Der See geht unter! - Peter Salomon - E-Book

Der See geht unter! E-Book

Peter Salomon

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Beschreibung

Ausgewählte Werke des bedeutendsten am Bodensee lebenden Lyrikers, der auch als Literaturdetektiv, Autor von Kurzprosa und Übersetzer tätig ist.

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ÜBER DEN AUTOR

Peter Salomon, 1947 in Berlin geboren, lebt seit 1972 als Schriftsteller und Literaturdetektiv in Konstanz.

ÜBER DEN HERAUSGEBER

Klaus Isele, 1960 geboren, lebt als Verleger, Herausgeber und Lektor im Südschwarzwald.

Inhalt

GEDICHTE

Porträt Hildgard J.

Über Kaufhäuser und Interviews

Die Einkaufsminute

Kleine Bilanz

Gedicht für Reinhard Kiefer

Meine handgreiflichsten Kindheitserinnerungen

»Die Liebe zu den drei Orangen«

Gegen Erkältung

Kleine Pannenhilfe für Schöngeister

G.

»Unsere Schöne Welt«

November 1974, am Bodensee

Letzte Strophe

Gedicht für Rolf Nörtemann (und mich)

Mängelbericht

Ohne Titel

Leere Hüllen

Adel

Per Eilboten

»Das Gutachten«

September 1975, am Bodensee

Der Schwimmer

Der »Hirschen« in Salenstein

Marina Grande, 1977

Konstanzer Idylle

Die Geburtstagsparty

Melancholie

Nächtliches Bild aus einem abgelegenen Hafenwinkel

Vorübergehende Entfernung

Winterspaziergang, am See

Lilienthal

Herausgewachsen

»Glückliche Augenblicke«

35

Licht

In Meersburg

Notizen aus Markelfingen

Pappelallee, im Juni

Sbw., Hotelterrasse

Das Döbele

Konstanz, Marktstätte, 12. Juli 1993

Brauhaus Albrecht, Konstanz 1991

Hans Davidsohn in Sayn

Marburg, 1962

Meine Väter

Die Jahre hinab!

Der Spaziergang

Stimmungsbild

Der Tag der Stadt

Der Bodensee

Schorle im Costa del Sol

Über die alte Rheinbrücke

September am Bodensee

Der Seher

Herzschmerzen

Konstanz, 1. Mai

Im Grunewald

Mein zweites Leben

Bubi Scholz und Thomas Mann

Berliner Sommer 1961

Das Grab meiner Kindheit

Alter Friedhof Freiburg 1970

Das Schlößchen am Rhein

Der Schweizer Nationalfeiertag

Heißluftballons

Der müde Schwimmer

My Lord

Die neunte Stunde

(1979)

Das Küßchen

Für meine Fans

Berühmt werden

Der Maler Helmut Kolle

Zur Dichtkunst

Vergessene Gedichte

Der Zeuge

Der See geht unter!

Die lebenslänglichen Pakete meiner Mutter

Zu meiner Geburt

Ich lege bloß den Stift hin

Das Morgenbad im Bodensee

Geburtsanzeige

John Ruskin

Mit der Linie 7

Drei Leute

Mit Gemälden reisen

PROSA

Abgang Juhnkuhns

Die Sperrfilterdose

Mein Flugzeug über dem Haus

Dichter am Bodensee

Lest die Klassiker, Leute!

ÜBERTRAGUNGEN

Guillaume Apollinaire: Zone

Paolo Buzzi: Grunewald

Stephen Crane: Zwei Gedichte

William Everson: Zwei Gedichte

Textnachweise und -anmerkungen

Nachwort

GEDICHTE

Porträt Hildegard J.

Die auf den ostpreußischen Kartoffeläckern

versäumte Schulzeit

war ihr nicht hinderlich.

In sechzig Jahren

mit zwei Kriegen

kann man schon Fähigkeiten entwickeln.

So schreibt sie

jetzt so gut

wie fehlerfrei,

stellt ihre Lohnforderungen

brieflich

und mit Erfolg. Sie kocht

wie die Chefin

einst kochte,

trägt deren einmal

getragene Kostüme auf.

Was sie verdient

investiert sie in Perserteppiche.

Auch die letzte Brotfliege

tötet sie heute rücksichtslos.

Nur auf Mallorca träumt sie

von einer eigenen Insel.

Der Anfang

glaubt sie

sei gemacht.

Über Kaufhäuser und Interviews

Auf dem Weg zum WOOLWORTH

gerate ich prompt in ein Interview.

Ich sage: »Ich hab es eilig!«

»Dankeschön«, sagt der Reporter und

abends werde ich nun wieder das Radio einschalten

um mich sagen zu hören: »Ich hab es eilig!«

Wenn das so weitergeht

glaub ich das selbst noch.

Im HERTIE verfolge ich einen Jungen kreuz und quer

durch alle Etagen.

Er fühlt sich völlig unbeobachtet.

In einem Polizeistaat, denke ich (und das ist mit Sicherheit

ein ganz gefährlicher Gedanke), hätte er keine Chance.

Die Art wie er klaut ist vollkommen arglos.

Sieht so der Abschaum von 1990 aus?

Auch wir bohren in der Nase

aber wir schämen uns

(unser häßlicher Blick!).

Dem Meinungsforscher in der Haushaltsabteilung sage ich:

»Wir leben zu schnell, warum

sollten die Kochtöpfe ewig halten?«

Was ich von der Einführung der gesamteuropäischen

Bürozeit halte?

»Eine große Idee setzt sich immer durch!«

Macht Spaß Schmutz?

»Eine ernste Sache, aber jetzt muß ich weiter.«

Am Ausgang wieder der Junge.

Die Taschen prallvoll

(»wie Hungerödeme«).

Mein Vater erzählte vom Krieg.

Ich erzähle von unseren Trümmerspielen

im kaputten Berlin.

Er wird von den verbummelten Kaufhausstunden erzählen

zuerst so

dann so

Ja Timo! Du wirst die Supermärkte noch lieben müssen

und besser

verteidigen

als wir das Gras verteidigten (als es noch grün war).

Zuhaus im Treppenhaus berichtet die Nachbarsfrau

von ihrem neusten Fernsehbeitrag.

Sie ist die Nummer 16

(zwischen 18 und 18 Uhr 30)

zum Thema:

»Welches Gesetz würden Sie in den Bundestag einbringen

(wenn Sie dürften)?«

Sie ist gespannt darauf

was sie gesagt hat.

Ihr Jüngster kommt demnächst täglich.

30 Sekunden lang wird er uns

die neue Luftschokolade (von »Cadbury«) voressen und dazu

das liebste Gesicht von der Welt machen

ganz wortlos

und auf eine ganz neue Weise zufrieden.

Die Einkaufsminute

»Ich kauf der ganzen Welt heut eine Cola«

ruft Peter mir aufgekratzt zu

und verschwindet im »Coop«.

Er hat recht

es ist wirklich

ein besonders heißer Tag heute also

ich hinterher.

Wir reihen uns in die längste Schlange ein

und lassen noch etliche Hausfrauen vor bis

sie allzusehr meckern; auch sie

wollen frische Luft tanken.

Jemand sagt: »Wenn ihr so weitermacht,

erhöhen die DIE EINKAUFSMINUTE noch auf

20 Pfennig« –

(sie kennen unsere Schwäche für soziales Verhalten).

Draußen schwitzen wir gleich wieder,

Peter macht die Flasche auf

und läßt mir

den ersten Schluck.

Er hätte das Zeug

zu etwas wirklich

Großem.

Kleine Bilanz

4 mal

im Kino gewesen

21 Mark 50

3 Bücher gekauft

19 Mark 80

Zeit und Spiegel

gelesen

4 Mark 50

Macht

35 Mark 80

Zu teuer

für ein Gedicht

Gedicht für Reinhard Kiefer

»Jetzt noch bis 1976 überleben

und dann fahren wir

sowieso alle mit Sicherheitsgurt.«

Es ist halb drei Uhr nachts.

Als mir der erste Satz dieses Gedichts

eingefallen war, dachte ich: »Prima,

jetzt beginnt wieder eine wirklich produktive Phase«

(nach sechs Wochen bloß Briefe schreiben);

morgen früh werde ich unausgeschlafen sein

wie ein übernächtigter Dichter.

Es ist Vollmond.

Ich war sehr erstaunt (so ca. 1970)

als ich entdeckte, daß ich mondsüchtig bin,

nachdem ich jahrelang, ohne einen Gedanken daran

jeden Monat eine Nacht am offenen Fenster rumgeturnt hatte

und alte Literaturzeitschriften las. Nun

ich turne immer noch rum, aber ich weiß

: »Mensch, du bist bloß wieder mondsüchtig!«

Manchmal finde ich ein altes Gedicht von mir

in den alten Zeitschriften. Und immer

schreibe ich dann ein Neues.

Hoffentlich falle ich nicht eines Nachts aus dem Fenster,

während ich daran denke, daß ich auf dem besten Weg bin

ein berühmter Dichter zu werden. Dieses Gedicht ist

für Reinhard Kiefer, der mich heute Mittag antelefoniert

und gefragt hat, ob ich ihm nicht einmal ein Gedicht

widmen kann.

»Klar«, habe ich gesagt, »wird gemacht«.

(Ich wünschte, mir fiele alles so leicht.)

Meine handgreiflichsten Kindheitserinnerungen

(1947 ff.)

: Unsere Spiele

in den Schuttbergen Berlins.

Jetzt nirgends mehr Trümmer.

Spaßeshalber

werfe ich eine Tasse

an die Wand.

Ich hab sie wohl

nicht mehr

alle.

Wer nie Ruinen

zertrümmern konnte,

was muß dem fehlen?

: Wieviele Tassen,

wieviel

Phantasie, Nachsicht

schulden wir dem?

»Die Liebe zu den drei Orangen«

Meine Mutter

(im Berlin von 1945: gerade 20 Jahre alt!

und trotzdem nicht: »geschändet«)

erzählte oft von den »häßlichen Russen«.

Russen und »Negerlippen«

Russen und »Negerschweiß«

das waren noch Vorstellungen

als ich schon für die (»echten« und amerikanischen

»SCHWARZEN« kämpfte (na: fühlte!)

Und heute (im Fernsehn)

statt der bekannten Militärparaden auf dem Roten Platz

(und doch: »in echt Moskauer Inszenierung«)

: »Die Liebe zu den drei Orangen«!

Hin und wieder

zwischen all den dunklen

unverständlichen Lauten

verstehst du so etwas

wie das Wort »PRINZESSA«

»PRINZESSA«.

Und der, der nur der PRINZ sein kann,

siehst du, ist, auch hier, ein anmutig,

fast mädchenhafter Jüngling.

Gegen Erkältung

Wenn er glaubt, er bekommt die Grippe,

steckt er sich abends ein Lakritzbonbon

in die Backentasche,

und wenn er am nächsten Morgen aufwacht,

ist es immer noch nicht »zergangen«.

Es ist fürchterlich, denkt er,

ich nehme mich zu wichtig.

Und im Mund dieser pappige Geschmack!

Schnell putzt er sich die Zähne (mit »Dentagard«),

und nun schmeckt alles nach Pfefferminz!

Es ist fürchterlich (unwichtig)!

Und er ärgert sich mit seinem ganzen Verstand darüber,

daß eine eingebildete Grippe so unwichtig sein kann

und daß ihm kein vernünftiger Gedanke einfällt

um das Gegenteil behaupten zu können

und er sich schämt (so oder so),

weil ihm das alles viel mehr bedeutet.

Er gilt als sog. BÜRGERLICHER INTELLEKTUELLER.

Kleine Pannenhilfe für Schöngeister

Etwas Coca Cola über die Windschutzscheibe schütten,

verreiben, mit klarem Wasser nachspülen,

und der schmierige Silikonbelag ist weg.

Wenn bei Regen der Scheibenwischer ausfällt,

brauchst Du bloß mit der Schnittfläche einer

rohen Kartoffel gleichmäßig über das Glas zu

fahren, und sofort verteilt sich das Wasser zu

einem gut durchsichtigen Film.

Und: Immer einen Damenstrumpf

(Nylon, Perlon) dabeihaben; es könnte ja mal

ein Keilriemen reißen!

Natürlich: Diese

und 1000 Tips mehr,

findest Du auch in diesen handlichen, abwaschbaren

und preiswerten

»Hilf-Dir-selbst«-Büchlein, aber

Du liest ja Gedichte!

G.

Zur Arbeit

fahren

und lebend

ankommen

was für ein

Glück

»Unsere Schöne Welt«

– als wir noch völlig sicher waren

daß die Atombombentests

UNSER WETTER verderben,

– die Winter waren uns zu kalt

oder es gab grüne Weihnachten

und Schnee zu Ostern,

– und nun

sind sie immer noch da

: alle Arten von Jahreszeiten

und alle

nach wie vor: ganz unterschiedlich.

Das Wort SCHNEE, heute, kaum ausgesprochen

: und gleich stecken wir

bis über beide Ohren

in einer Rauschgiftdebatte.

Die Schraffierung auf dieser Karte bedeutet

: »gefährliche Anreicherung mit Industriemüll«,

und wir schwimmen trotzdem vergnügt

und zum Nutzen unseres Muskelsystems

»IM VERPESTETEN BODENSEE«

(deine Angst vor Schlingpflanzen

und Seerosen: sie wird immer noch gekitzelt).

Immer mehr Zweifel, Bedenken, Befürchtungen etc.

Immer mehr ausbleibende Katastrophen!

Die Waldluft bei Langenargen, da wo

wir zweimal die Woche den Trimm-Dich-Pfad laufen

soll eine einzige Ölwolke sein; manchmal

sagt jemand: »Ich kann nichts riechen. Riechst du was?«

Du sagtest: »Es ist wie mit dem Muskelkater

zu Beginn der Saison,

einmal

dann nicht mehr!«

DER LANDRAT bezeichnet »die Sozialisierung der Seeufer«

als

»UNSERE VORDRINGLICHSTE AUFGABE«.

(Trotz dieses politischen Aspekts ist dieses Gedicht

nicht engagiert. Es ist eher ratlos, aber

das nützt auch nichts

: wir werden uns auch an die Ratlosigkeit

gewöhnen.

Vielleicht schreiben wir bald nur noch Lobgedichte

AUF UNSERE SCHÖNE WELT –)

November 1974, am Bodensee

Auf dem Schweizer Unterseeufer

(»Seerücken«)

entgehen wir dem Konstanzer Herbstnebel.

Es ist toll: 100 m Höhenunterschied

und schon Sonnenschein. »Die ideale Mittagspause«

sagst selbst du.

Ja, es ist echt

beflügelnd.

Jetzt sind die Felder abgeerntet

und du brauchst dir meine Gemüsevorträge

nicht mehr anzuhören.

(Zwiebeln, Rot-, Weiß- und Blumenkohl, Mohrrüben,

Rote Beete, Porree, Zuckerrüben, Fenchel, Wirsing),

– es war leicht dich zu beschwindeln, wenn ich was

nicht kannte.

Gelegentlich

sagtest du:

»Ah, eine leere Dose Humbser!«

»Ah, ein kaputtes Renault-Getriebe!«

Warum erklärst du mir heute

keine Abfälle mehr,

ehe wir zurücktauchen

ins trübe

Konstanz?

Letzte Strophe

– ja ja, ich

liebe dich (immernoch).

Aber jetzt geh

besser

in deinen »Grundkurs MARXISMUS I«.

Inzwischen korrigiere ich dieses Gedicht

und frage mich

was ich falsch gemacht habe

und was du

kritisieren wirst

Gedicht für Rolf Nörtemann (und mich)