DER SCHREI - Stanislaw Przybyszewski - E-Book

DER SCHREI E-Book

Stanislaw Przybyszewski

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Beschreibung

Stanislaw Przybyszewskis DER SCHREI ist ein bahnbrechendes Werk der expressionistischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. Das Buch erzählt die Geschichte eines Künstlers, der verzweifelt nach Anerkennung und Sinn im Leben sucht. Przybyszewskis literarischer Stil ist geprägt von starken, emotionalen Beschreibungen und einem intensiven Fokus auf die Psyche seiner Protagonisten. Das Werk wird oft als eines der Schlüsselwerke des deutschen Expressionismus angesehen und hebt sich durch seine düstere, pessimistische Atmosphäre von anderen zeitgenössischen Werken ab.

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Stanislaw Przybyszewski

DER SCHREI

Roman zum Bild - Inspiriert von dem Bild Edvard Munchs
            Books
- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung [email protected]   2017 OK Publishing

Inhaltsverzeichnis

I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X

I

Inhaltsverzeichnis

Leise, mit ängstlicher Vorsicht schlich Gasztowt an ein kleines, unscheinbares Haus heran, in dem ein bekannter und berüchtigter Kunsthändler Ausstellungen von Werken junger Künstler veranstaltete.

Er dachte nicht daran, dem höllischen Halsabschneider und felsenharten Shylock der jungen Künstler ein paar Franken aus der Tasche herauszulocken; das liess er sich nicht einmal im Traume einfallen: lieber würde er sich in einem Anfall von Hungerdelirium auf den erstbesten Passanten stürzen und ihn berauben, ehe er sich auch nur mit der geringsten Bitte an den unerbittlichen Wucherer wandte – nein! Das war es nicht – etwas ganz anderes; seit dem Augenblick, als er auf das Drängen des Händlers, der ihm mit kleinen Beträgen aus der äussersten Not herausgeholfen hatte, und unter Androhung der Versteigerung aller seiner Bilder sich endlich entschliessen musste, eine Auswahl seiner Bilder auszustellen, konnte er keine Ruhe finden.

Ihm war, als hätte er eine gottesschänderische Tat begangen, da er seine Bilder der öffentlichen Besichtigung preisgegeben, – als würden sie geschändet, jenes geheimnisvollen, heiligen Schleiers der schamhaften und innersten Ekstase beraubt, in der sie geschaffen waren: er hatte das Empfinden, als hätte er sein teuerstes Kind auf die Strasse gejagt, damit es mit seiner Schande ihm Geld verdiene – ihn würgte die Scham, er schäumte vor Wut, dass er sich hatte hintergehen lassen, er ergoss über sich die Jauche der Verachtung, dass er seinem heiligsten Entschlusse untreu geworden: niemandem Einblick in die Geheimnisse seiner Offenbarungen zu gewähren.

Und jetzt schlotterten ihm die Knie, ging er doch hin, um ein endgültiges Urteil über seine Erbärmlichkeit zu fällen – er ging hin, um seine Bilder zu sehen, entweiht, beschmutzt durch das Anstarren seelenloser, mit dem ranzigen Speck der Dummheit und des gedankenlosen Stumpfsinns verfetteter Augen – und er selber wollte sich jetzt richten, weil er es zugelassen und seine Seele zu einer käuflichen Dirne entwürdigt hatte.

Er schlich mit listiger, diebischer Vorsicht immer näher an dieses verdammte Haus heran und sah sich beständig nach allen Seiten um.

Schon seit dem frühen Morgen hatte er das Gefühl, dass ihm jemand dicht auf den Fersen sei, ihn beobachte, seine Gedanken behorche und sich mit tückischer List in den Hader seiner Seele einmische, in die schmerzlichen Geheimnisse, – und jetzt unsichtbar hinter ihm herschleiche, um plötzlich vor ihm zu erscheinen und ihm seine Schande ins Gesicht zu speien . . .

Er besann sich plötzlich, und ihn packte Angst vor der kranken Einbildung, die seine Seele wie ätzende Lauge zerfrass.

Wer sollte ihn denn verfolgen oder beobachten? Warum? Wozu? Hatte er ein Verbrechen begangen, so doch nur an seiner eigenen Seele, und das ging doch niemanden etwas an – ein zerebrales Verbrechen, ein Harikiri, das er an seiner eigenen Seele verrichtet hatte, unterlag doch keiner weltlichen Strafe, also hatte doch niemand einen Grund, ihn zu verfolgen.

Endlich öffnete er die Haustür – blieb noch eine Weile auf der Schwelle stehen, sah sich noch einmal um, aber er konnte weit und breit niemanden erblicken.

Er betrat einen engen und schmutzigen Korridor und läutete an einer Tür.

Jemand öffnete, er bezahlte einen halben Frank »Eintrittsgeld«, sah sich plötzlich mitten in einem kleinen Saal, der elendes Licht durch ein paar schmale Fenster erhielt: auf der gegenüberliegenden Wand waren seine Bilder aufgehängt.

Er schloss die Augen, als wollte er sie erst noch für die Qual vorbereiten, die ihrer harrte.

Und um diese Qual noch zu steigern, wollte er sich deutlich vergegenwärtigen, wie seine Bilder in seinem Atelier ausgesehen hätten, und wie er sie nun erblicken würde.

Er hatte eine gewaltige Synthese der Strasse schaffen wollen, ihre Ewigkeitssymbole, ihre schauerlichen Geheimnisse offenbaren: sie in ihrem grausigen Umfang erschöpfen – all das Gewaltige und Schändliche, das in der menschlichen Seele lebt, vor Lust wiehert, in Delirien der Verzweiflung verreckt, sich in der unflätigsten Jauche wälzt, im Bluttümpel von Mord und Verbrechen badet, – all das in sie hineinprojizieren: das ganze Leben hatte er in einem riesigen Symbol wiedergeben wollen: der Strasse!

Er schlug die Augen auf und prallte entsetzt zurück.

All seine Bilder verflossen ihm zu einem blödsinnigen, lächerlichen Chaos.

Er war nicht imstande sie wiederzuerkennen.

Als hätte ihm ein boshafter Satan eine Brille vor die Augen gehalten mit seltsam geschliffenen Gläsern, durch die er den ganzen Abgrund seiner Ohnmacht und seines stümperhaften, unfähigen Könnens überblicken konnte.

Das, was ihm in seinem Atelier noch vor wenigen Tagen strotzend von Macht, überschäumend von künstlerischer Kraft erschien, sah er jetzt als eine verrenkte, schwindsüchtig hüstelnde, lächerlich hopsende Groteske. Das, was er als Symbol darzustellen versuchte, wurde ihm nun plötzlich zu einer läppischen lallenden Phrase – es verblieben nur jämmerlich nackte, stümperhaft verzeichnete, marktschreierische Strassenszenen, kleine, dumme, geistlose Episödchen, ordinäre, reportermässige Berichterstattungen, die elendsten Illustrationen für allerlei Mordgeschichten und infame Winkelblätter . . .

Die siegreiche Fanfare der Farben verblasste, verstummte, er hörte nur ein gemeines Jahrmarktsgeschrei, ein zänkisches Gezeter, sah nur eine grelle, ordinäre Harlekinade: seine Augen wurden blind von der trunkenen, röchelnden Kakophonie besessener Farben, wie man sie auf den Schildern der Vorstädte zu sehen bekommt.

Und gleichzeitig empfand er einen bestimmten physischen Schmerz, als ob fremde Augen sich hinterrücks, langsam, beharrlich, in grösster Anspannung in ihn hineinbohrten.

Und in dem Masse, wie das Bohren schmerzhafter wurde, begannen sich die Brillen, die er vor seinen Augen hatte, so gespenstisch auszuhöhlen, dass er jetzt nichts anderes zu sehen vermochte als nur ein elendes Geschmier, unflätigen Verputz, eine ekle eiternde Wunde seiner Ohnmacht.

Er hörte sich selbst aufstöhnen und erschrak, dass jemand sein Stöhnen hätte hören können – wusste er doch genau, dass jemand hinter ihm stand und seine Augen unaufhörlich in ihn hineinbohrte.

Ohne es zu wissen, wandte er sich um. Er sah wirklich und leibhaftig einen jungen Mann vor sich, der mit grösster Spannung und in verzückter Sammlung etwas anstarrte – aber nicht ihn, sondern seine Bilder.

Gasztowt sah ihn feindlich und gehässig an, aber jener schien ihn gar nicht zu beachten, ihm auch nicht die geringste Aufmerksamkeit zu schenken: er blieb ruhig stehen und versenkte sich mit angespanntem Fleiss in das Bild, von dem Gasztowt sich eben weggewandt hatte. Er kam dicht an das Bild heran, entfernte sich wieder von ihm, blieb seitwärts stehn, als suchte er nach einer Stelle, von der aus er es am besten betrachten könnte.

Gasztowt starrte ihn an mit herausfordernden, unverschämten Blicken, suchte mit Gewalt die Aufmerksamkeit des Fremden auf sich zu lenken – und wirklich sah der andere zu ihm hin, den Bruchteil einer Sekunde – mit einem kalten, gleichgültigen Blick, als wäre er etwas, das nicht da war, etwas, wie ein Schemen verdichteter Luft, und versenkte sich aufs neue in das Bild.

Gasztowt wurde wütend. Er wäre jetzt am liebsten an ihn herangetreten, hätte ihn zu einem ganz gemeinen Faustkampf herausgefordert für diesen nachlässig-verächtlichen Blick, aber ein dumpfes Angstgefühl stieg in ihm hoch und lähmte seine Glieder: kalter Schweiss trat ihm auf die Stirne und peinlich fühlte er es, wie der Schweiss über seine Wangen floss.

Er wandte sich zum Gehen – in der Tür drehte er sich noch einmal um.

Aber der Fremde, dessen Gesichtszüge er seltsamerweise gar nicht fassen konnte, als könnte er sie überhaupt nicht sehen, achtete auch diesmal seiner nicht, im Gegenteil, schien wie befreit sich um so eifriger in dem Anblick seiner Bilder zu verlieren.

Auf der Strasse blieb Gasztowt stehen.

Vielleicht sollte er doch umkehren? Woher hatte sich plötzlich dieser Mensch grade bei seinen Bildern eingefunden, – dieser merkwürdige Mensch, dessen Gesicht er nicht zu sehen bekam, obwohl er es so lange ergründet hatte, dieser Mensch, der sich doch nur so anstellte, als wäre er ganz von seinen Bildern besessen, in Wirklichkeit jedoch nur ihn bis ins Mark anstarrte – ja nicht allein das – er empfand doch so deutlich, wie sein Blick ihn jetzt noch schmerzte, wie er mit seinem höllischen Schauen ihm die ganze Seele durchwühlt, sie aus den Fugen gelöst hatte, seine Augen schielen, vorbeischauen liess, sie ganz falsch einstellte, wie er das Gift des niederträchtigen Hasses gegen sein eigenes Gebilde in sie eingeträufelt hatte . . .

Er grübelte und überlegte, ob er doch nicht versuchen sollte, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen – aber nach einer Weile, als er merkte, dass er eigentlich nur nach einer verschwiegenen Bank suchte, wo er, todmüde, zerquält und gerädert, ausruhen könnte, zuckte er die Achseln und bog in ein Labyrinth enger verschlungener Gässchen – ein abgelegenes Plätzchen zu finden – dort würde er ausruhen . . .

II

Inhaltsverzeichnis

Er irrte lange umher und verlor sich in dem Labyrinth von einander unter allen möglichen Winkeln schneidenden Gässchen, in dem Wirrwarr der seltsamsten Arabesken, die je in einen Stadtteil eingeschnitten wurden, aber je länger er ging, um so mehr nahmen seine Kräfte zu, er fühlte sich frisch und rüstig.

Dies Herumtrotten in den gewundenen Arabeskenlinien des Gässchengewirrs hatte ihn also nicht übermässig ermüdet, aber jetzt fühlte er doch Lust, ein wenig auszuruhen.

Er hatte das Gefühl, dass er trotz alledem doch nur ein Rekonvaleszent war, der sich freilich schon ganz gut auf den Beinen zu halten vermochte, aber doch bedenken musste, dass er aus schweren Fieberträumen jetzt erst zum wirklichen Dasein erwacht war.

Noch vermengte sich ihm der Fiebertraum mit der Wirklichkeit, und es würde ihm schwer fallen zu unterscheiden, was er wirklich erlebt und was nur durchträumt hatte – er würde auch jetzt nicht den Mut haben, sich eingehend damit zu befassen, um die ganze Wahrheit zu ergründen, – ebensowenig, wie er es über sich bringen konnte – vor einer Stunde, oder war es schon länger her – zu erforschen, ob der Fremde ihn mit seinen Blicken durchbohrte, oder nur im Anblick seiner Bilder versunken war.

Aber dies alles kam ihm kleinlich und winzig vor in Anbetracht der Tatsache, dass er sich nun sehr wohl fühlte.

Er gelangte endlich auf einen kleinen Platz, der ganz verödet und vereinsamt da lag, doch ziemlich dicht mit Bäumen umstellt war. Es kreuzte sich hier eine Unmenge von Gässchen; das war ihm allerdings peinlich, denn der Platz schien ein Knotenpunkt des ganzen Verkehrs dieses Stadtteils zu sein, aber als nach längerer Weile ringsherum sich nichts rührte und er die langersehnte Ruhebank gefunden hatte, war er über alle Massen zufrieden.

Er setzte sich hin, aber nicht weil er müde war – Gott bewahre! – nur einzig allein, um sich noch tiefer zu sammeln und sein Abendgebet zu verrichten, denn es ging schon gegen den Abend.

Er hüllte sich in tiefen Ernst, seine Seele weitete sich in inbrünstiger Andacht, und in tiefster Demut begann er seinen heiligen Busspsalm zu sprechen:

»Jegliche Scham und Schande wird dir auferlegt werden, und du wirst sie tragen;

»Deine Speise werden die Harpyien verunreinigen, doch du wirst sie gierig vertilgen, denn du wirst hungrig sein;

»Dein Wein wird bereitet werden mit bitterer Galle und widrigem Wermut, doch du wirst ihn trinken, denn es wird dich dürsten;

»Scharfe Kieselsteine werden dein Kissen sein, doch du wirst dein Haupt auf sie betten, denn es wird dich nach Schlaf gelüsten;

»An dem Tor der Aussätzigen wirst du deine Hand ausstrecken und Geld erbetteln zur Wegzehrung, denn Sturm und Regen werden dich von deinem Lager aufscheuchen . .«

Mit diesem prophetischen Fluch hatte ihn seine wahnsinnige Mutter auf ihrem Sterbebette der Kunst angetraut und ihm ihren goldenen Ehering auf den Finger geschoben.

Er nahm den Ring aus der Westentasche und betrachtete ihn ehrfürchtig.

»Und ich nahm die schwerste Last des Schmerzes auf meine Schulter ohne jegliche Klage, ich schleppte das furchtbare Kreuz, in blutigen Schweiss gebadet, das Golgatha des Todes und der Verdammnis hinauf, und ich werde es noch weiter schleppen, denn fürwahr ich bin Der, dem der Herr all sein Getier zuführte, auf dass ich ihm Namen gäbe und die leeren Formen mit meinem Herzensblute füllte!

»Ja und Amen!«

In tiefster Ergriffenheit liess er sein Haupt auf die Brust herabsinken, steckte unbewusst den Ring wieder in die Westentasche, versicherte sich nach einer Weile, dass er ihn wirklich eingesteckt hatte, und alle Angst und aller Zorn und Hader des Lebens waren von ihm gewichen – er stand auf, bog in das erstbeste Seitengässchen und ging vor sich hin.

Plötzlich merkte er, dass er den Weg eines fremden Schattens wandelte.

Er rieb sich die Stirn – jetzt erst kam es ihm zum Bewusstsein, dass er schon vor einer Weile ein Weib bemerkt hatte – ein Weib mit einem schmalen, feinen Gesicht, mit übermässig grossen Augen, in denen eine tiefe Melancholie hauste – die tiefste und ganz dieselbe, von der die Kirchenväter behaupten, sie sei das Bad, worin der Teufel die menschliche Seele bade . . .

Eigentlich sah er nichts anderes als nur diese Augen, oder vielmehr einen breiten, metallisch glänzenden Strahl aus weit aufgerissenen Augen, der ihm die ganze Strasse in etwas verwandelte, das gerade mit dieser Strasse nichts gemein hatte.

Zu diesen Augen gehörte eine lange, dämmrige Strasse, in deren Öde sie etwas suchten, was einmal dort sein musste und jetzt unauffindbar war. Zu diesen Augen gehörten lange, schmale Hände, die blindlings an den langen Mauern herumtasteten, um ein verschlossenes Tor zu finden, das sich hier in der Mauer befinden musste, und zu diesen Augen gehörten tastende, zaudernde Schritte, ängstliche und erschreckte und wie von einem nachdenklichen Überlegen gehemmte Schritte, jenen vergleichbar, die jeden Augenblick Gefahr laufen, an einer steilen Felswand abzurutschen.

Und diese lange, enge Strasse, die in dem stillen aber unheilschwangeren Leuchten dieser qualvoll angestrengt blickenden und nicht sehenden Augen, unter dem Tasten der irrenden Hände aufzuwachen und von den unsicheren, wankenden Schritten beunruhigt zu sein schien, führte hinaus zu einer Brücke, die über einen Fluss gespannt war.

Er schlich hinter ihr her, trat in den langen Schatten, den ihre Gestalt auf die dämmrige, wie vom leichten Abglanz eines unsichtbaren, stahlblauglänzenden Mondes beleuchtete Strasse warf – sein Schatten verschmolz mit dem ihrigen und kroch hinter ihnen her, wie ein formloses, trunkenes Gewürm, unwissend des Zieles, dem es zustrebte.

Sie trat auf die Brücke. Er blieb in dem Tor des Eckhauses stehen, wartete und spähte.

Und plötzlich hörte er einen grässlichen Schrei – nein, er hörte nichts, er sah nur einen lautlosen Schrei – sah ihn deutlich, – sah, wie die Atmosphäre barst, als ob ein Feuerpflug eine flammende Furche in ihr aufgerissen hätte, der Strom schwoll himmelhoch an, auch wölbte sich die Brücke, als wäre sie aus einer Kautschukmasse hergestellt, und im selben Nu sah er, wie die Gestalt, deren Schatten sich von dem seinigen längst losgelöst hatte, sich über die Brüstung schwang und jählings in das wild schäumende Gewoge des vom Heisshunger hochaufgepeitschten Stromes stürzte.

Er blieb wie versteinert stehen, konnte sich nicht von der Stelle rühren.

Endlich – endlich öffneten sich ihm in diesem Schrei die tiefsten Abgründe der Strasse. Nie früher hatte er den Schrei der Strasse zu hören bekommen – jetzt erst offenbarte sich ihm die Strasse in ihrem Grauen und in der Schreckensgewalt ihrer Verdammnis.

Die Augen seiner Seele weiteten sich zum unfassbaren Abgrundsdunkel, und als wären all seine Sinne in ein einziges Organ zusammengeströmt, schlürfte er mit ihm die grausige Klarheit geoffenbarter Geheimnisse, die plötzlich aus dem Dunkel herausschrie, in sich hinein.

Den Bruchteil einer Sekunde! Denn jetzt erdröhnte ein zwingender Befehl – er hörte ihn nicht mit seinem Ohr – auch hörte er ihn nicht in seinem Inneren – es war, als ob von der Ferne, vom jenseitigen Ufer aus, über den Fluss eine Hand sich hinausstreckte, ihn mit unüberwindlicher Kraft schüttelte:

– »Rette sie! Rette!«

Das war keine Bitte, das war der Donnerkeil eines fremden Machtwillens, der kein Bedenken vertrug und jede Besinnung lahmlegte.

Und jetzt wurde er ganz Auge.

Er sah einen dunklen Fleck, der zum Vorschein kam und wieder verschwand, auf den sich schwer wälzenden Wogen herumtanzte, verlor ihn wieder aus den Augen, aber immer wieder tauchte er auf – eine gewaltige Strömung hatte ihn erfasst, er kam in die Wirbel hinein, das Wasser ergoss sich ihm in den Mund, in die Ohren, gluckste in der Nase, aber, als wäre er von dem höllischen Kantschug gepeitscht oder von einer unfassbaren Macht besessen, die seine Kraft vertausendfachte, gelang es ihm, die Strähnen ihres Haares zu erfassen; er schlang sie um seinen Arm, warf eine leblose Masse auf sich, – er tauchte unter einen Augenblick unter dieser Last, arbeitete sich aber wieder empor, jetzt warf er sich in eine Strömung, aber schon begann seine Kraft zu erlahmen und im grässlichen Schreck fühlte er den Krampf, der ihn an den Armen packte.

Schon gab er nach, – da hörte er wieder diesen höllischen Schrei, und es war, als hätte ihm ein glühendes Eisen die Haut gesengt; noch eine übermenschliche Anstrengung: die Strömung warf ihn weit abseits der Brücke ans Ufer.

Er schleppte sie mit dem letzten Aufwand seiner Kräfte das Ufer hinan – eine leblose Masse.

Jetzt hatte er ein unbezwingbares Verlangen, sich langhin auf den Ufersand zu werfen und in seligstem Erstarren von all der übermenschlichen Anstrengung zu verenden – aber wieder empfand er den brenzligen Schmerz, als senge man ihm mit glühendem Eisen die Haut: als wären ihm aus unsichtbaren Quellen ungeahnte Kräfte neu zugeströmt, als wäre sein – oder irgend ein anderer Wille, den er nicht kannte, ein gewaltiger Hammer, für den er nur ein Ambos war, ging er an die Lebensrettung des Weibes, das fast kein Lebenszeichen von sich gab.

Alles, was er jetzt tat, war etwas ganz Automatisches – er selbst war nur ein Werkzeug in irgendwelchen ihm unbekannten, aber übermächtigen Händen.

Er riss ihre Bluse auf, löste das Mieder, hob ihren Kopf hoch und liess ihn wieder fallen, streckte ihre Arme und faltete sie über ihrer Brust – alles, was ihm nur in den Sinn kam, verrichtete er mechanisch, ohne darüber nachzudenken; endlich gelang es ihm, das Weib ins Leben zurückzurufen.

Sie schlug die Augen auf.

Und ein irrsinniger, gehässiger Blick quoll aus ihnen hervor, ihr Mund öffnete sich wie zum Schrei, aber im selben Augenblick fing sie an zu schlucken, röchelte, nieste und warf unter schwerem, keuchendem Husten Wasser und immer wieder Wasser aus sich heraus.

Das brachte sie anscheinend zur Besinnung.

Sie drehte sich auf die Seite, kroch in sich zusammen, verkrampfter Husten schüttelte ihren Leib – er hob sie mit den Armen hoch, stellte sie aufrecht, bis der Hustenanfall vorüber war, legte sie wieder auf den Ufersand.

Sie atmete tief, jetzt schon ohne Beschwerden. Nur aus ihren Augen züngelte giftig schweres, dumpfes Ächzen des Schmerzes, – ein Abgrund des schauerlichsten Schmerzempfindens öffnete und schloss sich wieder.