Quantumdrift - Tilo Linthe - E-Book

Quantumdrift E-Book

Tilo Linthe

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Beschreibung

Nach einem Autounfall erwacht Sam Njuman in einem geheimnisvollen Sonnensystem, das viele Fragen aufwirft: Wer hat die kosmischen Artefakte erschaffen? Wer sind die übermächtigen Außerirdischen, die Vinculan und warum greifen sie an? Fragen, die auch das Konsistorium seit langem beschäftigt. Hochrangige Vertreter dieser Organisation der Menschen benutzen den schüchternen und zurückhaltenden Sam, um Antworten zu finden und bringen ihn in Gefahr. Er muss sich entscheiden. Entweder spielt er mit oder behauptet sich gegen sie. Doch das könnte ihren Zorn hervorrufen und sie sind skrupellos. Als Sam einzigartige Fähigkeiten an sich entdeckt, führen sie ihn zur Basis der übermächtigen Außerirdischen. Dort muss er nicht nur ums Überleben kämpfen, sondern entdeckt etwas, das alles verändert.

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Quantumdrift

Impressum

Copyright:Tilo Linthe

Jahr:2020

ISBN:9789463984492

Lektorat/ Korrektorat:Balg

Verlagsportal:meinbestseller.de

Gedruckt in Deutschland

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie(falls zwei Pflichtexemplare an die DNB geschickt werden!).

Unfall

Im Nachhinein sagte sich Sam immer wieder, dass sein Tod nichts mit seiner besonders aggressiven Fahrweise an jenem verregneten Novembertag im Jahr 2017 zu tun gehabt hatte …

Mit einer wütenden Bewegung schaltete er zurück in den dritten Gang, dass es nur so krachte. Er trat das Gaspedal voll durch und der Motor des schmutzigen grünen VW Polo heulte gequält auf. Die alten Bäume am Straßenrand rasten immer schneller an ihnen vorbei. Mit einem Anflug Genugtuung zog Sam zunächst mit dem 5er BMW gleich, doch der Fahrer wollte ihn nicht vorbeilassen, beschleunigte auf der regennassen Landstraße.

Der entgegenkommende LKW signalisierte bereits mit Lichthupe - aber bremsen und wieder hinter dem silbergrauen Straßenflitzer einordnen? Diesmal nicht, dachte Sam und übte noch mehr Druck auf das Gaspedal aus, das bereits bis zum Anschlag durchgetreten war. Und endlich … der BMW-Fahrer hatte ein Einsehen, bremste stark und fiel hinter Sam zurück. Der zog den Polo auf die rechte Spur, kurz bevor es zu spät war, und der LKW hupte im Vorbeifahren wütend. Aufgewirbeltes Regenwasser landete auf der Windschutzscheibe, mühsam quietschend wischte der Scheibenwischer sie wieder frei. Der BMW jagte dicht hinter Sams verbeultem Polo; gnadenlos, wie ein Löwe seine Beute verfolgt.

"Bist du wahnsinnig?! Willst du uns umbringen?!", platzte die angestaute Panik aus Lariana heraus.

Schuldbewusst blickte Sam kurz zum Beifahrersitz hinüber und in vor Schreck geweitete Augen.

"Tut mir leid …", murmelte er.

"Du hast doch einen Vollknall!" Verkrampft saß sie da, was ihrer Figur einen unerklärlichen Reiz verlieh - im gleichen Moment schämte sich Sam auch schon für die Richtung, die seine Gedanken von allein einschlugen.

Eine Weile blieb es still im Auto. Nur das Quietschen der Scheibenwischer war zu hören. Dann registrierte Sam aus den Augenwinkeln, dass sich seine Mitfahrerin wieder etwas entspannte.

Ruhiger fragte Lariana nun: "Was ist denn los? Du fährst doch sonst nicht so aggressiv."

Sam presste die Lippen aufeinander. Er wollte ihr nicht schon wieder die gleiche Geschichte erzählen - im Grunde genommen die Geschichte seines Lebens. Seit drei Jahren bildeten Lariana und er nun schon eine Fahrgemeinschaft, und seit drei Jahren erzählte er sie ihr. Diesmal nicht, dachte Sam noch einmal mit finsterem Blick.

Da blitzte es rot auf. Reflexhaft trat er auf die Bremse, obwohl es dafür viel zu spät war. Der Blitzer hatte ihn erwischt. Schuldbewusst blickte er in den Rückspiegel, doch der BMW war weit hinter ihm zurückgefallen. Der Fahrer kannte den fest installierten Blitzer offenbar genauso wie er, fuhr die Strecke wahrscheinlich jeden Tag - wie er - und lachte sich gerade über ihn kaputt. Das war dann wohl die gerechte Strafe für das riskante Überholmanöver. Sam schlug mit der flachen Hand so hart gegen das abgewetzte Lenkrad, dass es schmerzte.

"War es heute wieder schlimm?" Lariana ließ nicht locker.

Sam bewunderte sie für ihre Geduld. Seit sie zusammen fuhren ging das so. Sie war so etwas wie seine Seelsorgerin geworden, sein Kummerkasten. Ohne sie hätte er es in dieser verdammten Behörde nicht ausgehalten. Aber was machte sie eigentlich beruflich? Verwundert stellte Sam fest, dass er außer ihrer Adresse, an der er sie jeden Morgen abholte und abends wieder absetzte, nichts über Lariana wusste.

"Haben sie wieder jede deiner Bewegungen nachgeäfft?"

Sam schüttelte den Kopf.

"Wasser über Stuhl und Tisch gekippt?"

Wieder ein Kopfschütteln.

"Jetzt erzähl schon! Was war los? Sonst enden wir heute noch an einem Baum." Ihre Stimme bohrte sich unerbittlich durch seine Wand aus Schweigen.

Wie sie es nur aushielt, sich auf fast jeder Fahrt sein Leid anzuhören?

"Ich hab ein Disziplinarverfahren am Hals." Sam richtete die Lüftung auf die Frontscheibe, die wegen des feuchten Wetters immer wieder beschlug. Die warme Luft roch leicht verbrannt - der Polo war eben nicht das neueste Modell. Und dann flossen die Worte nur noch so aus ihm heraus, wie Wasser aus einem geplatzten Rohr.

"Ich stand in der Teeküche und wollte mir Tee kochen. Da standen sie plötzlich hinter mir, umringten mich und grinsten nur blöd. Karsten hat sich wie immer zum Sprecher gemacht."

Sam spürte Larianas sorgenvollen Blick auf sich. Kurz blickte er zu ihr hinüber. Sie hatte ihre vollen Lippen leicht geöffnet, das machte sie immer, wenn sie konzentriert zuhörte.

"'Na, Njuman? Diesmal kriegen wir dich endlich! Bist zwar glitschig wie ein Fisch, aber diesmal entkommst du uns nicht', hat er gesagt. 'Der Chef will dich sehen - sofort!' Sie haben mich in ihre Mitte genommen und wie einen Gefangenen zur Bürotür geführt." Beiläufig registrierte Sam, wie der BMW hinter ihm ausscherte.

Mit spielerischer Leichtigkeit beschleunigte das silbergraue Wunderwerk deutscher Ingenieurskunst, zog an ihm vorbei und ordnete sich vor ihm wieder ein. Diesmal gab es keine Lichthupe des entgegenkommenden Fahrzeugs.

"Karsten hat mir sogar mit unterwürfiger Geste die Bürotür aufgemacht. Das muss der Büroleiter eigentlich mitbekommen haben, hat es aber ignoriert. Dafür hat er dann zu mir gesagt, er könne nicht anders. Er wisse zwar, dass an den Vorwürfen der Untreue nichts dran sei, aber wenn die ganze Abteilung so eine Behauptung aufstelle, seien ihm die Hände gebunden. Solchen Verdachtsmomenten müsse er nachgehen."

Lariana seufzte und schüttelte den Kopf. War sie genervt? Trotz ihrer Vertrautheit untereinander konnte Sam Lariana immer noch schwer einschätzen. Obwohl sie schon so lange miteinander fuhren, hatten sie sich noch nie privat getroffen. Das Bedauern darüber ließ Sams Magen kurz prickeln, als hätte er Brausepulver geschluckt. Wer wollte auch schon mit einem Versager wie ihm zu tun haben?

"Warum lässt du dir das gefallen?", fragte sie. "Du musst dich dagegen wehren, Sam! Das ist nicht nur Mobbing, sondern Rufmord!"

"Wenn das nur so einfach wäre …"

"Du musst dagegen kämpfen!" Ihre Stimme klang leidenschaftlich. Das machte sie noch begehrenswerter.

"Aber wie?"

"Du kannst zur Beschwerdestelle gehen … oder zur Polizei. Ich würde diese Schweine anzeigen!"

Sam fühlte sich ohnmächtig - wieder einmal … Lariana musste ihn für einen Schlappschwanz halten, der es nicht einmal schaffte, sich gegen ein paar Kollegen zu verteidigen. Sam legte einen anderen Gang ein und es ratterte - das passierte in letzter Zeit immer öfter. Lange würde der Polo es wohl nicht mehr machen.

"Entschuldige, ich weiß ja, dass das nicht dein Stil ist", hörte Sam Lariana neben sich sagen.

"Mh … Es lässt sich sowieso nichts mehr daran ändern." Er wusste, dass sie es nur gut mit ihm meinte, aber ihre Vorschläge stärkten nicht sein Selbstbewusstsein. Wenn sich seine Arbeitskollegen wieder einmal etwas Neues ausgedacht hatten, konnte er nur dastehen und alles über sich ergehen lassen. Kein Laut des Protests, nicht der leiseste Hauch einer Gegenwehr kam dann über seine Lippen. Kein Wunder, dass sie sich ausgerechnet ihn als Opfer ausgesucht hatten. Sam hasste sich dafür selbst, und wieder stieg Wut in ihm hoch. Prompt trat er fester aufs Gas, sodass der Wagen wieder beschleunigte und damit auch der Takt, in dem die Bäume an ihnen vorbeizogen. Die Landstraße lag verwaist da, als wollten die anderen Autos die Nähe von Sams Polo meiden. Dessen Motor klang genauso gemartert wie seine Seele. Der Auspuff röhrte, das Lenkrad vibrierte immer mehr und zum ohnehin schon seltsamen Geruch aus der Lüftung mischte sich nun noch der von verbranntem Gummi. Sam wusste, dass er viel zu schnell fuhr. Und plötzlich war etwas anders.

Beunruhigt sah er von rechts nach links, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Spielten ihm seine überreizten Nerven einen Streich?

"Was ist denn jetzt los?" Lariana hatte es auch bemerkt, also bildete er sich das nicht nur ein. "Schau mal … der Regen."

Sam konnte nichts erkennen. Immer noch klatschten die Regentropfen gegen die Windschutzscheibe und gewannen den Kampf gegen die abgenutzten Wischerblätter. Doch als er aus dem Seitenfenster sah, erschrak er. Da waren unzählige silbrig glänzende Tropfen, und sie schwebten in der Luft, als wären sie schwerelos. Wie ein Perlenvorhang schwebten sie über dem Boden. Ein unheimliches Flimmern hatte sich um jeden einzelnen Tropfen gelegt und ließen sie leuchten wie Abermillionen Glühwürmchen. Und da fiel Sam endlich auf, was sich verändert hatte: Es war still geworden. Außer dem Quietschen des Scheibenwischers war nichts zu hören. Das Geräusch zerplatzender Regentropfen auf dem Blech des Autos war verstummt.

"Was zum …?!"

Lariana kurbelte das Seitenfenster herunter, um ihre Hand rauszustrecken. Das merkwürdige Phänomen beschäftigte sie deutlich mehr als Sams unberechenbarer Fahrstil.

"Merkwürdig. Das fühlt sich gar nicht an wie Regen … eher als würde man seine Hand durch eine volle Badewanne ziehen." Ein überraschter Aufschrei ließ Sam zu ihr hinüberblicken. Ungläubig sahen sie beide auf die dünne Schicht aus Wasser, die sich wie ein Fäustling um ihre Hand gelegt hatte. Als sie versuchte, das Wasser mit der anderen Hand fortzuwischen, blieb ein Teil davon an ihrer anderen Hand haften.

"Was ist hier los?" fragte sie mit einem Anflug von Panik in der Stimme. "Halt an. Halt sofort an!"

Sam trat das Bremspedal voll durch. Das metallische Rattern übertrug sich durch das Bremspedal auf seinen Fuß - das Antiblockiersystem sprang an. Doch sonst passierte nichts. Mit unverminderter Geschwindigkeit rutschte das Auto wie bei Blitzeis weiter über die Fahrbahn. Sam umklammerte das Lenkrad mit weiß hervortretenden Knöcheln. Jetzt legte sich das allgegenwärtige Flimmern der Regentropfen auch auf die Windschutzscheibe und bildete eine durchsichtige Decke. Der Scheibenwischer sorgte lediglich für sanfte Wellenbewegungen, wischte nichts fort. Verschwommen sah Sam, dass die immer noch verwaiste Straße eine Kurve beschrieb, und versuchte zu lenken … Keine Reaktion. Nach wie vor raste der Polo geradeaus auf eine Eiche mit ausladender Baumkrone zu.

"O mein Gott ..." Lariana krallte ihre Finger in den abgenutzten Saum ihres Sitzes.

Das Letzte, was Sam in seinem Leben hörte, waren der spitze Schrei aus ihrer Kehle und das Krachen, als der Wagen gegen den Stamm knallte. Sein letzter Gedanke: Schade ist es um den Polo nicht.

Ankunft

Alles um ihn herum war schwarz und er konnte sich nicht bewegen. Doch bevor die Panik über Sam zusammenschlagen und sein Bewusstsein mit sich reißen konnte, hörte er etwas: wispernde Stimmen. So leise, dass er die Worte nicht verstand. Sam beruhigte sich etwas. Wahrscheinlich war er in einem Krankenhaus und das Flüstern kam von Ärzten, die draußen vor der Tür seinen Fall diskutierten. Allerdings wurde das Wispern mal lauter und deutlicher, dann wieder leiser, als würden sich die Personen vor seinem Zimmer auf und ab bewegen. Verstehen konnte Sam aber trotzdem nichts, und das störte ihn, denn in ihm keimte ein unbestimmtes Gefühl, dass es wichtig war. Sprachen sie zu ihm oder über ihn? Wollten sie ihm etwas sagen oder diskutierten sie nur seinen Fall? Die Stimmen wurden schließlich leiser und verloren sich in der unendlichen Schwärze, die ihn von allen Seiten umgab.

Dann waren sie verschwunden und hinterließen in ihm Niedergeschlagenheit und das unbestimmte Gefühl, eine Gelegenheit verpasst zu haben.

Als Sam eine Erschütterung spürte, hielt er das für ein gutes Zeichen. Obwohl er sich nicht regen konnte, spürte er seinen Körper wieder. War er gerade vom OP-Tisch ins Krankenbett gehoben worden? Schob man ihn gerade aus dem OP-Saal? Sam schlug die Augen auf und sog scharf Luft ein. Nein, dies war definitiv kein Krankenhaus. Er befand sich in einer Halle mit golden leuchtenden Wänden, die von Zugängen unterbrochen wurden, hinter denen goldschimmernde Korridore aus dem gleichen merkwürdigen Material zu sehen waren. Doch woher das indirekte Licht stammte, konnte er nicht ausmachen. Es gab keine Fenster, keine Übergänge, keine Nahtstellen. War diese Halle aus einem massiven Block dieses goldglänzenden Materials herausgefräst worden? Wände und Decke wirkten makellos. Keine Kratzer, keine Flecken, keine Unebenheit verunstaltete das Bild. Hier herrschte vollkommene Leere - keine Möbel, keine Gegenstände, nicht ein Staubkorn lag herum.

Sam fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen, als hätte seine Psyche die innere Isoliertheit seines Selbst nach außen gekehrt und in dieser Halle verstofflicht. Wo war er? Und was passierte mit ihm? Immer noch konnte er keinen Finger rühren, spürte zwar seine Gliedmaßen, aber sie fühlten sich so fremd an, als hätte er sie noch nie benutzt. Eine erneute Erschütterung ging durch den Boden und Sam bekam es mit der Angst zu tun. Warum konnte er sich nicht bewegen?!

"Los, aufstehen!"

Und sofort stand Sam auf seinen Füßen. Die Stimme hatte mit so viel Autorität gesprochen, dass seine Glieder ohne bewussten Befehl seines Gehirns gehorcht hatten. Die Gestalt, von der der Befehl gekommen war, hätte aus einem Superheldenfilm stammen können. Sie trug einen martialisch aussehenden Anzug, wie die futuristische Version einer Samurai-Rüstung, und noch bedrohlicher wirkte die unförmige Waffe, die auf Sams Brust gerichtet war. Sie erinnerte ihn an ein schlichtes Rohr - allerdings eines, an das ein Abzugshebel montiert worden war. Langsam hob Sam die Arme.

"Wer sind Sie? Was machen Sie hier?", klirrte ihm die Stimme aus verborgenen Lautsprechern wie Eis entgegen.

"Ich … ich weiß es nicht." Sam blickte unwillkürlich an sich herab und bekam den nächsten Schock. Seine Haut glänzte so golden wie die Wände, als hätte man ihn von Kopf bis Fuß angemalt. Er betastete sich, als steckte er im Körper eines Fremden. Halb erwartete er, gar nichts zu spüren, aber es waren definitiv seine Hände, sein Körper. Trotzdem - etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Selbst wenn er den Unfall überlebt hatte, musste er doch schwere Verletzungen davongetragen haben. Aber er spürte keinen Schmerz, fühlte sich wie neugeboren.

"Runterkommen!"

Erst jetzt bemerkte Sam, dass er auf einer kreisrunden Plattform aus eben jenem rätselhaft goldenen Material stand. Zögernd stieg er die Stufen hinab und registrierte erstaunt, dass die Seiten der Plattform so rau waren, als hätte man sie grob aus dem Stein gehauen. Krater und Risse durchzogen die Seiten und bildeten einen eigenartigen Kontrast zur makellosen Umgebung.

"Also, noch einmal: Wer sind Sie?" Die Autorität dieser Stimme und der ungeduldige Wink mit der fremd aussehenden Waffe forderten eine Antwort.

"Ich bin Sam. Sam Njuman."

"Wir haben heute keine Neuankömmlinge erwartet. Genauer gesagt haben wir niemals wieder welche erwartet. Woher kommen Sie also?!"

"Ich …" Sam brach ab. Ja, wie war er denn hierher gekommen? "Gerade eben saß ich noch in meinem Auto und dann … bin ich hier aufgewacht. Ich dachte, ich wäre in einem Krankenhaus und hätte die Stimmen der Ärzte gehört."

"Krankenhaus? Also hatten Sie einen Unfall?" Die Stimme klang nicht überrascht, eher neugierig.

"Ja, einen Autounfall. Ich bin gegen einen Baum geknallt."

"Und dann?"

"Daran erinnere ich mich nicht", sagte Sam. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, als er vor seinem inneren Auge noch einmal das Flimmern auf der Windschutzscheibe sah, die in der Luft schwebenden Regentropfen. Dann das Krachen und Larianas spitzer Schrei. "Wo bin ich hier? Wo ist Lariana?"

"Herzlichen Glückwunsch: Sie sind tot." Der Samurai ignorierte Sams Fragen und steckte die Waffe weg.

Ein Teil seiner Anspannung fiel ab, nachdem die Waffe nicht mehr auf ihn zeigte. Dann erst sickerte die Bedeutung des Satzes in sein Bewusstsein ein und er musste sich hinsetzen.

"Tot?", fragte er kraftlos. Er hatte es geahnt, als er seinen goldschimmernden Körper betrachtet hatte. "Also ist das hier das Paradies?"

"Das Paradies? Nichts könnte weiter entfernt von der Realität sein."

Sam konnte nur immer wieder den Kopf schütteln und murmelte: "Das passiert nicht wirklich. Das ist alles nur ein Traum."

"Stellen Sie sich nicht so an", sagte der Samurai unerbittlich. "Bei unserem Beruf muss man nun mal täglich damit rechnen, nicht mehr aufzuwachen."

"So gefährlich war mein Job auch wieder nicht …"

"Nicht? Was haben Sie denn in ihrem früheren Leben gemacht?"

Sam entging die Ironie nicht, die in diesem Wortspiel steckte.

"Ich habe in einer Verwaltung gearbeitet."

Der Anzugträger schnaubte verächtlich.

"Aha, ein Bürohengst aus der Militärverwaltung. Der hat uns hier oben gerade noch gefehlt."

"Wieso Militärverwaltung? Ich bin bei der Stadt angestellt. War … sollte ich wohl besser sagen", korrigierte Sam unwillig.

Jetzt wirkte der Anzugträger zum ersten Mal unsicher. Er schwieg kurz, dann sagte er: "Sie waren nicht beim Militär?"

"Das klingt bei Ihnen, als wäre es ein Makel."

"Ach, mir egal. Soll sich doch der Captain darüber den Kopf zerbrechen."

"Was soll das denn heißen?"

Eine erneute Erschütterung ging durch den Boden, heftiger diesmal als bei den ersten beiden Malen.

"Pssst!" Ein gepanzerter Zeigefinger legte sich vor den Helm, wo Sam die Lippen vermutete. Der Samurai schien angestrengt zu lauschen. Alles blieb still.

"Hier ist es nicht sicher. Wir müssen weg."

"Weg? Wohin?" Sam verstand überhaupt nichts. Lag er vielleicht doch in einem Krankenbett und fantasierte das alles im Fieberdelirium?

"Zuerst runter von der Station." Der Samurai deutete in eine Richtung eines der Ausgänge und lief los.

Sam hatte Mühe, mit dem Samurai Schritt zu halten, folgte ihm durch goldschimmernde Räume, Hallen und Korridore. Hinter ihnen erklang ein dumpfes Grollen, wie ein weit entferntes Gewitter. Sam hielt inne.

"Was war das?"

"Scheiße!" Der Samurai beschleunigte seine Schritte noch, und Sam rannte ihm hinterher, wobei er sich wunderte, wie schnell er plötzlich laufen konnte, ohne außer Atem zu geraten.

Wieder dumpfes Grollen, diesmal lauter. Eine Erschütterung durchlief den Boden. Warme Luft strich über sie hinweg und es roch nach Rauch.

"Was ist hier los?", keuchte Sam.

Endlich rang sich der Samurai eine Erklärung ab.

"Die Vinculan. Sie haben uns gefunden."

Im gleichen Moment wurde Sam heftig zur Seite gestoßen, kam hart auf und rutschte einige Meter über den glatten Boden. Kurz wunderte er sich, dass er keine Schmerzen hatte. Als er wieder aufblickte, sah er etwas aus dem Gang auftauchen, durch den sie gerade in eine weitere dieser merkwürdigen goldenen Hallen gelaufen waren. Es sah aus wie ein verwaschener schwarzer Fleck, der in der Luft schwebte und das Licht der Umgebung aufzusaugen schien. Die Konturen blieben unscharf und veränderten sich ständig, als plötzlich ein blassgrüner, etwa fingerdicker Strahl aus dem Ding fauchte und den Samurai traf - oder besser gesagt das rot leuchtende Feld, das sich gerade um ihn herum aufgebaut hatte. Der grüne Strahl fraß sich mit beängstigender Geschwindigkeit hindurch und verschlang die rote Substanz wie ein hungriges Tier. Der Samurai konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, sodass der Strahl hinter ihm mit zerfasernden Funken in die Wand einschlug. Es klang, als würde sich etwas elektrisch entladen und der Geruch von Ozon stieg in Sams Nase. An der Wand blieb eine Brandspur zurück.

Der Samurai legte seine unförmige Waffe an und schoss. Blendend weiße Feuerbälle jaulten daraus hervor und brachten das Rohrende zum Glühen. Sie jagten dem Schatten entgegen, platzten an den Wänden und auf dem Boden und erzeugten eine Feuerwand, die sich aus weiteren weißen Bällen nährte. Die Luft flimmerte vor Hitze, stechender Brandgeruch stieg Sam in die Nase. Er musste husten, während dem Schatten schon eine weitere Salve entgegenjaulte. Sam sah mit Grauen, dass einer der Feuerbälle einfach durch das Wesen hindurchflog, ohne Schaden anzurichten, aber zumindest wich es vor dem Inferno aus Hitze und Feuer zurück. Sam sah dem Schlagabtausch mit der Faszination eines Kindes zu, das zum ersten Mal von Mitschülern verprügelt wird und nicht glauben kann, dass das tatsächlich ihm passiert.

"Schnell, wir müssen hier weg!", rief der Samurai und deutete in eine andere Richtung.

Seine eindringliche Stimme holte Sam ins Hier und Jetzt zurück und brachte seine Glieder in Bewegung. Er hastete an ihm vorbei in den nächsten Gang. War an der Wand nicht gerade noch eine Brandspur? Doch Sam hatte keine Zeit, sich lange darüber Gedanken zu machen, denn ein weiterer Schatten war hinter ihnen her. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Sam rannte so schnell, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war … bis der Gang in einer Sackgasse endete. Er blieb stehen und starrte auf das höhnisch schimmernde Gold der makellosen Wand vor ihm. Jetzt ist es aus, dachte er. Panik löschte jeden anderen Gedankengang. Alles begann sich vor seinen Augen zu drehen - sollte ihm nur ein Aufschub von wenigen Minuten gewährt worden sein, nachdem er gestorben war? Gleich würde der Schatten hinter ihm auftauchen … Doch zunächst erschien der Samurai.

"Mach schon! Oder willst du hier sterben?!" Dann rannte er auf einige paarweise angeordnete Lichter zu, die vom Boden aus weiße Kreise an die Decke warfen. Sam setzte sich ebenfalls wieder in Bewegung, und plötzlich war der Krieger verschwunden. Panik stieg in Sam hoch. Er blickte sich um. Wo war der Kerl hin? Hinter sich hörte er ein Fauchen. Der blassgrüne Strahl schoss haarscharf an ihm vorbei und zerstob knisternd, in kleine Blitze zerfasernd an der Wand neben ihm. Sams Haare richteten sich auf, als wären sie statisch aufgeladen. Sam sprang nach vorn, rutschte auf die Leuchtelemente zu und fiel in eines hinein - es entpuppte sich als erleuchteter Schacht. Unsanft landete er in einem cockpitartigen Raum.

Der Krieger hatte sich bereits in einen der beiden Sitze gequetscht und hantierte an Schaltern und Hebeln. Mit einem Seitenblick auf Sam feuerte er ihm stakkatoartig Anweisungen entgegen.

"Hinsetzen! Anschnallen! Nichts anfassen! Mund halten!"

Nachdem auch Sam sich endlich in einem Sitz angeschnallt hatte, wurde er mit solcher Wucht in den Sitz gepresst, dass es ihm die Luft aus der Lunge trieb. Gleich darauf ließ der Druck auf seiner Brust nach und er hatte das Gefühl zu fallen. Ihm sackte der Magen ab und in einer instinktiven Reaktion krallte er sich an den Armlehnen fest.

"Was passiert hier?", fragte Sam mit zitternder Stimme. Er konnte den Ereignissen nicht mehr folgen - die Geschehnisse brachen zu schnell über ihn herein. Er blickte gehetzt um sich.

Der Samurai drehte den Kopf, schien Sam neugierig zu mustern wie ein Insekt."Du hast wirklich keine Ahnung, was?" Der Samurai schien Sam neugierig zu mustern und hantierte kurz an seinem Helm. Mit einem Zischen löste sich das Ausrüstungsteil vom Kragen und schwebte schwerelos durch die Kabine davon. Ein Frauengesicht von herber Schönheit kam zum Vorschein, mit ausgeprägtem Kinn und hohen Wangenknochen. Die Augen funkelten wie zwei Sterne kurz vor einer Supernova, während sie zwischen schmalen Lippen ein "Warte kurz!" herausquetschte.

Mit innerer Distanz betrachtete Sam seinen goldgelb schimmernden Körper. Er strich über seine Arme, die Brust und den Bauch, spürte der Berührung nach, um sich zu vergewissern, dass er wirklich in diesem Körper steckte. Dann blickte er wieder in das goldgelbe Gesicht neben ihm. Er fragte sich, ob es ein weibliches Wort für Samurai gab. Ihr Gesicht wirkte jedenfalls so unnahbar und abweisend wie das Klischeebild dieser legendären Krieger es besagte. Sie schlug mit einer wütenden Bewegung auf einen Knopf, als hätte er sie gerade beleidigt. Ein Bildschirm erwachte vor ihnen an der Cockpitwand zum Leben und zeigte den Sternenhimmel.

"Was ist das?"

"Sterne."

"Soll das ein Scherz sein?"

"Sehe ich aus, als würde ich Scherze machen?"

Nein, ganz gewiss nicht. Sams Magen fühlte sich flau an. War es wirklich die Schwerelosigkeit?

"Soll das heißen, wir sind im Weltraum?"

Ein kurzes Nicken ihrerseits.

"Schau!" Wieder ein ärgerlicher Hieb auf die Konsole, den Sam in seiner Magengegend wie einen Faustschlag empfand.

Das Bild veränderte sich - ein Planet wurde eingeblendet, aber irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Schwarze Linien durchzogen seine Oberfläche wie ein Netz und es fehlte ein Stück - ein großes Stück. Als hätte ein kosmischer Riese seine Wut mit einer Hacke an dem Planeten ausgelassen und erst aufgehört, nachdem er ein Viertel herausgeschlagen hatte. Das Loch wirkte auf Sam wie eine offene Wunde, und die Szene war so unwirklich, dass sich wieder das Gefühl einstellte, in einem Traum gefangen zu sein, aus dem er einfach nicht aufwachen wollte.

"Wo bin ich hier gelandet?!"

"Big-Five-System"

"Big Five … die großen Fünf?"

"Fünf kosmische Phänomene wie dieses da." Sie deutete auf den Bildschirm. "Broken."

Besonders gesprächig war sie nicht. Ihre hervorgeschossenen Sätze passten zu dem Bild, das er bis jetzt von ihr hatte.

"Dann sind wir also nicht in unserem Sonnensystem?"

Sie schüttelte unwillig den Kopf und deutete aggressiv auf den Bildschirm vor sich, auf dem der gemarterte Planet Sams Weltbild verhöhnte. Nein, im heimischen Sonnensystem konnten sie nicht mehr sein. Von der Entdeckung eines solchen Planeten hätte er gehört.

"Wie ist das passiert?"

Sie zuckte mit den Schultern. Kurz huschte Ärger über ihr Gesicht.

"Vielleicht wüssten wir es, wenn man uns gestatten würde ..." Sie unterbrach sich. "Ach, das soll dir der Captain erklären." Wieder hämmerte sie energisch auf ihrer Konsole herum.

Auf dem Bildschirm wurde Broken immer kleiner. Auf Knopfdruck hin zoomte das Bild heran und ein goldschimmerndes Gebilde wurde sichtbar - ein größerer Ring, der mit einem kleineren durch vier s-förmige Speichen verbunden war, wobei der kleinere Ring wie die Welle eines LKW-Reifens überstand. Das Ding drehte sich langsam um sich selbst, während es immer kleiner wurde

"Von da sind wir geflohen, nicht wahr?", fragte Sam leise. Er blickte wieder auf seine goldschimmernden Arme und zurück auf den Bildschirm mit der Station. "Gibt es einen Zusammenhang?"

Sie seufzte resigniert.

"Warum unsere Haut die gleiche Farbe hat wie diese Station? Warum wir überhaupt neue Körper haben, wenn wir hier oben ankommen? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass auf dieser Station alle Neulinge von der Erde ankommen. Deshalb nennen wir sie Arrival."

"Neulinge wie ich?"

Sie warf ihm einen undeutbaren Blick zu.

"Nicht ganz."

"Nicht ganz?"

"Es waren keine Neuankömmlinge von der Erde angekündigt und du bist nicht aus dem Material, das wir sonst bekommen."

"Weil ich nicht vom Militär bin?"

"Du kannst natürlich nichts dafür …", sagte sie. Es klang trotzdem wie ein Vorwurf. Sie gab sich einen Ruck und sagte: "Ich bin übrigens Rae."

Sam blickte sie überrascht an. Ihre Augen strahlten plötzlich eine überraschende Wärme aus, die einen eigenartigen Kontrast zu ihrem harten Auftreten bildeten.

"Wir docken gleich an, also halt dich bereit." Ihre Stimme klirrte wieder vor Kälte, als wollte sie ihren warmen Blick dadurch wettmachen. Sie fischte ihren Helm aus der Luft und verankerte ihn an ihrer Rüstung.

Ein sanfter Ruck ging durch die Kapsel, gleich darauf hörte Sam ein metallisches Kratzen, als versuchte jemand von außen, mit einem überdimensionalen Topfkratzer die Oberfläche zu polieren.

Rae schnallte sich ab und drehte sich zu Sam. Mit fast feierlichem Ton sagte sie: "Wir sind da!"

Feinde

Rae schwebte nach oben, während Sam noch mit seinen Anschnallgurten kämpfte. Als er sie endlich aufbekommen hatte, stellte sich das Gefühl zu fallen ein. Ihm wurde übel, weil er begann, sich unkontrolliert um die eigene Achse zu drehen, und auch das Rudern mit den Armen führte nur dazu, dass er mit der Hand irgendwo anstieß und sein Körper einen weiteren unkontrollierten Impuls bekam. In diesem Moment legte sich eine behandschuhte Hand um sein Handgelenk. Hilflos ließ sich Sam von Rae in eine enge Kammer mit Ausgang ziehen. Sie schloss die Schleuse.

"Wo sind wir?"

"Auf der Arkanos. Das hier ist eine Schleusenkammer." Rae wandte sich der Schleusentür zu, die sich gerade wieder öffnete. Goldgesichtige Männer und Frauen in orangefarbenen Overalls quollen durch die Öffnung - viel zu viele für den engen Raum. Mit eigenartig sparsamen Bewegungen wurde Sam ein Overall in die eine Hand gedrückt und ein paar klobige Stiefel in die andere. Es war ihm peinlich, dass er noch immer splitterfasernackt war. Schnell wollte er sich den Overall überstreifen, doch die hektischen Bewegungen ließ ihn das Gleichgewicht verlieren. Sofort begann er sich wieder unkontrolliert um die eigene Achse zu drehen und wurde abermals am Handgelenk gepackt.

"Nicht so hastig, Sportsfreund. Das nimmt dir die Schwerelosigkeit übel", sagte einer der Goldgesichtigen.

Etwas vorsichtiger schlüpfte Sam mit den Beinen in den Anzug und streifte sich dann den Rest über, darauf bedacht, keine hektische Bewegung zu machen. Es war ein eigenartiges Gefühl, dabei über dem Boden zu schweben. Er schaute sich nach seinen Stiefeln um, die er in der Hektik einfach losgelassen hatte. Der Goldgesichtige, der ihn gerade festgehalten hatte, winkte mit ihnen vor Sams Nase.

"Die Stiefel ziehe vorsichtshalber ich dir an." Der Mann bückte sich und steckte ihm die Stiefel mit gleichermaßen schnellen wie vorsichtigen Bewegungen an die Füße. Dabei wirkte er, als wäre er fest mit dem Boden verwachsen. Sam fragte sich, wie es dem Kerl gelang, sich in dieser Schwerelosigkeit so sicher zu bewegen. Doch noch bevor er fragen konnte, wurde er auch schon mit sanftem Druck durch die Öffnung aus der Kammer geschoben. Nach der erdrückenden Enge war die Weite der angrenzenden Halle eine willkommene Abwechslung. Sam blickte sich suchend nach Rae um, aber sie war bereits weg. Unsicher stand er auf den Füßen, darauf bedacht, auf dem Boden zu bleiben. Es gelang ihm nicht. Wie ein Seiltänzer streckte er seitlich die Arme aus und sah sich hilfesuchend um, aber niemand schien von ihm und seinen Schwierigkeiten Notiz zu nehmen.

"Sie müssen die Hacken zusammenschlagen, um die Stiefel zu aktivieren."

Sam blickte sich nach der ungeduldigen Stimme um und erblickte das breite Gesicht eines Mannes mit Doppelkinn und Hängebacken. Die buschigen Augenbrauen verdeckten fast die Augen und gaben ihm den wilden Blick eines Stiers. Er hatte den Kopf leicht nach vorn geneigt, als wollte er Sam mit imaginären Hörnern aufspießen.

"Na machen Sie schon!", wiederholte der Stier barsch.

Sam beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen, und schlug wie ein Feldwebel die Hacken zusammen. Dann spürte er, wie erst der eine und dann der andere Fuß Bodenhaftung bekam. Der Stier quittierte es mit einem Schnauben.

"Ich bin Horst Reiniger, Cheftechniker der Arkanos. Ich hab noch 'ne Menge zu tun und wenig Zeit, also los jetzt!" Er senkte seinen Kopf noch ein Stück tiefer, nachdem er sich umgedreht hatte und losmarschierte, als würde er alles beiseitepflügen, was seinen Weg kreuzte.

Sam stolperte hinterher. Die Fortbewegung mit den Magnetstiefeln sah einfacher aus, als sie in Wirklichkeit war, und wäre die Schwerelosigkeit nicht gewesen, wäre er wohl mehrmals hingefallen. So fiel er hinter Reiniger schnell zurück, dem die anderen Techniker hastig Platz machten, wenn sie ihn kommen sahen. Es dauerte eine Weile, bis er

endlich bemerkte, dass Sam nicht mitkam. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und sein Mund bildete einen schmalen Strich der Missbilligung. 

"Was ist denn los mit Ihnen, Mann? Sie müssen Ihre Füße senkrecht in die Höhe ziehen, sonst lösen sich die Magnethalterungen nicht so gut."

"Ich mache das zum ersten Mal …", versuchte Sam sich zu rechtfertigen. Wieso waren hier eigentlich alle so feindselig?

"Wir haben das alle irgendwann zum ersten Mal gemacht, aber keiner hat sich so dämlich angestellt wie Sie." Reiniger drehte sich um und wollte weiter pflügen.

"Seien Sie nicht zu hart, Reiniger! Er ist schließlich nur ein Zivilist."

Abrupt blieb der Stier stehen und drehte sich zu dem Mann um, der gerade hinter Sam aufgetaucht war. Die Überraschung lockerte den Strich der Missbilligung und ließ die Augenbrauen in ungläubigem Erstaunen nach oben wandern - sie sahen aber immer noch düster aus.

"Wie meinen Sie das?"

"Haben Sie es noch nicht gehört?", fragte die kalte Stimme hinter Sam. Eine ebenso kalte Hand legte sich leicht auf seine Schulter, nagelte ihn mit unerklärlicher Entschiedenheit an seinem Platz fest. "Mr. Njuman ist kein Soldat. Er ist der Erste seiner Art, wenn Sie so wollen. Da müssen Sie ein wenig nachsichtig sein."

Schweigen.

"Ein Zivilist?!"

Sam sah, wie es hinter Reinigers Stirn arbeitete. Diese Information brachte sein Weltbild offenbar gehörig ins Wanken, als hätte er nach dem Zusammenbau einer Maschine eine überzählige Schraube gefunden, mit der er nichts anfangen konnte.

"Was sollen wir denn mit so einem anfangen?"

"Wir werden sehen", ertönte die kalte Stimme und der Unbekannte grub seine Finger in Sams Schulter. "Eine angemessene Beschäftigung wird sich schon finden, nicht wahr?"

Zu Sams Erleichterung lösten sich die Finger von ihm.

"Ach so, deshalb ..." Reiniger schüttelte den Kopf und marschierte weiter.

Sam wurde hinterhergeschubst, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte und stolpern ließ.

"Los, los! Schnell hinterher, sonst verlieren Sie wieder den Anschluss!"

Die Stimme erzeugte einen Schauder über Sams Rücken, als hätte ihn eine Brise arktisch kalter Luft gestreift. Er wagte es nicht, sich umzudrehen, versuchte stattdessen, Reiniger nicht aus dem Blick zu verlieren - der verschwand gerade um die Ecke. Sam hatte Mühe, ihm durch die Korridore und Abzweigungen zu folgen, und schon nach kurzer Zeit hatte er völlig die Orientierung verloren. Er fragte sich, woher Reiniger wusste, wo er langgehen musste. Immer wieder schüttelte der Stier den Kopf und murmelte etwas vor sich hin, bis sie schließlich durch eine dicke Stahltür in einen kreisrunden Raum mit kuppelartiger Decke kamen. Die Wand war von Konsolen gesäumt, deren Zweck Sam nicht einmal erraten konnte. Jeder Quadratzentimeter wurde ausgenutzt - es gab nur an drei Stellen eine Lücke mit schwerer Stahltüre. In der Mitte des Raums standen auf einem Podest einige Sessel, und ein Teil der Wand war von einem riesigen Panoramabildschirm bedeckt, der die schematische Darstellung eines spindelförmigen Objekts anzeigte. Das musste eine Darstellung der Arkanos sein. Sie verjüngte sich nach beiden Seiten und lief in abgerundeten Enden aus. An der dicksten Stelle, in der Mitte, hatte sie eine Wulst, die sich um seine Drehachse zog. Die Abbildung war bis auf ein rot blinkendes Segment in einem Grünton gehalten.

"Willkommen an Bord des leichten Kreuzers Arkanos. Ich bin Captain John Connor! Wie ich sehe, haben Sie unser Problem bereits erkannt."

Sam zuckte zusammen. Er hatte so gebannt auf den Bildschirm gestarrt, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie jemand neben ihn getreten war. Er wandte dem Captain den Kopf zu und blickte in ein kantiges Gesicht. Darin bewegte sich kein einziger Muskel. Der Captain des Schiffs wirkte distanziert, aber nicht kalt oder unfreundlich. Die Augen blickten ihn neugierig an, und trotz seiner unscheinbaren Statur strahlte Connor eine Autorität und Präsenz aus, die ihn größer wirken ließ, als er in Wirklichkeit war.

"Sir, kann ich jetzt gehen? Ich muss mich um dieses Problem kümmern. Ich habe eigentlich gar keine Zeit, Schiffsführungen für Zivilisten zu veranstalten!" Reinigers Doppelkinn wackelte, als er eine heftige Kopfbewegung in Sams Richtung machte. "Und warum musste ich ihn überhaupt hierher eskortieren?!"

Connor strich mit entschiedener Geste seine Uniformjacke glatt.

"Weil ich noch einen Auftrag für Sie habe. Sie sollen helfen, die Auflösung unserer Sensoren zu erhöhen. Wir müssen endlich wissen, was da draußen los ist."

"Kann das nicht Theresa machen?"

"Die kümmert sich gerade um das Loch. Sie sagte, sie würde das auch ohne Ihre Hilfe hinkriegen."

Reiniger brummelte unwillig. Ihm passte diese Anweisung ganz offensichtlich überhaupt nicht - aber auch er konnte sich der Autorität des Captains auch nicht entziehen.

Wieder eine knappe Bewegung der Hände über die Uniformjacke.

"Theresa ist Ihre beste Technikerin, Reiniger. Haben Sie ein bisschen Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Außerdem sind Sie der Einzige, der dem Ortungsoffizier bei den Sensoren helfen kann."

"Also gut …", sagte Reiniger und pflügte wortlos über die Brücke davon.

"Sie haben hier irgendwo ein Loch?", fragte Sam, als sich Connor ihm wieder zuwandte.

"Ja. Ein Meteorit hat eines in unsere Außenhülle gerissen. Zum Glück war niemand im betroffenen Bereich, als wir ihn abgeschottet haben. Jetzt müssen wir die Stelle finden und abdichten."

"Passiert so was häufiger?"

"Gelegentlich …", antwortete der Captain vage. "Wäre unsere Außenhülle aus Synthmetall, wie die Konvergenzstationen, wäre vieles einfacher."

"Synthmetall?"

"Das goldene Zeug, das Sie drüben auf der Station gesehen haben. Es ist extrem widerstandsfähig."

Auf der schematischen Darstellung der Arkanos wechselte ein rot blinkender Bereich auf Grün. Jemand von der Brückenbesatzung kam auf den Captain zu.

"Wir haben die Stelle abgedichtet, Sir. Die Arkanos ist wieder voll einsatzbereit."

"Na bitte … geht doch." Er quittierte ein Formular und wandte sich an Sam. "Der Papierkram verfolgt uns sogar bis in den Weltraum. Wenn Sie mich für einen Augenblick entschuldigen würden? Ich bin gleich wieder bei Ihnen."

Während der Captain mit einem seiner Offiziere sprach, ließ Sam die Atmosphäre der Brücke auf sich wirken. Es herrschte rege Geschäftigkeit. Die vielen verschiedenen Stimmen bildeten einen chaotischen Chor.

Nach einigen Minuten kam der Captain wieder auf ihn zu, wurde aber von Reiniger abgepasst.

"Wir wären dann so weit, Sir. Wir haben die Auflösung erhöht - mehr ist aus den Sensoren nicht rauszuholen."

"Dann hoffen wir, dass es reicht. Ortung: Wir fangen mit Suchgitter eins an!", sagte Connor.

Die Arkanos verschwand vom Panoramabildschirm und machte dem Sternenhimmel Platz, vor dessen Hintergrund Broken mit seinem Krater aussah wie das Bild eines Surrealistischen Malers. Darüber erschienen die grünen Striche eines Gitternetzes, dessen erstes Quadrat grün blinkte. Selbst Sam verstand, dass die Sensoren den ersten Bereich intensiv scannten.

"Kann ich endlich gehen, Sir? Ich habe noch jede Menge zu tun."

Der Captain nickte Reiniger zu, der sich umgehend davonmachte. Nachdenklich blickte Connor ihm hinterher.

"Der beste Chefingenieur, den man sich wünschen kann. Ein Zauberer, wenn es um Maschinen geht …"

"Nur mit Zivilisten scheint er so seine Probleme zu haben", fiel Sam ihm ins Wort.

Wieder strich der Captain seine Jack glatt.

"Mit Zivilisten haben wir hier oben alle Probleme."

"Warum? Weil sie nicht in Ihre genormte militärische Welt passen?"

"Das ist nicht der Grund …" Mit einladender Geste deutete Connor auf das Podest mit den Sesseln. Sam nahm Platz und schnallte sich an, während das grün blinkende Kästchen auf den zweiten Bereich sprang.

"Sie sind nun mal der einzige Zivilist hier oben", erklärte der Captain.

"Was wollen Sie damit sagen?"

"Ich will damit sagen, dass eigentlich nur Soldaten ins Big-Five-System kommen. Mit den Vinculan haben Sie ja bereits Bekanntschaft gemacht - sie sind der Grund, warum die Konvergenz unsere Hilfe braucht. Warum sie jetzt auf einmal anfangen sollten, Zivilisten zu rekrutieren, ist mir schleierhaft."

"Warum bin ich dann hier?"

"Ja, das ist die große Frage. Ich hoffe, die Konvergenz kann sie beantworten. Ihr Kommen wurde uns jedenfalls nicht angekündigt, und damit auch nicht der Grund, warum."

"Die Konvergenz?", fragte Sam.

Der Captain seufzte, während die Sensoren der Arkanos ihre Aufmerksamkeit auf das nächste Feld im Suchmuster richteten.

"Das können Sie natürlich nicht wissen. Die Konvergenz ist ein Zusammenschluss raumfahrender Völker."

"So was wie … Aliens? Grüne Männchen? Marsianer? Diese Art von raumfahrenden Völkern?", fragte Sam ungläubig.

"Sie sind zwar nicht grün, aber im Prinzip liegen Sie richtig."

"Und wir gehören dazu? … Also entweder ich war länger tot, als bisher gedacht, oder ich habe zu selten Tagesschau geguckt."

Der Captain schüttelte den Kopf.

"Nein, sind sie nicht und haben sie nicht. Auf der Erde ist immer noch Oktober im Jahr2017 - was hier oben passiert, hat mit da unten nichts zu tun."

"Womit hat es dann zu tun?"

"Um es bildhaft zu formulieren: Wir sind hier, um für die Konvergenz die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Sie ist auf uns aufmerksam geworden, als eines ihrer Raumschiffe auf der Erde abstürzte. Das gab eine helle Aufregung damals."

"Aufregung? Also habe ich doch zu selten Tagesschau geguckt!"

"Das ist schon eine Weile her. Sie müssen wissen, wir operieren bereits seit 70 Jahren im Big-Five-System."

"Ja, aber selbst wenn es 70 Jahre her ist - abgestürzte Aliens wären mir sicher nicht entgangen. Selbst wenn das nur in Geschichtsbüchern stehen würde."

"Tut es aber nicht. Die Aufregung war zwar groß, damals, aber man konnte die Sache geheim halten. Mehr oder weniger zumindest. Schon mal was von Roswell gehört?"

Da klingelte in Sam tatsächlich etwas. 1947 waren in der Nähe dieses Ortes merkwürdige futuristische Fragmente gefunden worden. Schnell machte das Gerücht eines abgestürzten Raumschiffs die Runde. Die US-Regierung hatte behauptet, dass lediglich ein Wetterballon abgestürzt sei - dennoch pilgerten bis heute jedes Jahr Gläubige zu diesem Wallfahrtsort der Verschwörungstheorien.

"An der Sache war also doch mehr dran …", sagte Sam nachdenklich.

"Kann man so sagen - das waren die Kienar. Bilder von ihnen geistern noch heute durch die Medien. Große graue Gestalten mit überlangen, zerbrechlich wirkenden Armen und Beinen. Dazu ein großer Kopf mit schmalem Gesicht, lippenlosem Mund und großen schwarzen Augen. Sie sind uns gar nicht so unähnlich: Sie trinken Wasser, atmen Sauerstoff und vertragen das meiste, was wir Menschen an Nahrung zu uns nehmen. Der größte Unterschied ist mentaler Natur - physische Gewalt ist ihnen völlig fremd."

"Mir ehrlich gesagt auch", erwiderte Sam.

Captain Connor sah ihn mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen an und schwieg nachdenklich. Dann fragte er: "Sind Sie verheiratet?"

"Nein, wieso?"

"Stellen Sie sich vor, Sie wären es. Sie hätten eine Frau, die sie lieben, und zwei wunderbare Kinder. Eines Tages bricht jemand in Ihr Haus ein und bedroht Ihre Familie. Sie hätten eine Pistole, sagen wir eine 45er Automatik in der Hand. Was würden Sie tun?"

"Bei uns sind Waffen verboten", wandte Sam ein, obwohl er ahnte, worauf der Captain hinauswollte.

"Was würden Sie tun?", beharrte der ruhig.

"Es wäre Notwehr …", umging Sam eine direkte Antwort.

"Richtig. Sie wüssten, was Sie zu tun hätten. Wenn ich Ihnen eine Keule in die Hand gebe, dann wissen Sie, wozu man sie verwenden kann, oder?"

"Um die Schale einer Kokusnuss zu öffnen."

"Oder?"

"Ist ja gut … Oder den Schädel eines Menschen."

"Sehen Sie? Sie verstehen das Konzept physischer Gewalt. Das tun die Kienar und die anderen Völker der Konvergenz nicht."

"Sie meinen, wenn man ihnen eine Keule in die Hand drückt und ihnen erklärt, was man damit machen kann, würden sie es nicht verstehen?"

"Genau. Wir hatten es anfangs schwer, ihnen begreiflich zu machen, was ein Soldat ist."

"Aber wie verträgt sich das mit Darwin und dem Überleben des Stärkeren? Hätten sie da nicht längst von der Evolution ausgesiebt werden müssen?"

Das grüne Quadrat sprang auf das nächste Gitterfeld.

"Die Evolution ist kompliziert. Wir tun immer so, als hätten wir die Geheimnisse der Entstehung des Lebens enträtselt, aber in Wirklichkeit tappen wir im Dunkeln. Der Mensch ist keineswegs das stärkste, größte oder schnellste Geschöpf auf der Erde - trotzdem hat er sich durchgesetzt. Unsere Wissenschaftler sind der Meinung, dass man nur friedliche Völker zwischen den Sternen findet."

"Warum?"

"Alle anderen haben sich selbst ausgelöscht. Je größer die technischen Möglichkeiten, desto größer die Gefahr. Mit einer Keule, einem Schwert oder einer Lanze kann man viele Feinde töten … aber mit einer Atombombe …?"

"Also hat die Konvergenz die Menschen angeheuert, gegen diese …", Sam suchte nach dem richtigen Wort, "Schattenwesen zu kämpfen."

"Vinculan", verbesserte Connor ihn, während der blinkende Cursor ins nächste Feld sprang. "Wie gesagt: Das Konsistorium soll für die Konvergenz die Kastanien aus dem Feuer holen."

Plötzlich wechselte die Farbe des fröhlich blinkenden Quadrats von Grün auf Rot. Kurz schallte ein durchdringender Alarmton über die Brücke. Sam konnte spüren, wie sich die Atmosphäre schlagartig veränderte. Urplötzlich lag Anspannung in der Luft, die sich auch auf ihn übertrug. Sam musste sich zwingen, seine Arm- und Beinmuskeln wieder zu entspannen.

"Ortung, Statusbericht!", wies Connor an.

"Ein Schiff der Vinculan auf Schleichfahrt, Sir. Genaue Identifizierung läuft. Sie haben unsere aktive Ortung bemerkt und ändern den Kurs."

"Ich wünschte, wir wüssten, wo sie ihre Basis haben ...", murmelte der Captain.

Das Bild auf dem Panoramaschirm veränderte sich. Ein Ellipsoid wurde eingeblendet, dessen obere Hälfte man abgeschnitten hatte - sie ging an den Seiten in breite geschwungene Flügel über -, während ein viel kleineres Teilstück an der Unterseite angefügt worden war. Mit dem langgezogenen Stachel, in den die viel größere obere Hälfte auslief, erinnerte das Gebilde an einen Rochen in den Tiefen des Weltraumozeans.

Plötzlich begann der Boden unter Sams Füßen zu vibrieren. Seine Glieder wurden schwer. Gegenstände, die vorher durch den Raum geschwebt waren, fielen scheppernd zu Boden. Sam begann zu schwitzen.

Auf dem Panoramabildschirm wurde in einem Ausschnitt schematisch ihre Flugbahn dargestellt, die von Broken und Arrival weg in den offenen Weltraum führte. Das Rochenschiff kam näher, und auf dem Bildschirm erschien eine Wolke aus Lichtpunkten, eingerahmt von roten Quadraten, die sich noch schneller näherten.

"Sie haben Raketen abgefeuert!", rief der Ortungsoffizier alarmiert.

Sam spürte, wie sich seine Anspannung noch ein Stück erhöhte. Er versuchte jetzt gar nicht, seine Muskeln zu entspannen, krallte sich stattdessen in die Armlehnen seines Sessels. Doch der Captain blieb gelassen.

"Ausweichmanöver! Täuschkörper auswerfen!"

Viele grüne Quadrate wurden sichtbar, die sich von der Arkanos entfernten und dem feindlichen Schiff und dessen Raketen entgegenschossen. Als die Raketen auf die grün umrahmten Punkte trafen, flammte eine helle Explosion auf, die eine Kettenreaktion in Gang setzte. Danach blieben nur wenige rot umrahmte Punkte übrig.

"Die Raketen haben auf die Täuschkörper reagiert. Ein paar sind aber durchgekommen."

Immer noch klang die Stimme des Captains beherrscht.

"Abwehrlaser!"

Nun wurde der Waffenoffizier aktiv. Dass hin und wieder ein Laserstrahl traf, konnte man an den Minisonnen erkennen, die kurz aufflammten und wieder verloschen. Ein schönes, aber tödliches Schauspiel. Der Waffenoffizier wurde hektischer.

"Komm schon …", murmelte er.

Sam sah auf dem Panoramaschirm, dass sich der letzte rote Punkt bedrohlich nah am Schiff befand. Plötzlich bäumte sich die Brücke auf, schien Sam regelrecht entgegenzuspringen. Stichflammen kamen an einigen Stellen aus der Konsole, und das Schiff wurde heftig durchgeschüttelt. Nach bangen Sekunden normalisierte sich alles wieder.

"Das war die Letzte", bemerkte der Waffenoffizier mit einem erleichterten Seufzen.

Doch die Gefahr war noch nicht gebannt. Das Rochenschiff kam nach wie vor näher.

"Navigator, volle Schubumkehr!", wies Connor an.

Auch ohne Experte zu sein konnte sich Sam vorstellen, was das bedeutete. Was hatte der Captain vor? Wollte er sie alle umbringen? Warum protestierte niemand dagegen? Sam wischte seine schweißfeuchten Hände an den Hosenbeinen ab. Der Abstand verringerte sich jetzt noch schneller. Mit unbewegter Miene gab der Captain die nächste Anweisung.

"Schutzschirm hochfahren!"

Im nächsten Moment bekam die Schwärze auf dem Bildschirm einen leichten Rotstich. Sam glaubte zunächst, der Bildschirm habe mehr abbekommen, als zunächst gedacht, doch dann wurde das Bild komplett rot. Das Rochenschiff flimmerte leicht, wie ein näherkommendes Auto auf einer heißen Wüstenstraße. Die Arkanos war jetzt von der gleichen rötlichen Blase umgeben wie Raes Kampfanzug auf Arrival.

Der Ortungsoffizier meldete: "Das gegnerische Schiff verzögert mit Maximalwerten."

Plötzlich war der Stachelrochen in ein weißes Flimmerfeld gehüllt.

"Die Vinculan haben ihren Schutzschirm eingeschaltet."

Der Captain saß so entspannt in seinem Sessel, als würde er seinen Nachmittagstee zu sich nehmen.

"Maschinen stoppen! Schiff in Rotation versetzen!"

"Sir, wenn wir rotieren, können wir nicht feuern!", wandte der Waffenoffizier ein.

Der Captain erwiderte: "Das mag wohl sein Bishop, aber so bietet uns der Plasmaschirm den größten Schutz. Feuern können wir später immer noch."

Durch die zunehmende Rotation machten sich die Fliehkräfte innerhalb des Schiffs bemerkbar. Wäre Sam nicht angeschnallt gewesen, hätte es ihn quer durch die Brücke geschleudert.

"Vorbeiflug in zehn Sekunden", sagte der Ortungsoffizier. Man konnte die Anspannung in seiner Stimme hören, als er fortfuhr: "Sie feuern aus allen Rohren!"

Zu der schematischen Darstellung der Arkanos mit ihrer rötlichen Aura gesellten sich Lichtblitze und rote Strahlen, mit denen das gegnerische Feuer virtuell sichtbar gemacht wurde. Dort, wo die Strahlen auftrafen, wurde der Schutzschirm dünner - lediglich die Rotation verhinderte, dass er durchschlagen wurde, denn vollkommenen Schutz bot der Schirm nicht. Projektile durchdrangen ihn ungebremst und schälten die Panzerung vom Rumpf. Es schepperte, dröhnte und krachte. Das ganze Schiff zitterte und kreischte wie ein verängstigtes Tier in den Klauen des Gegners. Und dann wurde es schlagartig still.

Connors Stimme durchschnitt die Stille und brachte wieder Bewegung in die Brückencrew.

"Rotation stoppen und Schiff querstellen! Bishop: Gaußgeschütze klar zum Feuern!"

"Das Vinculanschiff beschleunigt wieder!", hörte Sam die angespannte Stimme des Ortungsoffiziers.

Der Captain gab seinen nächsten Befehl.

"Feuern, wenn bereit!"

Ein Ruck ging durch die Arkanos. Sam dachte erst, das Schiff wäre von irgendwas getroffen worden, als er einen erneuten Ruck spürte. Und wieder, und wieder.

"Gaußkanonen feuern!", sagte der Waffenoffizier.

Sam fragte sich, was das für Kanonen waren, die einen so heftigen Rückstoß erzeugten. Auf dem Bildschirm wurden die Schussbahnen eingeblendet - die meisten Projektile verfehlten ihr Ziel.

"Trefferwahrscheinlichkeit sinkt!", informierte der Waffenoffizier.

"Weiterfeuern! Vielleicht haben wir Glück …", antwortete der Captain.

Eine Schussbahn wurde plötzlich rot dargestellt - ein Zeichen, dass das gegnerische Schiff getroffen wurde. Auf dem Bildschirm sah man eine Spur kondensierenden Gases aus dem Rumpf austreten. Splitter abgeplatzter Hüllenpanzerung flogen herum, aber es gab keine Explosionen, die man von außen hätte sehen können. Scheinbar hatte das Geschoss keinen größeren Schaden verursacht.

"Feuer einstellen!", befahl der Captain.

Sofort hörte das Rucken auf.

"Gegnerisches Schiff wird langsamer", antwortete der Ortungsoffizier.

Scheinbar hatte das Projektil auf seinem Weg durch das Schiff doch mehr zerstört, als von außen zu sehen war.

"Raketen hinterherfeuern!"

"Aye, aye!" Geschäftig brachte der Waffenoffizier seine Konsole zum Klappern.

Auf dem Bildschirm erschienen wieder Lichtpunkte, die diesmal von der Arkanos ausgingen und in grüne Quadrate eingerahmt waren.

"Raketen sind abgefeuert! Zeit bis zum Einschlag: zwei Minuten!"

"Captain!" Der Ortungsoffiziers klang auf eine Weise angespannt, die alle aufhorchen ließ. "Minen direkt voraus!"

Jetzt klang Connor nicht mehr gelassen.

"Was?! Volle Kraft zurück! Ausweichmanöver!"

Im nächsten Augenblick sah Sam auf dem Bildschirm ein blassblaues Leuchten, das sich wie ein Luftballon allmählich zu einer Kugel aufblähte. Immer schneller dehnte es sich nach allen Seiten aus und kam rasend schnell auf sie zu.

Sam konnte nichts tun, nur ohnmächtig darauf warten, dass die blassblaue Energie das Schiff traf. Sein Herzschlag beschleunigte. Doch die erwartete Erschütterung kam nicht und auch nicht das Geräusch berstenden Metalls oder das Pfeifen entweichender Luft. Nein, die Auswirkung war viel schlimmer: Es wurde stockdunkel.

Lichter, Bildschirme, Konsolen - alles erlosch. Ein Knistern war zu hören. Die nächste Lichtquelle war eine aus einer Konsole schlagende Stichflamme. Beißender Gestank verschmorten Kunststoffs stieg in Sams Nase. Dann wurde es still. Die Maschinen arbeiteten nicht mehr. Sam hatte das Gefühl zu fallen. Ohne die Beschleunigung des Antriebs gab es keine Schwerkraft mehr. Er hörte es in der Dunkelheit rascheln und plötzlich flackerte neben ihm ein dünner Lichtstrahl auf und durchschnitt die von Rauch geschwängerte Luft. Ein zweiter und ein dritter Strahl gesellten sich hinzu, als die Brückencrew nacheinander ihre Taschenlampen einschaltete. Sam untersuchte seinen Sitz und fand darunter eine Tasche mit allerlei Utensilien, unter anderem eine Taschenlampe.

"Statusbericht?", fragte der Captain.

Die Antworten waren wenig ermutigend: Alles war ausgefallen, nichts funktionierte mehr.

Von einer der Konsolen her fragte jemand: "Austeritz, haben wir getroffen?"

Der Ortungsoffizier hob verzweifelt die Arme.

"Keine Ahnung! Ist ja alles ausgefallen, bevor die Raketen ihr Ziel erreichen konnten."

"Hat jemand eine Idee, womit wir es hier eigentlich zu tun haben?", fragte Connor - er hatte sich wieder im Griff.

Eine Frauenstimme meldete sich zu Wort: "Ich glaube, wir wurden von einem EMP, einem elektromagnetischen Puls, getroffen. Der hat unsere Elektronik lahmgelegt."

"Wie lange, bis wir unsere Kampfbereitschaft wiederhergestellt haben?"

"Wenn der Kern nicht irreparabel beschädigt ist, können wir provisorisch ein paar Leitungen überbrücken und Platinen austauschen. Das dauert aber."

"Wie lange bis Ortung und Waffen wieder einsatzbereit sind?"

Die Antwort ließ auf sich warten. Offensichtlich wurde fieberhaft kalkuliert. Dann ertönte die Frauenstimme wieder: "Etwa 20 Minuten."

"