Der Seelenspiegel - Jana Engels - E-Book

Der Seelenspiegel E-Book

Jana Engels

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Beschreibung

Was tun, wenn die Welt völlig aus den Fugen gerät? Das Leben der Zwillinge Malte und Niklas ändert sich von einem Tag auf den anderen schlagartig: In dem beschaulichen Touristenort Kyllbenden sollen sie im Haus ihrer Tante den Tod der Mutter verarbeiten. Doch nur wenige Tage nach ihrer Ankunft ereignen sich seltsame Dinge im örtlichen Museum: Die kleine Annie wird bewusstlos aufgefunden – direkt vor dem großen Spiegel im hintersten Ausstellungsraum. Die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Zusammen mit Annies Schwester Sarah gehen Malte und Niklas den Ereignissen auf den Grund und müssen feststellen, dass nicht alles in Kyllbenden so ist, wie es scheint. Die Geister der Vergangenheit scheinen die Menschen im Ort heimzusuchen … und schon bald befinden sich nicht nur die Zwillinge in akuter Gefahr.

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Kurzbeschreibung:

Was tun, wenn die Welt völlig aus den Fugen gerät?

Das Leben der Zwillinge Malte und Niklas ändert sich von einem Tag auf den anderen schlagartig: In dem beschaulichen Touristenort Kyllbenden sollen sie im Haus ihrer Tante den Tod der Mutter verarbeiten. Doch nur wenige Tage nach ihrer Ankunft ereignen sich seltsame Dinge im örtlichen Museum: Die kleine Annie wird bewusstlos aufgefunden – direkt vor dem großen Spiegel im hintersten Ausstellungsraum. Die Ärzte stehen vor einem Rätsel.

Zusammen mit Annies Schwester Sarah gehen Malte und Niklas den Ereignissen auf den Grund und müssen feststellen, dass nicht alles in Kyllbenden so ist, wie es scheint. Die Geister der Vergangenheit scheinen die Menschen im Ort heimzusuchen … und schon bald befinden sich nicht nur die Zwillinge in akuter Gefahr.

Jana Engels

Der Seelenspiegel

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Jana Engels

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Ashera Agentur

Lektorat: S. Lasthaus

Korrektorat: Anika Beer

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-137-9

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Kapitel 1

Es war seine erste Beerdigung. Malte konnte also keinen Vergleich ziehen, aber eine Meinung darüber konnte er sich bilden, und die stand schnell fest: Diese Beerdigung war scheiße.

Der Abschied von Mama fand an einem sonnigen Tag, zu Beginn der Herbstferien, auf dem Südfriedhof statt. Obwohl die Sonne sich redlich mühte, drang der kalte Wind unangenehm durch die Kleidung, und Malte fror. Er hatte die Hände tief in die Taschen seiner Jeans gesteckt und den Kopf eingezogen. Wie erstarrt hielt er neben dem akkurat ausgehobenen Erdloch aus und schwieg. Die Ehrenfelds hatten nicht viele Verwandte, wirklich nahestehende schon gar nicht, daher standen nur sein Zwillingsbruder Niklas, Tante Ludwiga und der Pfarrer am Grab und ließen das Unvermeidliche über sich ergehen. Dass von seinem Vater jede Spur fehlte, stimmte ihn noch trauriger, überraschte ihn jedoch wenig. Dieses Verhalten passte nur zu gut ins Bild, das Marco Ehrenfeld seinen Söhnen in den vergangenen Wochen von sich vermittelt hatte. Ganz bestimmt schüttete er sich wieder irgendwo mit Schnaps zu.

Ist wahrscheinlich zu viel verlangt, in dieser Situation auf Unterstützung und Verständnis durch den eigenen Vater zu hoffen, ging es Malte durch den Kopf. War ja nicht anders zu erwarten.

Das verhasste Gefühl des Alleinseins und der Hilflosigkeit, das sich in den vergangenen Wochen immer tiefer in seine Seele gegraben hatte, ließ sich nicht ohne den Deckmantel der Gleichgültigkeit ertragen, aber das forderte Kraft, die er nicht aufbringen wollte. Malte kniff die Augen zusammen, presste die Lippen fest aufeinander und schluckte seine Enttäuschung hinunter. Sein Vater würde schon noch sehen, was er davon hatte.

Die Grabrede war kurz und einfach gehalten, denn der Pfarrer war mit der Organisation der Bestattung mehr oder weniger auf sich selbst gestellt gewesen. Tante Ludwiga hatte kurzfristig noch ein paar Informationen beigesteuert, um in die Rede etwas Persönliches einzuflechten. Sie war es auch, die mit Niklas Blumengestecke besorgt hatte, sonst hätten sie hier auf dem kargen Friedhofsrasen vor einem Erdhaufen stehen und die Worte des Pfarrers ertragen müssen. Gut, dass sie da ist, lenkte Malte seine Gedanken in eine andere Richtung. Schlimm genug, dass wir uns überhaupt damit befassen müssen, die eigene Mutter unter die Erde zu bringen.

Aber wie sah die Zukunft aus? Die letzten Wochen waren so schnell vergangen, wie im Zeitraffer hatte der Krebs sich vorwärtsgearbeitet und nicht einmal den Hauch einer Chance auf Heilung eingeräumt. Tante Ludwiga war zwar so schnell angereist wie sie konnte, aber bald würde sie wieder nach Hause fahren. Was aus uns wird, interessiert niemanden, stellte Malte fest und sah unsicher zu seiner Tante hinüber, wie sie tapfer versuchte, Haltung zu bewahren und nicht vor ihren Neffen einzuknicken. Reglos stand sie in ihrem dunkelblauen Filzmantel da und gab keinen Laut von sich, doch die Tränen liefen unaufhörlich ihre Wangen hinunter. Ludwiga beweinte ihre jüngere Schwester.

Maltes Hand tastete nach dem Brief in seiner Jackentasche. Er hatte ihn ursprünglich geschrieben, um ihn hier vorzulesen, jetzt aber war ihm nicht mehr danach, seine Trauer in solch empfindlicher Offenheit zu teilen, und er warf den verschlossenen Umschlag kurzentschlossen in das Grab vor seinen Füßen. Schwer fiel das Papier hinab und blieb auf dem dunkelbraunen Sarg liegen. Es geschah für die anderen unerwartet und Malte fing einen überraschten, dennoch nachsichtigen Blick des Pfarrers auf, der seinen Monolog unterbrochen hatte. Für einen Moment war es bedrückend still, alle Blicke waren auf den Umschlag gerichtet. Einige gelbe und rote Herbstblätter ließen sich sanft daneben nieder. Der Pfarrer räusperte sich und sprach mit leiser Stimme weiter.

Unmittelbar neben dem frischen Loch im Boden stand ein Gefäß mit Erde und einer kleinen Schaufel. Nacheinander nahmen sie die Schaufel und ließen nassen Sand ins Grab fallen. Es war ein schreckliches, lautes, durch alle Glieder dringendes Geräusch, wenn die Erde auf den Sarg traf. Dreimal fuhr es Malte durch Mark und Bein.

Fast geschafft. Der Pfarrer hob an, die kleine Familie mit tröstenden Worten zu verabschieden, als lautes Rufen die Luft zerschnitt. Die kleine Trauergemeinde erschrak und drehte sich um.

„Was will der denn hier?“, zischte Niklas. Malte dachte zwar das Gleiche, schwieg aber, als er seinen torkelnden und lallenden Vater erkannte.

„Hey, habt ihr etwa ohne mich angefangen?“, blökte der echauffiert zu ihnen hinüber. Die fassungslosen Blicke der Anwesenden schienen ihn nicht zu beeindrucken.

Marco Ehrenfeld sah fürchterlich aus. Seine Kleidung war vollkommen zerlumpt, in der einen Hand hielt er einen zerfledderten Strauß Blumen, in der anderen eine Flasche Whiskey. Er taumelte auf die kleine Gruppe zu. Niemand rührte sich, auch nicht der Pfarrer. Diese Art von Gästen bei einer Beisetzung schien auch ihm nicht geläufig. Offensichtlich wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte.

Malte trat angewidert einen Schritt zurück, als sein Vater bei ihnen angekommen war. In hohem Bogen schmiss der die Blumen ins Grab, hielt feierlich seine halbgeleerte Flasche in die Luft und erklärte wankend: „Auf dich, Heide! Vielen Dank, dass du uns auf dieser beschissenen Welt einfach so allein gelassen hast. Ganz großes Kino, echt jetzt!“ Dann setzte er an, nahm einen kräftigen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Mit angeekelt verzogenem Gesicht hielt er dem betreten dreinblickenden Pfarrer die Flasche hin. „Auch 'n Schluck, Mister?“ Der Pfarrer hob dezent abwehrend die Hand und versuchte, Haltung zu bewahren. Unsicher sah er in die Gesichter der anderen und brachte die Zeremonie mit wenigen Worten zum Abschluss: Sie alle mögen die Kraft aufbringen, die notwendig sei, diesen schweren Verlust zu überwinden und als Familie wieder zusammenzuwachsen. Doch Malte dachte nur, dass dieser Zug schon längst abgefahren war.

Niklas, der ganze sieben Minuten Ältere der Brüder, war nicht der Typ, der seinen Frust so einfach runterschluckte und keineswegs gewillt, diesen Auftritt unkommentiert zu lassen. Er suchte häufiger die Konfrontation mit anderen als Malte und war auch in diesem Augenblick nur allzu bereit, seiner Wut Luft zu machen. „Hast du eigentlich 'ne Macke?“, ranzte er seinen Vater an und trat einen Schritt auf ihn zu. Sogleich spürte er Ludwigas Hand an seinem Arm, die ihn vorsichtig zurückhielt.

„Was denn, was denn? Freut ihr euch etwa nicht, euren lieben Papa wiederzusehen? Ich hatte gedacht, ihr hättet mich wenigstens ein bisschen vermisst.“ Niklas stierte ihn wutentbrannt an und schnaufte. Am liebsten hätte er ihn angebrüllt, doch die Tatsache, dass sie auf einem Friedhof waren, um von ihrer Mutter Abschied zu nehmen, hielt ihn davon ab. „Hau bloß ab, du Loser, und lass uns einfach in Ruhe! Das kannst du sowieso am besten“, sagte er verächtlich und wandte sich ab.

„Kommt Jungs, lasst uns nach Hause gehen. Euer Vater braucht noch ein bisschen Zeit für sich“, hörte er seine Tante flüstern. Niklas spürte, wie sie ihn sanft beiseite zog und gab nach, als sie sich zwischen Vater und Sohn schob. Gedankenversunken begleitete er sie und Malte den breiten Kiesweg entlang. Erinnerungen an seine Mutter reihten sich in seinem Kopf aneinander. Die Krankheit war so unerwartet zügig vorangeschritten, dass weder für ihn noch den Rest der Familie Zeit gewesen war, sich über das Ausmaß der Tragödie klar zu werden, geschweige denn sich mit der Situation zu arrangieren. Er ballte die Fäuste, hilflos und zornig in einer ausweglosen Situation. Egal was er tun oder nicht tun würde, Mama war tot, doch das zu akzeptieren fiel ihm mehr als schwer.

„Trotzdem kein Grund für ihn, sich wie ein Idiot aufzuführen“, rutschte es ihm heraus und er erntete einen betrübten Blick seiner Tante. Kurz vor dem Ausgang drehte Niklas sich noch einmal um. Sein Vater kniete vor dem offenen Grab und es sah so aus, als ob er weinte.

Soll er doch, dachte Niklas, was kümmert es mich?Hat es ihn gekümmert, als wir Mama ohnmächtig auf dem Fußboden in der Küche gefunden haben? Nein. Hat es ihn gekümmert, ob und wie wir damit klar kamen, dass sie plötzlich so krank war und bald sterben würde? Nein! Hat es ihn gekümmert, wo wir waren, wenn er sich tagelang nicht blicken und irgendwo volllaufen gelassen hat? Wieder nein! Soll er doch heulen, wir müssen uns jetzt um uns selbst kümmern.

Wütend trat er gegen einen Mülleimer und beschloss zum gefühlt hundertsten Mal, nicht mehr über seinen Vater nachzudenken.

„Schon fast fünf“, bemerkte Malte leise.

„Ja, ich weiß.“ Ludwiga seufzte und sah bedrückt auf ihre Armbanduhr, so als könnte diese ihr eine andere, bessere Zeit anzeigen. „Wenn euer Vater nicht in der nächsten halben Stunde kommt, werden wir fahren müssen, ohne uns von ihm zu verabschieden, sonst kommen wir heute nicht mehr an. Die Züge nach Kyllbenden fahren nicht alle zwanzig Minuten wie eure Straßenbahn.“

„Der kommt nicht mehr“, stellte Niklas fest und gab sich nicht im Ansatz Mühe zu verbergen, wie beschissen er das fand. „Der wird irgendwo liegen und seinen Rausch auspennen“, setzte er hinzu. „Soll er machen, wir mussten bisher auch ohne ihn klarkommen, warum soll es jetzt anders werden? Der braucht uns nicht, wir brauchen ihn nicht.“

Malte hörte den Trotz in Niklas’ Worten und hätte ihm liebend gern widersprochen, doch so wie sich ihr Vater im Moment benahm, schien er tatsächlich keinen Wert mehr auf seine Söhne oder Familie überhaupt zu legen. „Dann los“, gab er das Zeichen zum Aufbruch und war froh, dass Ludwiga festgelegt hatte, die Zwillinge bis auf Weiteres zu sich in die Eifel zu nehmen. Ein Tapetenwechsel war bestimmt das Richtige. Außerdem bedeutete es schulfrei für die kommenden Tage, was aus seiner Sicht durchaus ein Vorteil war. Das Schülerdasein war nicht nur Malte in den vergangenen Wochen mehr als lästig geworden, und beide griffen nach jeder Möglichkeit, sich ihren Pflichten zu entziehen.

Seit das Schuljahr begonnen hatte, waren die Leistungen der Brüder unterirdisch gewesen. Sie selbst hatten ihre familiäre Situation in der Schule mit keinem Wort erwähnt, und die Lehrer hatten den Leistungsabfall der beiden nach nur wenigen Gesprächsversuchen überraschend schnell akzeptiert. Ja, Frau Meurer hatte in Mathe einige Male die fehlenden Hausaufgaben bemängelt, sich aber dann den anderen Lehrern angeschlossen, die den fehlenden Einsatz und das häufige Fehlen der Brüder Ehrenfeld einstimmig mit der Pubertät begründet hatten. Das war für alle die einfachste Erklärung. Niemand im Kollegium wollte sich mehr Arbeit aufhalsen als notwendig und weitere Ursachenforschung betreiben. Wenn die beiden Jungs es darauf anlegten, würden sie eben eine Ehrenrunde drehen, so der Tonus. War ja so auch viel einfacher, dachte Malte und erinnerte sich an die Tage und Nächte, in denen er und sein Bruder vor der Konsole gesessen und gezockt hatten, bis sie jegliches Gefühl für die Zeit und für sich vergessen hatten. Bis sie die nackte Angst, von der sie befallen gewesen waren, vergessen hatten. Schule war zur Nebensache geworden.

„Kannst du mir einen Stift und einen Zettel holen?“ Ludwiga sah Malte mit müden Augen an. Sie wollte ihrem durch Abwesenheit glänzenden Schwager wenigstens einen Brief schreiben und ihn darüber informieren, dass sie die Brüder mit nach Kyllbenden nahm. „Ich habe geschrieben, dass er nachkommen soll, sobald er sich dazu in der Lage fühlt.“ Traurig schob sie den Brief in die Mitte des Küchentischs. Maltes Blick verriet ihr, dass er ihre Bemühungen für mehr als überflüssig hielt.

„Du kannst nicht aufhören an das Gute zu glauben, deshalb wirst du auch immer wieder enttäuscht werden. Wir sind ihm egal, das hat er mehr als einmal bewiesen.“ Seine Worte klangen vorwurfsvoll und versetzten Ludwiga einen Stich. Mit Bedauern beobachtete sie die Entschlossenheit, mit der Malte seine Reisetasche nahm und die Küche verließ.

Es war bereits dunkel, als Ludwiga und die Jungs am Bahnhof von Kyllbenden ankamen. Das Wetter hatte sich gedreht. Die wenigen Reisenden, die mit ihnen ausgestiegen waren, eilten mit tief eingezogenen Köpfen durch eine dichte Nebelwand und feinen Regen vom Bahnsteig. Es dauerte nicht lange, und die anderen Menschen schienen von den schweren Schwaden verschluckt worden zu sein. Sie waren allein.

Malte blickte sich suchend um. „Und was jetzt?“ Er fröstelte. „Sag nicht, dass wir laufen müssen.“

„Ne, da hab ich auch keinen Bock drauf“, unterstützte ihn sein Bruder. „Außerdem habe ich Hunger. Ich fühle mich schon ganz schlapp und könnte nicht, selbst wenn ich wollte.“ Wie zum Beweis hob er seinen rechten Arm und ließ ihn schlaff wieder herunterfallen. „Da geht heute gar nichts mehr, wenn ich nicht bald was Ordentliches verdrücken kann. Immerhin bin ich im Wachstum.“

„Ja, lass uns ein Taxi nehmen“, schlug Malte vor, aber weit und breit war keines zu sehen, auch kein Bus oder eine Haltestelle. Nicht einmal Autos fuhren an ihnen vorbei. Sie standen sich im kalten Herbstregen vor dem Bahnhofsplatz die Beine in den Bauch. Ludwiga verlor weder ein Wort, noch machte sie Anstalten, irgendwohin zu gehen. „Hier gibt es bestimmt gar keine Taxis. Oder vielleicht nur eins und das ist gerade unterwegs. Ein Taxi habt ihr doch bestimmt, oder?“, wollte Niklas etwas nervös wissen. Der Gedanke, dass es möglichweise zu Fuß weiterging, behagte ihm überhaupt nicht.

„Nur die Ruhe, Jungs“, besänftigte Ludwiga und wirkte ziemlich entspannt. Das nasskalte Wetter schien ihr nichts auszumachen. „Er muss jeden Moment da sein, ich höre ihn schon.“

„Wer muss da sein, von wem redest du?“ Malte wurde zunehmend unruhig. Allmählich kroch die Kälte durch seine Klamotten. Ludwiga winkte nur ab und zeigte auf zwei kleine, runde, gelbe Lichter, die sich ihnen, begleitet von einem knatternden Geräusch, näherten.

„Echt jetzt, ein Traktor?“, entfuhr es Niklas, als das Gefährt samt Anhänger vor ihnen hielt. Ein Mann in Arbeitshose und mit kurzen grauen Haaren unter seiner Mütze sowie einem ebenso grauen Vollbart kletterte herunter.

„Hallo meine Liebe, schön, dass du wieder im Lande bist, Ludwiga. Hallo Jungs“, wandte er sich dann mit kräftiger Stimme an die Zwillinge und nickte ihnen mit ernstem Gesicht zu.

„Steht der Hof noch?“ wollte Ludwiga wissen und erntete einen verächtlichen Blick.

„Dass du mich das tatsächlich fragst, könnte ich glatt als Beleidigung ansehen. Aber du warst eine Weile in der Stadt, da legt man sich schnell ein paar schlechte Angewohnheiten zu, deshalb tue ich mal so, als hätte ich deine Frage gar nicht gehört.“

Ludwiga schmunzelte. „Hermann, du bist ganz der Alte und hast nichts von deinem Charme eingebüßt.“

„Ihr müsst im Anhänger fahren. Ich habe vorhin extra noch die Plane aufgezogen, damit ihr Stadtkinder nicht gleich bis auf die Knochen nass und anschließend krank werdet. Aber aufladen müsst ihr euer Gepäck schon selbst“, knurrte Hermann.

„Fürsorglich wie immer“, schloss Ludwiga das Gespräch und nahm mit den Brüdern im Hänger des Traktors Platz.

„Warum ist der Alte so griesgrämig?“, wollte Niklas während der Fahrt wissen, aber Ludwiga lächelte nur. „Ist er nicht, das scheint nur auf den ersten Blick so. Außerdem ist es schon spät und er ist müde. Hermann wirkt auf viele Menschen oft mürrisch und schroff, aber ihr könnt mir da vertrauen. Er ist eine gute Seele. Als ich bei euch war, hat er sich um mein Haus und meine Tiere gekümmert, obwohl er in seinem Betrieb alle Hände voll zu tun hat. Er hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als ich ihn darum gebeten habe. Ludwiga, hat er zu mir gesagt, Familie geht vor. Alles andere wird sich finden. Und außerdem, was heißt hier alt? Hermann ist achtundvierzig und hat damit nur vier Jahre mehr auf dem Buckel als ich.“

Die Jungs verbissen sich eine Antwort und grinsten sich an. Normalerweise war die Tante nicht so eitel, wenn es um ihr Alter ging, sie hatten wohl einen empfindlichen Punkt getroffen.

„Aber so spät ist es nun auch wieder nicht, erst halb zehn“, nahm Niklas das Gespräch wieder auf.

„Mag sein, dass es durchaus noch früh am Tag ist für jemanden, der Ferien hat und bis mittags schlafen kann“, wies Ludwiga ihn sanft zurecht. „Hermann hat aber einen Bauernhof. Seine Arbeit beginnt bereits um vier Uhr in der Früh, und zwar jeden Tag.“ Niklas wollte etwas erwidern, aber sie waren bereits angekommen. Hermann war bis vor die schmale Hofeinfahrt von Ludwigas kleinem Fachwerkhaus gefahren. Trotz Dunkelheit und Nebel wirkte es im gelben Licht der Straßenlaternen sehr einladend und gemütlich. Die Brüder verheimlichten ihre Freude, die wenig komfortable Mitfahrgelegenheit zu verlassen, nicht.

„Na immerhin sind wir halbwegs trocken angekommen und mussten nicht laufen“, raunte Malte seinem Bruder zu, als sie umständlich aus dem Hänger kletterten.

Hermann verabschiedete sich, und sobald das Gepäck abgeladen war, setzte sich der Traktor laut knatternd in Bewegung. Einen Moment später trat er auf die Bremse und brüllte: „Ich hab noch etwas für euch vorbereitet. Dachte mir schon, dass ihr spät kommt! Im Ofen ist was zu essen.“ Dann ging er erneut aufs Gas und fuhr davon.

„Boah, Essen! Los, lasst uns reingehen, ich verhungere hier sonst noch auf den letzten Metern.“ Niklas griff nach seinem Gepäck sowie den Taschen seiner Tante, um schneller voranzukommen. Sein Magen knurrte bereits heftig und verursachte ein unangenehmes Gefühl im Bauch.

„Du hast recht, Hunger ist schlimmer als Heimweh“, bestätigte Ludwiga und beeilte sich ebenfalls.

Angenehm warme Luft schlug Niklas entgegen, als er ungeduldig ins Haus trat. Die untere Etage bestand aus einem zentralen Raum, der als Wohnzimmer diente, und aus dessen Mitte eine schmale Holzstiege nach oben führte. Ein Durchgang mit Holzperlenvorhang trennte den Wohnraum von der Küche. An den Wänden hingen für Niklas’ Geschmack recht altertümliche Strohblumengebilde und buntbemalte Teller. Er rollte bei diesem Anblick mit den Augen. Dabei bemerkte er die blanken Fachwerkbalken und Holzbohlen, welche die Decke des Raums bildeten. Der kleine Kaminofen war bereits angeheizt und sorgte dafür, dass durchgefrorene Knochen schnell der Vergangenheit angehörten. Auf dem Küchentisch standen Tassen und frisch gebrühter Tee, im Backofen wartete ein fertiger Kartoffelauflauf. Ein Hund, ein hellbrauner Mischling mit weißen Pfoten, wollte gar nicht aufhören, sich über die Rückkehr seines Frauchens zu freuen und die Gäste zu beschnüffeln. Malte hielt ihm vorsichtig die Hand hin und gab ihm die Gelegenheit, ihn kennenzulernen. „Ich wusste gar nicht, dass du einen Hund hast. Wie heißt er denn?“

„Miez Miez“, antwortete Ludwiga.

Malte prustete amüsiert. „Echt jetzt? Wieso das denn? Ich hätte gedacht, du würdest einen Hund eher Rex oder Bello nennen.“

„Ich habe ihn aus dem Tierheim“, erklärte Ludwiga. „Und da hieß er bereits so. Ich hatte ihm erst einen anderen Namen gegeben, aber auf den hört er nicht. Und wenn ihm Miez Miez gefällt, dann soll er eben seinen Willen bekommen.“

Malte strich dem Hund über das kurze Fell. „Er ist entweder ein besonders kluger oder aber schrecklich dummer Hund, wenn er auf diesen doch sehr eigenwilligen Namen besteht.“

„Er ist ganz gewiss ein besonders kluges Tier“, stellte Ludwiga klar und warf ihrem vierbeinigen Schützling einen liebevollen Blick zu. „Nun legt eure Sachen ab und kommt essen, bevor alles kalt ist und sich unser grummeliger Hermann die Mühe umsonst gemacht hat.“

Niklas ließ sich nicht zweimal bitten. An Ort und Stelle entledigte er sich seiner Schuhe, Jacke und Taschen, setzte sich auf einen Stuhl in der Küche und wartete darauf, dass aufgetischt wurde. Sein Hunger quälte ihn und es duftete köstlich. Er griff nach Messer und Gabel und saß kerzengerade am Tisch, bereit, sofort loszuschaufeln. Umsorgt zu werden tat ihm gut. Niklas wollte es in vollen Zügen genießen. Der Herausforderung, seine Trauer zuzulassen und zu verarbeiten, wollte er sich so lange wie nur möglich entziehen. Der Gedanke, mit dem Tod seiner Mutter abzuschließen, ängstigte ihn und er ignorierte seine Gefühle diesbezüglich, solange es nur ging. Wann er das letzte Mal etwas gutes Selbstgekochtes gegessen hatte, und vor allem etwas, um das er sich nicht selbst hatte kümmern müssen, wusste er schon gar nicht mehr. „Mann, riecht das gut. Dein Hermann scheint ja ein hervorragender Koch zu sein. Warum macht er denn das alles? Steht er auf dich?“

Tante Ludwiga fuhr herum. „Also wirklich.“ Sie schüttelte den Kopf, errötete leicht und hätte sich fast trotz Topflappen die Finger an der Auflaufform verbrannt, weil sie, durch seine Frage abgelenkt, vergessen hatte, sie abzustellen. „Wo du wieder hindenkst. Wir kennen uns schon lange und hier bei uns in Kyllbenden hilft man sich eben.“

Niklas grinste darüber, dass er seine Tante gerade tatsächlich in Verlegenheit gebracht hatte. Es amüsierte ihn, und er sah keinen Grund, nicht noch einmal nachzusetzen. „Kocht und hütet er Häuser für alle in Kyllbenden, wenn sie verreisen? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie er dabei die viele Arbeit auf seinem Hof schafft. Du hast ja gesagt, er sei ein vielbeschäftigter Mann.“ Sichtlich erheitert stopfte er sich eine große Gabel überbackene Nudeln in den Mund.

„Nun hör aber auf“, wiegelte Ludwiga unsicher ab. „Das hat er natürlich nur gemacht, weil es sich bei uns um einen Notfall gehandelt hat. Ab morgen müssen wir uns schon wieder selbst um alles hier kümmern. Ihr werdet euch noch umgucken, welche Arbeiten so auf uns warten. Ich denke, das wird euch ein bisschen ablenken und auf andere Gedanken bringen. Und Hermann weiß genau, dass unsere Familie es gerade sehr schwer hat. Er hilft bestimmt, wo er kann.“ Niklas überhörte den letzten Teil absichtlich. Das Grinsen war nicht aus seinem Gesicht zu bekommen. „Der ist total in dich verknallt, das habe ich direkt gesehen“, stichelte er weiter. Es waren reine Mutmaßungen, aber es machte ihm Spaß und lenkte ihn von seiner Trauer ab, wenn er sie aufzog.

„Ach Niklas, erzähl doch nicht solchen Quatsch. Ich dachte, du hast Hunger, dann iss jetzt und halt endlich den Schnabel.“ Ludwigas Blick klebte am Tisch, und sie war emsig damit beschäftigt, die Gegenstände darauf neu anzuordnen.

Ihre sanfte Gegenwehr ermunterte Niklas nur noch weiter. „Du stehst auch auf ihn“, platzte er lachend heraus und kassierte dafür ein Augenrollen.

„Iss, damit du wieder zu klarem Verstand kommst“, forderte sie ein wenig schroff. Niklas ließ das Thema gut sein, ehe er es sich mit ihr verscherzte, und machte sich wie ein ausgehungerter Wolf über den Auflauf her.

„Na siehst du, geht doch.“ Ludwiga zeigte sich schnell wieder versöhnlich.

„Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann wir das letzte Mal hier gewesen sind. Es muss schon eine Ewigkeit her sein“, brachte Malte sich ein.

„Es war in den Ferien zwischen Grundschule und der Weiterführenden. Eure Eltern mussten damals viel arbeiten, und das Geld war so knapp, dass ihr nicht in den Urlaub fahren konntet. Damit ihr wenigstens in den Ferien ein bisschen Abwechslung genießen konntet, haben eure Mutter und ich beschlossen, dass ihr sie hier verbringen könnt. Und nun seht euch an. Ihr seid so groß geworden und alles hat sich verändert. Das erst so etwas Schlimmes passieren musste, bis ihr wieder hierher kommt … “

„Keine Sorge liebes Tantchen.“ Niklas reckte sich genüsslich. „Jetzt sind wir ja erst einmal hier. Wo schlafen wir eigentlich?“ Er gähnte.

„Na kommt, ich zeig euch die Zimmer. Es sind noch dieselben wie früher. Nehmt euer Gepäck mit, ich hole das Bettzeug. Beziehen müsst ihr aber selber, ihr seid schließlich alt genug.“

„Jawohl Sir, Ma‘am“, witzelte Niklas, er konnte es eben nicht lassen.

Sie folgten Ludwiga die schmale, knarrende Holztreppe hinauf in das Obergeschoss des alten Fachwerkhauses. Die Türen der beiden Dachkammern lagen sich gegenüber. „Das ist meins“, beschlagnahmte Niklas das Zimmer auf der rechten Seite und warf den Rucksack hinein. „Hier habe ich früher schon gepennt!“

„Das könnt ihr halten, wie ihr wollt“, erwiderte Ludwiga, „die beiden Zimmer sind sowieso gleich eingerichtet. Aber ich muss dich korrigieren, du hattest früher das andere.“ Sie öffnete die Tür des gegenüberliegenden Zimmers. In der Tat unterschied sich die bescheidene Einrichtung kaum voneinander. Die Zimmer waren jeweils mit einem alten Schrank, einem Tisch, einem Bett und einem Nachttisch bestückt. In Niklas’ Zimmer stand anstelle eines Stuhls ein Hocker und die Vase mit den getrockneten Blumen blieb ihm erspart. Er sah sich um. Die Deckenlampe erhellte den Raum kaum, aber die eigenwillige Tapete mit großen, grünen Blüten auf gelbem Untergrund erregte dennoch seine Aufmerksamkeit. Sie war hässlich und passte zum Rest der Einrichtung. Tante Ludwiga hatte in dieser Hinsicht überhaupt keinen Geschmack. „Für ein paar Tage wird es schon gehen“, murmelte er und erschrak, als er Ludwigas freundliche Stimme hinter sich vernahm.

„Muss ja. Du darfst aber ruhig etwas verändern, wenn du dich dann wohler fühlst. Aber vielleicht erst morgen? Hier hast du die Bettwäsche, euer Bad ist auch hier oben, schlaf gut.“

Niklas nickte. Dass seine Tante den Kommentar mitbekommen hatte, war ihm unangenehm, immerhin war sie die Einzige, die sich derzeit um ihn und Malte kümmerte, und da wollte er nicht ungerecht sein. „Danke“, sagte er leise.

„Ist schon okay“, wehrte Ludwiga ab. „wir sind doch eine Familie. Gute Nacht!“ Sie schloss die Tür, und Niklas war das erste Mal an diesem Tag allein. Mutterseelenallein, ging es ihm durch den Kopf, und er dachte zum ersten Mal über die Bedeutung dieses Wortes nach. Sehnsucht stieg in ihm auf. Es tat weh, so sehr, dass er seine Fäuste ballen musste, bis die Schmerzen in seinen Händen den anderen, emotionalen Schmerz wenigstens zum Teil überlagerten. Mutterseelenallein. Niklas versuchte die plötzlich und schlagartig auf ihn einstürmenden Bilder und Erinnerungen an eine glückliche und vollständige Familie abzuwehren. Er wollte wütend sein, zornig, auf alles und jeden und in erster Linie auf Papa. Diese Wut war so viel einfacher zu ertragen als sinnlose Traurigkeit. Mutterseelenallein. Warum gibt es eigentlich das Wort vaterseelenallein nicht? Papa macht doch gerade vor, wie das geht.

Der nächste Morgen begann turbulent. Malte schnellte aus dem Tiefschlaf hoch und saß kerzengerade im Bett. Er hatte einen Moment lang Schwierigkeiten, sich zu orientieren und das laute Gebimmel der benachbarten Kapelle einzuordnen, das ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Zumal es noch nicht einmal richtig hell war.

Widerwillig stieg er aus dem Bett und begab sich nach unten, wo bereits Hochbetrieb herrschte. Eine kleine schwarze Katze saß maunzend in der Küche und wartete auf ihr Futter, Miez Miez lag gänzlich unbeeindruckt daneben und rührte sich nicht. Ludwigas Tag schien früh begonnen zu haben. Sie war bereits fertig angezogen, hatte den Ofen angeheizt und das Frühstück vorbereitet.

„Brennt es irgendwo?“, fragte Malte und fügte auf Ludwigas fragenden Blick hinzu: „Na, weil die Glocke so einen Lärm macht, als müsste die Feuerwehr ausrücken.“

„Ach so, nein, das ist normal, keine Sorge, daran gewöhnst du dich. Ich höre die schon gar nicht mehr“, erklärte Ludwiga. „Jetzt sieh zu, dass du dich anziehst und deinen Bruder weckst. Wir wollen gleich zusammen essen. Mögt ihr Frühstückseier? Ach, was frage ich da, wer mag denn keine Eier zum Frühstück. Und was trinkt ihr? Milch, Kakao oder Tee? Oder vielleicht sogar Kaffee? Immerhin seid ihr ja schon sechzehn.“

Malte starrte sie an, als hätte ihn ein Zug gestreift. Für diese Tageszeit waren das eindeutig zu viele Fragen. Seine Tante war total aufgekratzt und wirbelte nur so durch die Küche.

„Ähm, Cola?“, schlug er vor, als Ludwiga der Katze das Fressnäpfchen hinstellte und sie liebevoll streichelte.

„Oh.“ Ludwiga blickte überrascht zu ihrem Neffen auf. „Ich glaube nicht, dass ich Cola im Haus habe. Wie wäre es mit Saft?“ Es tat ihr ganz offensichtlich leid, dass sie nicht damit dienen konnte.

„Geht auch“, murmelte Malte kompromissbereit, fuhr sich mit den Händen durch die zerwühlten Haare und trottete wieder nach oben, um sich anzuziehen. So viele Entscheidungen so kurz nach dem Aufstehen empfand er als anstrengend, und er dachte daran, wie es früher gewesen war, als seine Mutter noch lebte. Mit unfassbarer Wucht meldete sich der Schmerz der Erinnerung in seiner Brust und seinem Bauch. Vor seinem inneren Auge sah er sie, wie sie sich leise und katzengleich durch die Küche bewegte, sah Niklas und ihren Vater am Frühstückstisch sitzen. Müsli und Milch standen dort, keine Entscheidungen, keine Diskussion. Seine Mutter wusste, dass die Männer der Familie absolute Morgenmuffel waren und ließ sie gewähren. Und obwohl oder gerade weil niemand sprach, war es ein harmonisches und entspanntes Frühstück. Maltes Atem wurde schwer. Oh nein. Gleich würde er wieder anfangen zu heulen und dann würde Ludwiga mit ihm darüber reden wollen. Energisch verdrängte er die Erinnerung. Nur schnell nach oben, hämmerte es in seinem Kopf.

Niklas brauchte wirklich lange, bis er beim Frühstück erschien, und seine Laune hätte nicht schlechter sein können. Tante Ludwiga und Malte waren fast fertig mit dem Essen, als er sich grummelnd auf seinen Stuhl plumpsen ließ.

„Kann man dir irgendwie helfen?“, fragte Ludwiga, aber er winkte nur ab.

„Irgendetwas stimmt mit meinem Handy nicht. Ich habe keinen Empfang.“

„Das gleiche Problem habe ich auch, kein Balken, kein Netz“, bestätigte Malte die Misere, ging aber sichtlich gefasster damit um. „Bei welchem Anbieter bist du denn?“ Niklas sah seine Tante an, doch die kaute unbeeindruckt an dem letzten Stück ihres Brötchens und trank Kaffee. Warum nahm sie das Problem nicht ernst? Niklas beugte sich vor. „Gestern Abend habe ich noch gedacht, dass es an irgendwelchen vorübergehenden Störungen liegen könnte. Oder am Handy selbst. Aber wenn Malte das gleiche Problem hat, ist das eher unwahrscheinlich. Wäre ja ein zu großer Zufall, wenn beide Telefone gleichzeitig den Geist aufgeben.“ Er rückte näher an seinen Bruder heran und sie verglichen gewissenhaft die Geräteeinstellungen und Anzeigen auf den Displays, bis Tante Ludwiga genug davon hatte.