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Märchen und Träume - insbesondere Träume, die wie Märchen offenbaren -verlieren ihre Farben, will man sie erzählen, erklären oder analysieren. Andererseits lässt sich mit Hilfe von Märchen vieles leichter sagen als mit trockenen analytischen Beschreibungen. In wenigen Worten kann in diesen Märchen mehr Inhalt versteckt sein als in vielen Romanseiten. Die kleine Marie erfährt in Traumgesprächen mit einem zauberhaften Seiltänzer vieles von Lebensinhalten, von Schönheiten der Natur und auch von Liebe -mehr als mancher Erwachsene in vielen Lebensjahren erfährt. Wie wertvoll kleine Geheimnisse sein können, erfährt sie im Traum. Und im täglichen Leben wird ihr bestätigt, dass die Erwachsenen lächeln, will sie von ihren Traumerlebnissen erzählen. Die Eltern können die schillernden Farben der Träume nicht erkennen, doch sie ahnen vorsichtig und rücksichtsvoll - und möchten nichts zerstören. Am Ende verlieren sich die Träume. Der Seiltänzer nimmt Abschied, Tränen fließen und die Erinnerung an schöne Träume bleibt - als wunderschönes Geheimnis.
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Seitenzahl: 111
Das Mädchen und der Großvater
Der nächste Morgen
Die nächtliche Bekanntschaft
Das leere Bild
Der Tag
Das Wiedersehen
Der nächste Abend
Die dritte Begegnung
Der vergessene Gruß
Der Kinobesuch
Das Kornfeld
Der Sonntagmorgen
Ein schreckliches Erlebnis
Der nächste Morgen
Erinnerungen
Die Zeit bis zum Abschied
Die lange Winternacht
Am nächsten Morgen
Der Abschiedsgruß
Ein besonderer Tag ist heute. Die Mutter Marie`s hat Geburtstag – und wie jedes Jahr sind aus diesem Anlass Oma und Opa zu Besuch gekommen. Sie brachen deshalb ihren Urlaub an der See vorzeitig ab und da sie zurzeit kein eigenes Auto haben, hat der Vater Marie`s sie gestern am späten Abend abgeholt. Leider gab es großen Stau auf der Autobahn, so dass sie sehr spät eintrafen. Marie hatte sich vorgenommen, munter zu bleiben und lauschte in ihrem Bett ununterbrochen auf die bekannten Motorengeräusche, aber trotz des im Zimmer eingeschalteten Lichtes war sie eingeschlafen.
Erst am Morgen wurde sie durch das Klappern der Teller und Tassen in der Küche geweckt. Sofort war sie hellwach und wunderte sich, wieso die Nachttischlampe nicht mehr brannte, denn sie selbst konnte sie nicht ausgeschaltet haben. War die Mutter also doch bei ihr gewesen. Nun wird sie sich wieder die übliche Standpauke anhören dürfen - von wegen Energieverschwendung und so weiter. Aber heute ist ja Geburtstagsfeier, so dass es vielleicht nicht so schlimm wird.
Marie verschwindet schnell im Badezimmer, putzt sich die Zähne und noch im Nachthemd stürmt sie in das Gästezimmer, um die Großeltern zu überfallen. Dort findet sie nur den Opa, der leise schnarcht.
Marie piekt mit den Fingern in seine Fußsohle. Der Opa schreit auf und ist hellwach, lässt Marie unter seine Decke schlüpfen und beantwortet ihre Fragen. Nach wenigen Minuten schaut die Oma herein und ruft erstaunt:
„Ach, hier steckst du. Ich habe dich in deinem Zimmer gesucht!“
Noch während sie das sagt, ist Marie aus dem Bett gesprungen, auf die Oma zugelaufen und umarmt sie so heftig, dass sich beide auf das Bett fallen lassen müssen. Nun liegen sie alle drei in den weichen Federn und die Toberei beginnt, die, wenn es nach Marie gehen würde, den ganzen Vormittag anhalten könnte.
Die Mutter ruft aus der Küche:
„Beeilung! Der Kaffee wird kalt!“
Die Oma befreit sich als erste, springt trotz ihres Alters recht sportlich aus dem Bett und zieht Marie an ihren Füßen hinterher.
Der Opa verschwindet im Badezimmer und Marie zieht sich in ihrem Zimmer an, springt anschließend wie eine Wilde die Treppe herunter und gratuliert der Mutter zum Geburtstag.
Ein paar Minuten später sitzt die ganze Familie am Tisch und das gemeinsame Frühstück beginnt. Die Mutter Marie`s besteht darauf, dass erst der Frühstückstisch abgeräumt wird, bevor sie ihre Geschenke auspackt. Ordnung muss sein! Das ist ihr oberstes Gebot. Alle helfen, Marie am meisten, denn sie ist mehr gespannt als ihre Mutter. Schließlich erwartet sie, dass die Freude über ihr selbst gemaltes Bild alle anderen Geschenke, die in schön eingepackten Paketen versteckt sind, in den Schatten stellt. Tatsächlich greift die Mama sofort nach dem größten Geschenk, ihrem Bild, das sie gestern, bevor der Vater zu den Großeltern fuhr, mit dessen Hilfe in mehreren zusammengeklebten Bögen Geschenkpapier verpackt hat.
Der Papa hat ihr natürlich beim Einrahmen geholfen und gemeinsam, als die Mutter beim Einkaufen war, haben sie einen Platz im Flur ausgesucht, an dem es aufgehängt werden soll. Marie hat sich nicht getäuscht. Die Mutter freut sich riesig und bedankt sich mit Küsschen und Umarmung bei der Künstlerin.
Natürlich steht auch ein großer Blumenstrauß und eine brennende Kerze auf dem Geburtstagstisch. Während die Mutter die letzten Päckchen auspackt, verschwindet der Opa eilig aus dem Zimmer, kommt nach einigen Augenblicken zurück und überreicht Marie einen großen Zeichenblock, denn er weiß, dass Marie leidenschaftlich gern malt und sich die fantastischsten Sachen ausdenkt, um sie mit Stiften und Wasserfarben darzustellen.
Auch eine Packung neuer Buntstifte holt er aus seiner Jackentasche hervor und legt sie auf den Zeichenblock. Nachdem er Marie seine Bewunderung über ihr jüngstes Gemälde ausgesprochen hat, sagt er in einem geheimnisvoll flüsternden Ton:
„Marie, das sind Zauberstifte! Die Bilder, die du mit diesen Stiften malst, werden etwas ganz Besonderes sein.“
Marie packt die Stifte aus, macht ein paar Striche vorsichtig auf den Rand des Zeichenblocks und schnalzt erstaunt mit der Zunge, denn so schöne Stifte hat sie tatsächlich noch niemals gehabt.
Aber Zauberstifte? Nein, das dürfte wohl leicht übertrieben sein. Sie antwortet misstrauisch:
„Das glaube ich nicht, dass Buntstifte zaubern können. Du machst doch schon wieder Unsinn mit mir! Vorhin im Bett - da hast Du mich auch zweimal veralbern wollen.“
Der Großvater lächelt und hebt den Zeigefinger mit den Worten in die Höhe:
„Du wirst schon sehen, Marie!“
Mehr um den Opa zu trösten als selbst an ihre eigenen Worte zu glauben, sagt sie zu den Stiften:
„Ihr wartet schön mit dem Zaubern, bis ich Zeit für euch habe.
Dann will ich wissen, was ihr vielleicht doch für Hokuspokus machen könnt.“
Mit einer stürmischen Umarmung bedankt sie sich für das Geschenk, nimmt die Schachtel mit den Stiften und den Zeichenblock und bringt beides hoch in ihr Zimmer. Am Schreibtisch nimmt sie die Stifte vorsichtig einen nach dem anderen aus der Pappschachtel und stellt sie in den Becher, der auf ihrem Schreibtisch steht.
An der Tür dreht sich Marie noch einmal um und ruft zurück:
„Was könnte euch mein Zauberopa schon beigebracht haben?“
Bis zum Mittagessen hilft Marie der Mutter und Oma in der Küche. Sie hat sich für das Geburtstagsessen etwas ganz Besonderes ausgedacht. Sie lässt sich den Kartoffelkorb geben, geht in den Garten und schält sie nicht nur, sondern schnitzt in jede Kartoffel ein anderes Gesicht. Natürlich wird sie aufpassen müssen, dass die Kartoffeln nicht zu weichgekocht werden, damit die Überraschung auf den Tellern auch gelingen kann. Das Kartoffelschälen ist eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen - gleich nach dem Malen kommt das.
Die beiden Männer sind unterdessen in die Stadt gefahren, um sich in einem Autohaus über die neuesten Modelle zu informieren, denn der Vater Marie´s möchte sich ein neues Auto zulegen.
Nach ein paar Stunden trifft man sich wieder am ausgezogenen Esstisch, löffelt die Suppe, bestaunt die kleinen Überraschungskartoffeln, von denen einige weniger gelungen sind als erhofft.
Andere dafür, vor allem, wenn geschickt ein paar Kleckse Sauce in die Vertiefungen für Augen oder Münder geträufelt werden, sorgen für riesiges Gelächter. Die Mutter mahnt zur Beeilung, da kaltes Essen nicht gut schmeckt.
Die Suppe findet Marie besonders gut aber mit dem Fleisch ist sie nicht zufrieden, so dass sie nur mit ihren Kartoffelfratzen spielt, gelangweilt auf ihrem Teller herumstochert und das meiste übrig lässt. Marie findet auch, dass das Essen viel zu lange dauert und ärgert sich besonders über Opa und Papa, die sich ewig an mehreren Bierflaschen aufhalten und nur noch das Thema „Auto“ im Kopf haben. Zum Trost über diese sinnlos vergeudete Zeit darf Marie die Süßspeise der Mutter essen. Sie isst besonders langsam und tatsächlich wird das letzte Bierglas der Männer zur gleichen Zeit leer wie ihre Kompottschale.
Marie ist froh, dass man endlich zu einem gemeinsamen Spaziergang aufbrechen möchte. Die Sonne scheint und die Mutter rät Marie, ihr Fahrrad mitzunehmen, dann wird es nicht so langweilig. Marie ist froh über diese Idee und ohne jede Furcht fährt sie wenig später weit voraus, ohne daran zu denken, dass sich die Erwachsenen Sorgen um sie machen könnten.
Fast hätten die auch allen Grund zur Sorge bekommen, denn sie fährt zu schnell durch eine kleine Pfütze, von der sie nicht wissen konnte, wie tief sie ist. So schnell kann sie gar nicht denken, wie sie neben der Pfütze im Gras liegt. Zum Glück hat sie sich nicht nennenswert verletzt, kann jedoch nicht weiterfahren, weil der Lenker des Fahrrades völlig schief steht. Sie muss lange auf die anderen warten. Der Opa ist als erster bei ihr, tröstet sie und meint, den Lenker schnell wieder in Ordnung bringen zu können.
Er findet in ihrer Satteltasche das notwendige Werkzeug und Marie kann sich wieder auf den Sattel schwingen.
Während die anderen weiter wandern, läuft der Opa neben Marie, die nun beweisen darf, dass man auch langsam fahren kann.
Der Opa lobt sie nochmals wegen des wunderschönen Bildes und erzählt ihr, dass er in seiner Kindheit auch viel gemalt und gezeichnet hat und er Marie gern einmal seine Bilder von damals zeigen würde. Er hat sie alle aufgehoben. Marie freut sich über dieses Angebot und sie verabreden, wenn sie das nächste Mal bei den Großeltern zu Besuch ist, sich alles gemeinsam anzuschauen.
Nun ist es Abend geworden. Man sitzt gemütlich bei Unterhaltungen am Tisch. Marie ist bereits aufgestanden und in ihr Zimmer gegangen, denn so interessant findet sie die Gespräche der Erwachsenen nicht. Oben in ihrem Zimmer warten die Puppen, das Kasperltheater und viele Bücher auf sie.
Auf ihrem Schreibtisch sieht sie den neuen Zeichenblock und die „Zauberstifte“ - die ja sowieso nicht zaubern können. Das kann es doch gar nicht geben!
Sie hat über den vielen Erlebnissen des Tages die Stifte und den großen Zeichenblock völlig vergessen. Nun schlägt sie die erste Seite des Blockes auf, überlegt einen Moment und beginnt zu malen. Ein Fahrrad entsteht, ein kleines Mäuschen schaut zwischen grünem Gras hervor. Am Himmel entstehen Wolken, hinter denen die Sonne mit ihren warmen Strahlen hervor blinzelt. Blumen beginnen auf der Wiese zu wachsen. Rot und blau reihen sie sich lustig aneinander. Zwischen den Blumen radelt sie selbst auf einen Spielplatz zu. Schnell malt sie noch ein großes Klettergerüst.
Da dieses Gerüst etwas komisch aussieht, wird ein großer Baum daneben gestellt.
Während sich nach und nach das ganze Blatt mit Farben füllt, klopft es leise an die Tür.
„Ja!“, ruft sie. Der Opa ist bereits hereingekommen, schaut auf das Bild und sagt:
„Der ganze schöne Tag ist auf dem Blatt entstanden. Nur den großen Pilz hast du vergessen, den wir gemeinsam am Waldrand entdeckt haben.“
Der Opa nimmt den braunen Stift und setzt einen dicken Pilz unter den Baum. Marie ruft:
„Das ist nicht richtig! Der Pilz stand im Wald und nicht auf dem Spielplatz!“
Der Opa schaut Marie etwas ratlos an, denn er hat tatsächlich diesen wichtigen Umstand nicht beachtet. Aber wie das mit den Erwachsenen immer ist, die finden schnell eine Lösung, wenn sie etwas Falsches gesagt oder getan haben.
„Entschuldigung, Marie! Die Blumen, die du gemalt hast, standen aber auch nicht mitten auf dem Radweg. Und noch dazu sind sie größer als dein Fahrrad!“
Marie muss zugeben, auch nicht alles so gemalt zu haben, wie es in Wirklichkeit war und winkt mit den Worten ab:
„Ist ja nicht so wichtig.“
Sie denkt nach und sagt nach einer kurzen Pause spitzfindig:
„Du hast gesagt, dass das Zauberstifte sind. Also waren es die Stifte, die falsch gemalt haben und nicht ich!“
„Du Schlingel!“,
bekommt sie zur Antwort. Der Opa bückt sich zu Marie herunter und drückt sie zum Abschied ganz fest an sich. Marie gibt ihm einen feuchten Kuss auf die Wange.
„Auf Wiedersehen, Opa.“
Der geht die Treppe herunter und nach einer Weile kommt die Oma zu Marie, um sich ebenfalls von ihr zu verabschieden. Von der Oma erfährt sie, dass sie morgen nach der Schule bei ihr Mittag essen kann. Marie ruft ihr nach:
„Toll, Oma! Bis morgen!“
Marie steht nochmals auf, um sich ihr neues Kunstwerk anzusehen, ergänzt ein paar Striche und gähnt. Müde ist sie von dem langen, wunderschönen Tag geworden.
Sie zieht sich aus, geht in das Badezimmer, wäscht sich, putzt sich die Zähne.
Sekunden später steht sie vor dem Bett und lässt sich wie ein Brett hineinfallen. Es kracht fürchterlich. Sie wartet auf die Mutter, die ihr wie an jedem Abend noch Gute Nacht sagen wird.
Die Mutter kommt tatsächlich wenig später zu ihr, um ihr den Gutenachtkuss zu geben. Bevor sie das Licht ausschaltet, sieht sie Maries jüngstes Bild auf dem Tisch liegen und sagt im Herausgehen:
„Ein schönes Bild, Marie!“
Marie steht noch einmal auf und sieht sich im halbdunkeln Zimmer das Bild an, nimmt die herumliegenden Stifte und stellt sie ordentlich mit den Spitzen nach oben in den Becher.
Sie legt sich zurück in das Bett, aber dieses Mal ohne Krach und wünscht sich, möglichst schnell einzuschlafen.
Die Mutter öffnet leise Maries Zimmertür, tritt auf Zehenspitzen ein, kniet auf dem Teppich vor dem Bett nieder und streicht dem Töchterchen ganz leicht über das Haar.
Es vergehen einige Sekunden und Marie schlägt verschlafen die Augen auf. Die Mutter beugt sich zu Marie herab und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Sofort schlingen sich zwei Kinderarme um den Hals der Mutter.
Marie reibt sich die Augen und beginnt aufgeregt der Mutter zu erzählen, was sie in der Nacht erlebt hat.
„Das glaubst du nicht, Mama, was hier heute Nacht los war. So einen Traum habe ich noch niemals gehabt!“
Die Mutter ist neugierig und möchte wissen, was da so aufregend war und fordert Marie auf:
„Erzähl schnell, bevor du die Zusammenhänge vergessen hast. Du weißt: Träume verschwinden ganz schnell aus dem Gedächtnis.“
Marie versucht zu berichten, merkt aber beim Suchen nach Worten, dass die Erlebnisse der Nacht bereits verblassen. Sie findet die richtige Reihenfolge nicht mehr.