Quantumschrein - Tilo Linthe - E-Book

Quantumschrein E-Book

Tilo Linthe

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Beschreibung

Mit seinen besonderen Fähigkeiten hat Sam die Tür aufgestoßen, um das große Geheimnis des Big-Five-Systems zu lösen. Seine Freunde und er machen sich auf die Suche nach dem Quantumschrein, der die Antworten auf die vielen Fragen dieses Systems enthält. Vor allem auf die wichtigste: Wer hat die kosmischen Artefakte erschaffen und warum? Die scheinbar übermächtigen Vinculan suchen ebenfalls nach dem Schrein. Wer wird ihn als erstes finden? Der Wettlauf beginnt.

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<Quantumschrein>

<Quantumschrein>

<Tilo Linthe>

Impressum

Copyright: Tilo Linthe

Jahr: 2022

ISBN:978-9-403-64926-9

Verlagsportal: meinbestseller.de

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig

Kapitel 1

Sam stand auf der Lichtung eines Hügels, die ihm einen weiten Blick über die Landschaft gewährte. Das Grün stammte von Farnen, die wie Bäume mehrere Meter hoch wuchsen. Hier und da ragte der lange, gefiederte Hals mit dem viel zu kleinen Kopf eines saurierähnlichen Wesens zwischen dem Pflanzenmeer hervor und fraß die Farne ab. Zwischen den höchsten Wipfeln schwebten Archäopterixe mit riesigen Schnäbeln. In der vor ihm liegenden Wand, die bis zum milchigen Himmel aufragte, waren sie wohl hinaufgeklettert, hatten sich dann abgestoßen, um die aufsteigenden warmen Luftströmungen wie Segelflieger zu nutzen und sich, große Kreise drehend, in die Höhe zu schrauben.

Das Licht war eigenartig gedämpft. Eine dicke und gleichmäßige Wolkendecke lag über der gesamten Szenerie. Die Farben des Waldes sahen vom milchigen Licht leicht verwaschen und blass aus.Selbst die Geräusche wirkten dumpf und weit entfernt.

Sams Blick folgte einem der fliegenden Urvögel, der sich am Himmel langsam dem Horizont näherte. Überrascht zog er die Augenbrauen zusammen. In der Ferne sah er eine weitere Wand bis zum Himmel aufragen. In der dichten Atmosphäre war sie kaum auszumachen, wie der zarte Hauch eines Windes, den man kaum auf der Haut spürt. Sam war sicher, dass die kaum wahrnehmbare Silhouette in der Ferne das Gegenstück zu der hinter ihm aufragenden Felswand darstellte. Die Archäopterixe waren inzwischen so weit entfernt, dass man sie nur noch als kleine Punkte in der Ferne sah.

Da blitzte es im Grün des Farnwaldes auf. Sam kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Etwas Goldenes schimmerte zwischen dem Dickicht hervor. Er konnte aber nicht erkennen, was es war. Ein Bauwerk? Ein abgestürztes Raumschiff? Diese unbekannte Struktur übte eine ganz eigene Faszination auf ihn aus, weckte eine unbestimmte Sehnsucht in ihm. Er hatte das unwiderstehliche Verlangen, sie zu erkunden.

Im gleichen Augenblick beschlich ihn jedoch eine merkwürdige Unruhe. Sam konnte nicht sagen, was ihn dazu veranlasste, aber er drehte sich um. Dicker Rauch quoll zwischen den Farnblättern in die Luft. Leichter Brandgeruch stieg ihm in die Nase und reizte ihn zum Husten. Flammen knisterten und loderten zwischen dem dichten Grün hindurch. Wind kam auf und wehte den Rauch in Sams Richtung.

Die Bäume am Rande der Lichtung gerieten plötzlich in Bewegung, aber nicht vom immer böiger werdenden Wind. Sam hörte das Krachen brechender Äste und sah, wie ein Farnbaum komplett umfiel. Dann brach eines dieser saurierähnlichen Wesen zwischen den schwankenden Bäumen hervor auf die Lichtung. Es hatte eine gezackte Hornplatte, die wie ein Teller seinen Kopf umgab. Ein Horn prangte zusätzlich auf der Stirn. Vier stämmige Beine trugen das mehrere Tonnen schwere Tier erstaunlich schnell voran. Der Schwanz lief in einer Keule aus, die mühelos einen Elefanten niedergestreckt hätte. Das Tier war blind vor Panik. Sam musste zur Seite springen, um nicht umgerannt und von den gepanzerten Beinen zu Brei zerstampft zu werden.

Jetzt bewegte sich der ganze Farnwald, und immer mehr Saurier brachen aus ihm hervor auf die Lichtung. Sie hatten alle möglichen Formen und Größen. Sie flohen in instinktiver Angst vor dem Feuer.

Sie schnatterten und krächzten, knarrten und quietschten und machten ihre Panik auf ihre jeweils eigene Weise hörbar. Keines der Wesen beachtete Sam. Einige rannten direkt auf ihn zu. Er wich ihnen aus, stolperte und fiel hin. Ein mächtiger Aufprall ließ den Boden neben ihm erzittern. Er rollte weg und entkam nur knapp einem riesigen Fuß, der ihn mühelos zerquetscht hätte.

Endlich ebbte der Strom panisch fliehender Tiere ab, und Sam kam schwer atmend wieder auf die Füße. Erste Flammen erreichten bereits den Rand der Lichtung. Die instinktive Angst der Saurierwesen sprang auf Sam über. Er lief los und floh in die gleiche Richtung. Damals, nach seinem Autounfall war Sam im Big-Five-System in einem goldenen Körper aufgewacht, mit dem er schneller laufen und weiter springen konnte. Seitdem hatte er zwar die Kraft von drei Männern und die Ausdauer eines Marathonläufers, aber diese zusätzlichen Fähigkeiten halfen ihm nichts. Er war nicht schnell genug. Rechts und links von Sam brannte der Wald und der Wind trieb die Flammen unbarmherzig vor sich her. Beißender Qualm füllte seine Lungen, aber er unterdrückte den stärker werdenden Hustenreiz. Immer wieder sprang er über einen umgestürzten Farn oder ein Loch im unebenen Boden. Einmal fiel ein brennender Farnbaum direkt vor ihm zu Boden. Das Feuer holte ihn ein und bald war er von einem Flammeninferno umgeben. Sam verlor die Orientierung, wusste nicht mehr, in welche Richtung er laufen sollte. Dann stolperte er erneut und stürzte. Eine lichterloh brennende Farnkrone fiel krachend auf ihn herab und begrub ihn unter sich. Er war unter dem schweren Ungetüm eingeklemmt und konnte sich keinen Millimeter bewegen. Er spürte, wie die Hitze seine goldene Haut Blasen werfen ließ. Das Blut schien in seinen Adern zu kochen und er fühlte etwas, das er seit seinem Erwachen im Big-Five-System in dieser Intensität bisher nie gespürt hatte: Schmerz! In jeder Faser seines Körpers. Er erfüllte ihn bis in den letzten Winkel seines Seins. Er schrie, während ihn das Feuer auffraß.

***

Als er aus dem Schlaf fuhr, schrie Sam immer noch. Sein Herz pochte heftig, als wolle es sich auf diese Weise aus seiner Brust befreien. Die Schmerzen klangen nur langsam ab. Nach einer gefühlten Ewigkeit blieb ein leichtes Prickeln, wie tausend Ameisen, die über seinen Körper krabbelten.

Sam musste sich orientieren. Wo war er? Er tastete planlos in der Dunkelheit umher, berührte kalte Metallwände, fand aber keinen Lichtschalter. Endlich klärte sich sein Verstand und er schlug sich gegen die Stirn. Was bin ich doch für ein Idiot, dachte er.

„Licht!“, rief er in die Dunkelheit. Seine Stimme klang rau wie nach einer durchzechten Nacht. Endlich ging das Licht an. Sam kniff die Augen zusammen, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Verdammtes Konsistorium.Sie hätten die Kojen auf ihren Schiffen wenigstens etwas gemütlicher einrichten können, dachte er.

Sam lag auf einer schmalen Pritsche in einem quadratischen Raum, der an eine Einzelzelle erinnerte. Das schmale Bett musste er einklappen, wenn er Tisch und Stuhl benutzen wollte. Mehr Platz war für Mannschaftskabinen auf der Arkanos, dem kleinen, schnellen Spezialkreuzer nicht vorgesehen.

Immerhin gibt es Schwerkraft, dachte Sam. Ein tiefes Brummen erfüllte den Raum, das er bis in die Eingeweide spürte. Es kam vom Ionentriebwerk, das auf voller Kraft lief und das spindelförmige Schiff mit der Spitze voran gleichmäßig beschleunigte. Um Schwerkraft zu erzeugen, nutzte das Konsistorium die konstante Beschleunigung, mit der die Raumschiffe immer schneller wurden. Wenn sie die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten, drehten die Schiffe und bremsten mit dem gleichen Wert ab, so dass sie die Geschwindigkeit am Ziel wieder auf Null reduziert hatten. Die Arkanos hatte bereits mehr als die Hälfte ihrer Reisestrecke zurückgelegt und ihre Geschwindigkeit stark reduziert. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie ihre Zielkoordinaten erreichte.

Der spindelförmige Rumpf der Arkanos war so in Flugrichtung ausgerichtet, dass Sam den Eindruck hatte, in einem Turm zu sein. Wenn er in einen der Frachträume wollte, musste er viele Leitern hochsteigen. Das war anstrengend, trainierte aber die Muskeln. Wenn sie ihr Ziel erreichten, würde die Arkanos in den freien Fall übergehen. Dann musste er sich in der Schwerelosigkeit mit Magnetstiefeln fortbewegen. Schwerkraft vereinfachte das Alltagsleben an Bord erheblich. Nicht nur Laufen, sondern auch Anziehen, Duschen, Essen und Trinken waren in Schwerelosigkeit große Herausforderungen. Obwohl man sie derzeit nicht brauchte, musste jedes Besatzungsmitglied immer Magnetstiefel tragen, wenn es sich durch das Schiff bewegte. Aus Sicherheitsgründen. Falls die Antriebsmaschinen versagten, setzte auch die Schwerkraft aus. Dann fand man sich hilflos mit den Armen rudernd zwischen den Decks wieder. Das leuchtete Sam durchaus ein. Trotzdem stand er mit den klobigen und schweren Dingern immer noch auf Kriegsfuß. Man musste in ihnen so laufen wie mit Pumps. Jedenfalls stellte er sich die Gangart so vor, wenn Frauen mit hohen Absätzen unterwegs waren.

Sam stand von seiner Pritsche auf. An Schlaf war sowieso nicht mehr zu denken. Nach kurzer Überlegung sprach er seine Anweisung in den Raum: „Anruf. Lariana.“

Kurz darauf hörte er einen Klingelton wie das Rufzeichen eines Telefons. Endlich ein Klicken, als hätte jemand den Hörer von der Gabel abgenommen.Ein Sounddesign, das Sam ausgewählt hatte. Auch wenn es in dieser Umgebung anachronistisch wirkte, erinnerte es ihn an die Erde – und das empfand er als tröstlich in dieser für ihn fremden Welt. Er hörte ein verschlafenes: „Ja?“

„Bist du wach?“ Was für eine dämliche Frage.

„Jetzt schon.“

„Hast du Zeit?“ Noch dämlicher, dachte Sam.

Ein Seufzen drang aus den Lautsprechern. Klang es gequält? Ein Rascheln. Lariana setzte sich wohl gerade in ihrem Bett auf. „Was ist los?“ Ihre Stimme klang immer noch benommen.

„Ich hatte einen Traum.“

Ich hatte einen Traum? Das klang nicht nur dämlich, sondern wie eine schlechte Anmache. Fehlte nur noch, dass er ergänzte: ‚Ich hatte einen feuchten Traum.‘ Was musste Lariana nur von ihm denken? Schnell ergänzte er: „Es war, als wäre ich wirklich dort gewesen.“

Schweigen am anderen Ende. Dann: „Komm in die Kantine. Da können wir reden. Um diese Zeit ist sowieso niemand dort.“

Es klickte vernehmlich. Lariana hatte aufgelegt. War sie verärgert, weil er sie wegen so einer Lappalie mitten in der Nacht anrief? Eigentlich gab es auf einem Raumschiff ja keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, aber in Anlehnung an einen Planeten wurde das Licht für acht Stunden gedimmt und die Aktivität an Bord heruntergefahren. Das kam nicht nur dem menschlichen Körperentgegen, sondern auch seiner Psyche. Der Mensch war auf einem Planeten entstanden – und seine Entwicklungsgeschichte konnte er nicht so leicht ablegen.

Aber diese Überlegungen hätte er Lariana nicht als Ausrede präsentieren können. Sie hätte nur ihre vollen Lippen gekräuselt und sich ihren Teil gedacht. Aber an wen sollte er sich sonst wenden? Er hatte niemand anderes, dem er seine Ängste anvertrauen konnte. Nicht einmal mit seinen Teamkameraden, die ihrer Kampfeinheit den originellen Namen ‚Rote Grütze‘ gegeben hatten, wollte er über seine Träume und Visionen reden. Ausgerechnet Lariana, die doch zu den Vinculan gehörte und offiziell sein Feind war, vertraute er mehr als seinen eigenen Leuten.

Nach seinem Autounfall hatte er feststellen müssen, dass er nicht mehr auf der Erde war. Er war nicht einmal mehr im Sonnensystem, sondern im Big-Five-System, wie weit auch immer es von der Erde entfernt sein mochte. So richtig wusste das niemand. Anhand der Sternenkonstellation behaupteten die Astronomen, es sei in unmittelbarer Nachbarschaft zur Erde. Sie glaubten, es sei ungefähr 500 Lichtjahre entfernt. Eine Strecke, die unmöglich mit einem Raumschiff zu überwinden war. Dazu musste man schon den SPRUNG machen. Aber davor fürchtete sich Sam. Jedes Mal, wenn er von einer Konvergenzstation zu einer anderen sprang, hatte er eine Vision und jetzt dieser Traum. Fast jede Nacht wiederholte er sich und wurde immer detaillierter und beängstigender. Vor allem am Schluss.

Sam konnte sich nicht mit seiner Situation abfinden. Er war kein Soldat und auch kein Kämpfer – und genau das war das Besondere. Alle anderen, die zum Konsistorium gehörten, waren Soldaten, die auf der Erde den Tod gefunden hatten. Er und Lariana, die bei seinem Unfall damals mit im Auto gesessen hatte, waren die einzigen Ausnahmen. Sam hatte keine beeindruckende Karriere als Elitesoldat vorzuweisen. Deshalb warfen ihm die Leute verstohlene Blicke zu, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. Diese Blicke waren nicht nur deshalb oft feindselig, weil er Zivilist war, sondern auch Fähigkeiten hatte, die selbst für das wundersame Big-Five-System ungewöhnlich waren.

Vielleicht träume ich das alles nur, dachte Sam. Das Big-Five-System gibt es gar nicht und in Wirklichkeit sitze ich in einer Gummizelle mit einer Zwangsjacke und halluziniere vor mich hin.

Sam fasste an die graue Metallwand. Ihre Kühle drang durch seine Fingerspitzen. Sie fühlte sich echt an – soweit er es mit seinem vielleicht wahnsinnigen Verstand beurteilen konnte.

Sam erhob sich. Er musste sich Klarheit verschaffen, und dazu brauchte er jemanden zum Reden; und Lariana war die Einzige, die ihm zuhörte. Er zog sich einen der Standardoveralls an, die aussahen, als wäre man gerade aus dem Knast geflohen. Auf der linken Brust prangte das Symbol des Konsistoriums, eine schematische Darstellung der Big-Five-Phänomene in einem Pentagon angeordnet. Die Planeten Broken, Batox, Girkhan und Slivver sowie das Asteroidenfeld Dessart‘s Cloud. Einen Designpreis würde das Logo nie gewinnen.

Sam verließ seine Kabine und ging über einen schmalen Korridor. Er war menschenleer.

Wer ist um diese Zeit schon auf den Beinen, wenn er nicht unbedingt muss, dachte er missmutig. Müde kletterte er die Leitern hoch. Der graue Anstrich wirkte schmucklos und pragmatisch wie alles auf der Arkanos. Jeder Schritt mit den Magnetstiefeln hallte metallisch von den Wänden wider. Zum Glück brauchte er die magnetische Funktion nicht zu aktivieren. Das hätte seine Fortbewegung sehr viel unbeholfener gemacht. Nachdem er mehrere Decks hochgeklettert war, erreichte Sam die menschenleere Kantine. Lariana war noch nicht da. Er ging zum Tresen, um sich einen Kaffee zu holen.

Endlich betrat Lariana den Raum. Sie schaute sich suchend um, bis ihr Blick den seinen traf und ein Lächeln ihre Lippen umspielten. Sam empfand ihre Gegenwart als tröstlich. Sie war die einzige, der man noch misstrauischer begegnete als ihm. Das schweißte sie noch enger zusammen. Ein Wachmann hatte sich dezent am Eingang postiert und schaute aufmerksam auf jede von Larianas Bewegungen. Sie waren bereits seit Wochen unterwegs, aber sie konnte immer noch keinen Schritt ohne diese unfreiwillige Begleitung tun.

Wohin soll sie denn auf diesem Schiff fliehen? Sam schüttelte den Kopf über diesen Unsinn. Er hatte sich für sie eingesetzt, aber mit Soldaten kann man selten vernünftig reden. Für sie war Lariana eine Vinculan und Feinde sperrte man ein oder exekutierte sie. So einfach war das. Immerhin hatte er den Captain dazu bewegen können, sie aus der Arrestzelle zu entlassen und in einer eigenen Kabine einzuquartieren.

Wäre es nach Admiral Sahim gegangen, hätte man Lariana auf Nimmerwiedersehen in ein dunkles Loch gesteckt. Wer weiß, was sie da mit ihr angestellt hätten, um Informationen aus ihr herauszupressen. Aber Sam hatte sich widersetzt. Er hatte verlangt, dass sie auf diesem Schiff mitfliegt. Trotz des Misstrauens war er der Einzige, der die Geheimnisse des Big-Five-Systems enträtseln konnte. Das hatte er jedenfalls behauptet und das Konsistorium, allen voran Admiral Sahim hatten seinem Bluff geglaubt. Es stimmte zwar, dass er Synthmetall verschwinden und wieder auftauchen lassen konnte. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie ihm diese Fähigkeit helfen sollte, den halb zerstörten Planeten Broken oder Skies Edge auf Batox zu erklären – Phänomene, die allem widersprachen, was die Gesetze der Physik lehrten. Er wusste nicht einmal, wo er mit seiner Suche nach Antworten beginnen sollte. Admiral Sayad Sahim, Mitglied des Hohen Rates des Konsistoriums, wollte Ergebnisse um jeden Preis. Dazu war ihm jedes Mittel recht. Sam wollte gar nicht daran denken, was der Admiral mit ihm anstellte, wenn er herausfand, dass er genauso im Dunkeln tappte wie er. Und erst mit Lariana, die zu den Vinculan gehörte, gegen die das Konsistorium seit vielen Jahren Krieg führte. Bisher hatte man sie für aggressive Aliens gehalten. Erst kürzlich war ihr Geheimnis aufgedeckt worden und nun hatte die Wut und der Schmerz der Soldaten ein Gesicht bekommen. Lariana wurde zur Projektionsfläche. Alle Angst und Aggression hatte plötzlich ein Ziel. Vielleicht sollte ihr ständiger Schatten gar nicht sie bewachen, sondern vor Übergriffen der Crew beschützen?

Sam blickte ihr entgegen, wie sie mit verschlafenem Gang auf ihn zukam. Er hatte sich immer noch nicht an den Anblick ihres goldenen Gesichts und der Hände gewöhnt. Ihr Körper steckte in einem ähnlichen Overall wie er einen trug. Warum sie in diesen neuen Körpern „wiedergeboren“ wurden, blieb ein Rätsel. Dass sie auf der Erde wirklich gestorben waren, glaubte Sam keine Sekunde. Wahrscheinlicher fand er, dass die Konvergenz, die sie hierher gebracht hatte, die Möglichkeit besaß, auf irgendeine geheimnisvolle Weise das Bewusstsein von einem Körper in einen anderen zu transferieren.

„Willst du einen Kaffee?“, fragte Sam während er am Automaten hantierte.

Lariana nickte und rieb sich mit den Händen über das verschlafene Gesicht. Sie setzte sich und Kaffeeduft verbreitete sich in der Kantine. Mit zwei Quetschflaschen in der Hand gesellte er sich zu Lariana, die sich an einen Tisch in der Ecke gesetzt hatte. Diese Quetschflaschen waren durchsichtige Plastiksäcke mit einer Saugvorrichtung. In gewöhnlichen Tassen hätte sich die heiße Flüssigkeit in Schwerelosigkeit in der gesamten Kantine ausbreiten und nicht nur Verbrennungen auf der Haut sondern Kurzschlüsse in elektrischen Leitungen oder andere Schäden anrichten können.

Nachdenklich blickte Lariana auf den schwarzen Inhalt ihrer Flasche. „Was meinst du, wo der Kaffee herkommt?“, fragte sie.

„Was?“

„Na der Kaffee! Er muss doch irgendwo angebaut und geröstet werden. Genauso wie der Kaffeeautomat, der Tresen, auf dem er steht und die Tische und Stühle – wer produziert das alles?“

„Ach so“, meinte Sam. Seine Gedanken waren noch recht träge. „Tangens hat mir erzählt, dass es auf jeder Station 3D-Drucker gibt, mit denen man fast alles herstellen kann, was man braucht. Sogar Lebensmittel.“

Lariana blickte wieder auf die dunkle Flüssigkeit: „Gedruckter Kaffee? In was für eine Welt bin ich hier nur geraten.“ Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Als Sam nichts erwiderte, sagte sie: „Alsooo.“ Man sah ihr an, dass sie viel lieber in ihrem Bett gelegen hätte. In Sam regte sich das schlechte Gewissen. „Du hattest einen ziemlich realen Traum. Und was ist daran so besonders?“

Sam fühlte sich zurückversetzt in seinen rostigen Polo. Sie waren zusammen zur Arbeit gefahren und wieder zurück. Jeden Tag. Auf der Fahrt war Lariana sein Kummerkasten gewesen. Manche Dinge änderten sich wohl nie – selbst Lichtjahre von zu Hause entfernt.

„Ich war auf diesem Hügel“, begann Sam. Normalerweise verblassten seine Träume, bis er sich kaum noch an sie erinnerte. Aber dieser blieb bis in seine Einzelheiten in seinem Gedächtnis, als hätte er alles wirklich erlebt.

Lariana gähnte herzhaft. Sam überlegte, ob er sie einfach wieder ins Bett schicken sollte.

„Muss ich dir alles aus der Nase ziehen? Du warst auf diesem Hügel. Und dann?“

Sam riss sich zusammen. Er erzählte ihr, was er geträumt hatte. Als er geendet hatte, lehnte sich Lariana zurück. „Ein klassischer Albtraum“, fasste sie zusammen.

„Ja, aber nicht IRGENDEIN Albtraum. Er wirkte so echt, als wäre ich wirklich dort gewesen. Die Schmerzen habe ich noch gefühlt, als ich aufgewacht bin, als wäre ich im letzten Moment irgendwie doch gerettet worden.“

Lariana legte ihre Hand auf die seine. „Klingt für mich wie ein ganz normaler Albtraum.“

Sam wusste, dass sie ihn beruhigen wollte, fühlte sich aber unverstanden. „Ich weiß, wie sich ein Albtraum anfühlt. Dieser war anders. Es war, als wäre ich wirklich dort gewesen…“ Sam rieb sich die Schläfen. „Ich glaube, ich verliere langsam den Verstand.“

„Du hast in letzter Zeit viel durchgemacht. Vielleicht ist es was Psychisches.“

Sam schüttelte entschieden den Kopf. „Das ist es nicht. Da bin ich sicher. Außerdem habe ich noch nie gehört, dass im Big-Five-System jemand eine psychische Störung entwickelt hat. Außer Arien und Malkus vielleicht. Aber die hatten wahrscheinlich schon vorher eine Macke.“ Sam musste lächeln, als er an die beiden dachte.

Lariana runzelte nur die Stirn. Sie kannte die beiden nicht. Sonst hätte sie vermutlich auch geschmunzelt.

„Nein. Was mich besonders beunruhigte, waren diese Schmerzen.“

„Die Schmerzen?“, echote sie geduldig.

Sie hätte Therapeutin werden sollen, dachte Sam.

„Es fühlte sich an, als wäre mein Körper Atom für Atom auseinandergerissen worden. Die Flammen waren nur ein Symbol für etwas, das in mir stattfindet und mich zerstören könnte.“ Sam schüttelte den Kopf. „Ich weiß auch nicht. Das ergibt alles keinen Sinn.“

„Aber für dein Unterbewusstsein.“

Sam schaute sie fragend an.

Bevor Lariana zu einem höchst psychologischen Vortrag ansetzen konnte, änderte sich etwas. Es wurde plötzlich noch stiller als es in der menschenleeren Kantine ohnehin schon war. Sam sah, dass Lariana es auch spürte. Dann begriff er: Das allgegenwärtige Brummen des Ionentriebwerks hatte ausgesetzt. Augenblicklich erfasste ihn Schwindel und Übelkeit, als die künstliche Schwerkraft verschwand. Seine Hände verkrampften sich um die Tischkante. Hastig aktivierte er seine Magnetstiefel. Er verstand nun, warum man nie ohne Magnetstiefel im Schiff unterwegs sein durfte. Es hatte keine akustische Warnung gegeben, dass die Triebwerke abgeschaltet werden, wie sonst üblich.

Das Licht änderte sich. Es wurde rot und pulsierte heftig. Aus allen Lautsprechern erklang jetzt ein durchdringender auf- und abschwellender Ton, der die Trommelfelle zu zerreißen drohte. Der Alarm war ausgelöst worden.

Kapitel 2

„Alles auf Gefechtsstation“, erklang eine Stimme über die Lautsprecher. „Die Vinculan auf die Brücke.“

Der Wachmann an der Tür wirkte plötzlich angespannt und machte einen Schritt auf Lariana zu.

Die winkte ab, stand auf und nahm einen letzten Schluck aus ihrem Kaffeebeutel. „Ich komm‘ ja schon.“

„Ich komme mit.“ Sam stand ebenfalls auf, aber der Wachmann hob abwehrend einen Arm und schüttelte den Kopf. „Nur die Vinculan.“

Sam zögerte. Sollte er aufbegehren? Er hatte auf der Brücke keine Aufgabe. Nur wer dort arbeitete oder explizit dorthin beordert wurde, bekam Zutritt. So lauteten die Regeln.

Am Eingang drehte sich Lariana noch einmal zu ihm um und warf ihm mit angespanntem Lächeln einen undeutbaren Blick zu. War sie enttäuscht, dass er so schnell aufgegeben hatte? Sam setzte sich wieder und blieb unsicher und allein in der Kantine zurück.

***

Die Schotten zur Brücke öffneten sich, und Lariana trat in den kreisrunden Raum. Es ging hektisch zu. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie die Ordnung hinter dem Chaos. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Das nervenzerfetzende Alarmschrillen hörte auf. Nur das an- und abschwellende Rot der Beleuchtung blieb. In der Mitte der Brücke erhob sich ein Mann mit kantigem, unbeweglichen Gesicht von seinem Stuhl und strich sich die Uniformjacke glatt. Er kam auf Lariana zu.

„Das ging aber schnell“, lobte er.

„Ich war bereits wach“, antwortete sie lapidar.

Wenn Captain John Connor darüber verwundert war, ließ er es sich nicht anmerken. Er deutete auf den Panoramaschirm, auf dem sich das Ziel ihrer Reise abzeichnete. „Wir sind da.“ Erwartungsvoll blickte er Lariana an. So leicht wollte sie es dem Captain nicht machen.

Wie konnte ich mich nur vom Konsistorium gefangennehmen lassen, dachte sie nicht zum ersten Mal.

Aber wie hätte sie ahnen können, dass ausgerechnet Sam in einer dieser albtraumhaften Samurai-Rüstungen steckte? Er hatte sie einfach überrumpelt und mit sich gezogen. In diesem Augenblick war sie so überrascht gewesen, dass ihr der Gedanke Widerstand zu leisten, gar nicht in den Sinn gekommen war. Immerhin hatte Sam dafür gesorgt, dass sie nicht in irgendeinem dunklen Loch auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. Wahrscheinlich hätten die Folterknechte ihr auch noch Informationen abgerungen, die sie schon glaubte vergessen zu haben. Sie schüttelte sich innerlich bei dem Gedanken und war Sam dankbar, dass er ihr dieses Schicksal erspart hatte – vorerst. Sie fragte sich, wie Sam das angestellt hatte. Er musste sehr überzeugend gewesen sein, wenn sie ihm solche Zugeständnisse machten. Aber dem Konsistorium freiwillig helfen? Niemals!

„Und, was können Sie uns über dieses Gebilde sagen?“, hakte Connor nach.

Lariana blickte auf den Bildschirm und erschrak. Wie um alles in der Welt hat das Konsistorium unser Hauptquartier aufgespürt?

Der Captain blickte sie erwartungsvoll an. Nichts entging seinem sezierenden Blick. Hatte er es darauf angelegt, sie aus der Reserve zu locken? Hatte er ihr Erschrecken bemerkt? Sie nahm sich zusammen, zuckte demonstrativ mit den Schultern und blickte zur Seite. „Erwarten Sie tatsächlich, dass ich Ihnen freiwillig behilflich bin?“

Der Captain lächelte milde. „Ich danke Ihnen. Sie haben mir bereits alles gesagt, was ich wissen wollte.“

Ich bin keine Verräterin, dachte Lariana. Trotzdem erfasste sie Panik. Ich habe ihm doch gar nichts gesagt. Wieder wandte sie ihren Blick dem Panoramabildschirm zu. Da war es: Das Konglomerat.

Am liebsten hätte Lariana das Panoramabild angeschrien: „Aufgepasst! Wir sind entdeckt!“ Sie hatte Mühe, ihre äußere Gelassenheit zu bewahren. Sie wollte fliehen oder dem milde lächelnden Connor an die Gurgel gehen. Sie fühlte sich hilflos wie ein in die Ecke gedrängtes Tier.

Lariana straffte sich. Sie konnte weder fliehen, noch die Vinculan warnen. Sie war zur Untätigkeit verdammt. Aber sie würde niemals mit dem Konsistorium kooperieren. „Ich weiß zwar nicht, welches Psychospiel Sie glauben mit mir spielen zu können, aber ich versichere Ihnen, dass es nicht funktionieren wird.“

„Dann sollten wir überlegen, Ihrem Gedächtnis auf etwas rustikalere Art auf die Sprünge zu helfen“, ertönte plötzlich eine blasskalte Stimme hinter ihr.

Lariana verstand nun, warum Sam jedes Mal erstarrte, wenn er sie hörte. Selbst an einem heißen Sommernachmittag wäre Lariana bei ihrem Klang ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Ohne sich umzudrehen erwiderte sie: „Sie sollten überlegen, ein Deo zu benutzen, Mr. McQuire.“ Angewidert drehte sie sich zu ihm um und blickte in sein irritiertes Gesicht. Es hatte tatsächlich erstaunliche Ähnlichkeit mit einer Kröte: Flacher Schädel und breiter, schmaler Mund.Seine Glubschaugen lagen unangenehm auf ihr. „Wahrscheinlich würde es aber nichts ändern. Der Gestank Ihrer Seele eilt Ihrer Ankunft bereits Meilen voraus.“

„Sie sollten lieber nicht so vorlaut sein.“ Wütend trat er einen Schritt auf sie zu.

„Es ist ja gut“, unterbrach der Captain und schaute McQuire durchdringend an.

Der trollte sich und ging zu einem Besatzungsmitglied und schaute ihm über die Schulter auf den Bildschirm. Dann verließ er die Brücke.

Connor schüttelte den Kopf und murmelte: „Na endlich verschwindet er…“

McQuire war als Aufpasser auf die Arkanos beordert worden. Connor war zum Spielball der politischen Intrigen zwischen den Ratsmitgliedern geworden. Jedes Mal, wenn McQuire auftauchte, hatte er ein ungutes Gefühl. War es nur dessen Rolle oder lag es auch an seinem unangenehmen Wesen? Jetzt war er erleichtert, dass er ihm nicht länger auf die Finger schaute.

„Das Gebilde nennen wir Konglomerat“, sagte Lariana leise.

Der Captain hob überrascht eine Augenbraue, sagte aber nichts. Stattdessen wandte er sich um und sagte: „Ruder: Langsame Annäherung auf Schleichfahrt. Wir wollen einen schönen langen Blick auf dieses Gebilde werfen.“

Das Konglomerat war riesig. Es bestand aus einem Gerüst, das in seiner Form entfernt an einen Stern mit unterschiedlich langen Zacken erinnerte. Die Streben und Gestänge wirkten willkürlich zusammengefügt, als hätte ein Künstler den Auftrag bekommen, das Wort ‚Chaos‘ zu visualisieren. In den Kern des Konglomerats konnte man nicht hineinsehen. Dazu waren die vielen Gerüste mit ihren Verstrebungen und Ausläufern zu dicht. Einzelne Ableger ragten kilometerweit in den Weltraum. An den Enden der Ausläufer sah man elliptisch geformte Körper unterschiedlicher Größe – Raumschiffe der Vinculan; sehr viele. Sie hatten einen ellipsenförmigen Rumpf. Das Heck lief in einen langen oberen und einen kürzeren unteren Stachel aus, die in einer geschwungenen Form nach innen zeigten. Die Ellipsenform sah aus, als hätte man sie in zwei Hälften zerteilt, um ein rundes und schmales Mittelstück einzusetzen.

Im Gerüst waren unzählige Module verankert, die miteinander durch Röhrenverbunden waren. Riesige Parabolschüsseln empfingen jede noch so schwache Strahlung oder Funkwelle. Teleskope, groß wie Häuser erfassten auch den hintersten Winkel des Sonnensystems.

„Wer baut so etwas?“, fragte der Erste Offizier Kwan ehrfürchtig. „Und vor allem: Wieso? Hier ist doch weit und breit nichts in der Nähe. Kein Planet, kein Mond. Nicht einmal ein Asteroid.“

„Es ist der ideale Platz, um nicht entdeckt zu werden. Schließlich suchen wir seit 70 Jahren nach einer Operationsbasis der Vinculan“, antwortete Fox, die für die Taktik zuständig war. Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem zu einem Pferdeschwanz gebundenen roten Haar gelöst hatte.

„Aber dieser ganze Aufwand nur, um nicht entdeckt zu werden?“, fragte Kwan skeptisch.

Lariana wusste natürlich den wahren Grund, aber sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als etwas zu verraten.

Der Captain furchte die Stirn. „Ohne die genauen Koordinaten hätten wir dieses Ding nie gefunden. Ortung: Irgendwelche Auffälligkeiten?“

Austeritz, der Ortungsoffizier tippte hektisch auf seine Konsole. „Nein, Sir.“

„Taktik: Analyse.“

Serena Fox meldete sich zu Wort. „Es sieht nach dem aus, was es ist: Eine Basis. Die vielen Schiffe könnten darauf schließen lassen, dass wir tatsächlich das Hauptquartier der Vinculan vor uns haben. Falls nicht…“

Falls nicht, sind wir alle am Arsch, ergänzte der Captain in Gedanken. Die Anzahl der Schiffe, die im Konglomerat angedockt waren, übertrafen die des Konsistoriums. Falls es weitere dieser geheimen Basen gab, hatte das Konsistorium gegen die Vinculan keine Chance, falls es zur direkten Konfrontation kam.

Die Arkanos hatte den Antrieb ausgeschaltet und flog im freien Fall am Konglomerat vorbei. Je weniger Emissionen, desto wahrscheinlicher, dass sie unentdeckt blieben. Sie wandten die gleiche Taktik an wie die Vinculan: Tot stellen und nicht auffallen.

Das Raumschiff näherte sich dem geflechtartigen Gebilde. Obwohl noch weit entfernt, konnte man es schon nicht mehr vollständig überblicken. Dafür erkannte man auf dem Bildschirm immer mehr Einzelheiten. Die Module mit ihren Verbindungsröhren waren quaderförmige Einheiten unterschiedlicher Größe. Manche hatten die Ausmaße von Werkhallen oder Hangars in denen ein Jumbojet Platz gefunden hätte. Die meisten waren aber sehr viel kleiner. Während sie sich an manchen Verstrebungen zu einer unüberschaubaren Ansammlung geballt hatten, waren an anderen Teilen des Gerüsts keine Aufbauten zu sehen. So kompliziert und eng das Gestänge aus der Entfernung auch aussah – die Zwischenräume boten offenbar genug Platz zum Manövrieren. Selbst die Arkanos hätte mühelos zwischen den Streben des Konglomerats hindurchfliegen können. Wo sich die Module häuften, waren zwischen ihnen unterschiedlich große Landeplattformen für kleine Fluggefährte angebracht. Auf manchen von ihnen standen kastenförmige Shuttles. Sie hatten eine schräge Schnauze, die aussahen als wären sie nachträglich angeklebt worden. Im Weltraum brauchte man auf Windschnittigkeit und Ergonomie nicht zu achten. Im Vakuum war die Form völlig egal und wählte eine, die praktisch und billig herzustellen war.

„Was sind das für Lichtblitze?“, fragte Connor seinen Ortungsoffizier. Er strich wieder imaginäre Falten aus seiner Uniformjacke heraus – eine unbewusste Geste, die ihn charakterisierte. Auf dem Bildschirm konnte man Lichterscheinungen sehen, die in unregelmäßigen Abständen zwischen den Trägern und Streben des Konglomerats auftauchten und wieder verschwanden.

„Drohnen, Sir. Sie scheinen zwischen den...“ Der Ortungsoffizier brach ab.

Der Captain schaute alarmiert. „Was ist, Austeritz? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.“

Austeritz hämmerte jetzt regelrecht auf seine Konsole ein. Er wirkte hektisch. „Sir, wir haben gerade ein Richtfunksignal auf das Konglomerat abgestrahlt. Da drüben weiß jetzt jeder, dass wir hier sind.“

„Was?“ riefder Captain. „Welcher Idiot...“

Seine Stimme ging im schrillen Alarmsignal unter, das die Trommelfelle vibrieren ließ.

„Antrieb aktivieren! Ausweichmanöver! Waffen klar zum Gefecht! Schutzschirm aktivieren!“ Stakkatoartig gab der Captain seine Befehle. „Alarm abschalten!“

Der Ortungsoffizier aktivierte den Rundruf: „Achtung! Klar zum Gefecht!“

Der Alarmton brach ab, aber das pulsierende Rot blieb.

Von den Auslegern lösten sich einige der Vinculanraumer und nahmen Fahrt auf.

Das tiefe Brummen der Ionentriebwerke setzte ein. Lariana meinte eine Vibration zu verspüren, die sich durch den Boden auf ihren Körper übertrug. Die Schwerkraft setzte wieder ein, als das Schiff beschleunigte. Der Captain hatte sich inzwischen auf seinen Stuhl gesetzt und angeschnallt. Lariana suchte sich den nächsten freien Platz und tat es ihm gleich.

Die Vinculanraumer kamen in einer Zangenbewegung auf die Arkanos zu.

„Warum feuern die keine Raketen auf uns ab?“, fragte der Ortungsoffizier.

„Sie wollen uns nicht zerstören, sondern kampfunfähig machen. Aber so leicht werden wir es ihnen nicht machen. Sind die Waffen einsatzbereit?“

Bishop, der Waffenoffizier bestätigte.

„Gaußgeschütz: Feuer frei.“

Plötzlich ging ein Ruck durch die Arkanos. Lariana erstarrte. Waren sie getroffen worden? Ein weiterer Stoß folgte, der Lariana mit Wucht in die Gurte warf. Sie schaute sich um, aber niemand schien besonders beunruhigt zu sein.

Auf dem Bildschirm wurden die Flugbahnen der Projektile eingeblendet, die die Arkanos ihren Feinden entgegenspie. Im Weltraum konnte man natürlich nichts davon sehen. Dafür waren die Geschosse zu schnell und erzeugten im Vakuum keine Leuchtspur. Wären diese ultrahoch beschleunigten Wolframkugeln auf eine Atmosphäre getroffen, hätten sie kurzzeitig Kernfusionsreaktionen ausgelöst und auf ihrer Flugbahn alles verstrahlt. Deshalb war das Gaußgeschütz eine Waffe, die ausschließlich im Vakuum des Weltraums zum Einsatz kam. Der gewaltige Rückstoß erschütterte das ganze Schiff. Die Einblendungenauf dem Bildschirm zeigten, dass die meisten Geschosse danebengingen.

Wieder ein Ruck. Diesmal traf das schnelle kinetische Geschoss. Die Flugbahn führte mitten durch ein Ellipsenschiff hindurch. Der Raumer wurde langsamer und scherte aus der Formation aus. Er zog einen silbrigen Streif austretenden Gases hinter sich her. Wie Nebel verlor es sich in der Schwärze. Das Leck selbst war nicht zu sehen. Kurz darauf verging das Schiff in einer grellen Explosion. Der Bildschirm dunkelte ab. Im nächsten Moment war vom Vinculanschiff nur noch eine Wolke auseinanderdriftender Trümmer übrig.

Entsetzen packte Lariana. Wie viele Menschen haben gerade ihr Leben verloren? 150 oder 200?

„Feuern Sie eine Salve Raketen auf das Schiff, das uns am nächsten ist“, befahl der Captain.

Ein Schwarm grüner Punkte wurde auf dem Bildschirm eingeblendet – die Raketen, die die Arkanos gerade abgefeuert hatte. Sie näherten sich einem Vinculanraumer. In seiner unmittelbaren Nähe verschwanden sie nacheinander.

„Alle Raketen zerstört, Sir“, meldete Austeritz, während er konzentriert auf den Bildschirm seiner Konsole starrte. Dann rief er: „Achtung! Die Vinculan feuern mit Lasern auf uns!“

„Ist der Plasmaschirm aktiv?“ Die Stimme des Captains klang ruhig.

„Plasmaschirm ist aktiv“, bestätigte der Waffenoffizier.

Das Schiff umgab jetzt ein Feld aus hoch erhitzten Gasen. Von außen hätte man einen rötlichen Schleier gesehen, der sich schützend um die Arkanos gelegt hatte. Statt den Rumpf zu treffen, würden die Energiestrahlen der Laser vom rötlich schimmernden Gas absorbiert und abgelenkt. Das funktionierte aber nur, wenn man es mit einem oder höchstens zwei Gegnern zu tun hatte. Die sieben Ellipsenschiffe feuerten jedoch gleichzeitig auf die Arkanos und das schützende Plasma wurde in wenigen Sekunden einfach weggebrannt.

„Der Schutzschirm ist kollabiert, Sir. Wir erhalten schwere Treffer“, meldete der Ortungsoffizier.

Der Captain brummte unwillig, aber er konnte nichts weiter tun als abwarten und hoffen, dass die Arkanos trotz der Überzahl heil aus dieser Situation entkam.

Der gepanzerte Rumpf der Arkanos begann Blasen zu schlagen. Verflüssigtes Metall löste sich und erstarrte in der Kälte des Weltraums. Dort bildete es bizarre Skulpturen, als hätte sie ein moderner Künstler erschaffen. Schwerwiegender als der Schaden war, dass der Rumpf vor einem elektromagnetischen Puls schützte, der die Elektronik der Arkanos komplett lahmlegen konnte. Dieser Schutz funktionierte aber nur, wenn der Rumpf intakt blieb – und das war nach diesem heftigen Beschuss fraglich.

Lariana spürte, wie die Temperatur zunahm. Sie hörte das Rauschen des Belüftungssystems, doch die herausströmende Luft war heiß wie Wüstenwind. Ihr brach der Schweiß aus allen Poren.

„Gaußgeschütze ausgefallen, die Abschussrampen für die Raketen ebenfalls, Sir.“

Dann wurde es plötzlich sehr still auf der Brücke. Das tiefe Brummen hörte auf und Lariana spürte, wie ihr Körper sehr leicht wurde.

„Reiniger, was ist los?“, rief der Captain ins Interkom.

„Die Laser haben die Antriebssektion getroffen. Die Maschinen sind überhitzt. Wir mussten sie abschalten, Sir.“

„Fahren Sie den Antrieb auf der Stelle wieder hoch, Reiniger. Das ist ein Befehl!“

Reiniger schüttelte den stiernackigen Kopf. „Ich musste eine Notabschaltung durchführen, damit der Ionenantrieb nicht völlig ruiniert wird. Da ist wirklich nichts zu machen, Captain.“

„Die Vinculan haben aufgehört zu feuern“, rief der Ortungsoffizier dazwischen. Erleichterung war in seiner Stimme zu hören.

„Freuen Sie sich nicht zu früh“, dämpfte der Captain die Erwartungen. „Ich sage es noch einmal, die wollen uns lebend – und das hat sicher einen Grund.“

Er hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als ein grellblauer Blitz aufflammte, der sich zu einer schnell größer werdenden Kugel aus Energie ausdehnte.

„Achtung, EMP!“ rief der Ortungsoffizier.

Die Energiewelle spülte über die Arkanos hinweg. Im gleichen Augenblick hieb der Captain mit der Faust auf einen roten Knopf. Schlagartig wurde es dunkel auf der Brücke. Es schmorte und knisterte überall. Lariana musste husten, weil der beißende Gestank von verbranntem Kunststoff die Brücke erfüllte. Die Arkanos war verloren.

***

Während Lariana mit ihrem Wachhund unterwegs zur Brücke war, machte sich Sam zur Lagerhalle auf, in der sie immer trainierten. Das Alarmsignal war verstummt. Trotzdem beeilte sich Sam. Die anderen Mitglieder seiner Gruppe waren bereits dort und halfen sich gegenseitig in ihre Mark V Kampfanzüge.

„Wird aber auch Zeit.“ Rae sah ihn missmutig an.

Sam reagierte nicht darauf. Das war Raes Art, ihren Leuten guten Tag zu sagen.

Tangens hackte noch auf einem Tabletcomputer herum und machte keine Anstalten, in seinen Anzug zu steigen.

Rae knurrte ihn an.

„Ja, ja. Ich mach‘ ja schon.“ Endlich legte er das Pad beiseite, blieb aber sitzen. „Wir sind doch nur auf einer Aufklärungsmission. Wozu sollen wir also unsere Kampfanzüge anlegen? Die sind doch nur für Außeneinsätze bestimmt“, beschwerte er sich.

„In deinen Anzug, oder ich verfrachte dich höchstpersönlich hinein.“

Tangens schaute Rae verunsichert an. Er traute ihr zu, ihre Drohung wahrzumachen.

Plötzlich ertönte die Stimme des Ortungsoffiziers aus den Lautsprechern: „Achtung! Klar zum Gefecht!“ Wieder ging der Alarm los und brach nach kurzer Zeit wieder ab.

Sam bekam ein mulmiges Gefühl. Nicht schon wieder. Wie ein Film liefen die letzten Kampfhandlungen vor seinem geistigen Auge ab, in denen Keipjeng den Tod gefunden hatte. Er wünschte sich ganz weit weg von hier. Sogar sein alter Job, den er gehasst hatte, erschien ihm jetzt wie das Paradies.

Ein heftiger Ruck ging durch das Schiff, der Sam von den Beinen hob. Zum Glück fing die Rüstung mit ihren eingebauten Schubdüsen den Sturz automatisch ab. Er verankerte sich mit Magnethalterungen am Boden der Lagerhalle.

„Die Arkanos feuert Gaußgeschosse ab“, rief Tangens. „Das ist gar nicht gut.“

„Und was macht ihr beiden Schwachmaten da?“ Das war Limjetas ärgerliche Stimme. Sie schaute zu Arien und Malkus, die an ihre Rüstungen Zusatzvorrichtungen anbrachten. Energiezellen und Elemente, die wie Waffenteile aussahen.

„Wir verbessern unsere Chancen“, erwiderte Arien. Malkus ergänzte: „Wenn wir wirklich aufgeflogen sind – und danach sieht es ja wohl aus – wird das ein Kampf wie David gegen Goliath. Nur diesmal soll David gewinnen.“

„Moment mal. David hat den Kampf gegen Goliath damals gewonnen“, meinte Arien.

„Echt jetzt?“

„Na klar. Mit einer Steinschleuder.“

„Guter Tipp. Die sollten wir zur Sicherheit auch einpacken. Allerdings bestücken wir sie mit Granaten statt Steinen.“

„Ihr seid wirklich nicht mehr ganz dicht!“, rief Limjeta.

Das Schiff wurde immer wieder heftig durchgeschüttelt.

„Wir werden beschossen“, sagte Tangens.

Sam hörte seine Stimme im Helm seines Anzugs über Funk. Sie hatten alle ihre Kampfanzüge angelegt.

„Und woher willst du das wissen?“ Limjetas Stimme war voller Sarkasmus. „Lass mich raten. Du hast dich mal wieder höchst illegal in den Schiffscomputer gehackt und Zugriff auf die Sensoren.“

Tangens ging nicht darauf ein. „Der Plasmaschirm ist weggebrannt und Teile der Panzerung auch. Diesen Kampf können wir nicht gewinnen.“

Wie zur Bestätigung fielen die Maschinen aus. Das allgegenwärtige tiefe Brummen erstarb.

„Wie haben uns die Vinculan überhaupt entdeckt?“, fragte Limjeta, bekam aber keine Antwort.

Plötzlich wurde es stockdunkel. Sam konnte seinen eigenen Atem hören und das Rauschen desBlutes in seinen Ohren. Endlich reagierte das Head-up-Display seines Helms und schaltete die Restlichtverstärkung ein. Langsam schälten sich die Silhouetten der anderen aus der Dunkelheit.

„Und was jetzt?“, fragte Limjeta ratlos. Auch darauf bekam sie keine Antwort.

***

Auf der Brücke flammten die Lichtkegel von Taschenlampen auf und schnitten durch die Dunkelheit. Walkie-Talkies, die auf Lariana einen anachronistischen Eindruck machten, wurden herumgereicht. Stumme Zeichen, wie wehrlos und ausgeliefert die Arkanos in ihrem jetzigen Zustand war.

Lariana schöpfte Hoffnung. Vielleicht ist doch nicht alles verloren. Wenn ich es zurückschaffe auf das Konglomerat und meine Arbeit fortsetze …

„Alle Schotten schließen. Jeder, der an einen Raumanzug kommt, legt ihn sofort an. Gebt die Waffen aus. Kampflos geben wir die Arkanos nicht auf.“

Wie um die Worte des Captains zu verhöhnen, bekam die Arkanos einen heftigen Schlag, der sie erzittern ließ. Die Hülle dröhnte wie eine angeschlagene Glocke. Ein weiterer Schlag schüttelte sie durch, dann spürte Lariana eine leichte Beschleunigung.

„Wir werden anscheinend abgeschleppt“, vermutete die Taktikoffizierin. „Es wird nicht lange dauern, bis die Vinculan ihre Enterkommandos schicken.“

„Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Wir müssen uns darauf vorbereiten“, sagte der Captain. Er war immer noch die Ruhe in Person. „Als erstes müssen wir die Kommunikation wiederherstellen. Dann suchen wir die strategisch günstigsten Punkte im Schiff, wo man sich verschanzen kann. Fox, Sie versuchen die Teamleiter an die Strippe zu kriegen.“

Die Brücke war wieder von Aktivität erfüllt. Jeder bekam seine Aufgaben. Manche wirkten auf Lariana wie Beschäftigungstherapie. Sie hatte den Verdacht, dass der Captain manche Aufgaben nur aus psychologischen Gründen vergab. Geschäftigkeit war besser als zu warten. Nur sie bekam den Befehl, auf ihrem Sessel zu bleiben und sich nicht von der Stelle zu rühren. Wer in seinen Magnetstiefeln an ihr vorbeistakste, warf ihr misstrauische Blicke zu, als hätte sie Schuld an der misslichen Lage, in der sich die Arkanos befand.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ging ein sanfter Ruck durch die Arkanos.

„Es ist soweit“, kommentierte der Captain. „Jetzt kommen die Enterkommandos.“

Wie zur Bestätigung hörte man Schleif- und Kratzgeräusche, die selbst auf der Brücke zu hören waren. Jemand machte sich am Rumpf zu schaffen.

Das Handfunkgerät des Captains erwachte mit einem Knacken zum Leben. Eine blecherne Stimme meldete sich. „Kane hier, Sir. Sie schweißen ein Außenschott auf. Wir haben uns verschanzt, so gut es geht. Lange werden wir sie aber nicht aufhalten können.“

„Kane! Wir gehen vor wie geplant. Wo ist ‚Ro...“ Der Captain zögerte, wollte den Namen ‚Rote Grütze‘ nicht aussprechen. Der Name erschien ihm zu lächerlich. „… die Kampfeinheit, die wir an Bord haben? Wir konnten sie nicht erreichen.“

„Keine Ahnung“, antwortete die blechern klingende Stimme aus dem quadratischen schwarzen Kasten. „Niemand hat sie gesehen oder weiß etwas.“

„Verdammt!“

Es war das erste Mal, dass Lariana Captain Connor fluchen hörte. Jetzt mussten sie warten. Der Widerstand war organisiert und die Enterkommandos schnitten sich langsam durch den Rumpf. Die Vorstellung, dass in wenigen Minuten ein Kampf auf Leben und Tod ausbrechen würde, zermürbte Lariana. Sie sah die Anspannung in den Gesichtern der Brückenbesatzung. Sie versuchten professionell zu sein, aber ganz konnten sie ihre Angst nicht verbergen.

Nach einer Weile knackte es wieder im Walkie-Talkie. Lautes Getöse erfüllte den Raum. Es donnerte und krachte. Eindeutig Kampfgeräusche. „Wir können die Stellung nicht halten, Sir. Wir ziehen uns zurück. Rückzug! Rückzu…“ Die Stimme brach ab. Auf der Brücke kehrte wieder Stille ein, die im Kontrast zu den Geräuschen aus dem Funkgerät noch drückender wurde.

„Kane, bitte kommen. Kane! Was ist bei Ihnen los?“, rief Connor.

Keine Antwort.

Das Warten zerrte immer mehr an ihren Nerven und wurde immer unerträglicher. Am liebsten wäre sie aufgesprungen schreiend geflüchtet. Aber wohin? Es gab keinen Ausweg. Sie saßen auf der Brücke fest. Ihre Gedanken waren schlimmer als jeder Folterknecht, ließen alle möglichen Szenarien vor ihrem geistigen Auge ablaufen – dass ein verirrter Schuss sie traf, während die Vinculan die Brücke eroberten oder sie von McQuire im allgemeinen Chaos niedergeschossen würde. Zutrauen würde sie es ihm. Wo war der überhaupt? Er schien sich heimlich aus dem Staub gemacht zu haben.

Larianas Gemütszustand schwankte zwischen Angst und Hoffnung. Angst davor, in dem gefährlichen Durcheinander umzukommen und Hoffnung, befreit zu werden. Als die ersten Kampfgeräusche durch das dicke Brückenschott drangen, fühlte sie sich fast erleichtert. Endlich hatte das Warten ein Ende.

Ein dumpfes Donnern ließ das Schott erzittern, aber es hielt stand.

Lariana erschrak, als plötzlich ein infernalisches Jaulen ertönte. Funken sprühten wie Regen durch das schwere Schott, als es von außen aufgeschnitten wurde. Es dauerte, bis sich die Plasmaschweißgeräte durch das harte Material gefressen hatten. Lariana kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Es roch verbrannt. Sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Rauch kratzte in ihrer Lunge.

Dann erstarb der Lärm endlich. Wuchtige Schläge ließen das Schott erbeben, bis es mit einem dumpfen Schlag nach innen fiel.

Sofort schwebten Drohnen herein. Angetrieben von vier Rotoren klangen sie wie zornige Hornissen und eröffneten das Feuer.

Lariana hörte ein Zischen, ein eigenartiger Druck legte sich auf ihre Brust und ihr Gesichtsfeld verengte sich. Bevor sie die Schwärze übermannte, dachte sie: Jetzt ist alles aus.

***

„Falsche Richtung. Da drüben spielt die Musik.“ Ein lauter Knall, ein Kreischen von nachgebendem Metall und die Schreie der Verteidiger bestätigten die Worte von Malkus. Statt ihren Kameraden zu Hilfe zu eilen, führte Rae sie vom Kampfgeschehen weg.

„Was glaubst du, warum der Captain mir die Befehlsgewalt übertragen hat?“

Arien meinte: „Weil du 'ne flotte Biene bist?“

Sam fragte sich, wie Arien immer noch zu Scherzen aufgelegt sein konnte, mitten in diesem Chaos.

Rae ignorierte die Anzüglichkeit und erwiderte: „Ihr tut was ich sage – und jetzt versuchen wir vom Schiff zu kommen, bevor wir auch noch gefangengenommen werden.“

„Moment mal, wir fliehen?“, fragte Malkus fassungslos.

„So ist es – und jetzt los“, knurrte Rae.

Sam erinnerte sich an seine erste Begegnung mit ihr. Sie hatte ihn aus der Konvergenzstation Arrival befreit, während die Vinculan sie angegriffen hatten. Obwohl sie nun Anführerin seiner Kampfgruppe war, hatte sie ihr schroffes, fast zorniges Auftreten nicht abgelegt.

Sam war insgeheim froh, dass er sich nicht mitten in das Chaos stürzen musste. Er machte sich aber nichts vor. Sie brauchten eine Menge Glück, um vom Schiff zu kommen. „Wie sollen wir das unbemerkt anstellen?“, fragte er.

„Wir suchen uns eine Nebenschleuse, aus der wir aussteigen können“, antwortete Rae. „Solange die Vinculan damit beschäftigt sind, sich den Weg zur Brücke frei zu schießen, haben wir eine reelle Chance, unbemerkt zu bleiben.“

An einer Biegung floss zäher Nebel über den Boden. Das wütende Brummen der Kampfdrohnen hing in der Luft und es wurde lauter.

„Irgendeine Art von Betäubungsmittel“, vermutete Tangens, während der Nebel weiter auf sie zuquoll. „Sie wollen uns ausräuchern, obwohl das nicht so viel bringen dürfte, wenn alle den Befehlen des Captains gefolgt sind und ihre Schutzanzüge angelegt haben.“

Tangens war ein begnadeter Techniker. Limjeta behauptete steif und fest, dass er sich in den Zentralcomputer von Batox‘ Jewel gehackt und seinen Namen geändert hatte. Tangens bestritt das natürlich. Aber Sam traute ihm das zu.

Bei Limjeta schien das Glas immer halb leer zu sein. Mit ihrer spröden Aggressivität hielt sie die Menschen auf Abstand. Er vermutete, dass sie in Wirklichkeit gar nicht so übel war und sich hinter ihrer rauen Schale ein warmherziger Kern versteckte. Andererseits irrte er sich vielleicht und da war tatsächlich nichts anderes als Übellaunigkeit.

„Wir müssen uns beeilen. Wenn wir entdeckt werden, ist alles aus“, trieb Rae zur Eile an.

Sam holte einen Plan der Arkanos auf seinen Bildschirm. Es gab mehrere Nebenschleusen und Frachtluken, durch die sie aus dem Schiff entkommen konnten.

Als sie sich einer kleinen Ein-Mann-Schleuse näherten, sah Sam einen Funkenregen daraus hervorschießen. Die Vinculan verschafften sich auch hier Zugang. Er fragte sich ohnehin, wie sie mit ihren Anzügen da hindurchpassen sollten.

„Was jetzt?“, fragte Limjeta.

„Wir probieren es woanders“, antwortete Rae.

Wieder hasteten sie durch die Gänge. Eine Drohne flog an der Mündung eines Gangs vorbei. Sie zog eine Nebelfahne hinter sich her. Malkus hob sein Plasmagewehr. Bevor er abdrücken konnte, schlug Arien den Lauf nach unten. „Bist du wahnsinnig? Wir wollen doch unbemerkt bleiben!“

„Nur diese eine kleine Drohne“, maulte Malkus. „Die merkt nicht mal, dass sie abgeschossen wird.“

„Was ist nur mit dir los, du Schwachkopf?“, zischte Limjeta. „Setz endlich deinen Verstand ein!“

„Schluss jetzt“, fuhr Rae mit scharfer Stimme dazwischen. Sam zog unwillkürlich den Kopf ein, obwohl ihr Zorn gar nicht ihm galt. „Niemand schießt ohne ausdrücklichen Befehl, verstanden?“

Die Teammitglieder bestätigten.

„Außerdem haben wir jetzt ein ernsthaftes Problem. Uns gehen die Optionen aus, das Schiff unbemerkt zu verlassen.“ Sie deutete zur Nebenschleuse, die sie gerade erreicht hatten. Man hörte heftige metallische Schläge, die das Schleusenschott zum Erbeben brachten. Mit jedem Schlag rutschte das herausgeschnittene Stück weiter Richtung Innenraum, bis es in Zeitlupentempo nach unten kippte.

‚Rote Grütze‘ rannte den Gang zurück, den sie gekommen waren und flüchteten sich in einem kleinen Lagerraum. Das Brummen vorbeifliegender Drohnen war zu hören. Zum Glück verschwand das Geräusch. Die Vinculan kümmerten sich im Moment noch nicht um unwichtige Nebenräume. Aber das würde sich eher früher als später ändern.

„Was jetzt?“, fragte Limjeta erneut.

Es wurde immer wahrscheinlicher, dass man sie entdeckte. Die Vinculan mussten die Brücke inzwischen erreicht haben und würden danach schnell das gesamte Raumschiff unter ihre Kontrolle bringen. Sam begann trotz Klimatisierungin seinem Anzug zu schwitzen.

„Ich hätte da eine Idee“, sagte Malkus plötzlich.

„Du bist still und überlässt das Denken den Erwachsenen!“, schnauzte Limjeta. „Deine Ideen kennen wir.“

Es kamen nur unverständliche Laute aus Malkus‘ Anzug, die nach Enttäuschung klangen.

Die Nebelschwaden waberten träge durch die Gänge und versperrten die Sicht. In Sams Helmdisplay blinkte es rot. Der Anzug warnte davor, die Versiegelung zu lösen.

„Die Notfallkapseln“, sagte Tangens.

„Was ist damit?“, fragte Rae.

„Die können wir benutzen.“

„Wozu? Um zu fliehen? Die werden doch sofort abgeschossen. Und wir gleich mit“, ereiferte sich Limjeta.

„Nein, nein …“ Tangens öffnete die Tür und spähte hinaus.

„Wir müssen uns beeilen, wenn wir hier unentdeckt hier rauskommen wollen“, drängte Rae.

Wie um ihre Worte zu bestätigen, ertönte ein lautes Donnern. Das Schiff bäumte sich auf, eine Stichflamme jagte durch denGang.

„Los. Wir haben keine Zeit für Erklärungen. Die Notfallkapseln sind unsere letzte Chance“, bestimmte Rae und trat vorsichtig, sich nach allen Seiten umblickend, auf den Gang. Die anderen folgten ihr.

Am Außenrumpf war der Kampflärm fast verebbt. Ein schlechtes Zeichen. Jetzt würde die systematische Durchsuchung des Schiffes beginnen, um die letzten Crewmitglieder aufzustöbern, die sich irgendwo versteckt hielten.

Die Kapseln waren in den Rumpf eingelassene Kugeln mit Zugangsluke. Sie besaßen nicht einmal eine Schleuse. Verließ man in ihnen das Schiff, war man gefangen. Tangens stellte sich vor eine der Luken und bedeutete den anderen, sich ebenfalls eine Kapsel auszusuchen. „Jetzt zieht jeder an dem Hebel dort. Dadurch werden die Kapseln abgesprengt.“

„Und wir steigen nicht ein?“, fragte Malkus.

„Ich bin ja nicht ganz verblödet“, antwortete Tangens. „Ich will mich nicht fangen lassen, sondern entkommen. Die Kapseln sind ein Ablenkungsmanöver.“

„Und was ist mit dem Druckverlust? Draußen dürfte keine Atmosphäre herrschen“, wandte Rae ein.

„Sagt mal, liest außer mir niemand die Handbücher?“ Demonstrativ zog Tangens an seinem Hebel. Mit einem lauten Knall löste sich die Kugel aus der Wand und wurde mit chemischen Treibsätzen in den Weltraum katapultiert. Gleichzeitig senkte sich eine Metallplatte herab und verschloss die Öffnung luftdicht.

„Aber wie soll uns dein Ablenkungsmanöver helfen? Wir sind doch immer noch im Schiff und kommen nicht raus“, beharrte Rae.

Tangens ließ sich nicht beirren: „Jetzt kommen unsere Anzüge ins Spiel. Bevor wir aber die eigentliche Aktion starten, sollten wir so viele Rettungskapseln auswerfen wie wir können.“

Also gingen sie den Gang entlang und rissen die Hebel herunter. Immer wieder gab es einen lauten Knall und das das schleifende Geräusch einer sich herabsenkenden Metallplatte.

Sam wusste, dass der Start der Rettungskapseln nicht unbemerkt bleiben würde. Sie hatten nicht mehr viel Zeit, bis die Vinculan hier waren. Er hoffte, dass noch genügend Besatzungsmitglieder frei herumliefen, um eine logische Erklärung für die ausgeworfenen Notfallkapseln zu bieten. Niemand würde glauben, dass sie sich selbständig gelöst hatten. Dazu hätte jemand drinsitzen und den Auswurfmechanismus von innen auslösen müssen.

Dann hörte Sam ein leises Brummen. Unheilvoll schwebte es im Raum.

„Höchste Zeit zu verschwinden, Tangens“, sagte Rae.

Sam postierte sich vor einer Notfallkapsel und konzentrierte sich. Auf das Timing kam jetzt alles an.

Das Brummen wurde viel zu schnell lauter. Die Multikopter mussten schon ganz nahe sein.

Sam riss am Hebel. Ein Knall. Und die Metallplatte senkte sich herab, um zu verhindern, dass die Luft in den Weltraum entwich.

Verdammt, kommt die schnell runter. Sam hatte es nicht geschafft, die Metallplatte an ihrem unteren Ende zu fassen, damit sie nicht vollständig nach unten rutschte.

Er sah sich um. Er war allein auf dem Gang. Die anderen waren offensichtlich geschickter als er.

Das Brummen wurde noch lauter. Jeden Moment musste eine der Drohnen um die Ecke biegen.

Sam schwitzte noch mehr. Er rannte den Gang entlang, fort von dem Hornissenschwarm hinter ihm. Überall waren die Metallplatten unten.

Es muss doch noch eine übrig sein, dachte er und wunderte sich, dass sich die anderen nicht meldeten. Waren sie gefangen worden?

DA! Eine Kapsel gab es noch. Der letzte Versuch. Sam riss am Hebel. Diesmal war er schnell genug. Die Kraftverstärkung seines Arms jaulte besorgniserregend, als sie sich gegen die Hydraulik der Metallplatte stemmte. Die Dekompression katapultierte ihn durch den kreisrunden Schacht. Hinter ihm senkte sich die Metallplatte herab. Dann war er draußen.

Sam glich die unkontrollierte Flugbahn mit seinem Jetpack aus und hoffte, dass er nicht gesehen wurde. Er blickte über den schlanken spindelförmigen Rumpf der Arkanos. Nicht weit von seiner Position zog sich der Antriebsring um das Schiff. Es lag auf einer Plattform in einem Tragegestell. Dahinter ragte das Konglomerat hervor. Der Rumpf schützte Sam vor neugierigen Blicken. Er wusste aber, dass sich das schnell ändern konnte. Suchend blickte er sich um. Wo waren die anderen? Vorsichtshalber flog er näher an die Arkanos heran und landete unterhalb des Rumpfes auf der Plattform.

„Na endlich. Wieso hat das so lange gedauert?“ Rae tauchte neben Sam auf. Ihre Stimme knisterte und knackte.

Sam begriff: Sie hatte den Helmfunk auf geringste Leistung gestellt, um nicht angepeilt zu werden. Er regelte seinen Output ebenfalls herunter.

„Musstest wohl noch für kleine Jungs, wie?“, witzelte Malkus.

„So etwas in der Art.“ Sam schaute sich um. In der Ferne erblickte er ein Blitzlichtgewitter. Hin und wieder leuchtete ein kleiner Feuerball auf.

„Die Vinculan machen sich nicht die Mühe, die Kapseln abzufangen. Sie schießen sie einfach ab“, sagte Limjeta bitter.

„Vielleicht haben sie gemerkt, dass niemand drin sitzt“, relativierte Rae. „Wir sollten verschwinden, solange sie durch die Rettungskapseln abgelenkt sind.“

„Und wohin soll die Reise gehen?“, fragte Limjeta.

„Erst einmal runter von diesem Präsentierteller. Dann sehen wir weiter.“ Sie ging zum Rand der Plattform, auf der die Arkanos verankert lag, stieß sich ab und flog zur Unterseite. Die anderen folgten ihr.

Im Schutz der Fläche über ihnen bewegten sie sich vorsichtig auf das Konglomerat zu. Die Gerüste, Stützen und Querverbindungen glänzten golden.

„Erinnert an Synthmetall“, warf Rae ein.

„Vielleicht ist es das auch“, vermutete Tangens. „Es braucht sehr widerstandsfähiges Material, um diese riesige Konstruktion zusammenzuhalten.“

„Synthmetall? Hier? Dann müsste das Gebilde von der Konvergenz stammen. Wieso wissen sie