Der Seher von Yys: Science Fiction Thriller - Alfred Bekker - E-Book

Der Seher von Yys: Science Fiction Thriller E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Die ersten besiedelbaren Planeten waren entdeckt. Man entwickelte medizinische Methoden, um Emigranten körperlich auf die nichtirdischen Verhältnisse vorzubereiten, was allerdings auch eine gewisse Auslese nötig machte, und am 17. Juni 2058 wurde es endlich offiziell: Die Besiedlung des Alls konnte beginnen... Eine neue Technologie, ein genialer Erfinder und ein Seher, der das Tor zu den Sternen öffnet - oder das Verhängnis bringt? Ein rasanter Science Fiction Thriller. Die Print-Ausgabe erschien 2003 im Mohlberg-Verlag. Umfang (nach Print-Ausgabe): 216 Buchseiten

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»Der Seher von Yys«

Ein CassiopeiaPress E-Book

© Digitalausgabe 2012 AlfredBekker/CassiopeiaPress

© by Authors

Die Printausgabe erschien 2003 im Mohlberg-Verlag.

Das vorliegende Buch basiert auf dem Roman DER GALAKTISCHE FAUST von Alfred Bekker und Motiven der SF-Serie Gaarson Gate von W.A.Hary.

www.AlfredBekker.de

1. digitale Auflage 2014 Zeilenwert GmbH

ISBN 9783956170737

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Der Seher von Yys

Anhang

Professor Eduard Hackenthal wagte es gar nicht, den erst achtzehn Jahre alten Karl Schmidt direkt anzusehen. Vielleicht befürchtete er, ansonsten so etwas wie menschliche Gefühle bei sich selbst zu wecken? Und so konnte er zu dem jungen Mann mit den dunkelblonden modisch langen Haaren in aller Härte das sagen, was seiner Meinung nach Sache war: »Sie müssen sich eben damit abfinden, Herr Schmidt: Es gibt Menschen und es gibt lebende Organspender. Sie sind kein Mensch, sondern Sie sind… Organspender. Auch wenn Sie wie ein Mensch geboren wurden.«

»Mir fehlt nur das richtige Elternhaus, wie?« fragte Karl Schmidt bitter. Aber es war doch wohl eher eine Feststellung als eine Frage. Denn er fügte hinzu: »Ich bin ein einfacher Arbeitersohn, erst achtzehn Jahre alt, und Sie haben mich eingefangen wie Schlachtvieh und geben mich nun zur Verwertung frei. Schlachtvieh wird geschlachtet, damit man es essen kann. Das ist sein Schicksal. Und ich werde geschlachtet, damit ein paar Reiche neue Organe für ihren abgewrackten Körper bekommen. - Erstaunliche Feststellungen für jemanden, der leider nicht als reicher Mensch, sondern als armer Organspender geboren wurde, nicht wahr?«

Er schaute gespielt bedauernd an sich herab. Die Zwangsjacke, die ihm der Professor verpaßt hatte, ließ nur vermuten, daß er eine ganz normale, schlanke Figur hatte, wie eben bei einem auch ansonsten völlig durchschnittlich und eigentlich auch unauffällig wirkenden Achtzehnjährigen üblich. Eine Sportskanone war er nie gewesen. Das hatte ihn auch überhaupt nicht interessiert. Aber er war auch noch niemals in seinem Leben krank gewesen. Noch nicht einmal Schnupfen. Auch keine Verletzung. Jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte. Obwohl er aß und trank, wonach es ihn gerade gelüstete, war es niemals zu Übergewicht oder Untergewicht gekommen. Andere hatten ihn darum beneidet.

Jetzt würde ihn niemand mehr beneiden - in dieser Situation. Aber - leider! - wußte kein Mensch, in welcher Situation er sich überhaupt befand. Außer natürlich dem Professor und seinem Team.

Der Professor zuckte gleichmütig mit den Achseln und wandte sich zum Gehen. »Eigentlich sollte es mein Abschied von Ihnen sein. Ich hatte sehr gehofft, daß Sie die Notwendigkeit unseres Vorgehens einsehen. Abwenden können Sie Ihr Schicksal sowieso nicht mehr. Auch wenn Sie auf Ihrer Uneinsichtigkeit beharren.«

»Jemand wird Ihre Machenschaften eines Tages aufdecken und Sie zur Rechenschaft ziehen!« drohte Karl Schmidt mit einem letzten aufflackernden Optimismus. »Man wird mich vermissen. Die Polizei…«

Der Professor blieb mit dem Rücken zu ihm noch einmal stehen. »Ach, wissen Sie, das hatten wir doch alles bereits, nicht wahr? Kein Mensch wird Sie vermissen. Weil ich Ihren Tod bestätigt habe: Ein tragischer Motorradunfall mit sofortiger Todesfolge. Wir hatten einfach Glück, daß Sie zwar ohne Bewußtsein, aber ohne Verletzungen hier eingeliefert wurden und alles gut erhalten blieb, was an Ihnen wertvoll ist!« Hinter ihm schloß sich die Tür mit einem schmatzenden Laut. Karl Schmidt wußte, was das bedeutete: Die Tür schloß luftdicht!

Er schrie verzweifelt, aber es gab keine Möglichkeit für ihn, sich aus der Zwangsjacke zu befreien. Und dann hörte er das Zischen des einströmenden Gases. Es würde ihn betäuben. Aber aus dieser Betäubung würde er niemals mehr erwachen. Weil ihm nach der bevorstehenden Operation lebensnotwendige Organe fehlen würden. Das stand unumstößlich fest. Daran führte nunmehr kein Weg vorbei. Und deshalb nutzte ihn auch alles Schreien nichts.

Er schrie trotzdem, bis sich die Bewußtlosigkeit wie eine schwarze Haube über ihn senkte.

*

Aber die Schwärze war nicht leer. Oder war inzwischen entsprechend viel Zeit vergangen? Wieso nahm er denn überhaupt noch etwas wahr? Eine diffuse Helligkeit. Er wollte die Augen aufreißen… spürte auch die Lider, die aber bereits weit aufgerissen waren, obwohl seine Augen nichts erkennen konnten. Ein dumpfer Schmerz war dort, wo sich die Augen befinden müßten.

Ich habe keine Augen mehr - zumindest keine vollständigen! schrien seine Gedanken. Jetzt war es ihm nicht mehr möglich, zum Schreien seine Stimme zu benutzen. Weil er keine Stimmbänder mehr hatte?

Er lauschte. Waren da nicht Geräusche? Stimmen? Er konzentrierte sich auf seine Ohren. Auf einmal wußte er: Ich habe keine Gehörorgane mehr! Man hat sie mir einfach aus dem Kopf geschnitten, um sie einem anderen zu geben, um einem Reichen sein Gehör wiederzuschenken. Nein: MEIN GEHÖR!

Die Panik übermannte ihn schier. Und dann dieser bohrende Gedanke: Wieso lebe ich überhaupt noch?

Er wollte sich auf seinen Herzschlag konzentrieren: Da war überhaupt keiner mehr! Mein Gott, dann bin ich doch… tot!? Aber… wieso denke ich überhaupt noch?

Wenigstens das Gehirn haben sie mir gelassen! dachte er in einem verzweifelten Anflug von Galgenhumor. Und ansonsten? Er »lauschte« in seinen Körper - zumindest in den Rest, der davon noch übrig war: Keine Beine mehr! Gott, sind die denn schon so weit mit den Transplantationen, daß sie sogar Beine austauschen können? Das wußte ich ja gar nicht. Was wußte ich denn überhaupt? Für mich war die Welt noch in Ordnung - mit meinen achtzehn Jahren. Zumindest halbwegs. Ich war zwar ein armer Hund, als Sohn arbeitsloser Eltern, selber arbeitslos und ohne Lehrstelle. Sozialhilfe, schwarze Jobs, um den Führerschein zu machen und ein gebrauchtes Motorrad zu kaufen. Gott, ich hatte es erst eine Woche lang. Dann die Landstraße, die langgezogene Kurve, die ich zu schnell gefahren bin. Und dann war da nichts mehr. Es wurde schwarz, so schwarz wie vor den Operationen. Ich wußte, daß ich tot war, tödlich verunglückt.

Wieso wußte ich das eigentlich? schrien seine Gedanken. Mein Gott, was ist los mit mir? Da stimmt doch was nicht. Ich weiß haargenau, daß ich bei diesem Unfall tatsächlich gestorben bin. Das kann ein Mensch niemals überleben. Aber ich erwachte trotzdem im Krankenhaus und war praktisch… unverletzt. Nur bewußtlos. Und dann bin ich ja auch bald zu mir gekommen. Doch es war zu spät. Man hatte mich bereits isoliert. Und wer wird an meiner Stelle im Sarg liegen? War die Beerdigung überhaupt schon?

Nein, ich will nicht!

Halt, halt, ganz in Ruhe. Ich muß nachdenken: Ich starb und wurde trotzdem zwar ohne Bewußtsein, aber unverletzt eingeliefert? Wie war das in meiner Kindheit? Bin ich nicht mal gestürzt, habe mir die Beine aufgefallen…? Ja, doch! Es ist passiert, immer wieder. Aber es war für mich normal, nach den Schmerzen keine Wunde mehr zu sehen. Jeder hat geglaubt, ich hätte einfach nur besonderes Glück gehabt. Ich auch. Stets. Wieso auch nicht? Man macht sich keine Gedanken über Unglück, wenn man es unbeschadet überstanden hat und es noch nicht einmal Spuren hinterläßt…

Und jetzt?

Ich konnte nur tot sein. Sonst wäre der Professor doch nicht auf die Idee gekommen, mich als Organspender zu mißbrauchen. Er hätte es nicht glaubwürdig machen können. Selbst er nicht, mit seinen Möglichkeiten…

Aber ich habe inzwischen sogar das… überlebt - das Organspenden? Ohne Herz, ohne Gehör, ohne Augen, ohne Beine, ohne… was weiß ich noch was?

Die Geräusche. Die Stimmen. ER hatte kein Gehör mehr - und »hörte« trotzdem?

Verwundert konzentrierte er sich stärker darauf. Tatsächlich, er konnte jetzt deutlicher hören. Die Stimme des Professors: »Es ist… unerklärbar! Es ist… Es widerspricht allen medizinischen Erkenntnissen!«

»Seht!« rief eine andere Stimme, eine weibliche. Sie gehörte zu einer hübschen Brünetten, deren eiskalte Augen im krassen Gegensatz zu ihrer hübschen Erscheinung standen. Jetzt waren ihre kalten Augen weit aufgerissen. Sie deutete auf die Beinstummel von Karl Schmidt. »Soeben haben wir erst die Beine amputiert. Die Wunden schließen sich. Das neue… das neue Wachstum beginnt.«

Karl Schmidt sah jetzt auch den Professor. Der war völlig konsterniert. »Dann wachsen diese wohl auch nach? - Er braucht Nährflüssigkeit, viel mehr Nährflüssigkeit. Na, wird's bald? Er hat eine seltene Blutgruppe. Jedes Organ ist eine Million wert, wenn ich entsprechend pokere. Und sie wachsen sogar nach! Habt ihr überhaupt eine Ahnung, was wir hier vor uns liegen haben? Das ist kein Organspender mehr, sondern eine wahre Goldgrube! Sogar die Augen wachsen nach. Sie sind schon wieder fast fertig. Wir werden alle unermeßlich reich, versteht ihr?« Seine Stimme überschlug sich: »Reich werden wir alle, unermeßlich reich!« Er lachte, und das klang ziemlich irre.

Keiner lachte mit. Aber jeder im Team betrachtete den vor ihnen liegenden Körper - nicht mit den Augen humanistisch eingestellter Ärzte, wie man es bei diesem Berufsstand vielleicht erwarten dürfte, sondern mit den gierigen Augen von Kriminellen, die den Coup ihres Lebens bestanden hatten.

Und Karl Schmidt »sah« und »hörte« das alles, obwohl er doch erst halbfertige Augen hatte - und wahrscheinlich auch noch unvollständig gewachsene Gehörorgane. Er »sah« und »hörte« einfach so.

Ich bin kein normaler Mensch - noch nie gewesen! Das war die entscheidende Erkenntnis, vor der er sich die ganze Zeit über gehütet hatte - trotz aller überdeutlicher Hinweise im Verlauf von immerhin achtzehn Jahren. Irgend so eine Art Mutant. Ich habe etwas in der Gene, was einmalig ist. Wohl nie zuvor sind bei einem Menschen Beine nachgewachsen und sogar lebensnotwendige innere Organe - egal, wie kompliziert sie auch sind. Nein, wohl noch niemals zuvor. Bis zu mir. Ein reiner Zufall, daß die ausgerechnet mich unter das Skalpell bekommen haben. Und sie meinen, daß dies ein glücklicher Zufall ist!

Er grübelte nach. Vom Einströmen des Gases bis jetzt war eine ziemliche Zeit vergangen. Das war klar. In dieser Zeit hatte sein Bewußtsein in dumpfer Abwartung verharrt. Es hatte sich regelrecht dagegen gewehrt, zu erkennen, daß er so etwas wie unsterblich war. Vielleicht nicht völlig unsterblich? Vielleicht gab es bei ihm auch so etwas wie einen Alterungsprozeß - obwohl alles nachwachsen konnte?

Er dachte an sein fehlendes Herz. In ihrer Euphorie hatten die Ärzte das scheinbar völlig übersehen: Er überlebte sogar ohne schlagendes Herz! Nur die Nährflüssigkeit war anscheinend von fundamentaler Bedeutung. Karl Schmidt tastete mit seinen immer besser werdenden Extrasinnen nach der Flüssigkeit. Nein, sie war ganz und gar nichts Besonderes: Ein Cocktail, wie man ihn grundsätzlich auch anderen Menschen zur künstlichen Ernährung verabreichte. Etwas modifiziert, zugegeben, aber nicht so besonders, wie er ursprünglich erwartet hatte. Obwohl der Professor für die Modifizierung verantwortlich war: Die Nährflüssigkeit war gehaltvoller als normal. Er hatte damit sicher das Wachstum der nachwachsenden Organe beschleunigen wollen.

Plötzlich spürte Karl Schmidt, daß in seiner Brust wieder ein Herz schlug. Es war soeben fertig geworden mit seinem Wachstum.

Wo ist eigentlich mein altes Herz? fragte er sich dabei unwillkürlich. Und noch während er darüber nachdachte, spürte er auch dieses: Es schlug in einer fremden Brust.

*

Karl Schmidt wollte mehr darüber wissen. Er erforschte die fremde Brust. Das war ihm möglich, da er den mentalen Kontakt mit seinem alten Herzen nicht verloren hatte. Er erforschte nicht nur die Brust, sondern auch den Menschen, dem dieses Herz jetzt gehörte: Dachte der zumindest! In Wirklichkeit wußte Karl Schmidt ab sofort, daß keines seiner Organe jemals einem anderen Menschen wirklich gehören würde. Sie blieben sein Eigentum!

Er machte die Probe aufs Exempel und befahl dem Herzen in dieser fremden Brust, stillzustehen. Es hörte sofort auf zu schlagen. So lange, wie Karl Schmidt es wollte. Erst danach schlug es wieder weiter. Karl Schmidt lachte triumphierend in sich hinein. Nach außenhin blieb er der bewußtlose Organspender, der mit seinen nachwachsenden Organen die Taschen der skrupellosen Mediziner vollmachen würde. Aber innerlich…

Er erforschte wieder den Empfänger seines Spenderherzens - und drang dabei auch bis in dessen Gehirn vor. Er öffnete dessen Augen und schaute sich dort um, wo sich der Herzempfänger befand. Er drehte dessen Kopf hin und her. Der Mann lag noch im Krankenbett. Und Karl Schmidt nahm an seinen Erinnerungen teil: Er war ein reicher Industrieller, mit nicht nur viel Geld, sondern auch mit viel, viel Einfluß. Und Karl Schmidt wußte, daß er diesen Mann nach seinen Wünschen manipulieren konnte. Er mußte es nur geschickt genug anstellen: Nicht wie eine Marionette, nein, denn er hatte ja nur Kontakt über das Herz. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn der Großteil des fremden Körpers aus nachwachsenden Teilen von Karl Schmidt bestanden hätte…

Trotzdem: Der Triumph in seiner Seele war so groß, daß er sich beinahe verraten hätte. Aber er blieb der bewußtlose Organspender - nach außenhin. Obwohl er längst nach seinen Beinen forschte. Nein, die waren ja erst abgenommen worden und hatten ihren Empfänger noch nicht gefunden. Aber vielleicht seine Augen?

Er schaute durch seine alten Augen, die jetzt im Kopf eines ehemals Blinden steckten. Dessen Sehnerven waren bei einem schlimmen Unfall unversehrt geblieben. Deshalb war es möglich, daß er die Augen von Karl Schmidt hatte empfangen können. Normalerweise hätte es noch eine Weile gedauert, bis er wieder hätte sehen können. Aber Karl Schmidt half ihm durch seine Manipulation.

He, wenn die Augen schon länger entnommen wurden - wieso waren sie jetzt erst nachgewachsen?

Klar! beantwortete er sich die Frage selber: Die haben die Augen SCHON WIEDER entfernt. Genauso wie das Gehör, das Herz und die Beine.

Er lachte wieder - innerlich! Denn jetzt war er vollkommen sicher: Transplantiert nur ruhig weiter! Verpflanzt meine nachwachsenden Organe! Je mehr, desto besser, denn sie bekommen ja nur die Reichen und die Mächtigen. Bis am Ende… nur noch ich selber reich und mächtig bin! Ja, ihr kriminellen Idioten: Ihr seid nur noch meine Werkzeuge, um meine Organe zu verbreiten, damit meine Macht schön verteilt wird - bis ich unbesiegbar bin. Am Ende werde ich euch hinwegfegen wie Dreck. Nein, ich bin kein Mensch. Ich bin ein Organspender, Herr Professor! Aber ihr werdet wohl nie begreifen, in welchem Maße mich das zu etwas Besonderem macht!

Doch dann spürte er, wie ihm die Sinne schwanden. Er begriff auch sofort, wieso das so war: Sie hielten ihn normalerweise in der Nährflüssigkeit wie ein konserviertes Organ in Spiritus. Sie nahmen ihn nur heraus, wenn sie etwas von ihm entnehmen wollten. Diesmal hatten sie eine ganze Menge entnommen. Drum war er auch relativ lange außerhalb der Flüssigkeit gewesen. Vor allem mit dem Kopf. Und er hatte dadurch wieder atmen können.

Die Erkenntnis: Nur wenn ich atmen kann, erwacht mein Bewußtsein!

Die weitere Erkenntnis: Aber wie soll ich Einfluß nehmen auf die Organempfänger, wenn ich in einem totähnlichen Zustand dahinvegetiere?

Nein! schrien seine Gedanken mal wieder - unhörbar für das Ärzteteam, das nicht einmal ahnte, daß er vorübergehend aus dem Koma erwacht war. Ich will nicht wieder in die Dunkelheit zurück!

Doch dann war sie da, die Dunkelheit, unaufhaltsam und… vollkommen.

*

Georg Barringmore war einer der mächtigsten Männer der Erde, weil er einer der reichsten war. außer ihm wußte kaum jemand, wo er überall seine Hände im Spiel hatte - direkt und indirekt. Er zog seine Fäden weltweit, international, skrupellos und machtbesessen. Und genau dieses hatte ihn beinahe das Leben gekostet.

Ja, nur beinahe, denn andererseits hatten es ihm seine Macht und sein Reichtum erlaubt, etwas zu überleben, was normalerweise niemand überlebte: Einen Herzschuß!

Der Attentäter war sozusagen der cleverste Attentäter denn je gewesen. Sonst hätte er es nicht geschafft, bis zu ihm vorzudringen. Georg Barringmore wußte noch nicht im Detail, wie es ihm überhaupt gelungen war, denn dafür war er nicht lange genug wieder unter den Lebenden. Er würde sich darum kümmern, wenn es an der Zeit war. Das war wichtig, um künftige Fälle dieser Art auf jedenfall zu vermeiden.

Zur Zeit allerdings hatte er dringlichere Sorgen: Sein Herz hatte für ein paar Takte ausgesetzt, und Todesfurcht hatte ihn beinahe übermannt. Ja, sein neues Herz!

Der Professor hatte es ihm erklärt: Der Schuß hatte sein Herz getroffen, aber es hatte dadurch nicht völlig aufgehört, seine Aufgabe wahrzunehmen. Zwar hatte Barringmore sogleich das Bewußtsein verloren und wäre auch innerhalb von längstens zwanzig Minuten tatsächlich tot gewesen, aber seine Sicherheitsleute hatten ihn sofort ins nächste Spital bringen lassen. Das war absoluter Rekord! Gottlob war es das Spital von Professor Eduard Hackenthal gewesen, der weltweit einen erstklassigen Ruf als Organverpflanzer hatte. Wie der Zufall es gewollt hatte: Ein passendes Herz war bereit! Aber darüber sollten Barringmore und seine engsten Vertrauten strengstes Stillschweigen bewahren, denn laut dem Professor war das Herz mit der seltenen Blutgruppe, die zufällig derjenigen von Barringmore entsprach… Nun, jedenfalls sei das Herz für einen anderen gedacht gewesen. Derjenige war allerdings… weit weniger wichtig als ein Georg Barringmoore.

Klar, daß dies dem mächtigen Industriellen Georg Barringmore schmeichelte und er sich trotz seiner Skrupellosigkeit ab sofort in der Schuld des Professors fühlte. Es war sozusagen selbstverständlich, daß es niemals jemand erfahren würde, das mit dem Spenderherz. Offiziell hatte die Kugel des Attentäters einfach das lebenswichtige Organ in seiner Brust verfehlt. Nichts weiter.

Aber wieso hatte es vorhin ausgesetzt?

Barringmore gab mit den Augen ein Zeichen. Das genügte für die Krankenschwester neben ihm. Sie gab das Zeichen weiter an den diensthabenden Arzt, der nicht vom Krankenbett des Industriellen wich. Der Doc beugte sich über ihn.

»Mein Herz hat vorhin ausgesetzt«, sagte Georg Barringmore schwach. »Ein schlechtes Zeichen?«

»Nein, Mr. Barringmoore, das ist ganz normal«, log der Arzt zuversichtlich, obwohl er sich darüber selber schon seine Gedanken gemacht hatte: Normal war es keineswegs, sondern gänzlich unverständlich. Er hatte auch schon Alarm geschlagen - unbemerkt von den Sicherheitsleuten, die sich ebenfalls in dem überaus großen und reichlich ausgestatteten Krankenzimmer befanden. »Ihr Körper wehrt sich gegen das fremde Organ. Sie haben gewiß schon davon gehört: Eine Immunreaktion! Wir haben zwar medikamentös die Immunreaktionen Ihres Körpers unterdrückt, aber das durften wir nicht übertreiben, um nicht Risiken ganz anderer Art dadurch zu provozieren.«

Georg Barringmoore war halbwegs beruhigt und schloß die Augen.

Bevor er einschlief, fiel ihm noch etwas ein: War da nicht ein seltsames Tasten in seinem Kopf gewesen? Als würde sich etwas Fremdes in seinem Denken ausbreiten wollen…?

Er glitt in einen Traum hinüber, in dem diese eher vage Erinnerung ziemlich gegenständlich wurde: Das Herz dehnte sich in diesem Traum aus, um seinen ganzen Körper aufzufressen. Am Ende lag es pulsierend im Krankenbett und lachte schaurig, während sein Geist hilflos umher flatterte und vergeblich versuchte, ins Leben zurückzukehren…

*

Die Ähnlichkeit mit Ronald Reagon, einem der US-Präsidenten im letzten (im zwanzigsten) Jahrhundert, war wirklich verblüffend. Das ging Professor Eduard Hackenthal durch den Kopf, als er den schlafenden Industriellen betrachtete. Er hatte eine Atemmaske vor Mund und Nase, genauso wie alle, die sich mit ihm in diesem Zimmer befanden. Dadurch, daß sie die Immunabwehr des Industriellen herabgesetzt hatten, damit das fremde Spenderherz nicht abgestoßen wurde, war er extrem anfällig gegenüber Bakterien und anderen Krankheitserregern. In der Vergangenheit war es immer wieder vorgekommen, daß daran Organempfänger nach ansonsten erfolgreicher Transplantation sogar gestorben waren.

Der Professor schaute sich kurz um. Es befanden sich mit ihm insgesamt sechs Menschen im Raum. Plus Patient… Das sind mindestens fünf zuviel! dachte er halbwegs resigniert. Die Sicherheitsleute des Industriellen hatten darauf bestanden. Er hatte sich fügen müssen, obwohl dadurch das Infektrisiko trotz aller Maßnahmen natürlich enorm stieg. Es brauchte nur einer der Leute einen Grippeerreger in sich zu tragen… Nicht auszudenken!

Er schaute wieder den schlafenden Patienten an. Wieso setzte das Herz aus? fragte er sich zum wiederholten Male. Das ist völlig unmöglich, denn es handelt sich um ein Schmidt-Herz, und das setzt nicht einfach aus. Es sei denn, man schädigt es entsprechend, und das geht nur mit äußerster Gewalt. Oder es bekam absolut keine Nährstoffe mehr. Aber dann würde es immerhin noch einige Zeit dauern, bevor es seine Tätigkeit einstellte…

Jetzt schlug es wieder völlig normal. Es war das gesundeste Organ überhaupt im ganzen Körper des Industriellen.

Der Professor hatte sich die genaue Uhrzeit geben lassen. Er hatte sich auch die Aufzeichnung der Überlebensapparatur angesehen. Die hatten sofort versucht, einzugreifen, das Spenderherz zu ersetzen. Es war gar nicht nötig gewesen, weil das Herz gleich wieder weitergeschlagen hatte, als sei überhaupt nichts geschehen.

Der Professor stand vor einem Rätsel. Zwar wußte er definitiv, daß zur gleichen Zeit der Spenderkörper außerhalb der Nährflüssigkeit gewesen war, aber er sah da keinerlei Zusammenhang. Er war schließlich ein Mann, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit stand. In seinem Denken hatten Dinge absolut keinen Platz, die er in Verbindung hätte bringen müssen mit so etwas wie Mystik.

Obwohl er einen unsterblichen Organspender zur Verfügung hatte - der allein schon mit seinem Vorhandensein bewies, daß noch lange nicht alle Weisheiten von der modernen Wissenschaft aufgedeckt worden waren…

Der Professor rang sich zu einem Entschluß durch. Er wandte sich ab und ging hinaus. Draußen gab er seine spezifischen Anweisungen: »Den Patienten weiterhin überwachen - mit erhöhter Aufmerksamkeit. Gleichzeitig die Unterdrückung der Immunabwehr reduzieren. Ich muß wissen, ob es eine Immunabwehr gegen das Spenderherz gibt!«

Ein Satz, der aus seinem Munde anscheinend völlig absurd und damit unwissenschaftlich zu klingen schien, denn die zuständigen Ärzte sahen erst ihn und dann sich gegenseitig an. Das waren bedeutsame Blicke, die auszudrücken schienen: »Ist der Alte jetzt völlig durchgeknallt? Wenn wir hier einen Fehler machen, dann kostet es uns allen die Rübe! Da geht es um Barringmore - und damit um einen der mächtigsten und ohne Zweifel rücksichtslosesten Mann der Erde!«

Professor Hackenthal schien das überhaupt nicht zu interessieren. Er wußte, daß sie seinen Befehlen Folge leisten würden. Wenn nicht, würde er sie einfach feuern. Es war keiner unter ihnen, der zu seinem unmittelbaren Team gehörte. Also war auch keiner von denen eingeweiht. Sie ahnten noch nicht einmal, daß er auf die Idee gekommen war, ein Schmidt-Herz könnte eigentlich gar nicht vom Empfängerkörper abgestoßen werden.

Eher würde das Herz den Körper abstoßen! dachte er in einem seltsamen Anflug von Galgenhumor.

*

Georg Barringmore erwachte wieder, und dabei fühlte er sich erstaunlich gut. Es war ein Erwachen wie aus einem langen, erholsamen Schlaf. Beinahe fühlte er sich versucht, die Decke hochzuschlagen und aus dem Bett zu springen. Er konnte sich gerade noch bremsen - eingedenk der vielen Schläuche und Kabel, die mit seinem Körper verbunden waren und ein solches Vorgehen sowieso nachhaltig behindert hätten.

Er schaute mit wachen Augen um sich. Dabei »lauschte« er dem Herzschlag in seiner Brust. Das neue Herz schlug völlig normal.

Er hob den Kopf, um alle sehen zu können. Sie wurden aufmerksam und umringten sein Bett.

Barringmore räusperte sich. »Alles klar?« fragte er.

Der diensthabende Leiter der Sicherheit, der am Fußende stand, wußte sofort, was gemeint war.

»Eigentlich…«

»Was ist passiert?« Die Stimme seines Herrn und Gebieters klang ungewöhnlich scharf - und kräftig, als sei Barringmore nur vorübergehend wegen einer Lappalie ans Bett gefesselt.

»Nun, das Attentat auf Sie fand am 13. Januar 2053 statt. Dieser Tag wird wohl eingehen in die Geschichte der Menschheit als 'Der Schwarze Januar', denn an diesem Tag stürzte die Welt in die größte Wirtschaftskrise seit Bestehen der Menschheit!«

Barringmore runzelte die Stirn. Er ordnete seine Gedanken, seine Erinnerungen.

»Den wievielten haben wir jetzt?«

»Den zwanzigsten Januar!« bekam er Auskunft.

Erst eine Woche ist vergangen! dachte Barringmore - halb überrascht, halb erfreut. Mir war klar, daß es eine Krise geben würde.

Er rekapitulierte: Am 27. Oktober 2052 bescherte ein Wissenschaftler namens Tipor Gaarson der Menschheit den nach ihm benannten Gaarson-Effekt - als schier unerschöpfliche Energiequelle - nicht ohne Gegenwehr! Die Feinde von ihm waren ganz unterschiedlicher Natur. Da waren die Astro-Ökologen, wie sie sich nannten. Sie erschienen quasi wie aus dem Nichts und waren überzeugt davon, daß die ungezügelte Anwendung des Gaarson-Effektes das energetische Gleichgewicht des Universums zwangsläufig stören würde. Das müßte ihrer Meinung nach letztlich in eine allesvernichtende Katastrophe führen.

Georg Barringmore war ebenfalls ein Gegner des Gaarson-Effektes. Kein Wunder, denn ihm gehörte ein Hauptanteil der weltweit operierenden Energiekonzerne. Das wußte kaum jemand außer ihm selber. Er hatte deshalb sofort den Befehl gegeben, Tipor Gaarson zu liquidieren und die Einführung des Gaarson-Effektes zu verhindern - mit allen legalen und illegalen Mitteln, die es überhaupt geben konnte. Es war ihm völlig egal gewesen, daß er sich damit möglicherweise zu weit aus dem Fenster lehnen würde.

Wahrscheinlich hatte genau dieses den Attentäter auf den Plan gerufen. Aber das interessierte ihn im Moment überhaupt nicht. Er hob es sich für später auf. Er dachte an die mißlungenen Attentate auf Tipor Gaarson. Der Mann war nicht nur ein brillanter Wissenschaftler, wie es sich herausgestellt hatte, sondern er hatte seine Entdeckung offensichtlich längst in die Tat umgesetzt - heimlich und damit illegal. Wie sonst war sein Reichtum zu erklären? Und wieso sah dies niemand außer ihm, Georg Barringmore? Und er hatte es ja auch nur deshalb bemerkt, weil er hatte feststellen müssen, überhaupt keine Möglichkeit zu haben, diesen Tipor Gaarson zu liquidieren oder zumindest den Gaarson-Effekt zu verhindern. Trotz all seiner Macht!

Dieser Gaarson hat sein Prinzip angewendet, um damit heimlich Geld und Einfluß zu gewinnen. Er stellte den Gaarson-Effekt erst dann öffentlich vor, als er für sich das geringste Risiko kalkulierte. Das ist nicht nur ein Wissenschaftler, wie ihn die Welt vielleicht noch nie erlebt hat, sondern vor allem ein durchtriebener Geschäftsmann und raffinierter Vorausdenker!

Das hatte Georg Barringmore soviel Respekt eingeflößt, daß er eigentlich nur noch offiziell gegen Tipor Gaarson eingestellt war. In Wahrheit war er längst dabei gewesen, eigene Pfründe zu sichern, um nach der unausweichlichen Krise mit daran zu verdienen, wenn die Menschheit wie weiland Phönix aus der Asche die schlimmste Krise verlassen und zu Höhen emporsteigen würde, die vordem noch nicht einmal Phantasten gewagt hatten auch nur anzudenken!

Schier unerschöpflich viel Energie: Das bedeutete, die Menschheit konnte endlich in die Tiefen des Alls vordringen! Und er, Georg Barringmore, würde an vorderster Front mit dabei sein - zumindest indem es galt, den Rahm abzuschöpfen!

Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück.

»Welche Strategie hat Tipor Gaarson, um die Krise abzuwenden?« Eine glasklare Frage, die in seiner Klarheit den Sicherheitsexperten zusammenzucken ließ. Das hörte sich ja so an, als sei Georg Barringmore wirklich zur Gänze zu den Lebenden zurückgekehrt, und er verlor keine Zeit, wieder ins Weltgeschehen einzugreifen. Aber dafür brauchte er Informationen. Zumindest diese eine:

»Die Wirtschaftskrise entstand, weil die vorher üblichen Energiegewinnungsmöglichkeiten ad absurdum geführt sind. Sozusagen im letzten Aufbäumen schlossen die Energiekonzerne der Welt mit den Öl-, Erdgas- und Uranförderungsstaaten einen Pakt, um den Gaarson-Effekt zu verbieten. Sie wurden dabei von den Astro-Ökologen kräftig unterstützt, obwohl die Motive beider…«

»Das weiß ich doch längst alles!« stöhnte Georg Barringmore ergeben, denn zu einem seiner gefürchteten Wutausbrüche konnte er sich nicht entschließen. Nicht nur, weil er im Krankenbett lag, sondern weil ihm klar war, daß er den Falschen gefragt hatte. Der Mann war Sicherheitsexperte, also für seine Sicherheit verantwortlich. Aber es gab außer ihm wirklich keinen im Raum, den er stattdessen hätte fragen können. Seine Berater glänzten sämtlich mit Abwesenheit. Logisch, denn keiner hätte geahnt, daß er nach einer Woche bereits tatkräftig ins Weltgeschehen eingreifen würde…

»Entschuldigen Sie, guter Mann, ich will nicht ungerecht sein, denn ich verdanke Ihnen und Ihren Männern mein Leben - neben der Kunst der Ärzte. Aber würden Sie jetzt bitte meine Frage beantworten und mir nicht vorbeten, wie es zum Schwarzen Januar gekommen ist?«

Der Sicherheitsmann räusperte sich verlegen. »Äh, ja, Mr. Barringmore. Ich bitte um Vergebung, aber… Äh, also, dieser Tipor Gaarson hat es doch tatsächlich geschafft, einen Pakt ins Leben zu rufen - in Zusammenarbeit mit den Regierungen der übrigen Länder der Erde. Sie nennen ihn den Gaarson-Pakt. Und der Pakt schlägt vor - natürlich unter dem Vorsitz von Tipor Gaarson -, die Energiekonzerne sollten verantwortlich für die neue Energiegewinnung sein, und alle Staaten der Erde sollten gemeinsam die friedliche Anwendung zum Nutzen aller überwachen.«

»Ja!« rief Georg Barringmore begeistert. »Dieser Tipor Gaarson, dieser ausgebuffte Fuchs!« Und es war ihm jetzt erst recht klar, wieso keiner seiner Berater anwesend war. Die hatten anderes zu tun als am Bett ihres totkranken Bosses zu wachen. Die waren dabei, mit dazu beizutragen, daß der Pakt auch Erfolg hatte. Denn dann waren Macht und Einfluß von Georg Barringmore ungebrochen.

Zufrieden entspannte er sich in seinem Bett. Ja, er wußte dies auch ohne die entsprechenden Informationen, denn er hatte sowieso nur Berater um sich geschart, die ihm ergeben waren. Sie würden niemals etwas tun, was nicht in seinem Sinne gewesen wäre. Auch während er halbtot irgendwo in einem Krankenbett lag.

Und in seinem Sinne war es nun einmal, nur offiziell ein Gegner des Gaarson-Effektes zu sein, der seines Wissens sowieso für die Zukunft längst unabwendbar war, nachdem alle »Sofortmaßnahmen« nicht gegriffen hatten.

Im Gegenteil: Er war längst zu einem glühenden Befürworter geworden - rechtzeitig! Dabei hielt er sich eigentlich nur an das alte Sprichwort: »Wen du nicht kannst besiegen, den mache zu deinem Freund!« Tipor Gaarson hatte sich als schier unbesiegbar erwiesen - sogar für ihn. Also kam er jetzt nur noch als Freund in Frage. Georg Barringmore würde jedenfalls alles tun, damit Tipor Gaarson in seinen Bemühungen erfolgreich blieb. Nicht nur, um die schlimmste Krise seit Menschengedenken abzuwenden, sondern vor allem eben, um seine eigenen Pfründe zu sichern - und am Ende noch reicher und mächtiger zu sein als bisher!

Da öffnete sich die Tür, und Professor Eduard Hackenthal trat ein. Er wirkte aufgeregt.

Georg Barringmore schaute ihm irritiert entgegen.

»Sie fühlen sich gut?« fragte der Professor.

»Nein, nicht gut, sondern.. großartig!« antwortete Barringmore und grinste breit, um seine Worte noch zu unterstreichen. »Dank Ihnen, Professor!«

Der Professor reagierte nicht auf das Lob. Er trat neben das Bett seines Patienten und… zog die Atemmaske herunter. »Dann kann ich Ihnen etwas mitteilen, was wir nicht länger geheimhalten wollen: Wir haben Ihr Immunsystem Schritt für Schritt wiederhergestellt. Es gab keinerlei Abwehrreaktion gegen das neue Herz. Ein Phänomen, wenn Sie so wollen. Sie sind nicht nur ein absolut ungewöhnlicher Mensch, Mr. Barringmore, sondern Sie haben auch einen absolut ungewöhnlichen Körper. Man bedenke: Sie haben einen Schuß ins Herz überlebt! Dann bekamen Sie ein neues Herz, und das wird innerhalb weniger Tage von Ihrem Körper akzeptiert, als würde es sonst nirgendwo hingehören als genau in Ihre Brust. Als wäre Ihr Körper von einer besonderen Intelligenz beseelt, die ihm sagte: Dieses Herz darfst du nicht abstoßen, sonst geht es dir schlechter!«

»Wann kann ich wieder aufstehen?« erkundigte sich Barringmore ungerührt.

Der Professor schüttelte den Kopf.

»Ihr Herz ist akzeptiert. Die Operationswunden und auch die Schußwunde müssen noch ausheilen. Aber es gibt nicht die geringsten Komplikationen. Also werden Sie in ein paar Tagen herumlaufen können. Sie können sogar hier im Zimmer ein Büro einrichten, wenn Sie wollen. Dann bleiben Sie noch weitere zwei Wochen unter meiner Obhut, um alle Eventualitäten auszuschalten…«

»So lange ich die Möglichkeit zum Arbeiten habe, bin ich mit allem einverstanden, Professor!« sagte Barringmore ruhig.

Der Professor nickte ihm zu, wandte sich ab und verließ das Zimmer.

Ein ungewöhnlicher Mensch mit einem ungewöhnlichen Körper? Barringmore dachte es und schaute dem Professor nach. Er starrte auf die Tür, die sich hinter dem Arzt geschlossen hatte.

Dann wandte er sich ab. Diese Erklärung akzeptierte er nur allzu gern. Er kam gar nicht auf die Idee, etwaige Nachforschungen anzustrengen, was den Spender des Herzens betraf. Er hatte Wichtigeres zu tun - viel Wichtigeres!

Als nächstes mußte er einen seiner wichtigsten Berater her zitieren, damit der ihn ganz genau über alles ins Bild setzte, ehe vielleicht doch noch etwas schief ging dort draußen in der Welt…

*

»Du hast einen Fehler gemacht«, sagte Professor Eduard Hackenthal zu seinem Spiegelbild. Er befand sich in seinem Privatbereich, im Bad. »Du hättest dich gleich um jeden Organempfänger von Schmidt-Organen speziell kümmern sollen und hättest nicht warten dürfen, bis der Patient so bedeutsam wurde wie dieser skrupellose Barringmore.«

Daß er das Wort skrupellos benutzte und nicht im entferntesten auf die Idee kam, selber skrupellos zu sein, das fiel ihm überhaupt nicht auf.

»Dann hättest du gleich gemerkt, daß es mit Schmidt-Organen anders läuft als mit normalen Spenderorganen. Es gibt keine Immunabwehr, zumindest keine nennenswerte. Die Schmidt-Organe passen sich entweder an - oder sie zwingen den Empfängerkörper zur Anpassung…«

Er lauschte seinen letzten Worten nach - und erschrak darüber. Nein, es paßte überhaupt nicht ins wissenschaftliche Konzept. Aber es paßte ja auch nicht ins wissenschaftliche Konzept, daß es einen Spender gab mit nachwachsenden Organen. Das spottete sozusagen jeglicher Wissenschaftlichkeit.

Oder doch nicht?

Er legte die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. Es fiel ihm schwer, weil er sich anschickte, in Bahnen zu denken, die ihm ungewohnt waren. Er war ein Spezialist, seit Jahrzehnten schon, wenn man so wollte. Vom Unfallchirurgen, wo er schon ziemlich viel Ruhm eingeheimst hatte, war er zum plastischen Chirurgen avanciert. Manche sagten auch abwertend Schönheitschirurg dazu. Alles war ihm nicht genug gewesen. Bis er seine jahrelangen Erfahrungen und sein geniales Können der Organverpflanzung zur Verfügung gestellt hatte. So richtig erfolgreich wurde er da allerdings erst, nachdem er seine eigene Klinik gegründet hatte. Seine »Kunden« waren die Mächtigen und Reichen dieser Welt. Das hatte den Vorteil, daß auch er bald zu den Mächtigen und Reichen gehörte. Es hatte aber auch einen schlimmen Nachteil, was er viel zu spät bemerkt hatte: Ein Mächtiger und Reicher war es nicht gewöhnt, zu warten. Wenn also einer von denen ein Spenderorgan brauchte, dann wollte er dieses Organ SOFORT haben und nicht erst auf irgendeine Liste gesetzt werden. Das erzeugte einen mächtigen Druck - und die Versuchung, die Regelbehörde auszutricksen. Wenn es nach der ging, wurde nämlich keiner bevorzugt, auch wenn er noch soviel Geld und Einfluß hatte. Aber dann wäre Professor Eduard Hackenthal am Ende wahrscheinlich nicht nur bankrott, sondern ein toter Mann gewesen. Denn die Mächtigen und Reichen hätten es ihm nie verziehen, daß er sie einfach sterben ließ, nur weil es Regeln gab, an die sie sich sowieso niemals halten wollten.

Es hatte also mit Regelverletzungen begonnen. Hinzu waren illegale Organe gekommen, bei denen er zu fragen vergessen hatte, aus welchen Quellen sie stammten. Und alles dies gipfelte nunmehr darin, daß er einen jungen Mann als Organspender mißbrauchte, den er einfach zu diesem Zweck für tot erklärt hatte. Im Sarg bei der Beerdigung waren lediglich Steine gewesen. Er hatte den Angehörigen klar machen können, daß die Leiche zu übel zugerichtet war, als daß man sie noch zur Schau hätte stellen können.

Und jetzt war längst klar, daß dieser junge Mann bei seinem schweren Unfall allein schon deshalb nicht ums Leben gekommen war, weil er… nicht sterben konnte! Ein Unsterblicher also! Es sei denn, er wurde von einer Bombe in Fetzen gerissen. Dann konnte auch nichts mehr nachwachsen bei ihm.

Professor Eduard Hackenthal betrachtete sich im Spiegel. »Wir müssen trotzdem vorsichtig sein. Es wird auffallen, daß die Operierten schon nach einer Woche putzmunter sind. Eine völlig andere Prozedur als bei normalen Organverpflanzungen.«

Aber dann verunzierte ein breites Grinsen sein Gesicht: »Aber nein, nicht doch! Wieso vorsichtig sein? Es ist noch besser: Ich poliere meinen tadellosen Ruf als Arzt wieder auf. Meine Patienten werden heilfroh sein, wenn sie offiziell verbreiten dürfen, gar kein Spenderorgan empfangen zu haben, sondern daß es mir mit meinem genialen Können gelungen ist, sie von tödlicher Krankheit auch ohne zu heilen.«

Er stutzte und betrachtete sich genauer. In letzter Zeit ging es ihm nicht allzu gut. Er hatte es bisher verdrängt, daß seine Kräfte nachließen. Aber sein Spiegelbild ließ sich nicht länger leugnen: Er sah ungesund aus und - vor allem: stark gealtert!

»Kein Wunder«, krächzte er, »ich bin nun mal nicht mehr der Jüngste, und ich arbeite zuviel - schon immer. Ich habe praktisch überhaupt nicht auf meine Gesundheit geachtet, und das beginnt sich jetzt zu rächen. Wenn ich so weitermache, habe ich nicht mehr allzu lange, um meinen großartigen Ruf als Arzt und Heiler und die vielen Millionen zu genießen, die meine Konten füllen. Und ich kann es nicht mehr genießen, einen der mächtigsten Männer der Welt als Freund gewonnen zu haben: Georg Barringmore.«

Aber es gab einen Ausweg, und der lag so klar und deutlich vor ihm, daß er es nicht mehr mehr länger verdrängen konnte: Saß er nicht an der Quelle? Ja, diese Quelle war so unerschöpflich wie der neue Gaarson-Effekt, wenn es um Energiegewinnung ging. Und wo stand es denn geschrieben, daß diese topgesunden und verträglichen Organe nur an Patienten weitergegeben werden dürfen?

Doch, es gab eine Einschränkung: Er hatte eine andere Blutgruppe!

Aber es war kein Problem, herauszufinden, ob das wirklich ein Problem war. Er brauchte doch nur einen der Organempfänger, die sehnsüchtig und mit praller Brieftasche ausgestattet warteten, ein Schmidt-Organ zu verpassen, obwohl die Blutgruppe nicht stimmte. Und dann würde man sehen, was dabei herauskam.

Eigentlich hätte er Skrupel haben müssen bei einem solchen für den betreffenden Patienten lebensgefährlichen Vorhaben, aber Skrupel haben, das war sowieso etwas, was er sich schon länger abgewöhnt hatte, nicht erst seit heute.

*

Einen Tag später schon rief er eine Konferenz unter seinen engsten Vertrauten ein, um ihnen von seinem Vorhaben zu berichten. Er spielte das Risiko für den betreffenden Patienten herunter und wies auf die unglaublichen Gesundungsfortschritte des Industriellen Barringmore hin, der auf der Intensivstation ein regelrechtes Büro eingerichtet hatte, um beim internationalen Wirtschaftspoker wieder hautnah mitspielen zu können. Um was es dabei im Einzelnen ging, das interessierte die Ärzte herzlich wenig. Sie hatten ihre eigenen Vorstellungen, Hoffnungen - und Probleme, die sich hoffentlich als nichtig erweisen würden. Denn eine Stunde später wußte der betreffende Patient Bescheid, der nur noch in der Herz-Lungen-Maschine überleben konnte. Er gab natürlich sein Einverständnis, denn er war ja auch deshalb in der Klinik, weil er eben auf ein Spenderorgan hoffte, und dann mußte es sowieso immer schnell gehen.

Es ging sogar noch schneller als normal. Kein Wunder, denn an der bevorstehenden Operation war sowieso überhaupt nichts normal. Das begann damit, daß sie die Spenderlunge einem lebenden Organismus entnahmen, der sofort damit begann, eine neue Lunge wachsen zu lassen - schneller als je zuvor, dabei die Nährlösung regelrecht in sich aufschlürfend. Es war wie das Heranwachsen einer Pflanze nach der Saat. Nur ging das hier mit beängstigender Schnelligkeit. Die neue Lunge würde schon in wenigen Stunden absolut vollständig sein, als hätte es niemals eine Entnahme gegeben.