Achseln, probierte den Rasierer des Vaters aus. Lag nachts wach und lauschte auf die fernen, gedämpften Geräusche der Großstadt, die lockten und verführten und ihm zuwisperten: Alles wartet auf dich. Alles ist bereit, dich aufzunehmen. Das ganze Leben brennt darauf, von dir, Darijo Tudor, empfangen zu werden wie ein Heiliges Abendmahl.

»Immer wieder stehe ich vor Kindern«, sagte Haussmann leise. »Misshandelte, erschlagene, verhungerte, zu Tode geschüttelte Kinder. Manchmal kann man das Martyrium, das sie hinter sich haben, noch an ihren Körpern ablesen. Ich bekomme viel zu hören. Die Phantasie der Täter ist beinahe unerschöpflich. Kinder drücken ihre Hände angeblich freiwillig zehn Sekunden lang auf eine glühende Herdplatte. Eltern kugeln ihnen versehentlich den Arm beim Spielen aus. Die dummen Kleinen rennen mit gesenktem Kopf gegen Betonwände. Sie schlucken Rohrreiniger, statt ihn auszuspucken, weil sie ihn mit Limo verwechselt haben. Sie fallen aus Betten, die nach meinen Berechnungen fünf Meter hoch sein müssten. Darijo Tudor hatte zwei Rippenbrüche, die ihm sicher starke Schmerzen bereitet haben. Das kommt vor. Eine Sportverletzung, ein Fahrradunfall. Vielleicht ist er die Treppe hinuntergestürzt oder unglücklich an einer Tür hängen geblieben. Es kann durchaus eine harmlose Erklärung dafür geben.«

In der Stimme des Rechtsmediziners klang die Skepsis mit, die im Lauf von über zwanzig Berufsjahren gewachsen war. Gehring erinnerte sich an den Prozess gegen die Mutter eines Dreijährigen. Haussmanns Gutachten hatte bewiesen, dass die kleine Hand des Kindes mit voller Kraft eine Ewigkeit auf die glühende Herdplatte gedrückt worden war. Doch der Richter hatte die Mutter freigesprochen, aus Mangel an Beweisen. Sie hatte behauptet, ihr Sohn sei »unglücklich auf den Herd gefallen« und hätte sich nur »abgestützt«. Zehn Sekunden lang. Noch immer lief Gehring ein eiskalter Schauer über den Rücken, er konnte sich die Qualen des Kindes kaum ausmalen. Auch nicht die abgrundtiefe Verworfenheit einer Mutter, die das ihrem Sohn antat.

Er räusperte sich, weil ihm die Kehle eng geworden war. »Abseits einer harmlosen Erklärung und all Ihre Erfahrung zusammengenommen – was sagen Sie?«

Haussmanns Antwort war klar und ohne jeden Zweifel. »Dieser Junge war Monate vor seinem Tod massiver Gewalt ausgesetzt. Gab es Hinweise oder Verdachtsmomente auf Misshandlungen?«

Gehring, der die Akte inzwischen auswendig kannte, verneinte. Sie hatten damals mit Schulfreunden gesprochen, mit den Lehrern, den Eltern, mit den Söhnen von Reinartz. Niemandem war etwas aufgefallen. Natürlich konnte es Zufall sein. Aber Darijos Leiden hatten im Verborgenen begonnen und sich gesteigert: Rippenbrüche. Ausgeschlagene Zähne. Getötet und verscharrt.

Fachwörter spukten in seinem Kopf herum. Altruistischer Filizid. Retaliating killing. Das Münchhausen-Syndrom. Fatal battered child syndrome. Medea … Hatte er es mit einer Vertuschungstat zu tun? War diese ganze Erpressergeschichte, an der schon damals so viele Zweifel gehaftet hatten, letzten Endes nichts anderes als das Ergebnis eines aus dem Ruder gelaufenen Falles von häuslicher Gewalt?