Margarethe - Thorolf Kneisz - E-Book

Margarethe E-Book

Thorolf Kneisz

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Beschreibung

Adaption zur Gretchentragödie-Faust I von Johann Wolfgang von Goethe. Die Erzählung -Margarethe- nimmt die Faust-Thematik auf und stellt sie unter Hinzufügungen und Weglassungen in eine nicht genau definierte Zeitepoche, wenn auch das 20. Jahrhundert nicht zu leugnen ist. Diese dramatische Geschichte hat sich durch die Zeiten derart oft vergleichbar wiederholt und wurde wieder und wieder Vorlage für Romane, Schauspiele, Filme. Junges Mädchen lernt Mann kennen, große Liebe entflammt, ein oder mehrere Erwachsene wollen Schlimmeres verhindern und in angeblichem Verantwortungsbewusstsein boykottieren sie die junge Liebe, überschätzen dabei ihre Macht und beschwören das Unheil für alle Beteiligten herauf. Am Ende siegt das große Unglück im Chaos. Die Bösen sind besorgte Elternteile, religiöse Konventionen, Eifersüchteleien, Geld- und Machtgier. Die Voraussetzungen im Faust-Thema sind natürlich weitreichender. Hier geht es um die Wette zwischen Gott und Teufel, bzw. um den Pakt zwischen diesem Teufel mit Faust, in dem das Mädchen Margarethe zum Spielball wird und am Ende geopfert wird. Aber das sind Handlungen, die außerhalb der eigentlichen Tragödie liegen. Fausts Empfindungen dem Mädchen gegenüber sind ehrlich, auch wenn er im Hintergrund stets von Mephistopheles abhängig ist.

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Seitenzahl: 287

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Die Erzählung „Margarethe“ nimmt die Thematik „Faust - Gretchen“ aus „Faust I“ von Johann Wolfgang von Goethe auf und stellt sie unter Hinzufügungen und Weglassungen in eine undefinierte Zeit des 20. Jahrhundert.

Diese dramatische Geschichte hat sich oft vergleichbar wiederholt und wurde wieder und wieder Vorlage für Romane, Schauspiele und Filme.

Junges Mädchen lernt Mann kennen, große Liebe entflammt, ein oder mehrere „Erwachsene“ wollen „Schlimmeres“ verhindern und in angeblichem Verantwortungsbewusstsein boykottieren sie die junge Liebe, überschätzen dabei ihre Macht und beschwören das Unheil für alle Beteiligten herauf. Am Ende siegt das große Unglück und alles „Gutgemeinte“ versinkt im Chaos. Besorgte Elternteile, religiöse Konventionen, Eifersüchteleien, Geld- und Machtgier müssen am Ende vor der Macht der Liebe kapitulieren oder die Liebenden enden in Tod und Verzweiflung.

Inhaltsverzeichnis

„Margarethe“

Die Begegnung

Das Mädchen

Am Abend

Martha

Im Garten

Erste Sorgen

Am Bach

Am See

Die Ernüchterung

Die Entscheidung

Die erste Nacht

Am Taufbecken

Die Mutter

Am Abend

Die zweite Nacht

In der Stadt

Der letzte Tag

Der Traum

Die letzte Nacht

Der Schafhirte

Alltag

Neues Leben

Der Traum „Das Urteil“

Martha

Das Kind

Abschied vom Hirten

Das Tagebuch

Die Tat

Der Hirt

Das Urteil

Gewalt

Heinrich

Epilog

„Faust I / Gretchen-Tragödie“

Straße

Abend

Spaziergang

Der Nachbarin Haus

Straße

Garten

Ein Gartenhäuschen

Wald und Höhle

Gretchens Stube

Marthes Garten

Am Brunnen

Zwinger

Nacht

Dom

Walpurgisnacht

Trüber Tag ; Feld

Kerker

DIE BEGEGNUNG

Der Marktplatz einer kleinen mittelalterlichen Stadt mit seinen lieblich anmutenden Fachwerkgiebeln, bunt bemalt, mit roten Ziegeln bedeckt und den Rauchwölkchen, die sich aus den kleinen Schornsteinen in die kühle Morgenluft kringelnd emporwinden, ist der Schauplatz des folgenden Zusammentreffens dreier Menschen. Frühling ist es und der Sonntagmorgen wartet auf die ersten Sonnenstrahlen, um die Kühle der Nacht zu beenden, den Tau auf den Blumenrabatten und die Wasserlachen, die der nächtliche Regen auf den Straßen und Plätzen hinterlassen hat, aufzulecken.

An der Stirnseite des Marktplatzes befindet sich das größte und wichtigste Bauwerk der Stadt - die alte ehrwürdige Kirche, die schon Hunderte von Jahren steht und jeden Bewohner dieser Stadt in seinen guten und schlechten Tagen kennengelernt hat. Zur Heimat ist diese Stätte geworden für die vielen, die fromm ihrem Herrn dienen. Sie wirkt zu groß für das kleine Städtchen. Früher einmal war sie Mittelpunkt eines großen Klosters und hatte damit die Berechtigung, groß und die gesamte Umgebung beherrschend zu sein. Jetzt thront sie wie ein Koloss mit ihren den Raum der Stadt bestimmenden beiden hohen spitzen Türmen, die sich wie drohende Finger in den Himmel recken. Die Klostergänge und das wunderschöne Gärtchen inmitten des Geländes werden nicht mehr von ergeben ihrem Gott dienenden Mönchen gepflegt. Die einfachen Menschen sind es, die sich der Blumenrabatten und Hecken angenommen haben, in ihnen spazieren und ausruhen, um Kraft und Lust für den nächsten Tag zu schöpfen.

Man flüchtet heute wie in allen vergangenen Zeiten mit seinen Sorgen zum Altar mit dem am überdimensionalen Kreuz hängenden bunt bemalten Erlöser, lässt sich seine Sünden vergeben und macht sein Gewissen frei für neue - geplante und nicht geplante.

Nach wie vor wird hier neues Leben in den Kreis der Frommen aufgenommen und altes, verwelktes Leben feierlich verabschiedet.

Auch an diesem Sonntagmorgen erledigen sie alle, zumindest die meisten von ihnen, ihre Andacht. Hier wird die graue Masse zum Ganzen, zu Einem. Hier wird für einige Momente der Alltag abgelegt und eingetaucht in den großen Chor der Vereinheitlichung vor dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist.

Nach der inneren Erbauung, nach den Chorälen, die die Herzen im Takt mitschwingen lassen, schwirren sie auseinander wie die schlanken, dicken, hungrigen und satten Fische nach der Predigt eines Heiligen Antonius. Ein jeder verkriecht sich zurück in seine eigene kleine Welt, in seine Höhle, in seine ungelösten Probleme, in seine Schmerzen, in seine Neugier, in seinen Hass und manches Mal auch in seine Liebe.

Dieser zentrale Ort der Gemeinschaft, der so oft der Schizophrenie zum Opfer fällt, das Gute zu wollen, aber das Böse zu fördern, wird zum Ausgangspunkt der Geschichte um ein Menschenpaar, zum Auftakt des schüchternen Entzündens menschlicher Zuneigung.

Durch die Mauern und Fenster des riesigen Bauwerkes dringen die kräftigen Schlussakkorde des Orgelchorales in die friedliche Stille des Marktplatzes. Nicht, dass sie die Ruhe der Stadt stören, aber sie wirken dissonant im Wechselgesang mit den zarten Vogelstimmen, die aus den Baumkronen heraus versuchen, sich mit ihrem Gezwitscher dieser Übermacht an Klang entgegenzustellen.

Noch versteckt sich die Sonne hinter dem gewaltigen Kirchenschiff und lässt die bunten Kirchenfenster in einen Glanz von Ewigkeit tauchen und den begonnenen Tag nach ähnlichen, wenn auch kaum erreichbaren Farben drängen. Wenige Sekunden herrscht Ruhe bis die Kirchenglocke ertönt, erst leise aber von Schlag zu Schlag an Macht zunehmend.

Auf dem Markplatz sind zwei Männer aus einer der schmalen Gassen erschienen. Vielleicht wurden sie angelockt durch die tönende Kirchturmglocke, vielleicht auch nur, um den kühlen Morgen in seiner Frische zu genießen. Beide sind elegant gekleidet und mögen etwa dreißig Jahre alt sein.

Der eine der beiden fällt auf, weil etwas an ihm ungewöhnlich bunt ist, aber er ist ebenso wie der andere im hellen eleganten Anzug bekleidet aber mit rot leuchtender Krawatte und sauberen weißglänzenden Schuhen. Ob es Hemd, Krawatte, Anzug, Schuhe oder gar der lange Schirm ist, den er über dem Arm gehängt schlenkernd mit sich führt - irgendwie passt eines nicht zum anderen. Außerdem fällt auf, dass sein roter Backenbart eine Rasur dringend nötig hätte. Alles in allem, sein Anblick lässt unwillkürlich einem das Schmunzeln in die Mundwinkel fahren. Der Zweite dagegen wirkt in seiner Eleganz einem Modejournal entsprungen. Groß von Statur, lässig sein Gang, sauber rasiert, mit langem Haar, das seine Ohren umspielt und sich über dem Kragen seines Anzuges wellenförmig ausbreitet. Man möge sich das Mädchen vorstellen, dass nicht ein zweites Mal bei einer solchen Erscheinung hinschaut.

Die beiden schlendern von der einen zur anderen Seite des Platzes, bleiben vor einem Schaufenster stehen und schauen sich gelangweilt ohne erkennbares Interesse die Auslagen an. Sie erreichen den großen Brunnen, den drei Schwäne mit Wasser füllen und bleiben mit den Fingern im klaren Wasser spielend an der Brunnenmauer stehen.

Der Buntere steht mit Blick zur Kirchentür, die sich öffnet und die Schar der noch andächtig Verklärten ins Freie entlässt. Bestimmt hat er keinen Grund, sich zu verstecken, aber es drängt ihn, den Freund in den Sichtschatten der Schwäne zu schieben, um sich damit dem Blick der Stadtbevölkerung zu entziehen. Beobachten ist schöner als beobachtet zu werden. Alle, die da aus der schwarzen Öffnung des riesigen Bauwerkes an das Tageslicht strömen, sind sonntäglich gekleidet, die Herren vornehmlich in ihren besten Anzügen. Bei einigen kann man vermuten, dass alle Säume und Reserven eines einstigen Tanzstundenanzuges zum Anpassen an die veränderten Körpergrößen ausgeschöpft wurden. Anders bei den Damen. Hier ist schon eher aktuelle Mode zu erkennen. Viel Eleganz in Grau und Schwarz ist zu sehen, nur wenige bunte Farben, denn man möchte keinen Grund zu Klatsch und Tratsch geben. Alle strömen über den Marktplatz in die unterschiedlichsten Richtungen. Nur kurz bilden sich kleine Gruppen, die sich voneinander verabschieden, sich einen schönen Sonntag wünschen oder, was bei einigen der Männer zu vermuten ist, gemeinsam in eines der Wirtshäuser zu gehen, um dort in aller Gemütlichkeit die Zeit zu überbrücken, die die Frauen benötigen, um das Sonntagsmahl zu bereiten.

Die Letzten sind verschwunden und der Marktplatz ist von gleicher Einsamkeit wie vorher. Stiller sogar, denn Kirchenglocke und Orgel sind verstummt. Die Sonne ist über die hohen Giebel der Kirche geklettert und beginnt ihr Tageswerk, jeden Baum, jeden Stein und jeden Menschen mit Licht und Wärme zu überschütten.

Die beiden Herren sind interessiert, die Kirche anzusehen, denn die mittelalterlichen Glasfenster haben hohen Bekanntheitsgrad und sind vielbesprochenes Thema eines jeden Reiseführers.

Noch bevor sie sich in Bewegung setzen, entdecken sie, dass sie keineswegs allein auf dem Marktplatz sind.

Ein Mädchen, schon mehr junge Frau, kommt ins Spiel oder anders gesagt, mit ihr kommt das „Spiel“ in Gang.

Sie fühlt sich unbeobachtet und die beiden Herren treten diskret zurück hinter einen der großen Schwäne, um nicht gesehen zu werden - aber beobachten zu können.

Ihr Gesicht strahlt natürlichen Liebreiz aus. Sie ist jung, sehr jung, vielleicht siebzehn Jahre, auf keinen Fall bereits zwanzig. Das blonde lange Haar hat sie zum Kirchgang wie üblich, nein, um der Konvention zu gehorchen, aufgesteckt und mit einem schmalen Band zusammengehalten.

Sie trägt ein sehr strenges graublaues Kostüm mit leicht taillierter Jacke. Der enge knöchellanger Rock betont ihre schlanke Figur. Das Kopfband und die halbhohen Schuhe sind von etwas dunklerem Grau als die Farbe des Kostüms, unter dem sie eine weiße, klassisch streng geschnittene Hemdbluse trägt. Trotz aller Strenge der Bekleidung ist ihre Kindlichkeit nicht zu leugnen.

Als sie aus dem Kirchentor trat, bemerkte sie erstaunt, dass sie allein auf dem großen Marktplatz ist. Sie hat sich noch die Beichte abnehmen lassen. Sehr schnell ging das, so schnell, dass sie noch das Bedürfnis verspürte, vor ihrer Lieblingsstatue in einem der Seitenaltäre, ein kleines Gebet kniend zu sprechen, während die anderen die Kirche eilig verließen. Sie empfindet wohltuend die aufkommende Wärme des Frühlingsmorgens, denn in der Kirche war es kalt und sie fror, dass ihr die Zähne bei den Gebeten aufeinanderschlugen und sie über sich selbst lachen musste. Nun umfängt sie der Feiertag in seiner angenehmen Sorglosigkeit. Sie hat den Drang, sich zu recken, die Glieder zu strecken, sich Bewegung zu verschaffen, innerer Freude Ausdruck zu geben. Sie zieht sich die Jacke aus, knöpft sich die oberen beiden Knöpfe ihrer Bluse auf und beginnt, wie ein Kind über zwei kleine Pfützen, die der nächtliche Regenschauer hinterlassen hat, zu hüpfen. Ihre Jacke schlenkert sie dabei um sich herum. Sie wird sich ihres Übermutes bewusst und schaut ängstlich um sich, jemanden zu suchen in der Hoffnung, niemanden zu finden, der ihre Kinderei beobachtet haben könnte. Natürlich, wie sollte es anders sein, treffen sich zwei Blicke. Der Elegantere von beiden, er soll bei dieser Gelegenheit mit dem Namen Heinrich F. vorgestellt werden, fasst im Moment des Blickkontaktes den Mut, diese Schöne anzusprechen, ihr vielleicht zu sagen, was sie soeben für ein reizendes Bild abgab - oder sollte er sich für die heimliche Beobachtung ihres Kinderspieles entschuldigen.

Er nähert sich ihr bis auf zwei Schritte und treibt der Erschreckenden die Schamröte in die Wangen. Der andere, der buntere, bleibt diskret hinter dem Brunnen versteckt.

Sie steht wie angewurzelt vor dem fremden Mann - sprachlos. Man hat sie beobachtet, man hat sie einfach angesehen, man schaut ungeniert weiter auf sie. Sie fühlt sich wie entblößt. Sie muss etwas tun, sie kann nicht einfach so stehenbleiben und warten, was noch passieren soll. Instinktiv zieht sie ihre Kostümjacke an und streicht sich die kleine Locke aus dem Gesicht, von der sie nicht einmal weiß, ob sie sich schon wieder, wie es ihre Angewohnheit ist, aus der widerspenstigen Frisur gelöst hat. Sie überlegt blitzschnell, flieht sie in die Gasse nach rechts oder in die Gasse nach links. Bevor sie die Entscheidung treffen kann, geschieht das wohl Unvermeidbare.

Der Herr kommt einen weiteren zwei Schritt auf sie zu.

Sie durchblitzt der Gedanke, dass dieser Fremde bestimmt ein Gelehrter ist und sie hoffentlich nur nach dem Wege fragen wird. Weiter kann sie nicht denken, denn nun muss sie parieren. Der vornehme Herr entschuldigt sich nicht, fragt nicht nach dem Weg und macht auch keine Komplimente.

Lächelnd spricht er sie an:

„Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“

Sie schaut ihn an, überlegt kurz, woher ihr diese Worte bekannt sind, entdeckt schnell ihren Ursprung und stellt insgeheim für sich fest, dass der junge Herr zwar sehr gebildet sein muss, aber dass ihm nichts Eigenes einfällt und er auf Zitate zurückgreifen muss, ist doch etwas schwach.

Diese kleine Enttäuschung nimmt ihr etwas von der Scheu, macht ihr Mut, so dass sie das begonnene Spielchen mitspielt. Mit einem kecken Unterton, aber ohne eine Miene zu verziehen oder gar ein Lächeln aufkommen zu lassen, nimmt sie das Zitat auf und pariert mit dem auf diese Worte folgenden Text:

„Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehn.“

Sie bemerkt das überraschte Zucken im Blick des Unbekannten und hat sofort das sichere Gefühl, so absolut ins Schwarze getroffen zu haben, dass es sie stolz macht, stolz und viel erwachsener als sie sich noch vor Sekunden fühlte.

Beide schauen sich an, als würden sie auf den Einsatz eines Dirigenten warten, um über den gelungenen Scherz lauthals zu lachen. Wie erleichtert fühlen sich beide, dass dieser Einsatz kommt. Nur woher? Er ist plötzlich da. Etwas in ihren Blicken muss ihre Herzen synchronisiert haben und lässt sie loslachen. Zwei Menschen, die sich noch nie begegnet sind, freuen sich über einen kleinen Scherz und in diesem Lachen beginnt sich in ihnen etwas zu verbinden, eine erste Gemeinsamkeit, ein Anfang.

Beide fühlen sich im Ausklingen ihres Lachens erleichtert. Er schaut sie an. Sie schaut ihn an. Sie schweigt und dem jungen Herrn hat es die Sprache verschlagen vor Verwunderung - oder Bewunderung. Der junge Herr steht vor diesem Mädchen, von dem er nichts weiß, als dass es wunderschön ist, und bleibt sprachlos

Er schaut in ihre Augen, schaut auf ihren Mund und ist zu keiner weiteren Reaktion fähig. Ihr Anblick und das kleine witzige Wortspiel haben ihn zur Fassungslosigkeit überrumpelt. Sie schweigen sich an für zwei, vielleicht auch drei lange Sekunden. Ohne zu überlegen, öffnen sich ihre Lippen ein wenig und lassen einen schmalen Streifen vom Weiß der Zähne sichtbar werden. Ein Lächeln, ein freundliches Lächeln, gepaart mit einem winzigen Anflug von Spott, strahlt ihm entgegen. Sie lächelt dieses Lächeln, dreht sich flink um, macht eine etwas zu forsch wirkende Bewegung mit der linken Schulter und läuft davon, nicht hastig, aber sie läuft mit dem Bewusstsein einer Frau, die weiß, dass der Blick eines Mannes sie verfolgt. Sie fühlt einen bisher unbekannten Stolz, als wäre sie geweckt aus einem Schlaf, den nur Kindlichkeit kennt. Sie fühlt, etwas mehr Frau geworden zu sein oder zumindest zu werden.

Die Schöne verschwindet in einer der Gassen unter dem Zwang, sich nicht umzuschauen zu dürfen.

Ein begossener Pudel steht nun inmitten des Marktplatzes einer kleinen verträumten Stadt und schaut dem Entschwinden eines Traumes nach. Er schaut ihr nach, fühlt sich außerstande, irgendetwas zu tun, sie aufzuhalten oder ihr zu folgen. Ihm ist, als würden sich nichterahnte Himmel vor ihm auftun. Unfassbares geschieht mit ihm. Kann es so etwas Schönes auf dieser Welt geben? Wo hat er bisher nur gelebt? Wie hat er bisher gelebt? Hat er noch nie eine Frau, ein Mädchen angesehen? Scheinbar nicht. Diese Erscheinung ist so voller Liebreiz, so voller Anmut. Ein einziges Entzücken geht von ihr aus! Eine „Rahel“ hatte er soeben vor sich. Er fühlt einen „Jacob“ in sich. Aber bitte nicht vierzehn Jahre um diese Göttin dienen und kämpfen und sich gedulden müssen, rast es ihm als Folge dieser Gedankenassoziation durch den Kopf. Vor tausenden von Jahren hat sich das zugetragen. Zumindest steht es so geschrieben im Buch aller Bücher. Die Schönheit mit den großen Augen und dem so vollen, aber zarten Mund ist aus dem Alten Testament zu ihm gekommen. Er fühlt sich von langer mühseliger Reise am ersehnten Brunnen angekommen. Muss nicht ein Brunnen in der Nähe sein? Diese Frage zwingt ihn, sich umzuschauen. Ja, aber wo ist der Krug? Wo ist der Durst in ihm, der dieses Wunder von weiblicher Schönheit um Wasser für seine trockene Kehle hätte bitten können? Oh, diese Liebliche, die seine Seele zu öffnen begonnen hat. Er fühlt sich außerhalb seines Selbst und spürt, dass er sich verliert in nicht enden wollenden Träumen.

Er erwacht langsam aus seiner Hypnose, schaut an sich herunter als müsste er prüfen, ob er wirklich er selbst ist, denn war er soeben nicht weit weg in einer anderen Welt? Hat er nicht einen wunderbaren Traum geträumt? Aber nein, er steht hier vor einer Kirche, die ihm bekannt erscheint, auf einem Platz und neben ihm steht der Freund.

Doch er sieht ihn nicht mehr. Allein gelassen ist er mit seinem Traum. Alles in ihm ruft:

„Sagt mir, ihr Götter, dass es kein Traum war, bitte sagt es!“

Alle Himmel möchte er darum anflehen.

„Zeigt mir den Weg zu dieser Einen! Ich fühle mich so schwach, schwach, aber erlöst. Es ist ein so unsagbar schönes Glücksgefühl in mir. Helft, helft mir zu ihr, dieser Wunderbaren!“

Da wird er plötzlich schmerzhaft am Arm gegriffen. Der Freund ist zurückgekommen von einer kleinen Erkundungsreise. Er hat die Funken gesehen, die zwischen vier Augen hin und her sprangen und ist dem Mädchen, das scheu wie ein Reh nach Hause sprang, soweit gefolgt, dass er berichten kann, wo die Schöne ihr Zuhause hat.

Heinrich F. schaut in das leicht spöttisch grinsende Gesicht des Freundes, nicht ahnend, dass dieser weit mehr weiß, als er sich träumen lässt. Dem anderen macht es offensichtlich Spaß, den Fisch an der Leine zappeln zu lassen, ihn zu reizen. Erst nach langen Minuten erfährt Heinrich F., dass sein Leben ein konkretes und erreichbares Ziel bekommen hat und das dank des Freundes sogar mit Straße und Hausnummer. Den Namen der Schönen weiß er noch nicht. Aber das wird sich hoffentlich bald in Erfahrung bringen lassen.

Beruhigt lässt sich der plötzlich zum Schwerenöter Gewordene vom Freund mitnehmen. Beide verschwinden in einer der Gassen und haben das Vorhaben, einen Blick in die Kirche zu werfen, vergessen.

Kurze Zeit später sieht man sie in einem Wirtshaus sitzen und angeregt diskutieren. Lauscht man, so geht es um nichts anderes, als alle Wege und Möglichkeiten auszuloten, die Sehnsucht, die von Heinrich F. Besitz ergriffen hat, zu stillen. Der Freund ist, zumal die Angelegenheit ihn nur am Rande betrifft, realer in seinen Vorschlägen und nach einigem Hin und Her ist eine Strategie zurechtgelegt.

Der Freund wird weitere Informationen besorgen und er, Heinrich F. wird erst einmal zum Warten verurteilt. Der sieht nur noch ihr Bild vor sich und dieses Bild wird zum Idol. Ihm wird sogar mit Bangigkeit die Frage bewusst, ob er bei einem etwaigen Wiedersehen nicht vielleicht eine Enttäuschung erfahren könnte. Kann nicht jede Begegnung unter anderen äußeren Umständen andere Wirkungen erzielen? Nein, das kann nicht, das darf nicht auf dieses wunderbare Geschöpf zutreffen. Mag da kommen, was will. Es ist nur dieses Bild, das ihn rasend macht - nur dieses Bild, das sich in ihm festgebissen hat und ihm so wunderbare, so schöne Schmerzen bereitet. Seine Seele ist zu einem einzigen bittenden Flehen geworden.

DAS MÄDCHEN

Die „Schöne“ ist nach Hause geeilt, ohne sich umzusehen. Sie ahnt nicht, wie sehr sie das Innenleben eines Mannes durcheinandergewirbelt hat. Wie gern hätte sie noch einmal in dieses lächelnde Gesicht geschaut, das ihr auf dem Marktplatz entgegen strahlte. Aber es soll wohl nicht sein. Nein, es darf auch nicht sein!

Die bisher nur als Schöne betitelte soll nicht länger namenlos bleiben. Margarethe heißt sie. In ihrem Zimmer angekommen steht sie vor dem Spiegel, schüttelt den Kopf, dass sich die Haare aus ihrer kunstvollen Feiertagsdressur lösen und ihr um den Kopf schlagen. Sie öffnet das Fenster und schaut sich herausbeugend zurück, auch wenn sie weiß, dass ein Blick zum Marktplatz von ihrem Fenster gar nicht möglich ist. Dass sie verfolgt und beobachtet wurde, ist ihr entgangen.

Die Einrichtung ihrer Stube besteht aus einem schlichten Holzbett, das an der Wand gegenüber dem Fenster steht - mit kariertem Bettzeug in hellblauen Farben. Bettbezug, Kissen und Federbett sind aufs Ordentlichste akkurat faltenfrei zurechtgestrichen. Das kleine Fenster ist eingerahmt von Gardinen, deren Farbe der des Bettzeuges angepasst sind. Sie wedeln leicht im Windzug vor dem geöffneten Fenster. Neben dem Kopfende des Bettes befindet sich die Tür, weiß gestrichen mit etwas dunkler abgesetztem Türrahmen. Links neben dem Fenster steht eine kleine Kommode mit einem darauf stehenden Bücherbord, das mit zehn Büchern bestückt ist. Ein Kleiderschrank befindet sich noch im Zimmer und ein Tischchen mit einem dazu passenden Stuhl. Alles sind Requisiten einer kleinbürgerlichen Ordnung. Der Wandschmuck besteht lediglich aus einem goldenen schlanken Kreuz, das über dem Kopfende des Bettes hängt. Auf dem Tischchen steht in einer zylindrischen Glasvase ein Strauß mit fünf großen rotgelben Rosen.

Ihr gelingt es nicht, die Begegnung einfach weg zu tun, als wäre nichts weiter gewesen. Dieser Unbekannte will nicht fort aus ihren Gedanken. Was war das nur, was da vor wenigen Minuten geschah. Sie wundert sich kopfschüttelnd.

Um sich schauend kommt jedoch die Realität in sie zurück. Die häuslichen Pflichten rufen. Aber bei jedem Handgriff spürt sie die Gegenwart dieses Fremden. Sie ertappt sich dabei, einfach nur so auf dem Bettrand zu sitzen und ihre Gedanken zu einem Menschen zu lenken, der ihr fremd ist, aber mit jedem dieser Gedanken bekannter wird.

Wie gern träumt sie. Schon als Kind benötigte sie nur den Beginn eines Märchens, um sich in dessen Fortsetzung hineinzuleben, als wäre es ihr höchst eigenes Märchen. Wie weit wanderte sie fort in unendliche Weiten wie auch in tiefste Höhlen ihres eigenen Ichs. Ja, sie hatte es lieben gelernt, Träume zu haben. Doch Träume wurden niemals Wahrheit. Aber das, was sie heute Morgen erlebte, war Wirklichkeit. Oder war es doch nur Traum?

Nein, es war nicht nur geschehen, es war auch wunderbar schön gewesen. Hat sie sich dumm benommen? War sie nicht sehr frech zu dem fremden unbekannten Herrn gewesen? Sie hat ihn vor den Kopf gestoßen. Aber wenn ja, hätten sie dann beide so herzlich über die albernen Worte lachen können? Doch, alles war richtig gewesen. Nein, alles war falsch gewesen. Sie hätte davonlaufen sollen! Wie konnte sie nur auf die Frechheit dieses Menschen derartig reagieren. Sie muss sich in Grund und Boden schämen. Und das ausgerechnet vor der Kirche, nachdem sie gebeichtet hatte und der Priester sie ihrer kleinen Sünden wegen mehr gelobt als getadelt hatte. Was soll sie dem Priester nun über sich berichten. Sie muss ihm die Begegnung mit dem fremden Herrn schildern, nicht erst am nächsten Sonntag, nein, so bald wie möglich. Sie sollte ihn sofort aufsuchen. Sünden darf man nicht mit sich herumtragen. Sie wird von ihm Strafe erbitten müssen, sollte er sie nicht ernst genug nehmen. Sie fühlt sich erzittern bei dem Gedanken, das soeben Erlebte in Worte fassen zu müssen. Sie ist völlig durcheinander. Am besten, sie vergisst schnell. Zumindest nach der nächsten Beichte, relativiert sie den Beschluss, denn kleine, ganz winzige Zweifel überfallen sie, die ihr zuraunen, dass es doch prickelnd schön war und dieses eigentümlich angenehme Zittern noch immer in ihr ist. Nein, sagt sie zu sich, nein und nochmals nein!

Sie wird auf sich achten, dass sie nie wieder die Blicke von hergelaufenen Männern auf sich ziehen wird. Womöglich ist sie gesehen worden. Nicht auszudenken, wenn ihre Freundinnen sie beobachtet hätten. Mit Fingern würde man auf sie zeigen, über sie herziehen, sie Dingen und Taten bezichtigen, die gar nicht zutrafen. Sie weiß doch, wie schnell man in Verruf gerät. Aber schön war es trotz allem. Ein gutaussehender Mann war es. Und gebildet war er auch. Bestimmt viel mehr als sie selbst. Aber warum musste er mit dem abgedroschenen Vers kommen. Das war kein guter Einfall. Aber es hat ihnen beiden gefallen. Sie haben sich ein winziges Spiel gespielt - ein gelungenes Spiel. Angeschaut hat er sie, als hätte er noch nie eine Frau gesehen. Bin ich denn sehenswert? Bin ich denn schön? Das sind Fragen, die sie sich noch niemals gestellt hat. Doch, wenn sie in den Spiegel schaut, kann sie nichts finden, was schlecht ist. Vielleicht bin ich wirklich schön und begehrenswert? Aber nein, so etwas wünscht man sich nicht - man darf es nicht!

Überhaupt hat das alles noch so viel Zeit. Unsinn, sich über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen. Aber trotzdem: den Blick dieses Mannes auf sich zu spüren und zu erwidern, war so ungewohnt angenehm. Er sah mich an, als würde er ... Ja, ich denke, so könnte ich blicken, wenn ich die Mutter Gottes ansehe und vor ihr bete.

So rein und freundlich sah das aus, so ehrlich, ja so lieb. Da war nichts Böses in diesem Blick. Die Gedanken irren in ihr herum wie durcheinander gewürfelte Puzzlesteine, die nicht von selbst ihre zueinander passenden Formen finden können.

Irgendwann steht sie wieder vor dem Spiegel, kämmt sich. Sie hat ihre Kostümjacke sorgfältig auf einen Bügel gehängt und ist nun nur mit Rock und Bluse bekleidet. Ein reizendes mädchenhaftes Bild. Sie lächelt gedankenversunken ihr Spiegelbild an und bindet ihre langen blonden Haare zum Pferdeschwanz, schüttelt den Kopf einige Male, so dass der Schwanz herumfliegt und ihr in das Gesicht schlägt. Trotz aller Selbstvorwürfe ist sie glücklich. Sie ist von einer unbekannten Freude durchdrungen. Sie muss jemanden davon erzählen. Sie kann allein damit nicht fertig werden und ihr fällt nur die ältere Nachbarin ein. Diese Frau ist zwar nicht die Angesehenste in der Stadt. Ihr Mann ist ein loser Bruder und hat sie verlassen. Aber sie ist die Einzige, die sie verstehen könnte. Die Mutter würde sie ohrfeigen, wenn sie ihr damit kommen würde. Sie muss sich gestehen, dass eine saftige Ohrfeige bestimmt das einzig Richtige für sie in diesem Zustand wäre. Sie nimmt ihren blauen Umhang aus dem Schrank, hängt ihn sich geschickt um, wirft ihren Pferdeschwanz unter der Kapuze hervor, und verlässt, ohne sich den Umhang zu verschließen, das Zimmer und das Haus.

AM ABEND

Es ist Abend geworden. Margarethe hat sich lange bei der Freundin aufgehalten. Die Sonne ist am Untergehen und ein dämmriges Licht erfüllt den Raum. Die Freundin hat sie beruhigt. Sie soll die Begegnung als Lappalie wegtun, am besten vergessen. Von eben solcher Lappalie soll sie auch dem Priester erzählen, wenn sie schon davon reden muss. Keiner hat es gesehen - alle Sorgen waren umsonst. Der Mann wird ein Reisender sein, der sich einen Scherz mit ihr gemacht hat und ist längst auf und davon. Margarethe ist zufrieden mit diesen Erklärungen und denkt an den heutigen Morgen wie an einen angenehmen Traum zurück, den man wie die meisten Träume in Kürze vergessen wird.

Sie kommt beruhigt, wenn auch ernüchtert zurück. Da es kühl geworden ist, hat sie sich die Kapuze ihres Umhanges über den Kopf gezogen. Einen langen weißen Schal aus der Garderobe der Freundin hat sie sich um den Hals gebunden. Ein Ende des Schals hängt auf dem Rücken, das andere über der Brust. Sie ist zufrieden mit sich und der Welt, schließt leise die Tür hinter sich, schaut sich um und tritt vor den Spiegel, betrachtet sich nachdenklich - immer wieder an den heutigen Morgen zurückdenkend. Sie streift sich die Kapuze vom Kopf, löst das Band, das ihren Pferdeschwanz zusammenhält und lässt die Haare in ihrer Pracht über das Blau und Weiß ihrer Farben fallen. Sie fühlt sich seit dem Morgen anders als noch gestern, denn noch nie hat sie sich mit solchem Blick im Spiegel betrachtet. Ja, sie findet sich selbst schön und anziehend. Das weiße Tuch, das Blau des Umhanges geben ihr ein madonnenhaftes Aussehen. Bei diesem Gedanken schrickt sie zusammen. Wie kann man eine solche Sünde, einen solchen Vergleich nur denken! Also nicht madonnenhaft, einfach nur schön, entscheidet sie. Sie wendet sich vom Spiegel ab, nimmt den Schal und legt ihn auf das Bett, Sie knöpft sich den Umhang auf und hängt ihn sorgfältig über einen Bügel an der Wand, macht ein paar Handgriffe, ein Aufräumen, ein Ordnen von Gegenständen, die bereits so geordnet waren, dass man sie nicht besser hätte ordnen könnte. Sie weiß nicht recht, was sie tun soll. Bei aller Tröstung ist sie doch noch lange nicht weit genug entfernt vom morgendlichen Erlebnis.

Sie hat sich die Schuhe und auch den Rock ausgezogen. und geht im Zimmer auf und ab, trällert ein Liedchen vor sich hin. Sie nimmt den Schal vom Bett und legt ihn auf den Stuhl, damit sie nicht vergisst, ihn morgen der Freundin zurück zu bringen.

Jetzt endlich fällt ihr Blick auf das, was im Fenster liegt. Oh, Gott! durchfährt ein Beben ihren Körper. Alle erlösenden Gespräche des langen Nachmittages waren vergebens. Nur Auftakt war die Szene auf dem Marktplatz. Es geht weiter! So erschrocken sie darüber ist, so wohlig warm wird ihr dabei. Angst spürt sie und Freude zugleich. Ihr schon gestörtes Seelenleben gerät jetzt völlig aus den Fugen. Mit zitternden Fingern nimmt sie den Strauß gelber Teerosen an sich, entfernt noch mehr zitternd das Briefchen mit der kleinen Schachtel daran und stellt erst einmal die müde aussehenden Rosen zu den anderen, die auf dem Tisch stehen.

Nun hat sie etwas in den Händen von einem Herrn, den sie nicht kennt, der sie nicht kennt und an den sie die vielen Stunden seit der Begegnung unaufhörlich gedacht hat. Sie öffnet den Brief und sieht die schöne Handschrift, die darauf schließen lässt, dass sie schon vieles geschrieben haben muss. Sie liest und die wenigen Worte werden ihr zur Fortsetzung des gemeinsamen herzlichen Lachens am Morgen. Es schreit in ihr:

„Nein, nein .... nein!“

Aber das sanfte kleine „Ja“, das tief in ihr das Herz schneller klopfen lässt, ist stärker als alle diese Nein`s und ihr Entschluss zum „Ja“ ist gefasst. In dem Brief bittet er um ein Treffen und fragt nach dem Wann und Wo.

Sie öffnet das Kästchen, nimmt die kleinen goldenen Ohrstecker heraus und steckt sie sich, getrieben von einer eigentümlichen Willenlosigkeit, in die dafür vorgesehenen Löcher ihrer Ohrläppchen. Dieser kleine Schmuck kommt ihr vor wie der letzte Punkt unter den Zeilen des Briefchens. Sie geht zum Spiegel, sieht aber an sich vorbei und blickt in die unergründliche Tiefe ihres Herzens und hört die von unzähligen Echos begleiteten zarten, gehauchten „Ja`s“ in sich einströmen.

Sie wird noch einmal hinausgehen müssen, um mit der Freundin die neue Sachlage zu besprechen und sie bitten, dass die Verabredung in ihrem Garten im Geheimen stattfinden kann.

Irgendwann am späten Abend liegt sie in ihrem Bett, ihre Finger spielen mit den Schmuckstückchen in ihren Ohren. Sie wird lange nicht einschlafen können und gewiss im Schlaf die wunderbarsten Träume wie Wirklichkeiten erleben.

MARTHA

Für zwei Menschen ging eine lange Nacht zu Ende. Margarethe hat noch am Abend bei ihrer Freundin, Martha heißt die Verständnisvolle, über die noch weiteres zu berichten sein wird, auf den Umschlag des Briefchens ein schüchternes „Danke“ und die Adresse Marthas nebst der Uhrzeit „Sieben Uhr abends“ geschrieben und sich dabei bemüht, ihre Hand ruhig fließen zu lassen. Sie konnte sich Mühe geben wie sie wollte, es ist eine Kinderhandschrift gegen seine wohlgeordnet aneinandergereihten Buchstaben. Wie erbeten, legt sie den Umschlag zusammengefaltet und mit einem kleinen Stein beschwert auf ihr Fensterbrett.

Sie hatte am Abend Martha bedrängt, ihr bei dem Treffen beizustehen, denn Herr Heinrich F. wird seinen Freund mitbringen.

Etwas verspätet geht sie an diesem Morgen aus dem Haus. Kurz vor dem Marktplatz begegnet sie einem ihr unbekannten Mann, der auffällig bunt gekleidet ist, und in Richtung ihres Hauses läuft. Ihre Blicke treffen sich für einen Moment und ihr fällt sein leicht grinsender Mund unangenehm auf. Sollte der womöglich der „Freund“ sein, den sie heute noch kennenlernen soll?

Ihre Vermutung ist richtig. Es ist der Freund von Heinrich F., der das Briefchen unbeobachtet an sich nimmt und vorsichtshalber einen Umweg macht, um der Angebeteten nicht nochmals zu begegnen.

Margarethe läuft weiter zum Marktplatz, schaut unauffällig in alle Richtungen, aber sie kann IHN nicht entdecken. Aber natürlich ist er da. Er steht im Inneren des Juwelier-Geschäftes, in dem er gestern die Ohrstecker kaufte und sieht sie aus der Entfernung, sieht ihre blonde Pracht sich auf der weißen Bluse ausbreiten, die sie halboffen über einem knöchellangen Rock trägt. Zu gern hätte er gewusst, ob die Ohrstecker sie schmücken, aber die Entfernung und die offenen Haare lassen diese Frage unbeantwortet.

Kurze Zeit später verschwindet Margarethe in einem Geschäft, um das Notwendige für den Tag einzukaufen.

Gemeinsam mit ihrer Mutter verdient sie ihren Lebensunterhalt mit einer kleinen Pension, die sich am Rande der Innenstadt befindet.

Heinrich F. ist aus dem Geschäft getreten und schon kommt ihm der Freund noch immer grinsend, entgegen und überreicht Heinrich F. den beschriebenen Briefumschlag. Der reißt das Papier an sich, liest, führt das Geschriebene zum Mund und küsst es mit ein wenig zu lautem Schmatz. Die Frage, ob er sie gesehen hat, wird bejaht. Ob sie die Ohrstecker angelegt habe, muss der Freund achselzuckend beantworten. Er hat vergessen, darauf zu achten. Aber dass es ein überaus reizendes Geschöpf ist, das kann er ihm versichern.

Nun ist alles klar. Um Sieben im Garten des besagten Hauses. Unendliche Zeit ist bis zu diesem Termin zu überbrücken. Sie hat es gut, sie hat zu arbeiten und kann sich ablenken. Aber er darf die Minuten zählen. Schließlich einigen sich die beiden Herren darauf, das gestern in der Aufregung Vergessene nachzuholen und sie besichtigen die Kirche, halten sich lange im Klostergarten auf, wundern sich über die an eine Festung erinnernde Klosteranlage mit einem riesigen Turm, laufen durch alle Gassen bis hin zu den Wiesen und Feldern vor der Stadt. Heinrich F. bildet sich ein, noch niemals eine Wiese so schön gesehen zu haben. Vögel singen Lieder, die sich in seinen Ohren zu Liebesliedern verwandeln. Sie laufen hinein in die Natur, ohne Ziel, außer dem einen, die Zeit zu überbrücken.

Auf einer an einem schattigen Waldrand stehenden Bank nehmen sie Platz und Heinrich F. hört als erster aus weiter Ferne Töne einer Flöte. Beide lauschen den Melodien, die der Wind, vermutlich von einem Schäfer, zu ihnen herüberträgt. Er denkt an SIE und Pan spielt auf der Flöte. Kann es Schöneres geben. Ja, Heinrich, es kann und wird!

Sie gehen in der Mittagszeit zurück zur Stadt, kehren in einem Gasthaus ein, in dem sie die einzigen Gäste sind. Lange sitzen sie hier. Danach besorgt Heinrich F. einen Strauß Blumen für die Angebetete und einen weiteren für die Dame, die ihnen den Aufenthalt in ihrem Garten gestatten will. Schon beim Aussuchen der beiden Ohrstecker in dem kleinen Juweliergeschäft fiel ihm eine zarte Goldkette auf, die er am liebsten schon gestern mitgenommen hätte. Jetzt kann er der Versuchung nicht widerstehen, kauft sie und fühlt sich wohl, für den Abend, der Sieben Uhr beginnen wird, bestens gerüstet zu sein. Der Freund soll mitkommen. So war es ausgemacht, denn wo zwei Frauen sind, sollten auch zwei Männer sein. Bekommt Heinrich F. doch durch diese Taktik die Chance, mit IHR einige Zeit ungestört beisammen sein zu können.