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Der Schöpfungswald ist in Gefahr. Ein schwarzer Nebel bedroht seine Bewohner. Der schmächtige Junge Quingo ist der erste Mensch, der seit dem großen Bruch dieses Land betritt. Nur er kann das Geheimnis des Nebels lüften und den Schöpfungswald retten. Eine Aufgabe, der er sich nicht gewachsen fühlt. Zum Glück muss er sich den Gefahren nicht allein stellen. Im Verlauf seines Abenteuers lernt er die Geschöpfe des Schöpfungswaldes kennen. Einige schließen sich ihm an und begleiten ihn. Quingo lernt, worauf es im Leben wirklich ankommt und was man erreichen kann, wenn man nicht nur auf die eigenen Fähigkeiten setzt. Ihr gemeinsamer Weg führt bis an die Grenzen des Schöpfungswaldes – und darüber hinaus. Dieses Buch ist inspiriert von den Geschichten um Narnia.
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Seitenzahl: 358
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<Der Schwarze Thron>
<Der Schwarze Thron>
<Tilo Linthe>
Copyright: Tilo Linthe
Jahr: 2022
ISBN: 978-9-403-64933-7
Verlagsportal: meinbestseller.de
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig
Quingo – ein komischer Name, aber so hieß er nun einmal. Als Kind hatte ihm das nichts ausgemacht. Da fand er, war der Name gut getroffen. Er hatte gut zu ihm gepasst. Am liebsten war er in der Wildnis des nahen Waldes herumgesprungen, von einer Wurzel zur nächsten gehüpft, hatte kleine Bäche durchquert und war über Wiesen und Felder gerannt. Er liebte den Wald immer noch. Aber seinen Namen? Quingo – das klang nach einem Gummiball, der immer auf und ab hüpfte. Als Kind hatte er das gern getan, aber heute? Mit 17 Jahren hüpfte man nicht mehr. Da ging man lässig über den Schulhof. Aber das war ihm auch nicht gegeben. Er war schmächtig, schmal, ungelenk. Seine Arme und Beine fühlten sich immer so an, als gehörten sie jemand anderem. Er wollte selbstbewusst und bestimmend auftreten wie Jago und seine Freunde. Aber das konnte er nicht und daran war sein Name Schuld: Quingo – die anderen machten sich über ihn lustig deswegen. Wie sollte er da so etwas wie Selbstwertgefühl entwickeln? Er seufzte. Wenigstens hatte er die Hofpause hinter sich, auf der er so tat, als wäre alles in Ordnung. Aber nichts war in Ordnung. Er mochte sich nicht. Am liebsten hätte er sich selbst einmal komplett ausgetauscht. Von seinen Lulatschfüßen bis zu seinen immer zerzaust aussehenden braunen kurzen Haaren.
Etwas traf ihn am Hinterkopf, während die Physiklehrerin Wellenlinien mit Pfeilen an die Tafel malte. Es tat weh. Es klackerte und Quingo schaute unter seinen Stuhl. Da lag ein kleiner Stein. Er drehte sich um und sah in die grinsende Visage Jagos. Er hatte ein paar Jungs um sich geschart, mit denen er mit Vorliebe ihn drangsalierte. Der voluminöse Junge hatte ein Gespür für dankbare Opfer. Jugendliche, die sich nicht wehrten und denen das Selbstvertrauen fehlte…
„Quingo!“ Er schreckte aus seinen Gedanken auf und drehte sich um. Seine Lehrerin blickte ihn über ihre Brille taxierend an. „Was gibt es denn so Interessantes hinter dir?“
„Nichts, Frau Radebruch“, antwortete er kleinlaut. Er hasste ihre herablassende oberlehrerhafte Art.
„Na dann kannst du mir vielleicht sagen, was der Unterschied zwischen Longitudinalwellen und Transversalwellen ist?“
Das konnte Quingo natürlich nicht. Die Naturwissenschaften waren nicht sein Fall. Vor allem nicht Mathe und Physik. Wenn er es genau bedachte, war die ganze Schule nicht sein Fall. Er saß stumm da und wünschte, der peinliche Moment wäre endlich vorüber, aber wieder einmal fehlte ihm das Selbstvertrauen für eine ironische Antwort. Sein Kopf war leer. Frau Radebruch war entweder nie Schülerin gewesen oder hatte im Gegensatz zu ihm immer alle Antworten gewusst, denn sie ließ nicht von ihm ab.
„Nichts?“, fragte sie in gespielter Enttäuschung.
Die Schüler zu demütigen war ihre Art, die Klassendisziplin aufrecht zu erhalten und Quingo wusste genau, was als nächstes kommen würde.
„Ich hätte vom Sohn des Pfarrers eigentlich etwas mehr erwartet. Aber wie sagt man so schön? Pfarrers Kinder, Müllers Vieh …“ Endlich ließ sie ihn in Ruhe, nicht ohne eine ihrer berüchtigten Notizen in ihr Heft zu machen. Davon hatte Quingo schon viel zu viele.
Endlich war die Stunde vorüber. Es war die letzte für heute und das Wochenende stand bevor. Wenigstens etwas. Er warf den Rucksack über eine Schulter und machte sich auf den Nachhauseweg.
An der Tür stand Julie und wartete auf eine Freundin. Qunigo drückte sich an ihr vorbei. Er bekam Schmetterlinge im Bauch, als sie ihn anlächelte. Julie war ziemlich gut in Mathe, aber er traute sich nicht, sie um Hilfe zu bitten. Was, wenn sie nein sagte? Oder noch schlimmer, wenn sie ihn auslachte? Was, wenn sie es als plumpe Anmache missverstand und ihren Freundinnen davon erzählte?
„Na, Schlawingo!“, rief eine Stimme. Quingo schreckte aus seinen Gedanken. Jago trat hinter einem Gebüsch hervor. Plötzlich war er umringt von den Jungs, die etwas zu laut über die Veralberung seines Namens lachten. „Da hast du dir heute ja ein dickes Ding geleistet.“
Quingo blickte zu Boden. Was sollte er auch anderes tun? Er hatte Angst vor Jago und seinen Kumpels, die scheinbar alle Bodybuilding betrieben.
„Guck mich an, wenn ich mit dir rede!“
Quingo hob den Kopf. Die Jungs, die ihn umringten, waren allesamt mindestens einen halben Kopf größer als er. Die hatten kein Problem mit Selbstbewusstsein.
„Weißt du, was du getan hast?“, fragte Jago.
„Lass uns doch vernünftig miteinander …“
„Dann will ich dich mal aufklären“, sprach Jago weiter, als hätte Quingo nichts gesagt. „Du hast heute in der Flugbahn meines Steins gesessen, den ich geworfen habe.“
Jetzt furchte Quingo die Stirn. „Ich habe deinem Steinim Weg gesessen?“
Jago nickte ernst. „Ganz recht. Der war nämlich nicht für dich bestimmt, sondern für Julie. Die geht mir mit ihrem Pferdegebiss nämlich mächtig auf den Kranz.“
Julie saß genau vor Quingo, hatte einen rötlich blonden Pferdeschwanz, der immer hin und herschwang, wenn sie sich mit jemandem unterhielt. Sie war auf ihre quirlige Art sympathisch. Die Sommersprossen in ihrem Gesicht verstärkten diesen Eindruck noch. Aber ein Pferdegebiss hatte sie gewiss nicht. Ganz im Gegenteil. Quingo fand, dass sie sehr schön aussah. Besonders wenn sie lächelte. Dann bekam sie feine Grübchen um die Mundwinkel. Julie hat kein Pferdegebiss, hätte er eigentlich sagen müssen, aber er blieb stumm. Er traute sich nicht.
Jago zog die Augenbrauen hoch. „Nichts?“, ahmte er Frau Radebruch nach. Dann schaute er seine Kumpels an, die zuckten mit den Schultern.
„Ich glaube, wir müssen Bingo ein paar Manieren beibringen. Schließlich sollte er seine Geliebte doch verteidigen, oder nicht? Du hättest sagen müssen, dass sie kein Pferdegebiss hat. Daraufhin eskaliert der Streit, du schlägst zu und wir schlagen zurück.“
Jago und seine Jungs stürzten sich auf Quingo und verprügelten ihn. So endete es immer.
„Das ist dafür, dass du die wertvolle Zeit von Frau Radebruch verschwendet hast“, rief Jago zwischen den Schlägen. Quingo konnte sich nur auf dem Boden zusammenkauern und die Arme schützend vor das Gesicht heben.
Irgendwann ließen sie von ihm ab. „Seht euch nur diesen Feigling an. Wie armselig.“ Jago zog ein Handy aus der Tasche und machte Fotos. Die Scham brannte in Quingos Gesicht, aber er rührte sich nicht, blieb einfach liegen.
Lachend liefen Jago und seine Kumpels davon. Wahrscheinlich hatten sie schon ein anderes Opfer erspäht.
Mühsam setzte sich Quingo auf und betrachtete die Abschürfungen an seinen Armen. Die Hose hatte ein Loch, die Jacke und der Rucksack lagen im Dreck, sein Inhalt auf dem vom Regen durchnässten Boden verstreut. Seine Sicht verschwamm von den ersten Tränen.
„Quingo!“, rief eine entsetzte Stimme. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er wollte nicht, dass ihn jemand so sah. Er drehte sich um und wischte sich die Augen. Julie. Ausgerechnet.
„Was ist passiert?“
Nichts“, antwortete er mürrisch.
„Hat dich Jago wieder in die Mangel genommen?“
Quingo war nicht zum Reden zumute. Er schüttelte nur den Kopf.
„Warte, ich helfe dir. Die Schulbücher sind ja ganz nass.“ Julie bückte sich und begann die Bücher in Quingos Rucksack zu stopfen.
„Lass, ich komm schon klar“, sagte Quingo. Eigentlich tat Julies Anteilnahme gut, aber die Demütigung brannte wie ein unseliges Feuer in seinem Bauch.
„Du blutest ja“, rief Julie.
Quingo strich über seine Wange. Tatsächlich. An seiner Hand war Blut.
Julie holte ein Taschentuch hervor und wollte die Wunde abtupfen, aber Quingo schlug ihre Hand weg, viel gröber als er eigentlich wollte. „Lass mich in Ruhe!“ rief er wütend.
„Ich will dir doch nur helfen!“ Julies Pferdeschwanz schwang zur Seite, als wäre auch er empört über die Zurückweisung.
„Ich hab‘ gesagt, ich komm‘ allein klar!“ rief Quingo. Er war wütend. Wütend auf Jago, wütend auf die ungerechte Lehrerin, aber am meisten auf sich selbst, weil er Julie eigentlich mochte. Er mochte sie sogar sehr, aber sah jetzt in ihr verletztes Gesicht, wie sie sich ohne ein weiteres Wort abwandte und davonstapfte. Das tat noch mehr weh als die Schläge, die er gerade hatte einstecken müssen. Warum war er nur so verdammt stolz?
Schwerfällig stand er auf, stopfte die Schulsachen in den Rucksack und schlich durch die Gassen nach Hause. Leise schloss Quingo die Haustür auf. Erleichtert sah er durch die halb geöffnete Tür das leere Arbeitszimmer. Sein Vater war nicht da. Er machte wahrscheinlich gerade einen Gemeindebesuch oder hatte eine Sitzung. Hatte er heute morgen nicht etwas von Seniorenkreis erzählt? Quingo hatte nicht so genau hingehört, schließlich war es am frühen Morgen gewesen. Früher hatte er einen guten Draht zu seinem Vater gehabt, als er noch mit in die Kirche gegangen war. Aber heute? Er glaubte den ganzen Schwachsinn nicht mehr. Mutter war um diese Zeit arbeiten und sowieso nicht zu Hause. Das letzte was er wollte war, dass seine Eltern ihn so sahen. Er ging ins Bad und schaute in den Spiegel. Mund und Nase waren noch schärfer gezeichnet als sonst, die Augen lagen noch tiefer in ihren Höhlen. Die dunkelblonden Haare standen noch wirrer von seinem schmalen Kopf als sonst. Auf der Wange hatte er eine Platzwunde, die zum Glück nicht mehr blutete.
Die äußeren Verletzungen störten Quingo gar nicht so sehr. Er holte sich häufiger Schrammen und Striemen, wenn er im Wald unterwegs war. Was in ihm wühlte war die Scham, von Jago bloßgestellt worden zu sein und vor Julie im Dreck gelegen zu haben. Das Gefühl hilflos und machtlos zu sein, loderte in seinen Eingeweiden.
Er warf seine dreckigen Klamotten in den Wäschekorb. Auch die Hose mit dem Loch. Das war heute doch modern, dachte er ironisch. Manche seiner Klassenkameraden zahlten viel Geld, damit ihre Jeans ausgewaschen und zerschlissen aussahen.
Dann stieg er unter die Dusche. Allmählich drehte er das Wasser immer heißer, bis er es gerade noch aushielt. Die Wärme tat gut. So stand er eine Weile, die Augen geschlossen. Endlich hatte er genug und zog sich frische Sachen an. Wenigstens äußerlich fühlte er sich jetzt bedeutend besser. Zum Glück war heute Freitag. Das Wochenende lag vor ihm. Er musste sich erst am Montag wieder der Schule mit ihren Herausforderungen stellen.
„Willst du nicht mal in den Jugendkreis mitgehen?“
Sie saßen zu dritt am Tisch, auf dem das Abendbrot bereitstand. Auf diese Frage hatte Quingo gewartet. Nachdem sein Vater nach Hause gekommen war, hatten sie ein paar belanglose Worte gewechselt. Die Schrammen und Platzwunde hatte Quingo mit einem Ausflug in den Wald begründet. Das hatte seinem Vater als Erklärung genügt. Die Gemeinde fand es merkwürdig, dass der Sohn des Pfarrers nicht in die Jugend ging. Aber er hatte einfach keine Lust darauf. Langweilige Abende mit noch langweiligeren Bibelauslegungen, die er sowieso nicht glaubte. „Ich überleg‘s mir“, antwortete er diplomatisch.
„Du überlegst jetzt schon ein halbes Jahr. Du solltest dich mal entscheiden“, antwortete sein Vater. Er hieß Daniel, ein alttestamentlicher Name ganz nach Familientradition.
„Ich habe keine Lust, o.k.?“
„Was denn nun? Überlegst du noch oder hast du keine Lust?“
„Ich weiß es nicht. Jetzt lass mich in Ruhe.“
„Nein. Diesmal nicht.“ Sein Vater baute sich vor ihm auf. Es schien, als meinte er es ernst.
„Was willst du denn von mir hören?“
„Ich will, dass du dich endlich mal entscheidest. Das kann doch wirklich nicht so schwer sein. Mir geht deine Unentschlossenheit gehörig auf die Nerven.“
„Daniel“, mischte sich seine Mutter ein. Sie war meist der Puffer zwischen ihnen und vermittelte, wenn es zum Streit kam. „Lass den Jungen doch. Teenager sind eben so.“
„Nein, Anna, diesmal nicht.“ Vater meinte es wirklich ernst. „Irgendwann muss der Junge sich mal entscheiden. Also? Was ist jetzt?“
Quingo fühlte sich in die Ecke gedrängt. Wut quoll in ihm hoch und brodelte heiß in seinen Eingeweiden. „Ich gehe nicht in den Jugendkreis. Keine Lust. Wenn du es genau wissen willst, komme ich gar nicht mehr mit in die Kirche. Ich habe die Schnauze voll von diesem ganzen weltfremden Gequatsche. Ich glaube das alles sowieso nicht. Ich bin doch nicht mehr im Kindergarten.“
Es wurde plötzlich sehr still im Haus. „Meinst du das ernst?“
Quingo nickte. Er war immer noch wütend. „Das ist mein voller Ernst. Die letzten Jahre bin ich euch zuliebe in den Gottesdienst mitgekommen. In der Schule haben sich schon alle darüber lustig gemacht. Jedes Mal, wenn ich eine Antwort nicht weiß, sind die Lehrer enttäuscht vom Sohn des Herrn Pfarrer, von dem man mehr erwartet hätte. Darauf kann ich echt verzichten.“
Erst jetzt blickte Quingo seinem Vater direkt ins Gesicht und erschrak. Er sah die Verletzung, die Enttäuschung in seinem Gesicht. Er sagte nichts, sondern stand auf, ging in sein Arbeitszimmer. Es klang irgendwie endgültig, als er die Tür leise hinter sich schloss. So, als würde eine unsichtbare Tür zwischen ihnen zufallen.
Mutter seufzte und sagte leise: „Schämst du dich wirklich so sehr für uns?“
Quingo schwieg betroffen. Von der Wut war nur noch eine kalte Erschöpfung geblieben, die seine Arme und Beine schwer werden ließ. Jetzt tat es ihm leid, aber er konnte es nicht mehr zurücknehmen. Und zugeben konnte er es auch nicht. Dazu war er zu stolz. Also stand er auf und rannte in sein Zimmer. Er spürte die enttäuschten Blicke seiner Mutter im Nacken. Er floh regelrecht vor der Erkenntnis, die erst allmählich in seinen Verstand einsickerte: Zwischen ihm und seinen Eltern war etwas zerbrochen.
Die nächste Woche hielten sie mühsam die Fassade voreinander aufrecht. Sie aßen gemeinsam die Mahlzeiten und sprachen über Belanglosigkeiten. Aber da war eine Barriere, die sie nicht überschreiten konnten; eine Wand, die sich unsichtbar zwischen ihnen erhob. Trotz der vielen Worte war etwas zwischen ihnen verstummt und schrie ihm ins Gesicht. Und Quingo wusste, dass er dafür verantwortlich war. Aber er hatte keine Ahnung, wie er diese Wand durchbrechen sollte. Sollte er seinen Eltern zuliebe doch zum Jugendkreis gehen? Wenigstens ein paar Mal, damit sie zufrieden waren? Das war keine Lösung. Sie würden das sofort durchschauen und so zu tun, als glaubte er immer noch an Gott, wollte er nicht. Er fühlte instinktiv, dass es die Sache nur noch schlimmer machen würde.
Viele Freunde hatte Quingo nicht, bei denen er sich Rat holen konnte. Er brauchte sie auch nicht. Am liebsten war er allein im Wald unterwegs. Der Wald verstand ihn – und er verstand den Wald. Hier bekam er einen klaren Kopf und ließ sich von der Natur trösten. Zu jeder Jahreszeit zeigte sie sich in einem anderen Gewand. Im Frühling sprießte und blühte alles, wenn die ersten Sonnenstrahlen wärmend durch die frischen grünen Zweige brachen und Quingo einem geschlüpften Vogelbaby vorsichtig zurück in sein Nest verhalf. Im Sommer kühlte er seine Füße in plätschernden Bächen, während die Schmetterlinge um ihn herumtanzten. Im Winter stapfte er durch den tiefen Schnee, der alle Geräusche dämpfte und das Gefühl vermittelte, der einzige Mensch auf der Welt zu sein. Jetzt war Herbst und Quingo unternahm wieder einmal einen seiner Streifzüge. Der Wald hatte diesen schweren würzigen Duft sich zersetzender Blätter angenommen. Aus einem Versteck beobachtete er die Eichhörnchen, wie sie emsig ihre Vorräte für den Winter sammelten. Hin und wieder raschelte es zwischen dem dichten Laub, wenn kleine Mäuse zwischen den Löchern ihres Baus hin- und herflitzten.
Er stand auf und folgte einem Pfad an einer Höhle vorbei. Er hielt inne, als neben ihm ein Geräusch ertönte. Es war ein schweres Schnaufen. Er drehte sich um und erblickte einen braunen Bären. Er sah in seinen Augen, dass er genauso überrascht war ihn hier zu treffen. Die Überraschung schlug in Angst und Aggression um. Der Bär richtete sich in drohender Pose auf die Hintertatzen auf. Jetzt überragte er den schmächtigen Jungen mindestens um Haupteslänge. Ein Hieb mit der Vordertatze und es wäre um Quingo geschehen.
Quingo pochte das Herz bis zum Hals, aber er verfiel nicht in Panik. Er hatte schon so manche brenzlige Situation erlebt. Er wunderte sich, dass der Bär sich von ihm bedroht fühlte, denn normalerweise nahmen die Tiere des Waldes gar keine Notiz von ihm. Da hörte er im Hintergrund ein ängstliches Brummen und ihm wurde klar, dass er keinen Bär, sondern eine Bärin vor sich hatte. Die Mutter verteidigte ihr Junges. Quingo erahnte die Bewegung, bevor sie kam und sprang mit einem weiten Satz zurück. Die rasiermesserscharfen Krallen verfehlten ihn nur knapp. Quingo ging langsam zurück, brachte noch mehr Abstand zwischen sich und die Bärenmutter. Dabei stieß er ein beruhigendes Brummen aus. Die Bärin ließ sich auf auf alle Viere fallen und schnupperte, prüfte Quingos Geruch. Dann fasste sie Vertrauen, spürte dass Quingo für sie keine Gefahr darstellte. Da schoss ein kleines braunes Bündel aus dem Unterholz hervor und warf den Jungen fast um. Das Bärenjunge und er tollten herum, spielten miteinander und die Bärenmutter brummte gutwillig dazu.
Quingo wusste nicht, dass dies eine besondere Gabe war, die kein anderer Mensch hatte. Für ihn war es völlig normal, mit den Tieren zusammen zu sein. Hier gehörte er hin. Im Wald bei den Tieren fühlte er sich wohl. Er verstand sie und sie verstanden ihn. Wenn er seine Probleme so einfach lösen könnte wie hier im Wald …
Quingo seufzte. Er musste zurück nach Hause. Er hatte seinem Vater versprochen, die Gemeindebriefe in die vorbereiteten Briefumschläge zu stecken und in den Briefkasten zu werfen. Er bereute seine Zusage schon, als er sich auf den Weg nach Hause machte. Als er die Haustür aufschloss und die beiden Stapel aus Briefumschlägen und Gemeindebriefen sah, stöhnte er. Das würde eine Ewigkeit dauern, die alle einzutüten. In einem Anflug von Reue hatte er gehofft, diese Geste würde die unsichtbare Wand ein wenig abtragen, aber dafür war sie zu hoch. Immerhin hatte sein Vater den Kamin entzündet, der nun eine wohlige Wärme im Wohnzimmer verbreitete.
Quingo setzte sich an den Wohnzimmertisch und begann die ersten Gemeindebriefe in die Briefumschläge zu stecken. Der erste war für Marketa Ankaschenko. Das sah seinem Vater ähnlich: Die Briefumschläge waren alphabetisch sortiert. Es war eine stupide und langweilige Arbeit. Als er bei Lena Rubenka angekommen war, blätterte er den Gemeindebrief durch. Die Karikaturen seines Vaters hatten ihm immer gut gefallen. Das hätte er nie laut zugegeben, aber er fand, dass sie immer gut zum Thema seiner Andachten passten. Da war sie auch schon. Ein Junge war abgebildet, der ängstlich zusammengekauert am Boden hockte und nach oben schaute. Seine Gesichtszüge hatten verblüffende Ähnlichkeit mit ihm: Die gleichen scharf gezeichneten Konturen seines Gesichts, die hervorspringenden Wangenknochen, das zerzauste Haar. Der Junge blickte in die Gesichter mehrerer Jungs, die kurz davor standen, sich auf ihn zu stürzen, ihre Münder zu einem grausamen Lächeln verzogen. Eines hatte Ähnlichkeit mit Jago. Die Szene spielte im Wald. Darunter stand: „Wovor hast du Angst?“
Quingo sprang auf. Der Gemeindebrief klappte wieder zu. Der Stuhl kippte nach hinten. Was wurde hier gespielt? Erlaubte sich sein Vater einen Scherz mit ihm? War das seine Rache dafür, dass er nicht mehr an Gott glaubte? Aber wie konnte er diese Szene gezeichnet haben, von der er ihm nie etwas erzählt hatte?
Er nahm den Gemeindebrief ein zweites Mal zur Hand und schlug mit bebenden Händen die Seite mit der Andacht und der Karikatur wieder auf. Erneut blickten die vor Angst geweiteten Augen in die grausamen Gesichter. Er sah sich selbst, wie er ohnmächtig erstarrte, als Jago aus dem Gebüsch hervorkam. Wieder brannte die Scham in seinen Eingeweiden, als er sich daran erinnerte, wie er am Boden lag, zerrissen und dreckig. Dann der mitleidige Blick von Julie …
Mit einem Wutschrei nahm er die Briefe samt Umschläge und warf sie in das Kaminfeuer. Er atmete schwer, als sich die weißen Blätter schwarz färbten und schnell zu Asche verbrannten. Er drehte sich um. Sein Vater stand in der Tür, die Schlüssel in der Hand. Er wirkte wie erstarrt, fassungslos.
Quingo dachte nicht nach. Er rannte einfach los, an seinem Vater vorbei, der sich immer noch nicht rührte. Einfach weg von hier. Weg von der Enttäuschung, weg von der Scham und weg von der Sprachlosigkeit. Er rannte und rannte. Seine Beine trugen ihn ganz automatisch wieder in den Wald. Erst als er völlig außer Atem war, hielt er an, musste sich auf seinen Oberschenkeln abstützen. Er war immer noch so aufgewühlt, dass er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
Er hörte ein Rascheln hinter sich.
„Wen haben wir denn da?“, rief eine allzu bekannte Stimme hinter ihm.
„Kommt schnell, Leute. Schaut mal, wen uns die Katze da vor die Tür gelegt hat.“
Quingo drehte sich um. Jago hatte das gleiche grausame Lächeln auf dem Gesicht wie auf der Karikatur. Quingos Augen weiteten sich. War das die Szene, die die Karikatur darstellte? Jago und seine Kumpane, die ihn hier im Wald verprügelten? Aber wie konnte das sein? Er war doch Hals über Kopf losgelaufen, ohne zu wissen wohin.
Jago und seine Jungs näherten sich, schlugen mit der Faust in die flachen Hände. Über ihre Absichten konnten keine Zweifel bestehen.
Quingo erhob sich und floh.
„Los, hinterher!“
„Den kriegen wir.“
Normalerweise hätte Quingo ihnen mit Leichtigkeit entkommen können, aber nicht heute. Er war bereits außer Atem und seine Beine schwer. Er spürte, dass seine Kräfte trotz des Adrenalinschubs immer mehr nachließen. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Blind taumelte er weiter. Nur fort von dieser Szene, die sich in seinen Kopf eingebrannt hatte. Nur fort von Jago, der ihn daran erinnerte, wie klein und ohnmächtig er in Wirklichkeit war.
Das Fußgetrappel hinter ihm kam immer näher.
„Gleich haben wir dich. Dann geht‘s dir an den Kragen. Und diesmal kommst du nicht so leicht davon.“ Jago zog eine grausame Freude aus Quingos Angst. Sie schien ihn zu beflügeln. Wie einen Vampir saugte er alle Kraft aus ihm heraus. Sie machte ihn stärker und noch schneller.
Da war eine Höhle. Was, wenn sie eine Sackgasse war? Egal. Schnell hinein.
Es wurde dunkel um Quingo. Die Höhle war immerhin so tief, dass er nicht sofort ihr Ende erreichte. Bald konnte er die Hand nicht mehr vor Augen sehen, aber die Panik trieb ihn voran. Die Schritte hinter ihm wurden leiser, verhaltener. Seine Verfolger schienen langsamer zu werden, um sich in der Dunkelheit nicht irgendwo anzustoßen.
„Komm raus und stell dich deinem Schicksal, du Angsthase. Du kannst uns nicht entkommen“, hallte die Stimme Jagos von den Wänden wider.
Quingo lief weiter, die Hände nach vorn ausgestreckt, damit er ein Hindernis frühzeitig entdeckte und nicht dagegen lief. Er begann Hoffnung zu schöpfen. Vielleicht gab es doch einen Ausweg. Vielleicht hatte die Höhle einen zweiten Ausgang? Er blickte über die Schulter und sah, wie Lichter aufflammten und seine Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase. Natürlich. Jeder hatte heutzutage eine Taschenlampe an seinem Smartphone. Nur er hatte seines zu Hause liegen gelassen, als er Hals über Kopf hinausgestürmt war.
Er rannte weiter, mitten hinein in die Dunkelheit. Noch hatten die dürftigen Lichtkegel der Smartphones ihn nicht erfasst. Da stolperte er, schlug der Länge nach hin und stieß mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Sein letzter Gedanke war: Jetzt ist alles aus.
Quingo erwachte mit heftigen Kopfschmerzen. Sein Kopf pochte. Stöhnend setzte er sich auf und betastete vorsichtig seine Stirn. Da entwickelte sich gerade eine prächtige Beule. Dann erinnerte er sich wieder: Jago war hinter ihm her. Gehetzt blickte er sich um – und erstarrte. Er war nicht mehr in einer Höhle, sondern in einem Wald. Er saß auf einem Pfad, der sich durch das Unterholz schlängelte. Es war sommerlich warm und nirgendwo waren Jago und seine Clique zu sehen. Friedlich lag der Wald da.
Vorsichtig stand Quingo auf. Er erkannte die Gegend nicht wieder, obwohl er sich im Wald bestens auskannte. Die Geräusche der Blätter, das Zwitschern der Vögel – alles klang fremd und unvertraut.
Er hörte ein Plätschern ganz in der Nähe. Er lief den Pfad entlang über Baumwurzeln und Blätter zu einem Baumstamm, der eine natürliche Brücke über ein kleines Bächlein bildete. Vorsichtig rutschte er die Uferböschung herab. Der Bach rauschte kristallklar an ihm vorüber. Er tauchte seine Hände hinein. Das Wasser war wunderbar kühl. Er benetzte sein Gesicht, kühlte die Beule auf seiner Stirn. Dann kostete er vorsichtig. Das Wasser schmeckte frisch wie Morgentau. In gierigen Zügen trank er. Die Kopfschmerzen verflogen, während er unter dem Baumstamm am Bachufer saß und über seine Lage nachdachte.
Wie war er hierher gekommen? Er konnte sich nicht erinnern, die Höhle verlassen zu haben. Er war gestolpert und hingefallen. Dann hatte er das Bewusstsein verloren. Dass Jago und seine Kumpane ihn aus der Höhle herausgetragen hatten, konnte er sich nicht vorstellen. Noch weniger, dass sie ihn ungeschoren davonkommen ließen. Spielten sie ihr grausames Spiel weiter und kamen gleich aus ihren Verstecken, um ihn weiterzujagen? Worauf warteten sie dann? Der richtige Zeitpunkt war längst verstrichen. Außerdem traute er Jago so viel Raffinesse nicht zu. Wenn der ihn nicht herausgetragen hatte, wie war er dann hierher gekommen? Noch dazu in diesen völlig unbekannten Teil des Waldes. Außerdem war es viel zu warm. Alles um ihn herum sah nach einem lauen Sommertag aus, nicht nach Herbst. Das passte alles nicht zusammen.
Plötzlich hörte er ein ungewöhnliches Geräusch. Da lag ein unmerkliches Zischen in der Luft, das er nicht einordnen konnte. Es wurde lauter und klang, als stünde ein Dampfkessel kurz davor loszupfeifen. Dann machte es KLOCK und das Zischen brach ab. Dann begann es von neuem. Zögernd kletterte Quingo wieder die Uferböschung hoch und lief über den Waldboden, jedes unnötige Geräusch vermeidend. Zuerst sah er etwas Rotes zwischen den Bäumen hindurchschimmern. Langsam näherte er sich weiter, umrundete ein Gebüsch, dass ihm die Sicht nahm. Dann blieb er wie angewurzelt stehen, konnte nicht glauben, was er da sah. Er warf sich auf den Boden und schlich noch näher heran. Er traute seinen Augen nicht: Zwischen den Bäumen stand ein echter ausgewachsener Drache. Na ja, ausgewachsen war nicht das richtige Wort. Er war ungefähr so groß wie ein Eichhörnchen und hätte auf Quingos hohler Hand bequem Platz gehabt. Aber es war kein Eichhörnchen, sondern ein Drache! Seine schuppige Haut strahlte in einem satten Rot. Der schlanke Körper ging in einen mit Dornen besetzten Schwanz über, dessen Ende eine Verdickung wie eine Pfeilspitze aufwies. Auch der Kopf war von einem kleinen Dornenkranz eingerahmt.
Quingo war fasziniert und beunruhigt zugleich. Ein echter Drache stand da vor ihm! Oder hatte er schon Halluzinationen?
Das Tier hatte etwas Putziges. Es verhielt sich nicht sehr majestätisch, wie Quingo sich vorgestellt hatte. Andererseits: Wer hatte je einen echten Drachen gesehen und konnte sagen, wie sie sich normalerweise verhielten? Dieser Drache taumelte umher und flatterte mit den ledrigen Flügeln, sichtlich bemüht, sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er schüttelte den Kopf, dessen spitz zulaufende Schnauze mit dem lächelnden Maul ihm ein freundliches, geradezu liebenswürdiges Aussehen verliehen. Quingo empfand auf Anhieb Sympathie für dieses Geschöpf.
Aber ein Drache, hier in der Nähe der Stadt? Irgendetwas stimmte hier nicht.
Plötzlich hörte der Drache auf, umherzutaumeln und legte die Flügel an. Sein zierlicher Körper spannte sich. Erneut hörte Quingo das Zischen, während das Tier sein Maul öffnete und zierliche Reißzähne entblößte. Der Kopf ruckte vor und jetzt ertönte das hohle KLOCK, als würde man mit einem Bambusstock gegen einen Baumstamm schlagen. Aus den vorspringenden Nüstern an der Spitze der Schnauze entwichen zwei kleine Rauchfäden. Das Tier torkelte umher, als wäre es betrunken. Es flatterte mit den Flügeln, um nicht umzukippen.
Quingo schlich sich noch näher an das Tier heran. Jetzt gab es seine geheimnisvollen Bemühungen auf, hielt das Maul in die Luft, blähte die Nüstern und witterte. Dann sprang es heftig mit den Flügeln schlagend davon.
Quingo sprang auf und rannte hinter dem fliehenden Drachen hinterher. Das Tier landete neben einem Stein, der sich in Form und Farbe von seiner Umgebung abhob. Seine Oberfläche war spiegelglatt und glänzte in der Sonne wie von einer dünnen Ölschicht überzogen. Die blaue ovale Oberfläche war von grauen Schleiern durchzogen. Der Junge ging näher, während der kleine Drache das Maul öffnete und ein Fiepen von sich gab. Hatte es Quingo entdeckt? Es sah nicht so aus.
Der Junge warf sich wieder ins Gras und robbte zu dem Stein, der ihm irgendwie merkwürdig vorkam. Jetzt sah er, dass der zerbrochen war. Einzelne blau-graue Stücke lagen herum. Risse zogen sich an den Bruchkanten des größten Stücks in den Stein. Er war wohl nicht so robust, wie er zunächst ausgesehen hatte.
Da bemerkte ihn das winzige Tier, öffnete das Maul und knurrte ihn an. Wieder gab es das Zischen von sich und mit einem hohlen KLOCK entließ es kleine Rauchfäden in die Luft. Während es damit beschäftigt war, sein Gleichgewicht wiederzufinden, inspizierte Quingo den ungewöhnlichen Stein weiter. Er war innen hohl. Endlich begriff Quingo: Was er vor sich hatte, war kein Stein, sondern ein Drachenei, aus dem das Tier gerade geschlüpft sein musste. Die verstreuten Bruchstücke waren Eierschalen.
Der Junge schaute sich beunruhigt um. Wo war seine Mutter? War sie gerade unterwegs auf Nahrungssuche? Würde sie gleich zurückkommen?
Quingo erinnerte sich an seine Begegnung mit der Bärenmutter. Was, wenn eine riesige Drachenmutter auftauchte und ihn in der Nähe ihres gerade geschlüpften Drachenbabys fand?
Wieder das Zischen und das hohle KLOCK. Wieder torkelte das Drachenbaby umher. Der Drache schien ihn jedenfalls nicht zu mögen.
Quingo wollte sich vorsichtig zurückziehen, als er zufällig die ölige Oberfläche einer Eierschale streifte, die er übersehen hatte. Ein Blitz durchzuckte ihn. Dem Jungen wurde gleichzeitig heiß und kalt. Vor seinem geistigen Auge entstand ein Auge mit grüner Iris. Die Pupillen waren doppelt geschlitzt und tiefschwarz. Dieses fremdartige Auge starrte Quingo an. Es war wie ein Fenster in den dahinterliegenden ebenso fremden Geist. Das Auge zog ihn in seinen Bann, hypnotisierte ihn, sezierte seine Seele und teilte sie in Millionen Fragmente, um sie einzeln zu betrachten. Quingo konnte sich nicht rühren oder wehren. Er fühlte sich nackt und hilflos vor diesem alles enthüllenden Blick. Kein Blinzeln, kein Lidschlag verschaffte ihm eine Atempause. Unbarmherzig blieb das Drachenauge auf seine Seele gerichtet und grub sich tief in sie hinein, füllte sie auf mit seiner Fremdartigkeit. Er wollte schreien, konnte es aber nicht. Er wollte sich aufbäumen, aber sein Körper war wie gelähmt. Seine Seele stand in Flammen, verbrannte aber wie durch ein Wunder nicht. Sein Geist zersplitterte, aber dieses grüne Auge war wie ein Stahlband, das die Bruchstücke zusammenhielt. Es presste und drückte, formte und veränderte, bis sich plötzlich Quingos Perspektive veränderte. Er sah sich selbst wie durch das Drachenauge, wie er verkrümmt auf dem Gras lag, die Hand an das Drachenei gelegt. Das Ei hatte eine Aura, als sei es so heiß, dass es die Luft zum Wabern brachte. Diese Aura sprang auf ihn über und erfasste seinen gesamten Körper.
Dann verschwand das Drachenauge und sein Inneres setzte sich wieder zusammen. Ihm wurde schwarz vor Augen und der Junge sank in sich zusammen. Er zitterte am ganzen Leib, kalter Schweiß brach ihm aus. Er fühlte sich erschöpft. Er blieb so liegen, atmete schwer. Nach einer Weile ließ das Zittern nach. Er schlug die Augen auf. Kein Drachenauge weit und breit. Nur das dichte grüne Blätterdach über ihm. Vorsichtig setzte er sich auf. Er fühlte sich anders als vorher. Er spürte eine fremde Präsenz zwischen seinen Gedanken wie Fugen zwischen Mauersteinen oder Keramikkleber zwischen Scherben. Quingo schüttelte den Kopf, aber das eigenartige Gefühl blieb.
Eine Berührung lenkte ihn ab. Etwas kratzte über seine Hand wie ein rauer Stein. Quingo drehte den Kopf. Das Drachenbaby hatte ihn mit seiner Schnauze angestupst und blickte erwartungsvoll zu ihm hoch.
„Du bist aber zutraulich“, wunderte sich Quingo.
Da begegneten sich ihre Blicke. Das Drachenauge blitzte auf und überlagerte den Wald. Er hörte einen Namen.
„Arellon“, sagte Quingo, schmeckte den Silben mit der Zunge nach. „Ist das etwa dein Name?“
Der Drache fiepte und rieb abermals seinen Kopf an Quingos Hand.
„Das nehme ich mal als Bestätigung“, sagte der Junge mehr zu sich selbst als zu dem Drachenwesen. Seine eigene Stimme zu hören half ihm, diese unwirkliche Situation als real zu akzeptieren.
Das Wesen schaute ihn an und legte den Kopf schief.
„Du bist ja ein ganz pfiffiges Kerlchen.“ Quingo hob seine Hand und streichelte vorsichtig den Kopf des Wesens. Die Haut war rau und hart wie Stein. Trotzdem schien das Tier die Berührung zu genießen, denn es schmiegte sich an Quingos Hand.
„Und wie geht es jetzt mit uns beiden weiter?“ Quingo fühlte sich ein wenig unwohl bei dem Gedanken, die Verantwortung für das gerade geschlüpfte Drachenbaby zu übernehmen. Aber was blieb ihm anderes übrig? Eine Drachenmutter schien es weit und breit nicht zu geben, und Arellon allein im Wald zurückzulassen kam ihm schäbig vor.
Jetzt sprang das Wesen geschickt auf seine Hand, kletterte den Arm hoch und setzte sich auf seine Schulter. Dort stupste es gegen die Wange und ließ wieder ein Fiepen hören.
„Du willst wohl, dass wir zusammenbleiben?“, vermutete Quingo. „So was habe ich mir schon gedacht.“
Quingo stand auf. Das Drachbaby flatterte mit seinen kleinen Flügeln, um nicht herunterzufallen. „Na, dann schauen wir mal, wo uns dieser Pfad hinführt“, sagte der Junge und schaute sich suchend um. In der Nähe der Uferböschung entdeckte er die festgetretene Erde, die sich zwischen den Bäumen und Sträuchern hindurchschlängelte. Er hätte schwören können, dass er sich viel weiter vom Pfad entfernt hatte. Er schob es auf den eigenartigen Aussetzer, den er gerade gehabt hatte und ging los. Neugierig folgte er dem schmalen Weg, gespannt darauf, wo er ihn hinführen würde. Er suchte nach Wanderzeichen und Wegweisern, aber die gab es nicht. Der Wald wirkte unberührt. Je länger er unterwegs war, desto sicherer wusste er, dass er hier noch nie gewesen war – dass noch kein Mensch hier gewesen war. Die Bäume wirkten älter und lebendiger. Sie schienen ihn mit ihren ausladenden Ästen willkommen zu heißen wie einen lang ersehnten Besucher. Ihre dicken Stämme mit der rissigen Rinde zeugten davon, dass sie bereits Jahrhunderte gesehen hatten. Obwohl sich die Äste nicht bewegten, hatte er das Gefühl, dass sie ihm bereitwillig Platz machten. Er blieb nirgendwo mit seinen Sachen hängen oder bekam rote Kratzer von den Dornen der Büsche.
Er erblickte eine Blüte mit ungewöhnlich vielfältigen Farben. Sie hatte eine Pracht, wie er sie noch nie vorher gesehen hatte. Sie war so schön, dass er sich nicht sattsehen konnte, doch dann stutzte er. Hatte sie sich gerade bewegt? Stand sie immer noch am gleichen Platz wie vor einer Minute? Quingo verspürte den Drang, sie aus der Nähe zu betrachten, aber eine innere Stimme riet ihm, auf dem Pfad zu bleiben.
Er kam an einem Riesenpilz vorbei mit einem hellen Stamm und einem Pilzhut, unter dem Quingo bequem hätte stehen können. Er traute sich aber nicht in seine Nähe, weil sich dann und wann die Pilzkrempe kräuselte und unangenehme Geräusche von sich gab.
Einmal sah er einen Strauch, dessen Blätter aussahen wie bunt gefaltetes Papier. Als Quingo näher kam, um sich diese sonderbare Erscheinung aus der Nähe anzusehen, richteten sich die Blätter auf ihn aus. Dann begannen sie sich heftig zu schütteln und Quingo sprang erschrocken zurück. Arellon kommentierte die plötzliche Bewegung mit einem protestierenden Fiepen. Er verlor das Gleichgewicht und flatterte zu Boden. Auch das registrierte der Busch offenbar, denn jetzt bog sich das gesamte Geäst durch und mit einem Ruck riss er sich aus dem Boden und raste auf seinem filigranen Wurzelgeflecht davon. Nach einigen hundert Metern blieb er stehen, bog abermals die Zweige und sprang mit einer ruckartigen Bewegung in die Luft, um sich wieder in den Boden einzupflanzen. Jetzt entfalteten sich die Blätter und bildeten eine bunte Kuppel über dem Geäst.
Der rote Drache schaute dem Busch nach, verlor aber das Interesse, als er wieder im Boden steckte und flatterte zurück auf Quingos Schulter.
Quingo schüttelte den Kopf. „Das ist aber ein sehr merkwürdiger Wald.“ Er sah ein Geschöpf zwischen den Bäumen hindurch flitzen, das aussah wie eine aufrecht gehende Schlange. Der schlanke Körper lief in einem schmalen Kopf aus, dessen große Augen die Umgebung in alle Richtungen musterten. Der s-förmig gebogene Leib hatte an der Unterseite tausend dunkle Fäden, mit denen es sich erstaunlich schnell fortbewegte. Der Schwanz wedelte dabei heftig hin und her. Schließlich verschwand das wundersame Geschöpf hinter einer Anhöhe.
„Wie bin ich hier bloß hingekommen?“, murmelte Quingo. Kurz überlegte er, ob er umkehren sollte, aber er verwarf diese Idee sofort wieder. Die Richtung war einerlei in diesem fremden Wald. Er konnte nur hoffen, irgendwann auf Zeichen von Zivilisation zu stoßen.
Als sie an einen Bach kamen, trank Quingo mit durstigen Schlucken. Arellon schien nicht viel für Wasser übrig zu haben. Er hielt sich auffällig abseits. Quingo bespritzte ihn aus Spaß und der Drache sprang hin und her, um den Wassertropfen auszuweichen. Als er getroffen wurde, zischte es vernehmlich. Der Drache stieß ein klagendes Fiepen aus und versteckte sich hinter einem Baum. Quingo hielt erschrocken die Hände vor den Mund. „Das tut mir leid. Das wollte ich nicht.“
Der Drache lugte misstrauisch hinter dem Baum hervor.
„Ich mache das nie wieder! Versprochen!“
Als hätte der Drachenwinzling die Entschuldigung verstanden, kam er hinter dem Baum hervor, schüttelte sich, schlug mit den Flügeln und sprang auf Quingo zu, der ihm die Arme entgegenstreckte. „Komm nur wieder zu mir, mein kleiner wasserscheuer Freund.“
Da hielt der Drache inne und schaute vorwurfsvoll auf Quingos Hände, die immer noch nass waren.
„Du hast natürlich vollkommen Recht“, sagte Quingo. „Wie unachtsam von mir.“ Er wischte die Innenflächen an seiner Hose trocken und streckte sie dem Drachen abermals entgegen.
Der sprang nun freudig darauf, schmiegte sich in sie hinein und fiepte vergnügt. Dann sprang er wieder auf Quingos Schulter und ließ sich dort nieder.
Stunde um Stunde wanderten sie, bis der Wald abrupt endete. Wie durch einen Vorhang trat er zwischen den letzten Bäumen hindurch und befand sich ohne Übergang am Rand eines welligen Graslands, das sich bis zum Horizont erstreckte. Verwundert schaute er sich um. Hinter ihm standen die Bäume so dicht, dass sie wie eine grüne Wand wirkten. Quingo zuckte mit den Schultern und ging langsam vorwärts. Die hüfthohen Halme wiegten sich träge im Wind und umschmeichelten seine Beine. Sie erweckten den Eindruck, als ginge er durch ein grünes Meer, dessen Oberfläche wie Wellen hin und her wogten. Giraffenähnliche Wesen bewohnten das Grasland. Ihre Hälse ragten vielleicht 100 Meter hoch in den Himmel auf. Ihre Haut hatte die Farbe von Anthrazit und war schrundig wie die Oberfläche verwitterten Gesteins. Ihre Körper sahen aus wie aus Steinen zusammengesetzt, die nicht immer die richtige Größe und Form hatten. Ihre Köpfe wirkten unfertig, als hätte ein Bildhauer mitten in seiner Arbeit aufgehört. Eines der Geschöpfe befand sich ganz in Quingos Nähe. Er konnte sehen, wie sich eines der vier Beine Zentimeter um Zentimeter hob, während ein anderes sich ebenso langsam dem Boden näherte. Die Giraffen wirkten trotz ihrer gewaltigen Größe keineswegs bedrohlich. Sanfte Riesen in einem Meer aus Gras.
„Was für erhabene Geschöpfe!“, rief Quingo. Die giraffenähnlichen Wesen schienen ihn nicht zu bemerken. Lag es an ihrer Größe, aus deren Perspektive er wie eine Ameise wirken musste, oder an ihrem langsamen Lebensrhythmus? Quingo beeindruckte die ruhige Selbstverständlichkeit, mit der sich diese friedlichen Giganten auf der Graslichtung fortbewegten. „In was für einer Welt bin ich hier nur gelandet?“, fragte er sich selbst, während eines der Geschöpfe begann, in Zeitlupe den Kopf herabzubeugen. Dafür, dass bisher niemand einen Drachen gesehen hatte, mochte es noch eine Erklärung geben. Aber diese Riesen wären bestimmt nicht verborgen geblieben.
Endlich riss sich Quingo von dem Anblick los. Der Pfad war trotz des hüfthohen Grases gut zu erkennen. Wer mochte hier regelmäßig langgehen und dafür sorgen, dass er nicht überwucherte und verschwand?
Während sie das Grasland durchquerten, meldete sich Quingos Magen knurrend zu Wort. Der Drache knurrte zurück.
„Keine Angst. Das ist nur mein Magen“, beruhigte Quingo den Rotling.
So wanderten sie durch die weite Graslandschaft, bis am Horizont ein dunkler Streifen auftauchte. Quingo kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts Genaues erkennen. „Was meinst du, was das da hinten ist?“
Der Drache schaute ihn aus seinen grünen Augen an und stupste ihn gegen die Wange.
„Du weißt es auch nicht. Schon klar.“
Sie gingen immer weiter, bis der dunkle Streifen immer mehr Kontur gewann. Es waren Bäume, die auch hier dicht an dicht standen. Zwischen ihnen ragten gewaltige Baumriesen hervor, deren ausladende Kronen sich dem Himmel entgegenstreckten, als wollten sie ihn umarmen. Es dauerte lange, bis sie den Waldrand auf der gegenüberliegenden Seite erreichten. Plötzlich sprang der rote Drache von seiner Schulter und flatterte vor ihm auf den Boden.
„An deinen Flugkünsten musst du aber noch ein bisschen arbeiten“, sagte Quingo und schmunzelte.
Der Drache öffnete das Maul und fiepte beleidigt. Dann sprang er mit seinen Flügeln flatternd vorwärts und drang in den Wald ein.
Quingo folgte ihm und sofort umfing ihn wieder der schwere erdige Geruch. Nach einigen hundert Metern kam ein Baum in Sicht, den Quingo noch nie gesehen hatte. Er fiel nicht so sehr durch seine Größe, als durch seine Fremdartigkeit auf. Sein glatter Stamm schraubte sich wie ein Korkenzieher aus dem Boden in die Höhe und wurde immer schlanker. Die Rinde war grau mit einem Schimmer von blau. In unregelmäßigen Abständen wuchsen braune Knotenbeutel aus dem Stamm. Ihre Oberfläche war beschaffen wie Kokosnüsse, die nach oben hin spitz zuliefen. Ehrfürchtig betrachtete Quingo den Baum. Ihn umgab eine Aura des geheimnisvoll Fremden und wirkte gleichzeitig vertraut wie etwas, das ihn schon lange begleitete.
Der kleine Drache verließ den Pfad und sprang auf den Knotenbaum zu. Er flatterte auf einen der Beutel, krallte sich daran fest und begann mit seinen zierlichen Reißzähnen daran zu zerren.
„Was machst du denn da?“, fragte Quingo irritiert. Es kam ihm fast wie ein Sakrileg vor. „Was hat der Baum dir denn getan?“
Arellon ließ sich aber nicht beirren. Er riss und zerrte, bis einer der Beutel platzte und staubig-schwarze unterschiedlich große Stücke zu Boden fielen. Eine Aschewolke stieg auf und wehte davon.
„Was ist denn das für ein Zeug?“, fragte Quingo leicht angewidert.
Aber der Drache machte sich gierig über die schwarzen Stücke her, als wären es Leckerbissen und gab dabei vergnügte Laute von sich.
„So etwas frisst du?“ Quingo kam näher. Was diese völlig verbrannten Überbleibsel früher einmal gewesen waren, konnte Quingo nicht erkennen. „Das ist aber eine merkwürdige Frucht, die diese Knotenbeutel da enthalten. Aber wenigstens schmeckt es dir.“
Wehmütig blickte Quingo zu dem Drachen, der nicht nur die Stücke gierig verschlang, sondern auch die Asche aufleckte.
Plötzlich hielt der Drache inne und blickte Quingo intensiv an. Das grüne doppelt geschlitzte Drachenauge erschien vor seinem inneren Auge und überlagerte das Bild. Dann wurde es kleiner und legte sich auf einen der Knotenbeutel, bis es darüber völlig verschwand. „Soll ich etwa auch einen Beutel öffnen? Was soll das bringen?“
Der Drache schaute ihn immer noch intensiv an. Abermals erschien das Drachenauge und legte sich über einen der Beutel.