Der Sohn des Beduinen - Roland Gampp - E-Book

Der Sohn des Beduinen E-Book

Roland Gampp

4,9

Beschreibung

Jens Jasper erwacht in einem ihm fremden Land, an einem fremden Strand in Nordafrika ohne jegliche Erinnerung an sein früheres Leben. So beginnt eine Odyssee, die ihn durch die Sahara zu einer verträumten Oase führt, wo er mit einem streng gehüteten Geheimnis zufällig konfrontiert wird. Dies ist für Jens der Anfang einer beispiellosen Treibjagd, bei der er die fiesen Methoden der Mächtigen dieser Welt am eigenen Leib zu spüren bekommt. Der Sohn des Beduinen ist ein packender und nervenzerreißender Thriller über eine außergewöhnliche Geschichte, die bis in das alte Ägypten, in die Zeit der Pharaonen zurückreicht. Auf der Suche nach seiner eigenen Identität wird der Protagonist in ein haarsträubendes Abenteuer verwickelt und selbst Opfer einer Verschwörung. Die Tiefgründigkeit des Thrillers, die Kraft der alten Familienbande und die psychologischen Einschübe machen das Ganze zu einem außergewöhnlichen Werk.

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Die Handlung dieses Thrillers sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden; eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Wir können uns nicht aussuchen, woher wir kommen, aber wohin wir gehen, liegt in unseren Händen.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Samstag, 27. Juni 2015

Die undurchdringliche Dunkelheit

Die Oase

Der Beduine

Die Zeremonie

Kapitel 2

Mittwoch, 20. Mai 2015

San Francisco, USA

Ägypten, 550 Jahre vor Christus

Das Vermächtnis

Kapitel 3

Im Sudan, Nordostafrika 1968

Kapitel 4

Montag, 20. Juli 2015

Die Karawane

Alexandria, Ägypten

Kapitel 5

Mittwoch, 17. Juni 2015

Der letzte Auftrag

Oberlausitz, Deutsche Demokratische Republik 1983

Die Wurzeln

Kapitel 6

Anfang August 2015

Palermo, Italien

Jäger oder Gejagter

Die Verführung

Kapitel 7

Freitag, 14. August 2015

Zufluchtsort Wehr, Schwarzwald

Der Tote im Seerosenteich

Der Transmitter

Zwanziguhrnachrichten

Die Sackgasse

Hoffnung

Kapitel 8

Heiße Spur

Dunkle Schatten der Vergangenheit

Donnerstag, 17. September 2015

Ironie des Schicksals oder Erwachen

Epilog

Prolog

Der lauwarme Wind streichelt sanft über Jens‘ Gesicht und trägt den intensiven, salzigen Geruch des Meeres zu ihm herauf. Nur hin und wieder durchbrechen die Schreie streitender Möwen den monotonen Gesang der weiß schäumenden, sich an den Klippen brechenden Wellen. Dieses sich immer wiederholende und nie enden wollende Schauspiel der Natur hat ihn mit seiner meditativen Wirkung ein wenig schläfrig gemacht und konnte die Ereignisse der vergangenen Tage für kurze Zeit aus seinem Gedankenkarussell spülen.

So sitzt Jens nun im trockenen, halbhohen Gras in Sizilien, ungefähr eine Stunde von Palermo entfernt, an der senkrecht abfallenden, von Wind und Wetter zernagten Klippe und verfolgt gedankenlos den eleganten Flug eines mächtigen Storches. Mühelos gewinnt er mit jedem Kreis, den er majestätisch im gleichmäßigen Aufwind zieht, an Höhe. Bis Jens Jasper nur noch einen kleinen, fast unscheinbaren, dunklen Punkt ausmachen kann und dieser sich dann im unendlichen Blau des wolkenlosen Himmels auflöst.

Es ist inzwischen später Nachmittag und wie schon seit Jahrtausenden derselbe Ablauf: Die Dämmerung wird in Kürze langsam, aber stetig alles in sich einhüllen.

Mit dem schweren Rucksack und dem grünen, eingerollten Schlafsack darauf macht sich Jens auf die Suche nach einer Bleibe für die hereinbrechende Nacht.

Unter einer steil ansteigenden Felswand richtet er das Nachtlager ein und entzündet ein Lagerfeuer. Mit dem Rücken an der von der Sonne aufgewärmten Wand lehnend lässt er die vergangenen Wochen vor seinem geistigen Auge Revue passieren.

Die Geräusche, die an Jens‘ Ohr dringen, nimmt er nicht mehr wahr.

Ebenso wenig diese magisch wirkende Nacht, in der sich der Mond durch die Wolken schiebt und sein kaltes Licht auf dem sandigen Boden ausbreitet und durch die ausgewaschenen Felsstrukturen eigenartige Schattengestalten auf den Boden zeichnet.

Auch die sterbende Glut des Feuers knistert nur noch ein wenig und einzelne, dünne Rauchfäden wandern Richtung Sternenhimmel, erwehren sich der aufkommenden, rauen Kälte.

Kapitel 1

Samstag, 27. Juni 2015

Die undurchdringliche Dunkelheit

Irgendwo an der ägyptischen Küste, am Levantischen Meer, unweit von Alexandria, wachte Jens Jasper nachts auf. Zu jener Zeit wusste er natürlich nicht, wo er sich befand.

Noch lag Jens auf dem Rücken, beide Arme neben sich angespannt.

Als er allmählich zu sich kam und die Psyche aus dem Tod des Schlafes erwachte, wurden seine Atemzüge tiefer.

Zuallererst bewegten sich die Augen hinter den geschlossenen Lidern. Jens seufzte, streckte die Arme aus, rekelte und dehnte sich wie eine Katze. Ein wenig zähflüssiger Speichel lief über seine Mundwinkel, suchte sich den kürzesten Weg über den Hals, tropfte schlussendlich in langen, sämigen Fäden in den Sand.

Sekunden später hoben sich zuckend seine Augenlider, dann seufzte er noch einmal, atmete ganz tief durch und richtete sich auf.

Auf einmal, krampfartig, zuckte er zusammen. Auf seiner Stirn bildeten sich Falten, als sein Blick umherschweifte, er bekam einen Schock.

Jens Jasper starrte verständnislos in die Luft.

Alles kam ihm irgendwie seltsam vor. Er saß wie gelähmt mit nasser, am Körper klebender Kleidung im Sand. Die Sterne jedoch funkelten hell am Firmament, als wäre nichts geschehen.

Das Herz pochte und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, obwohl ein kühler Wind vom Meer her wehte.

„Scheiße, wo bin ich ... warum liege ich hier?

Habe ich gekifft? Bin ich zugedröhnt oder ist das nur ein böser Traum?“, kam es wie von selbst über seine trockenen Lippen.

„Was immer ich gemacht oder genommen habe, es hat gewirkt!“, war Jens‘ einhellige Schlussfolgerung.

Nein, es war nichts von alledem. Jens Jasper lag wirklich an einem ihm unbekannten Ort und er konnte sich im Moment keinen Reim darauf machen.

„Wer bin ich eigentlich?“, war seine nächste Reaktion. Unverständnis.

Noch verschlafen und im Dämmerzustand wollte er sich wieder hinlegen und warten, bis dieser Traum zu Ende ging.

„Scheiße ... ich weiß nicht mal, wie ich heiße ... woher ich komme ... wer ich bin und ...?“ In seinem Kopf schien alles ausgelöscht, irgendwie getilt zu sein.

Und dann saß er, zu allem Übel noch, irgendwie unbequem! Etwas drückte ihm unangenehm in den Rücken. Es machte ihn fuchsteufelswild, die Summe all dieser Vorkommnisse, auf die er im Moment keinen Einfluss ausüben konnte.

Da bemerkte Jens Jasper verdutzt, dass er einen Rucksack anhatte, den er sogleich auszog und neben sich in den Sand legte.

Unwillkürlich tastete und musterte Jens seinen ganzen Körper, um auf eventuelle Spuren eines Unfalls, auf Verletzungen zu stoßen.

Fehlanzeige!

Alles war an der rechten Stelle, da, wo es hingehörte, und unversehrt.

Nur er nicht, nein, er nicht!

Sein Kopf dröhnte von aufkommendem Kopfweh und Mund und Rachen waren ausgetrocknet und brannten.

Jens kramte im Rucksack, legte den Inhalt, der vor Nässe tropfte, fein säuberlich nebeneinander in den Sand. Es kamen alle notwendigen Reiseutensilien, die man beim Rucksacktourismus so mit sich herumträgt, zum Vorschein.

Angefangen beim Schlafsack und aufgehört bei der Zahnbürste, Messer, Feuerzeug und einer vollen Wasserflasche. Jens betrachtete benommen und ungläubig die Gegenstände, die auf dem Boden lagen – sein Blick blieb fest auf einer Sonnenbrille haften.

Jens Jasper durchforstete sein Gehirn bis in die letzte Windung, doch er konnte nicht feststellen, ob er diese Brille in seinem Leben je gesehen hatte.

Und wieder tauchten Fragen auf:

„Bin ich überfallen worden ...? Nein, sonst wäre ja alles weg!

Bin ich auf Tour, verbringe hier am Strand meine Ferien?

Bin ich beruflich unterwegs?

Was habe ich überhaupt für einen Beruf?

Bin ich eine coole Socke mit viel Selbstvertrauen oder bin ich ein Leisetreter oder gar introvertierter Typ?“

Nur Fragen über Fragen, aber keine plausiblen Antworten kamen zum Vorschein.

„Egal was geschehen ist, ich bin gesund, kann logisch denken und die weißen Flecken in meinem Gedächtnis werden sich mit der Zeit schon wieder mit Wissen füllen“, beruhigte sich Jens und fiel zurück in einen tiefen, unruhigen Schlaf.

Sein zweites, seltsames Erwachen war nicht mehr ganz so mysteriös wie das erste.

Das rauschende, türkisgrüne Wasser, das mit jeder Welle einen dunklen Rand im weißen Sand hinterließ, weckte Jens am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe.

Und auch diesmal musste er feststellen, dass dies kein Traum war. Er lag im feuchten Sand und die Dämmerung wurde durch die Sonne langsam abgelöst.

Das Riff weit draußen, wo perfekt geformte Wellen sekundenlang in der Luft standen und man ihre glatten, grünen Bäuche erkennen konnte, nahm er in dieser Situation nicht wahr, nein, er hatte keinen Bezug zu diesem Naturschauspiel.

Denn das gleiche Spiel wie am Vortag belegte seine Gedanken:

„Wer bin ich? Wer bin ich? Wer bin ich? Wer bin ich?“

Dieser einzige Satz trommelte, trommelte mit mechanischer Hartnäckigkeit immer und immer wieder in Jens‘ Gehirn herum. Es ist wie mit einem Stück Apfel, das zwischen den Zähnen hängen bleibt, man versucht es krampfhaft mit der Zunge zu entfernen, erfolglos. Danach sind die Finger dran, doch vergeblich. Man steigert sich immer mehr rein und man verzweifelt fast.

Seine schweren, oberflächlichen Atemzüge beruhigten sich nach und nach und er konnte endlich wieder einen klaren Gedanken fassen, der über die Bestätigung seiner verlorenen Identität hinausging.

„Ich kann klar denken, kann reden, kann Zusammenhänge erkennen und kombinieren, kenne viele Wörter. Doch irgendwie fühle ich mich verloren!“, redete Jens beruhigend auf sich ein.

„Zuerst muss ich mal herausfinden, wo ich mich hier befinde“, sagte er abermals mit leiser Stimme zu sich selbst.

Schon allein der vertraute Klang seiner eigenen Stimme brachte ihm eine gewisse Entspannung.

Jens‘ Augen streiften umher, suchten die ganze Gegend ab, doch er konnte nichts Vertrautes, keine Menschenseele oder Siedlung erblicken. Das Einzige, was an eine Zivilisation erinnerte, war der rote Rettungsring, der von den Wellen hin und her gespült wurde.

Durst und Hunger meldeten sich und so machte sich Jens Jasper, nach einem wohltuenden Schluck aus der Wasserflasche, auf die Socken. Die Hoffnung, dass er auf etwas Essbares stoßen könnte, spornte ihn an, machte ihn munter.

Beim Gehen betrachtete er seine Hände. Sie waren braun gebrannt, schmal und feingliedrig. Doch er hatte nicht das Gefühl, dass er sie kannte. Er betastete sein Gesicht und stellte fest, dass er einen Dreitagebart trug. Die Haut am Halsansatz und rund um die Backenknochen fühlte sich sehr zart an. Jens befühlte Mund, Nase, Augenbrauen und zuletzt sein Haar. Es muss gewellt sein, dachte er.

Allem Anschein nach muss ich ein dunkler Typ sein, doch besonders auffallend ist meine schmale, nach unten gebogene Nase, grübelte er.

Er blickte an sich hinunter. Seine hellen Sportschuhe, seine verwaschenen Jeans waren immer noch ein wenig feucht, wie auch sein langärmeliges Shirt.

Schlagartig erfasste ihn von Neuem Panik, aber nur für einen kurzen Augenblick. Von einer eigenartigen Gelassenheit erfüllt, so als ginge ihn dies alles nichts an, durchschnitt er seine Angstphase und durchsuchte seine Hosentaschen. Sie waren leer!

Jens schob den Ärmel seines Shirts hoch und entdeckte eine Armbanduhr. Sie sieht wertvoll aus und scheint aus Gold zu sein, nahm er wahr. Auf der Rückseite des Ziffernblattes war der Name des Herstellers in feinen Buchstaben eingraviert.

„ITW-SWISS-Watches“

Doch dieser Name sagte ihm nichts, überhaupt nichts.

Beim Verschließen des Uhrarmbandes entdeckte er schwarz eintätowierte Nummern und Buchstaben auf der Innenseite seines linken, muskulösen Unterarms.

Er starrte darauf wie eine Schlange auf das gelähmte Opfer. Diese Nummern und Buchstaben ergaben für ihn ebenfalls keinen Sinn.

„p18s5j16e19a1r10“, las er laut mit erstauntem Gesicht.

Nein, damit wusste er gar nichts anzufangen!

Jens Jasper kam sich verloren vor.

Er wusste, alles hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Doch wo befand er sich? Am Anfang, eventuell in der Mitte oder schon am Ende?

Die Sonne brannte erbarmungslos auf ihn nieder, Schweiß lief in Strömen den Rücken runter und das nass verschwitzte Hemd klebte lästig auf der Haut. Erschwerend kam hinzu, dass der Rucksack schon nach einiger Zeit auf Jens‘ Haut anfing zu scheuern und die offene Stelle wie Feuer brannte, wenn der beißende Schweiß darüberlief.

„Verdammte Scheiße!“, schrie Jens laut und bemerkte dabei, wie ihm vor lauter Wut das Blut in den Kopf stieg. Und wenn er sich in diesem Augenblick selbst hätte sehen können, dann wäre er sicherlich noch mehr ausgeflippt. Sein Kopf leuchtete krebsrot vor Zornesröte. Jens sehnte sich die Kühle des Morgengrauens, die blasse Stunde der Frische, als er aufgebrochen war, wieder herbei.

„Wumm“ – Rucksack runter, und ausgelaugt mit dröhnendem Kopfschmerz ließ er sich im Schatten eines vertrockneten Strauchs wie ein nasser Sack auf den Boden plumpsen, verfluchte alles, die ganze Welt und insbesondere den schweren, scheuernden Rucksack.

In diesem Augenblick hätte er – für ein wenig innere Ruhe – dem lieben Gott alles versprochen, sogar für immer ein guter Mensch zu sein.

Alles war mit Staub bedeckt. Er lag überall auf seinem Körper. Auf dem Gesicht, in den Haaren, in den Augen. Einfach überall kroch dieses feine Scheißzeug rein, legte sich darauf. Der stetig wehende Wind sorgte ununterbrochen für Nachschub und seine roten Augen brannten wie Feuer.

„Irgendetwas Essbares muss sich doch in diesem bescheuerten, schweren Ding befinden!“, stieß er wütend hervor und kramte sämtliche Fächer durch, mit einem Puls von weit über einhundertachtzig.

Plötzlich fiel Jens auf, dass der Boden des Rucksacks nicht mit der Fachtiefe übereinstimmte. Sie reichte nicht bis auf den Boden, sie endete schon vorher. Nervös schüttete er den ganzen Inhalt ins dürre Gras, leerte ebenfalls sämtliche Außenfächer. Siehe da! Wer sagt’s denn. Der Rucksack hatte immer noch ein erstaunliches Gewicht, obwohl er augenscheinlich vollständig geleert war.

Dann, beim näheren Betrachten, entdeckte Jens auf einmal den versteckten Reißverschluss. Er war geschickt unter einem etwas andersfarbigen, aufgenähten Band, das um den ganzen Rucksack herumlief, versteckt.

„Wow, bullshit! Wo kommt das denn her?“, schrie Jens laut und voller Überraschung, als er den Reißverschluss geöffnet hatte.

Vor ihm auf dem Boden lagen massenhaft fein säuberlich gebündelte, in Plastik eingeschweißte, nagelneue Zweihundert- und Hunderteuroscheine.

„Meine Fresse, wie viel Geld mag das wohl sein? Wo kommt die ganze Kohle her?“, sprudelte es aus ihm heraus, und seine Augen quollen fast aus ihren Höhlen, erhellten sich schlagartig bei diesem Anblick.

Durst und Hunger waren augenblicklich wie weggewischt und Jens Jasper konnte seinem inneren Drang nicht widerstehen. Er musste – ob er wollte oder nicht – seinem Instinkt folgen und die Kohle sofort zählen. Automatisch wurde ihm bewusst, mit Geld kann man auf dieser Welt viel bewegen und sich ein bequemes Leben machen. Sein Puls ließ das Herz auf Hochtouren schnellen, während er das Geld genüsslich durch die Finger laufen ließ. Wie für viele andere Menschen war auch für ihn Geld die beste Apotheke. Mit ihm können sie Zufriedenheit, Liebe und Gesundheit kaufen und es bedeutet auch Macht.

„Ich fasse es nicht! Das darf nicht wahr sein. Das sind über hunderttausend! Wem gehört die Knete … und wenn sie mir gehört, wo habe ich die dann her? Hhm … bin ich eventuell auf der Flucht?“, fragte er sich fassungslos und ein wenig verdutzt, zögerlich.

„Scheiße!“, schrie er laut. Doch die Worte verhallten ungehört im Rauschen der Wellen.

„Schon ist wieder das unangenehme Fragen-Karussell bei mir am Wirken.“

„Wer bin ich? Wer bin ich? Wer bin ich? Wer bin ich?“

Unangenehm aus dem Grund, weil Jens keine Antworten bereit hatte. Und in puren Spekulationen wollte er sich nicht mehr verlieren.

„Sie bringen mich nicht weiter, diese blöden Fragen“, rief er sich zur Ordnung.

Ist ja auch egal:

Zuerst muss ich was zum Essen organisieren!

Danach müssen Fakten auf den Tisch. Aber das hat noch Zeit!

Die Landschaft wechselte zwischen Dornensavanne, Wüste und Steinen. Die ockerfarbene, manchmal ins rötlich wechselnde Ebene war gut überschaubar, denn bis auf ein paar Erhebungen – es waren kahle, steil aufragende, von Wind und Wetter ausgewaschene Felsen ohne jeglichen Bewuchs – versperrte Jens nichts die Sicht. Eine Weite, eine unendliche Weite, über die der Wind ungehindert flüsterte, und der Himmel … der sagte nichts.

So marschierte er stundenlang in diesem subtropischen Klima, die Hitze zermürbte sein Gehirn und dürre, stachelige Sträucher zerkratzten seine Beine. So sehr er sich auch bemühte, es gab kein Entkommen aus diesem heimtückischen, menschenfeindlichen Gebiet. Jens versuchte immer in der Nähe des Strandes entlangzulaufen, doch das Klatschen und Donnern der Wellen hörte er längst nicht mehr.

Das Gehen wurde inzwischen mehr und mehr zum Automatismus, der durch seinen Überlebensinstinkt gesteuert wurde. Seine Beine, ja sein ganzer Körper waren längst taub und gehörten ihm nicht mehr – sie schienen Teil einer unerbittlichen Maschine zu sein, die darauf programmiert war, zu gehen, gehen, gehen ...

Am Abend, als die ganze Landschaft, die ein einziges Flimmern war, dessen übermächtige Gewalt von der trockenen Hitze und einem glühenden Wind noch verstärkt wurde, sich im zarten Rot vor ihm ausbreitete, dachte Jens Jasper niedergeschlagen und Todesfurcht ergriff ihn:

Jetzt hat meine letzte Stunde geschlagen.

Sein Herz ängstigte ihn im ganzen Körper und die Todesfurcht ergriff ihn.

Die Furcht ließ seine ganze Muskulatur zittern und das Grauen übermannte ihn mehr und mehr.

Seine Haut war durch die stechende Sonne völlig ausgetrocknet, die den gesamten Tag auf seinen Körper geknallt hatte, sie schien die ganze Feuchtigkeit aus seinem Leib gesaugt zu haben.

Seine Zunge klebte im trockenen Mund. Seine Worte waren nur noch ein Röcheln, das aus der schmerzenden Kehle drang.

Obwohl er mit dem Wasser sparsam umgegangen war, hatte er den ganzen Vorrat tagsüber schon verbraucht.

Er konnte einfach nicht mehr klar denken, war nicht mehr Herr seiner Gedanken.

Jens war sehr nahe daran, vom salzigen Meerwasser zu trinken.

Völlig abgekämpft und übermüdet auf dem Rücken liegend betrachtete er den klaren Himmel, an dem die Sterne hell funkelten.

„Wir alle sind das Ergebnis unserer Geschichte und die meine kenne ich nicht! Ist das gut oder schlecht?“, fragte er sich, während er mit verlorenem Blick in die Unendlichkeit des Universums schaute.

„Wahrscheinlich gibt es zwei Antworten“, sagte er sich selbstsarkastisch mit einem aufgesetzten Lächeln:

„Zuerst die schlechte:

Ich habe die Bindung zu meiner Vergangenheit und somit einen Teil meines Selbst verloren.

Und jetzt die gute:

Die negative Last der Vergangenheit hat sich in nichts aufgelöst. Der alte Scheiß belastet mich nicht mehr.“

„Wow, ich glaube, ich bin Philosoph. Woher soll ich denn sonst so komische Gedanken her haben?“, sagte er mit belegter Stimme und einem rauen Lachen in dieser relativ hellen Nacht, während das Rauschen des Meeres seine Worte verschluckte.

„Hhm, könnte natürlich auch sein, dass ein Psychofuzzy mir das alles beigebracht hat“, kam es noch lächelnd über seine ausgetrockneten Lippen, als er übergangslos einschlief.

Landeinwärts konnten Jens‘ Augen in weiter Ferne im Dunst des schönen Wetters Berge ausmachen. Zumindest stellte er sich dies vor, in dieser archaischen Landschaft, in der man die pure Urgewalt der Sonne spürte. Die Luft flimmerte vor Hitze, na ja, eventuell war es auch eine Luftspiegelung, eine Fata Morgana.

Nur der leicht wehende Wind erleichterte ihm das Ganze ein ganz klein wenig.

Er fühlte sich alleine und dachte: Der Sand, die Sandkörner haben es gut, sie haben einander. Und ich … ich bin alleine.

Seit dem frühen Morgen spulte er seine Kilometer stoisch ab und der beißende, quälende Durst war längst zurückgekehrt.

Jens spürte, wie der von Durst geplagte, ausgetrocknete Körper sich immer mehr zusammenzog, sich nach Ruhe sehnte, nach großer, sehr großer Ruhe.

Die abgeschliffenen, staubfeinen Sandkörner erschwerten zusätzlich seinen Gang und ein Großteil seiner Kraft versickerte bei jedem Schritt dabei in diesem Sand nutzlos.

Und er dachte öfters daran, sich einfach in die Falten einer Sanddüne zu legen, die Augen zu schließen und zu sterben. Er war sich bewusst, er würde es nicht merken, es würde ein kurzes Sterben werden, hier, wo der Horizont, der Himmel und die Weite unendlich zu sein schienen. Doch er durfte dem Zweifel an einem Überleben keine Macht einräumen, denn er wusste, dass er, der Zweifel, eine gebrechliche Brücke ist, die schnell, sehr schnell einstürzen kann.

Die Oase

Seine Glieder waren bleischwer. Der Hunger wühlte in seinen Eingeweiden und sein leerer Magen blökte wie eine alte, unzufriedene Ziege.

Müde, am Ende seiner Kräfte, wankte er doch Schritt für Schritt weiter. Mobilisierte immer wieder nach kurzen Pausen ein wenig Energie.

Jens Jasper wusste nicht, wie lange er so marschiert war und wie lange er es noch aushalten würde, als er urplötzlich in dieser dürren, staubtrockenen Steppe einen grünen Flecken landeinwärts entdeckte.

„Kneif mich“, sagte er halblaut zu sich selbst, „eine Oase.“

Trotz Durst, Müdigkeit und bleischweren Beine erhöhte Jens augenblicklich das Tempo. Die Hoffnung gab ihm erneuten Antrieb. Und wie von Zauberhand wurde mit jedem Schritt der grüne Fleck größer und größer und sein Blick klebte stark wie Pattex darauf.

Schon konnte Jens Palmen, deren Wedel sich im Wind schwankend bewegten, erkennen, daneben die 15 bis 20 Meter hohen Johannisbäume mit ihren halbkugelförmigen, ausladenden, saftig grünen Kronen sehen. Bis er schließlich die relativ kurzen Stämme mit ihrer braunen Borke und die gewundenen, nach oben verdrehten Äste gestochen scharf ausmachen konnte.

„Sie erinnern an Menschen, die ihre Arme flehend himmelwärts ausstrecken“, dachte er laut, denn auch er hatte in den letzten Stunden die Arme mit hängender Zunge flehend gegen den Himmel gestreckt, um Wasser bittend.

Als Jens die Schatten spendenden Johannisbäume, Dattelpalmen und Maulbeerfeigen sah, unter denen vor der gleißenden Sonne geschützt Ziegen, Schafe und Kamele standen, hätte er vor lauter Freude laut jubeln können. Dieser Anblick schob seine Mundwinkel gerade nach oben und zauberte ihm ein Lächeln auf sein Gesicht.

Kläffende Hunde rannten Jens entgegen. Kleine, nackte braune Kinderfüße kamen angetippelt. Unschlüssig blieben sie mit einem scheuen Lächeln im Gesicht vor Jens stehen. Einige der kleinen Bengel hatten eine Rotznase und entzündete Augen. Allesamt mit typisch arabischen Baumwollgewändern bekleidet. Neugierig betrachteten sie ihn, Schutz suchend aneinandergedrängt, aus sicherem Abstand, schwatzten und kicherten miteinander. Kinder!

Ihre dunklen Augen strömten eine Herzenswärme und Freude aus, die sich ansteckend auf ihn übertrug. Jens spürte sofort, dieser Ort hat einen, seinen ganz besonderen Charme, und er wurde auf irgendeine besondere Weise von ihm angezogen.

Jens stand vor einem kleinen Teich, er brauchte sich nur etwas vorbeugen, um den schreienden Durst im frischen, klaren Wasser zu stillen.

Ein vollbärtiger, mittelgroßer alter Mann mit gütigen und weisen Augen, mit kurz geschorenem pechschwarzem Haar stand, aus dem Nichts kommend, unvermittelt vor Jens Jasper. Er hatte sich beim gierigen Trinken erschrocken, als er das verzerrte Spiegelbild des Einheimischen im Wasser erblickte, und sich blitzartig wieder aufgerichtet.

Trotz seines schweren, dunkelbraunen Leinengewandes und für Jens fremdartig wirkenden Aussehens, das durch die braune, runzelige, von der Sonne und dem Wetter gegerbte Haut verstärkt wurde, machte er auf ihn einen vertrauenswürdigen, um nicht zu sagen beruhigenden Eindruck.

Er strahlte übers ganze Gesicht, die Falten vertieften sich zu Furchen, als er mit rauer Stimme sprach:

„Salem aleikum, ahlan wa sahlan.“

„Ich kann Sie nicht verstehen, tut mir leid“, erwiderte Jens unruhig, als der etwas ältere Mann aufgehört hatte, zu sprechen.

Daraufhin gestikulierte er mit den Händen, machte Jens klar, dass er ihm folgen solle.

Jens lief hinter ihm her, durch die fein säuberlich angelegten Dattelpalmen-, Maulbeerfeigen- und Johannisbaumplantagen, die alle mit einem Bewässerungskanal miteinander verbunden waren.

Das quietschende, nach Öl schreiende Metallwindrad bewegte die aus einfachen, aneinandergereihten, schaufelförmigen Aluminiumblechen gefertigte Wasserpumpe.

Wie wunderschön die Natur hier ist und wie grausam sie gleichzeitig auch sein kann, dachte Jens, als er Kamele, Esel, Ziegen und Schafe genüsslich auf dem saftig grünen Boden weiden sah.

Männer und die älteren Kinder arbeiteten auf den Plantagen. Sie schauten nur kurz zu ihm mit einen Lächeln oder Nicken auf, unterbrachen ihre Arbeit jedoch nicht. Jede ihrer Bewegung war natürlich und harmonisch. Es schien ihm als, wären sie eins mit dem, was sie tun. Die Ruhe und Gelassenheit, auch das Arbeitstempo, wirkte meditativ und unbekannt. Die Einfachheit ist ihre Größe.

In der späten goldenen Nachmittagssonne lagen auf der einen Seite der Oase einfache Lehmhäuser mit flachen Dächern in Reih und Glied, die fast vollkommen mit ihrer sandfarbenen Umgebung verschmolzen. Sie waren so eng aneinandergebaut, als suchten sie gegenseitigen Schutz. Die Zwischenräume zu dem jeweils benachbarten Haus waren mit einer Steinmauer ausgefüllt, sodass ein geschlossener Schutzwall entstand und ebenfalls die Hitze aus den Häusern fernhielt und es immer angenehm kühl in ihnen war. Das Dorf strahlte etwas Echtes, Verwurzeltes aus, wie seine Bewohner, und passte sich durch die Verwendung von Baumaterialien aus der Umgebung dieser natürlich an.

Alles ist sauber, und peinliche Reinlichkeit verströmte die ganze Oase. Ständig waren Frauen und Kinder mit Palmwedeln bewaffnet dabei, den Boden und die Häuser sauber zu fegen. Später würde Jens erfahren, dass das Festhalten an einer inneren und äußeren Sauberkeit bei ihnen tiefe religiöse Wurzeln hat.

Zur Wüste hin bildete eine halbmondförmige Mauer sowie ein aufgeschütteter Wall – sicherlich zum Schutz vor Sandstürmen und Wanderdünen – die Begrenzung.

Jens‘ Blick schweifte über den großen, verträumten Teich, der im Zentrum der Oase mit vielen Einbuchtungen und üppigen Wasserpflanzen lag und dessen Uferzonen von einem sattgrünen Rasen gesäumt wurde. Kein weiches, dünnes Gras, eher hart und widerspenstig. Dahinter ruhte ein schon in die Tage gekommenes, palastähnliches Haus. Mit seinem gewölbten Torweg, den breiten Galerien um das Gebäude, dem Springbrunnen im Hof, den blühenden Orangen- und Granatbäumen, mit marmornen Vasen, die mit auserwählten tropischen Blumen gefüllt waren, erinnerte es an ein Märchenparadies. Der Palast mit seinen wundervollen Säulen, mit seinen Figuren, dem geschmückten Giebel und seinen immer noch glänzenden Marmortreppen schien jedoch schon seit langer Zeit nicht mehr bewohnt zu sein. Obwohl die Anlage sehr gepflegt wirkte, hatten sich auf den Dächern schon etliche Pflanzen angesiedelt. Es schien ein Relikt aus längst vergangener und prunkvoller Zeit zu sein.

Unweit von diesem anmutigen Gebäude, im Schatten tropischer Bäume, hielten sich einige ältere Männer auf. Sie saßen mit ihren scharf geschnittenen Gesichtszügen gedankenverloren auf einfach gezimmerten Bänken und beugten sich über ein Brettspiel. Ihrer Mimik war zu entnehmen, dass sie Spaß daran hatten, sie redeten nicht allzu viel. Auf den Tischen standen filigrane Teekannen aus Messing mit dünnen, gebogenen Hälsen. Hin und wieder nippte einer der Alten genüsslich aus den kleinen Bechern. Als sie den Neuankömmling entdeckten, lächelten sie ihn an und tauschten ein paar Worte untereinander aus.

Der Alte, der ihn hergeführt hatte, deutete ihm an, dass er ebenfalls Platz nehmen und warten sollte.

Sie schoben Jens einen Becher hin und gossen mit einer gleichmäßig rotierenden Aufwärts- und Abwärtsbewegung – mit lautem, plätscherndem Geräusch – Tee ein. Er nippte vorsichtig am Becher. Der gelbliche, warme Tee breitete augenblicklich sein zartes Minze-Aroma in seiner Mundhöhle aus. Er war erfrischend und weckte seine Lebensgeister, zauberte ihm ein zufriedenes Grinsen ins Gesicht. Er schmeckte fantastisch nach den ertragenen Strapazen.

Einer der Alten, mit runzliger Lederhaut, stand schwatzend und gestikulierend auf, verschwand in einem der einfachen Lehmhäuser und kam nach kurzer Zeit mit Fladenbrot in der Hand zurück, legte es selbstzufrieden vor Jens hin auf den Tisch. Jens war es unmöglich, sich zurückzuhalten, ohne Umschweife griff er hastig zu. Sein Heißhunger war inzwischen wieder zurückgekehrt und hatte sich mit mehrfachem, lang anhaltendem Knurren in der Magengegend laut bemerkbar gemacht, das den Anwesenden nicht entgangen war und das sie mit einem versteckten Grinsen kommentierten. Die Alten kicherten, als sie sahen, wie Jens das ganze Brot gierig, ohne richtig zu kauen, hinunterschlang.

Der Beduine

Auf einmal herrschte absolute Stille. Alle verharrten für einen kurzen Augenblick, es waren nur die im Saharawind wiegenden Palmwedel und das quietschende Windrad zu hören.

Ein Mann, er war schätzungsweise in Jens‘ Alter, mit leicht gebogener Nase und fliehender, königlich anmutender Stirn, war plötzlich aufgetaucht, schaute Jens an, und der war wie benommen von seiner aufrechten, würdevollen Erscheinung und seinem edlen Gesicht.

„Salem aleikum, ahlan wa Sahlan“, sagte er lächelnd mit einer Verbeugung und kreisender Handbewegung. Das Ganze, umsäumt durch sein leicht fallendes, türkisfarbenes Gewand, vermittelte etwas Majestätisches.