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Die Zeit Eine physikalische Größe, deren es viele gibt. Aber wie gehen wir mit dieser, mit unserer Zeit um, unserer Lebenszeit? Wie nehmen wir ihre Vergänglichkeit, ihre Unumkehrbarkeit wahr? Sind wir uns dieser Kostbarkeit bewusst? Beginnen wir, darüber nachzudenken! Begegnungen Wie schwer fällt es uns, abzuschalten vom täglichen Einerlei, sich zu konzentrieren auf nur das Eine. Man stelle sich vor, es könnte jemand die Gedanken eines Konzertbesuchers lesen und dessen Konzentration messen. Was würde dieser Jemand für ein Chaos erleben. Aber es geht auch anders. Die Schlinge Die ausgeklügelte Rache einer Mutter, deren Tochter beinahe Opfer eines Gewaltverbrechens geworden wäre. Was tut sich im Kopf eines Sexualverbrechers?
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Seitenzahl: 157
Begegnungen
Die Zeit
Die Schlinge
Ein Sonntag im Herbst. Altweibersommer nennt der Volksmund diese Zeit. Der Sommer verabschiedet sich. Nur am Tage noch bleibt der Sonne Kraft, die Erde zu erwärmen. Die Abende und Nächte bleiben bereits dem sich nahenden Winter überlassen.
Die Stadt, nein, man sollte lieber den Ausdruck „Städtchen“ verwenden, liegt abseits der pulsierenden Zivilisation. Eine geschlossene Stadtmauer umschließt den historischen Stadtkern mit unzähligen Fachwerkhäusern, kunstvoll geschnitzt und bemalt, Jahrhunderte alt, verträumt, von Historikern ehrfurchtsvoll geachtet, restauriert und dokumentiert. Vielleicht ein wenig zu steril versteckt sich der Ort nicht nur hinter seiner Stadtmauer, sondern auch in seiner Historie. Wie immer es geschehen konnte - es gibt keine der sogenannten Satellitenstädte oder Gewerbeparks mit Autohäusern und Supermärkten. Natürlich sind die Einwohner „normale“ modern gesinnte Menschen, aber sie haben es in Kauf genommen, hinter die Wälder und Berge zu fahren, um ihre täglichen Einkäufe zu erledigen. Es herrscht stark eingeschränkter Autoverkehr und zum Zeitpunkt des zu erzählenden Geschehens streiten die Stadtväter über den Bau eines unsichtbaren Parkhauses, so dass der puppenstubenhaft anmutenden Charakteristik des Städtchens nichts abhandenkommt.
Vor vielen Jahrhunderten gab es nur eine Klosteranlage, um die sich nach und nach Gehöfte angesiedelt haben. Erst in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts haben pfiffige Landvermesser herausgefunden, dass der Altar dieser Kirche im geometrischen Mittelpunkt der exakt kreisförmig angeordneten Stadtmauer liegt. Als einmaliges Phänomen des mitteldeutschen Kulturkreises konnte dieser Umstand in die einschlägige Literatur aufgenommen werden und wurde zum weiteren Argument, ohne Einschränkungen bedingungslos alles beim Alten zu belassen und die Historie auf keinen Fall in welcher Form auch immer zu stören.
Die Kirche ist nicht nur geometrisch, sondern auch optisch der absolute Mittelpunkt des Ortes. Sie ist bezogen auf die Kleingliedrigkeit der Häuser und Gassen überproportional groß. Jedem Besucher fällt das schon aus großer Entfernung auf - aber keineswegs negativ. Irgendwie ist die eigentümliche Proportion dennoch und vielleicht gerade deshalb so anziehend für die Touristen, die häufig das Städtchen bevölkern.
Die Sonne hat sich bereits weit gen Westen dem Horizont genähert. Bald wird sie über dem dichten Fichtenwald im Dunst des Abendnebels versinken. Noch spielt sie mit den Farben der bunten Kirchenfenster und verleiht ihnen den leuchtenden Glanz eines biblischen Bilderbuches.
Die Glocken haben soeben mit sieben Schlägen die volle abendliche Stunde verkündet in Erwartung eines außergewöhnlichen sonntäglichen Ereignisses.
Das reichverzierte Eichentor zwischen den beiden schlanken hoch in den Himmel aufragenden Kirchtürmen ist weit geöffnet zum Empfang der Wärme, die sich am Tage auf dem Kirchplatz gestaut hat. Mit der Wärme strömen Menschen in das „Hohe Haus“. Menschen aller Altersgruppen, einzeln, zu zweit oder in Gruppen, laufen zielgerichtet auf die Sitzplätze zu, die ihnen laut Eintrittskarten zugewiesen sind. Manch einer schlägt das Kreuz über der Brust, wenige verharren für Sekunden im stummen Gebet.
Man schaut herum, grüßt freundlich winkend, wenn sich zwei Blicke treffen, nimmt Platz und wartet in mehr oder weniger andachtsvoller Geduld, wissend, dass nach dem Konzert das „Sitzfleisch“ von den harten Holzbänken schmerzen wird.
Gemurmel und Geflüster verursachen einen gedämpften aber gleichmäßigen Geräuschpegel. Ab und zu ist ein Hüsteln oder Räuspern, höchst selten ein Lachen oder Rascheln von Bonbonpapier zu hören.
Die Kirche füllt sich zusehends mit Menschen. Auf den Emporen sind noch Plätze frei. Die Platzanweiser haben begonnen, aus dem Pfarrhaus Stühle herein zu tragen, um denen, die noch wartend an der Abendkasse stehen, Sitzplätze zu ermöglichen.
Die Würde des Hauses gebietet Zurückhaltung. Das ist für die Gläubigen eine Selbstverständlichkeit und für die, die nicht eines Glaubens wegen hierherkamen, bedeutet Zurückhaltung eine anerkennende Unterordnung.
Ein erhabener Glanz liegt auf den Farben des reichverzierten Altarraumes, der Säulenkapitelle und vor allem auf dem wunderbaren Deckengemälde, das der absolute Stolz der Gemeinde ist. Noch dominieren die leuchtenden Glasfenster an der Westseite der Kirche, aber bald, wenn die Kraft der Sonne ermattet und gänzlich erlöschen wird, beginnt ein anderes Licht den Kirchenraum zu erfüllen.
Versteckt angeordnete Scheinwerfer unterstützen die vier mit echten Wachskerzen bestückten Kronleuchter, um das Deckengemälde, ein die Gemeinde überspannendes Firmament, zu erleuchten.
Früher, als die moderne Technik noch in ängstlicher Distanz außerhalb der ehrwürdigen Kirche zu bleiben hatte, waren es weit mehr Kerzen, die in stolzen polierten Lüstern an den Emporen hafteten.
Der wahre Grund für die extreme Ausleuchtung des Kirchenschiffes lag nicht in besserer Lesbarkeit von Gesangbuchtexten sondern in diesem Deckengemälde, denn hoch oben zwischen den im Gewölbe auslaufenden Spitzbögen thront er, der Herr. Erhaben lächelt das greisenhafte aber faltenfreie, von wallendem weißem Bart eingerahmte Gesicht. Die Falten seines Gewandes gehen über in die Wölkchen, die lustig am sonnendurchfluteten blauen Himmel wie angeheftet erscheinen. In respektvollem Abstand umgeben ihn die himmlischen leichtbeflügelten, ewig lächelnden Heerscharen. Diese Flügelmenschlein mit pausbäckigen Kindergesichtern haschen sich zwischen den lieblichen Kumuluswölkchen.
Um einer gewissen Weltrealität zu genügen, hat der weitsichtige Künstler einige dunkle Drohwolken an das Firmament gezaubert, die von den umherfliegenden Engeln ängstlich gemieden werden.
Viele schauen empor - zu ihm - voller Bewunderung. Hingabe und Ergebenheit ist im Zeitalter der fortschreitenden Säkularisierung Ausnahme geworden. Doch niemand kann sich der ausdrucksstarken Vollkommenheit dieses Gottvaterblickes entziehen, denn es ist etwas ganz Besonderes an diesen Augen - dieser absoluten Attraktion. Anerkannte Reiseunternehmen sahen sich veranlasst, die Besichtigung dieser Kirche in ihre Programme aufzunehmen, um möglichst vielen Menschen eben diesen Anblick zu ermöglichen oder sie darauf hinzuweisen.
Wie auf manchen Portraits alter Meister schauen die göttlichen Augen in jeden Winkel des Kirchenraumes. Von jedem Standort fühlt man sich von ihnen beobachtet. Sieht man zu ihm, schaut er zurück. Unzählige hat er mit dieser Physiognomie in minutenlangen Bann gezogen. Zur Überprüfung dieses Phänomens liefen sie im Altarraum kreuz und quer und stets folgte ihnen der Blick aus den Wolken.
Manche der Bewunderer öffneten ihre Seele und versenkten sich in Zwiegespräche mit dem Abbild des Schöpfers. Die bemalte Fläche eines Kirchendaches personifiziert sich in diesen Fällen. Man fragt hinauf und hofft auf Antwort. Jeder weiß um die Unmöglichkeit solcher erhofften Visionen - aber trotzdem - immer wieder „fällt“ man darauf herein, lässt sich trösten, schickt liebe und böse Gedanken stumm in die Höhe. Kurz: man geht zufriedener als man gekommen ist.
Hier ist der Ursprung für die Möglichkeit, eine Episode zu erzählen, die wahr oder erfunden sein kann. Warum sollen dem greisen Kopf, wenn er schon so lieb schaut, nicht auch reale Gedanken unterstellt werden. Was liegt näher als das? Was wird nicht alles „geglaubt“ - sehr vieles, was bar jeder denkbaren Realität ist. Also kommt es doch weniger auf den realen Wert als auf die nett gemeinte „Unterstellung“ - die fiktive Verknüpfung von Idee und Wirklichkeit an.
Also: Der alte Herr begrüßt jeden, der zu ihm aufschaut, persönlich. Manch einem zuckt es in der Hand, sie ihm mit einem freundlichen Hallo entgegen zu strecken. Die Angst, unangenehm aufzufallen, lässt allerdings jede Versuchung dieser Art in der Hosen- oder Manteltasche verbleiben.
Was mag ein Gott in der Höhe des Kirchenschiffes denken, wenn er die Zuckungen von Händen, die verschmitzt lächelnden Mundwinkel oder auch die sich schamvoll niederschlagenden Augenpaare wahrnimmt? Der Herr dort oben sieht alles. Wie jeder weiß (oder glaubt), sieht er in die Herzen eines jeden hinein, es soll ja sogar vorkommen, dass sich manch einer in seinen Gedanken und Taten von ihm gelenkt fühlt.
Er duldet gelassen das belustigende Treiben und blickt hinab, mit erhabener Würde, sein Lächeln nach innen richtend, mitunter sein Kopfschütteln unterdrückend. Hunderte von Jahren verharrt er bereits in dieser Stellung, hat die lange auf und niederwallende Geschichte dieses Hauses wie auch der Stadt und des Landes erlebt. Nichts ist ihm entgangen, alles hat er registriert mit seinem göttlichen Wahrnehmungsvermögen. Ändern hat er nichts können am Schicksal seiner Untergebenen trotz gehörter zahlloser Bitt- und Flehgebete. Seitdem er seine Ohnmacht erkennen musste, begnügt er sich mit Hören und Sehen und ist zufriedener als damals, als seine Augen noch kämpferische Lust nach unten sprühten.
Häufig überkommt ihn eine höchst menschliche Regung und es geschieht, dass nach kurzen Blickkontakten seine Mundwinkel zu vibrieren beginnen. Ein wenig zuckt es über die Lippen und das Wunder göttlichen Lächelns erscheint am gemalten Himmel. Unzählige Besucher, Einheimische wie Touristen bestätigten dieses Wunder - also mussten auch Skeptiker zugestehen, dass an dem Phänomen etwas Wahren sein muss. Wissenschaftliche Untersuchungen konnten zwar kein Wunder bestätigen, aber beweisen kann man ja bekanntlich Wunder nie.
Und er, der Erhabene? Er hat alles Historikergeschwafel über sich ergehen lassen und - gelächelt - erhaben - würdevoll.
Er genießt die fragenden, die erstaunten, mitunter auch ängstlichen Blicke und unterdrückt das Lächeln, wenn einer der armen Sünder in der hintersten Bankreihe schuldbewusst und scheu das Kreuz über seiner Brust schlägt und um Vergebung bittet. Er vergibt - fast immer.
Nichts entgeht ihm. Und er weiß, dass alle das wissen und das macht seinen Spaß umso größer.
Gern drückt er ein Auge zu bei einer sich offenbarenden Sünde, die auch für einen Gott eher das Prädikat „süß“ und keineswegs die harte Bezeichnung „Sünde“ verdient. Schließlich geht er mit der Zeit und lässt sich ungern als altmodisch oder gar konservativ bezeichnen.
Vieles von dem, was ihm zu Ehren gesagt, getan, zelebriert wird, ist mit dem Staub von Traditionen bedeckt - er weiß das - aber es stört ihn nicht mehr. Er hat seine Genüsse ebenso wie seinen Kampfeswillen den neuen Zeiten angepasst und genießt anders als damals, als Gottesglaube kindlich naiv und voller Keuschheit war.
Er begnügt sich, zu sehen, zu hören - und zu lächeln. Im mitleidigen Lächeln findet er Trost über die verlorenen Glückseligkeiten vergangener Tage.
Heute erfüllt es ihn mit Genugtuung, dass es noch Gelegenheiten gibt, die Kirche mit Menschen zu füllen. Selbst der letzte Platz ist besetzt.
Unter einem Anflug von Peinlichkeit möchte er überhören, wie sein oberster Diener in der ihm eigenen Schwülstigkeit klischeehafte Worte des Dankes formuliert. Dank an Sponsoren, an die Musiker, die heute für wenig Gage spielen, Dank an die Sänger, die auf Gage gänzlich verzichten usw. usw. Seine Stimmbänder sind eine halbe Oktave zu hoch gestimmt und provozieren unterdrücktes Grinsen in vielen Gesichtern.
Endlich ist es soweit. Der Dirigent übernimmt die Regie, um mit den vier Solisten, den vielen Musikern des Orchesters und dem gewaltigen Chor das lange geprobte große Werk zu beginnen. Oben im Himmel denkt es: Na, werden sie zum Gruß klatschen oder trauen sie sich nicht? Doch, tatsächlich - einer klatsch zaghaft in die Hände und nach mehreren Sekunden ist das Beifallgetöse groß.
Nach dem üblichen ausgedehnten Moment der Ruhe, nach dem Zusammenraffen aller Kräfte und Konzentration kommt der Einsatz zum „Requiem“ von Mozart. Aus den tiefsten Tiefen musikalischer Empfindsamkeit kommen sie herauf, die ersten Melodien, erwartungsvolle Spannung erzeugend. Ein Ton jagt den anderen, lässt die gewaltigen Steigerungen erahnen. In welches Jubilieren, in welche Seufzer werden sie münden dürfen?
Jeder der Musiker formt die Töne mit seinem Instrument, gesteuert von der lockenden und drängenden Gestik des Einen, der vor ihnen auf dem leicht erhöhten Podest steht und ordnet sich bedingungslos in das Zusammenspiel mit dem Ziel ein, ein großes Werk genießen zu lassen - und selbst zu genießen.
Tausend, oder eher mehr Ohren, empfangen diese akustischen Signale, setzen sie physikalischen Gesetzen folgend um in Informationen, die in den mehr als fünfhundert Hirnen die unterschiedlichsten, wundersamsten wie eigentümlichsten Empfindungen wecken.
Können die einen nicht abschalten vom Alltag, so tauchen andere bereitwillig ein in die Musik, die vor langer Zeit ein Genie erdacht und auf Notenpapier der Nachwelt zum Gefallen konserviert hat.
Aber auch Anderes, der Musik keineswegs Äquivalentes, schwirrt durch das Kirchenschiff. Wie ein Wirbelsturm beginnt ein Gedankentumult zu toben, mischt sich ein in den Rhythmus der Musik, kämpft gegen diesen an, lässt sich von ihm lenken, fließt streckenweise mit ihm dahin, bäumt sich gegen ihn, um sich wieder zu synchronisieren mit dominierenden Paukenschlägen für lange oder kurze Momente.
Ein riesiges Sprachengewirr wie zu altbabylonischen Zeiten funkelt unhörbar durch den Kirchenraum. Fünfhundert menschliche Hirne senden Gedanken in den Raum. Keines dieser Hirne kümmert sich um die Existenz der übrigen vierhundertneunundneunzig - und jedem sollte es Trost sein, dass dies so ist.
Wahrgenommen wird dieser Gedankentumult nur von einem – und das ist der Herr im Deckengemälde, denn einzig ihm allein spricht man von alters her die Gabe zu, in das Innere der Menschen sehen und hören zu können - wohlgemerkt zur gleichen Zeit in jedes menschliche Hirn dieser Erde.
Habe ich das Auto verschlossen?
Mein Magen knurrt, wie peinlich!
Die Frau dort am zweiten Cello sieht toll aus.
Die Kirchenbank drückt schon jetzt - Morgen werde ich im Liegen arbeiten müssen.
Schade, dass die Oma nicht mitkommen konnte.
Übermorgen hat Tante Lilly Geburtstag - was kann ich ihr nur schenken?
usw. usw. usw.
In den unterschiedlichen Dialekten und Sprachen - schließlich rühmt sich die Stadt einer gewissen Internationalität - schwirrt es hin und her.
Eins, zwei, drei ..... fünfundzwanzig Bankreihen a eins, zwei, drei ..... zwanzig Plätze - ergibt fünfhundert Menschen.
Der Bus fährt zehn Uhr vierzig.
Den muss ich unbedingt erreichen.
Komische Haarfrisur hat der Mann da vorne!
Sportlich, sportlich, der Dirigent!
Hätten die den Text im Programmheft nicht in deutsch schreiben können!
Also, wie sich unser Chef heute aufgeführt hat. Höchst albern!
Im Fernsehen läuft ein spannender Krimi. den verpasse ich!
Man stelle sich vor, wie wenig umfassend und weitreichend dieser kleine Auszug aus umherschwirrenden Gedanken ist. Von den tatsächlichen Sorgen, den großen Freuden und Leiden, den wahren Problemen menschlicher Existenzen, die mitgebracht wurden, soll gar nicht die Rede sein, denn das würde den Rahmen eines derartigen Berichtes in das Uferlose sprengen. Aber gewiss wie das Amen in dieser Kirche ist diese nur angedeutete Flut - nein Sintflut - des Gedankentumultes.
Wie furchtbar muss sich der Herr in seinem himmlischen Deckengemälde fühlen. Auch er war voller Freude auf diesen Abend, auf den Genuss der Musik und nun fühlt er sich irritiert und profan abgelenkt durch banales und kleinkariertes Denken, Fühlen, Sehnen, Trauern und Freuen, dass er Mühe hat, dahinter die Musik überhaupt noch wahrzunehmen, wenn diese nicht im schmetternden Fortissimo durch das Kirchenschiff bebt.
Zornig wird er, schüttelt sein wallendes Haar, so dass eine kleine Staubwolke herabschwebt, die mit Verzögerung um einige Takte ein zweifaches unterdrücktes Niesen in den mittleren Bankreihen auslöst. Er zieht seine Stirnfalten grimmig zusammen und das Lächeln schwindet aus seinen Mundwinkeln.
Die Einleitung, das „Introitus“, klingt dem Ende entgegen und das große „Kyrie“ setzt nach kurzer Pause ein. Da trifft ein Gedanke besonders hart auf die Trommelfelle übersensibilisierter göttlicher Ohren.
Beginnt da nicht im linken Seitenschiff, Platz drei in der zweiten Reihe, ein junger Mann, er mag die dreißig gerade überschritten haben, seinen Blick auf eine junge Frau zu fixieren, die ihm schräg gegenüber im Mittelschiff - Reihe fünf, vierter Platz - sitzt.
Andächtig, etwas steif, die halbgeschlossenen Augen nach unten gerichtet, hat sich diese Frau ganz der Musik ergeben.
Jetzt schauen zwei Augenpaare auf diese Frau, eines von links auf das ebenmäßig geformte Profil und ein anderes aus himmlischen Höhen.
Der Mann im linken Seitenschiff ließ bereits beim Betreten der Kirche seine Augen ungeniert in die Runde gehen, so wie er das meistens tut, wenn er einen Konzertsaal oder auch eine Gaststube betritt.
Eine nicht erklärbare Faszination zwingt ihn, wieder und wieder zu dem Frauengesicht zurück zu kehren. Eine bemerkenswerte Ruhe geht von dem, wie er erst jetzt feststellt, sehr schönen Gesicht aus. Er möchte das Rätsel lösen und beruhigt seine Ungeduld damit, dafür mindestens fünfundvierzig Minuten Zeit zu haben.
Nun ist es der alte Herr oben in den Wolken, der sich nicht lösen kann vom Anblick der Frau in der fünften Reihe. Er kennt sie nicht und entdeckt kraft seiner Fähigkeiten, in gewisse persönliche Daten vorzudringen, dass sie in keiner der ihm zugänglichen Karteien bzw. himmlischen Speichermedien zu finden ist.
Er sieht auf ein Gesicht, das sich mit jedem Muskel, mit jedem Äderchen den Klängen ergibt und damit selbst zu einem musikalischen Klanggebilde wird. Er sieht etwas, das der Mann nicht wahrnehmen kann. Es sind ihre Hände, die ruhig auf ihren Knien liegen. Doch der Schein trügt. Fast unsichtbar vibrieren alle Glieder ihrer Finger, nehmen jede Phrase, jede versteckte Stimme wahr und trommeln sie mit kaum spürbarem Druck auf die sensibilisierte Haut ihrer Oberschenkel. Was ihre Ohren hören, geben ihre Fingerkuppen nochmals in ihr Verlangen ein, alles, was in diesem Raum schwebt an Melodie und Rhythmus bis zum Letzten aufzusaugen, mit zu nehmen in die Nacht - in den unerbittlich wartenden Alltag draußen vor dem Kirchentor.
Die Musik schwillt gewaltig an und reißt alle, auch den Herrn des Himmels im Spitzbogengewölbe, von dem Frauenkopf und allen anderen nebensächlichen Gedanken fort. Doch kaum ist das „forte fortissimo“ der ersten beiden Strophen der „Sequenz“ ausgeklungen und der Sänger mit der klaren Tenorstimme bereitet sich auf seinen Einsatz vor, kriechen sie wieder hervor, die Nebensächlichkeiten, und belästigen ihn aufs Neue.
Eins - zwei - drei - vier! - eins - zwei - drei – vier ...
Gib mir deine Hand, Liebling!
Ich habe den Schirm im Auto liegen lassen und Regen ist angesagt.
Gehen wir anschließend zum Griechen oder in das
kleine Kaffee auf dem Marktplatz?
Unser Sohn hat die Mathematikarbeit verpatzt. Ich muss mit ihm intensiv üben!
Ich glaube, der Tenor hat eben den Ton nicht richtig getroffen.
Die Fotos vom letzten Urlaub sind gut geworden.
Ein anmutiger Wechselgesang der Solostimmen erklingt. Er weckt die Erinnerung an eine der schönsten Opern des gleichen Meisters. Nicht laute Töne, aber melodienreich und schön. Ausgerechnet in diesen Triogesang drängt sich ein eigentümliches Vibrieren in den göttlichen Gehörgang. Der Herr überzeugt sich mit einem kurzen Blick zur Seite, dass sein Engelchor zwischen den Kumuluswölkchen nicht zu tanzen und zu hüpfen beginnt, denn auch er selbst hat begonnen, verborgen über einer Wolke seine Finger im Takt spielen zu lassen.
Er will diesem sonderbaren Vibrieren nachgehen, aber er verliert die Richtung, denn es sind schon wieder zu viele andere Gedanken, die ihn bedrängen und verwirren.
Doch, da ist es wieder. Schmerzend nimmt er es wahr. Es kommt von hinten aus der vorletzten Reihe. Dort sprühen regelrecht die Funken. Hier scheint sich alles entgegengesetzt zu verhalten - regelrecht peinlich sind diese Signale. Überhaupt bahnt sich hier Ungeheuerliches an, das seine Ehre zu verletzen beginnt.
Ein auffällig gekleidetes und frisiertes junges Mädchen, es dürfte noch keine zwanzig sein, hat völlig vergessen, weshalb es in diese Kirche gekommen ist. Ab und zu gleitet ihr Blick über den Altarraum zu dem großen Kreuz und nimmt die Musiker wahr, die ihre Instrumente traktieren. Auch die Musik dringt für kurze Momente in ihr Bewusstsein. Sehr schön klingt das, gewaltig und wohltuend. Aber ihre Aufmerksamkeit ist auf gänzlich anderes gerichtet. Das Gesicht eines Mannes sieht sie und fühlt sich gefesselt von diesem Anblick.
Zu weit entfernt von ihr sitzt dieser junge Mann, um sich mit Aussicht auf Erfolg bemerkbar machen zu können. Er mag das gleiche Alter haben wie sie und hört mit leicht lächelnder Miene der Musik zu. Seine Lippen bewegen sich im Takt. Er trällert mit, nicht hörbar natürlich, doch mit einem Hauch zufriedener Ungeniertheit. Keiner seiner Nachbarn interessiert sich für ihn.