1,99 €
Liebe in schwierigen Zeiten - Teil 2 des sechsteiligen Serials »Der Sommer der Freiheit« Selma ist die Tochter einer angesehenen Zeitungsverlegerfamilie und fährt mit ihrer Familie wie jedes Jahr in die Sommerfrische nach Baden-Baden. Man genießt das elegante Ambiente, die Konzerte und Bälle. Selma hat gerade – zum Entsetzen der Mutter! – das Autofahren gelernt und wartet ungeduldig auf die Ankunft ihres Verlobten Gero. Da lernt sie bei einem Ausflug ins nahe gelegene Elsass den französischen Fotografen Robert kennen – und es ist um sie geschehen. Doch wir schreiben das Jahr 1913, und bald wird der Geliebte zu den Feinden zählen …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 159
Heidi Rehn
Der Sommer der Freiheit 2
Serial Teil 2
Knaur e-books
Es begann im Sommer 1913
Selma ist die Tochter einer angesehenen Zeitungsverlegerfamilie und fährt mit ihrer Familie wie jedes Jahr in die Sommerfrische nach Baden-Baden. Man genießt das elegante Ambiente, die Konzerte und Bälle, Selma hat gerade – zum Entsetzen der Mutter! – das Autofahren gelernt und wartet ungeduldig auf die Ankunft ihres Verlobten Gero. Da lernt sie bei einem Ausflug ins nahe gelegene Elsass den französischen Fotografen Robert kennen – und es ist um sie geschehen.
Doch wir schreiben das Jahr 1913, und bald wird der Geliebte zu den Feinden zählen …
Aufbruch
…
Selma fühlte sich reichlich erschöpft, als sie den roten Audi in die Einfahrt zum Bellevue lenkte. Constanze hatte sie bereits eingangs der Lichtentaler Allee beim Angleterre abgesetzt. Sie war der Kleinen dankbar, dass sie während der Rückfahrt geschwiegen hatte. Zu sehr waren sie beide in Gedanken mit Roberts Abschied beschäftigt gewesen. Wahrscheinlich hatte er doch kalte Füße bekommen, weil er sie beide sehr anziehend fand. Männer! Gegen ihren Willen musste sie lachen. Letztlich waren sie doch alle gleich, ganz egal, ob aus Deutschland oder Frankreich, aus einem Kaff wie Belfort oder einem ostpreußischen Nest.
Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf und beschloss, Robert vorerst aus ihrer Erinnerung zu verbannen. Stattdessen würde sie sich einzig der unbekümmerten Zeit mit dem Küken widmen. Wieder einmal pries sie den Zufall, der ihr die Autopanne und damit die Freundschaft mit Constanze beschert hatte.
Die Sonne war inzwischen ganz hinter der Bergkette im Westen verschwunden. Über das Oostal legte sich abendlicher Frieden, Natur und Mensch bereiteten sich auf die Nacht vor. Die herrschaftliche Fassade des Hotels schimmerte elfenbeinfarben in der Dämmerung, die üppige Blumeninsel inmitten der Auffahrt leuchtete im Licht der aufgestellten Laternen von Gelb über Weiß, Rot, Blau bis hin zu vornehmem Violett weitaus kräftiger als bei Tag. Selbst die jahrhundertealte Eiche nahe dem Nordflügel war von mehreren Lampen angestrahlt, als fürchtete man, sie könne im Dunkel der Nacht ihr legendär langes Leben aushauchen.
Selma ließ den Wagen ausrollen. Exakt in Höhe des Portikus kam er zum Stehen. Beflissen eilte einer der livrierten Hoteldiener herbei, öffnete den Schlag, reichte ihr unter einer tiefen Verbeugung die Hand, um ihr hinauszuhelfen und den Audi anschließend in die reservierte Garage zu fahren. Lässig steckte sie dem Mann eine Münze in die Tasche seiner Uniform.
»Sie werden im Gartenpavillon erwartet, gnädiges Fräulein«, teilte ihr der Empfangschef mit, als sie den Schlüssel zu ihrem Zimmer entgegennahm. Fragend zog sie die Augenbrauen hoch. Er fühlte sich bemüßigt, hinzuzufügen: »Ich fürchte, es ist dringend, Fräulein Rosenbaum.«
Sie seufzte. Jede einzelne Faser ihres Körpers lechzte nach einem ausgiebigen Schaumbad in der Wanne des komfortablen Privatbads, das den besonderen Reiz ihres Zimmers im ersten Stock ausmachte. Ein anstrengender Tag lag hinter ihr. Sie wollte die letzten Stunden mit den Freunden in Ruhe verdauen, noch ein wenig dem Erlebten wie auch dem Noch-nicht-Erlebten hinterherträumen.
»Fräulein Rosenbaum?« Die Stimme des Portiers riss sie aus ihren Gedanken.
»Danke, ich habe verstanden«, beeilte sie sich zu versichern. Statt sich einem duftigen Bad hinzugeben, musste sie wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und sich, verschwitzt und erschöpft, wie sie war, Heddas Vorwürfen aussetzen. Bestimmt trug die Mutter ihr nach, so viel mit dem Auto herumzufahren, statt ihre Zeit an der Seite der Eltern zu verbringen. Gerade weil Vater Joseph und Grischa früher als geplant nach Berlin abgereist waren, dürstete die Mutter nach Aufmerksamkeit. Nicht sonderlich wohlgestimmt, eilte Selma, den schweren Schlüssel in der rechten Hand wiegend, in der linken den Strohhut und den Seidenschal knetend, quer durchs Foyer in den Westflügel und von dort in den Garten.
Die zierlichen Empiremöbel im Damensalon wirkten jungfräulich verlassen. Matt klackten die Absätze ihrer hellen Schuhe über den schwarz-weiß gefliesten Boden. Beim Anblick des leeren Vogelkäfigs nahe der Terrassentür fühlte sie einen Stich in der Brust. Sie zwang sich, nicht weiter über die unbedarfte Tat und ihre furchtbare Auswirkung gleich zu Beginn der Ferien nachzudenken. Als schlechtes Omen durfte sie das keinesfalls deuten.
Noch auf den Stufen der Terrasse erspähte sie bereits die Runde, die sich nahe dem Pavillon auf den weißen Gartenmöbeln im Schein einer Lichterkette eingefunden hatte. Neben Meta und Hedda saßen dort zwei elegant gekleidete Herren, die langen Beine lässig übereinandergeschlagen, die Zigarette in der Hand, angeregt in ein Gespräch vertieft. Jeden von den beiden hätte sie selbst aus größter Entfernung von hinten erkannt, so vertraut war sie mit ihnen. Ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer. Die Müdigkeit war wie weggeblasen.
»Gero! Papa!« Ausgelassen wie ein junger Backfisch stürmte sie zu der kleinen Gruppe hinüber. Die übrigen Gäste warfen ihr teils erstaunte, teils missbilligende Blicke zu. Ein weißer Malteser kläffte aufgeregt, bis sich seine Herrin, die Generalswitwe von Heimsheim, zu ihm herunterbeugte und ihn unter beruhigenden Worten auf den Arm nahm. Freifrau von Heimsheim kniff die schmalen Lippen zusammen und schritt, das Bündel Hund auf dem linken Arm balancierend, hoch erhobenen Hauptes von dannen.
»Jetzt weiß ich, was ich vermisst habe. Es kam mir die ganze Zeit so schrecklich ruhig vor«, konstatierte Meta trocken und sah ihr kopfschüttelnd nach.
»Mit der Ruhe ist es jetzt ein für alle Mal vorbei. Unser geliebter Wirbelwind ist endlich da!« Gero erhob sich von seinem Platz und trat zu Selma, schaute dabei kurz zu Hedda und Joseph Rosenbaum, um sich ihres Einverständnisses zu versichern. Gut erzogen, wie er war, würde er den Eltern natürlich jederzeit den Vortritt bei der Begrüßung der Tochter lassen. Selma indes kümmerte sich wenig um die richtige Reihenfolge. Beglückt warf sie sich dem Geliebten entgegen. Nur einen Moment erschreckte sie über ihren Wankelmut, waren doch noch keine drei Stunden vergangen, seit sie mit Constanze und Robert auf der Wiese nahe Sessenheim gelegen hatte. In Geros Armen aber fand sie die einzig mögliche Zukunft.
»Welch wundervolle Überraschung!« Ehe er Luft schnappen konnte, überschüttete sie ihn mit Küssen und Zärtlichkeiten. Nicht einmal der herbe Tabakgeruch, der in seinem Rock hing, störte sie in diesem Moment. Gero versuchte, sich gegen ihr Ungestüm zu wehren, was es für sie nur noch reizvoller machte. Jeder Kuss entfernte sie ein Stück mehr von den beiden anderen, die in den letzten Tagen ihr Herz in Beschlag genommen und den Verlobten vorübergehend daraus verdrängt hatten.
»Selma, bitte!«, hörte sie Heddas mahnende Stimme. »Denk daran, wo du dich befindest.«
»Lass der Kleinen die Freude.« Wie immer regte sich Metas Widerstand gegenüber der Tochter. »Seit Wochen haben die beiden sich nicht gesehen. Da ist das durchaus erlaubt. Oder hast du schon vergessen, wie wundervoll die Liebe ist?«
»Mama!«, protestierte Hedda.
Gero nutzte ein kurzes Luftholen Selmas, um sie behutsam, aber bestimmt von sich wegzuschieben. »Wie schön, dass du dich so über meine Ankunft freust, Darling.«
»Sollte ich das etwa nicht?« Einen Atemzug lang befürchtete sie, Gero könnte ihr das schlechte Gewissen anmerken. Dann aber entdeckte sie das begehrliche Glitzern in seinen Augen, das sie allzu gut kannte, und sie wusste wieder, wie sehr es auch ihn nach ihr verlangte. Mit ihm würde sich für sie in der folgenden Nacht erfüllen, was mit den beiden anderen für sie nur bloße Sehnsucht war. Sie sonnte sich in dem anerkennenden Schmunzeln, das seine blassen Lippen umspielte, betrachtete ihn mit Genugtuung. Da er sie um knapp einen Kopf überragte, musste sie dazu leicht den Blick heben.
Natürlich wirkte er blasser und schmaler als Robert, weitaus weniger sportlich trainiert. Ein nicht zu leugnender Tribut an seine Arbeit als Rechtsanwalt, das Leben in der Großstadt. Damit einher ging bei ihm eine selbstverständliche Weltläufigkeit, die die Blässe wie eine Grundbedingung voraussetzte und ihm das gewisse Etwas verlieh. Sein Haupt war barhäuptig, der helle Strohhut mit dem obligatorischen schwarzen Band lag abseits auf einem der Stühle. Sein blondes Haar trug er straff zurückgekämmt, was die leicht abstehenden Ohren und die markanten Wangenknochen betonte. Die Herzform seines Gesichts war unverkennbar. Aus den grün-braunen Augen blitzte der Schalk. Trotz der vielen Arbeit, die ihn angeblich seit Wochen daran hinderte, sich ihrer Sommerfrische anzuschließen, musste er in letzter Zeit einige Stunden in der Sonne verbracht haben. Das verrieten die ausgebleichten Augenbrauen, ebenso zeigte sein heller Teint vor allem im Nacken erste Anflüge von ungesunder Röte. Der gestreifte, leichte Anzug in hellen Grautönen saß wie stets akkurat an seinem schlanken Leib. Das weiße Einstecktuch in der Brusttasche war exakt gefaltet. Ebenso verrieten die nach unten enger werdenden Hosen und die tadellosen weißen Lederschuhe, dass er sich vermutlich erst vor kurzem umgezogen hatte. Noch mangelte jede Falte, die sich nach dem Sitzen selbst auf den bequemsten Stühlen früher oder später in den Kniekehlen einstellte. Ebenso zierte kein Staubkorn die Kappen der Schnürschuhe.
»Willst du deinen alten Vater nicht auch endlich begrüßen?«, meldete sich die dunkle Stimme des Vaters. Schweren Herzens wandte sie sich von Gero ab, der die Geste mit einem verheißungsvollen Augenzwinkern begleitete.
»Aber natürlich, allerliebster Vater dieser Welt!«, rief sie betont munter und fiel Joseph etwas weniger stürmisch um den Hals als vorhin Gero, küsste ihn schmatzend rechts und links auf die Wangen. Sein struppiger Bart verhinderte übertriebene Zärtlichkeiten. Gleich räusperte er sich verlegen, woraufhin Selma ihn wieder freigab.
»Du wirst dich daran gewöhnen, nicht mehr den ersten Platz im Herzen deiner Tochter einzunehmen«, verkündete Hedda und warf dem Schwiegersohn in spe einen bewundernden Blick zu.
»Seit wann seid ihr da?«, überging Selma die Bemerkung. »Warum habt ihr nicht angerufen und uns rechtzeitig von eurer Ankunft informiert? Hätte ich vorher gewusst, wann ihr kommt, hätte ich euch mit dem Wagen …«
»Das glaube ich dir aufs Wort, Darling.« Gero schmunzelte. »Schnell wie der Blitz wärst du von wo auch immer zum Bahnhof gerast. Aber genau das galt es zu verhindern. Wir wollten euch überraschen und sind erst vor einer knappen Stunde eingetroffen. Um dich nicht zu unüberlegten Taten zu verleiten, habe ich deinen Vater beschworen, niemanden vorher zu benachrichtigen.«
»Die Überraschung ist euch gelungen.« Von neuem schaute sie ihren Vater an. Etwas an ihm war anders als sonst.
»Du hast einen neuen Anzug«, stellte sie fest und tat, als müsste sie mit den Fingern ein Staubkorn von seiner Schulter wegschnippen. »Lass dich bewundern. Du siehst gleich zehn Jahre jünger aus!«
Sie trat einen Schritt zurück und begutachtete die ungewohnt elegante Aufmachung des Vaters. In der Tat saß sein Anzug ausnahmsweise tadellos an der schlanken Figur. Stoff und Schnitt waren ganz auf der Höhe der Zeit, ebenso trug er eine moderne Krawatte wie auch ein passendes Hemd. Selbst der Backenbart schien besser in Form als üblich. Flüchtig äugte Selma zu den Schuhen hinunter, an denen sie ebenfalls nichts auszusetzen fand. Verschwörerisch zwinkerte sie Gero zu. »Ich wette, du hast ihm endlich die Adresse deines Schneiders verraten.«
»Nicht ganz, mein Täubchen, nicht ganz«, knurrte Joseph, offensichtlich beleidigt, dass sie ihm keinen eigenen Geschmack zutraute. »Bevor ich deinen Bruder in Döberitz abgeliefert habe, war ich mit ihm bei Wertheim in der Leipziger Straße. Nachdem ihr Frauen dort gern ein halbes Vermögen hinterlasst, wollte ich mir das Angebot auch einmal genauer anschauen. Grischa hat mich überzeugt, mir bei der Gelegenheit etwas Neues, Moderneres zuzulegen. Er meinte, ich könnte mich sonst kaum mehr hier in Baden-Baden auf der Kaiserpromenade sehen lassen. Dabei sind meine alten Anzüge vom besten Schneider …«
»Das ist wohl das erste Mal, dass du einen solchen Rat befolgst.« Hedda klang beleidigt. »Wenn du nur ein Mal auf mich gehört hättest, hättest du das alles schon viel früher haben können. Seit Jahren versuche ich dir beizubringen, dass das, was man zu Hause in Bonn zu schneidern pflegt, nicht dem entspricht, was man in Berlin oder Baden-Baden trägt.«
»Angesichts der hitzigen Debatten im Reichstag hat Ihrem werten Herrn Gemahl bislang schlichtweg die Zeit für solche Einkäufe gefehlt, gnädige Frau«, erlaubte sich Gero anzumerken und suchte Heddas Blick. Ob seines Charmes schmolz sie dahin. »Für uns Bürger ist es schwerlich nachzuvollziehen, unter welchem Druck die Abgeordneten die letzten Monate litten. Solange die Balkankrise schwelte und die Heeresvorlage zur Entscheidung anstand, war für sie an nichts anderes zu denken als an das Wohl unseres geliebten Kaiserreiches. Männern wie Ihrem verehrten Herrn Gemahl gebührt deshalb mein allergrößter Respekt.«
Er deutete ein Zusammenschlagen der Hacken an und verneigte sich vor Joseph. Selma war das ebenso unangenehm wie dem Vater. Auch Meta runzelte die Stirn. Lediglich Hedda schmolz ob Geros Charme dahin.
»Sie haben recht, Herr von Sudloff. Wie gedankenlos von mir, meinem Gemahl Vorhaltungen zu machen, wo er sich derart aufopferungsvoll seinen Pflichten gewidmet hat.«
»Aber nein«, wiegelte Gero ab. »Eine Dame wie Sie muss sich niemals dafür entschuldigen, bei ihren Überlegungen die Politik außen vor zu lassen. Dafür sind doch wir Männer da.«
»Heißt das, wir Frauen sollen uns von der Politik fernhalten?« Selmas Ton wurde lauernd.
»Darling, du siehst wie immer bezaubernd aus«, überging Gero den Einwand und griff nach ihren Händen, wirbelte sie einmal schwungvoll um die eigene Achse. »Diese entzückende Falte zwischen deinen Augen, wenn du dich empörst, ist atemberaubend. Überhaupt bist du wie immer atemberaubend anzusehen. Ich hätte dir schon früher einen Wagen schicken sollen. Das Fahren mit offenem Verdeck verleiht deinem Teint eine verführerische Frische.«
Er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund. Die plötzliche Zärtlichkeit widerstrebte ihr. Zu sehr hing sie in Gedanken noch bei der gerade gehörten Bemerkung über Frauen und Politik. Sobald sie Heddas kaum unterdrücktes Schnaufen ob der abermaligen Dreistigkeit gewahr wurde, sich in der Öffentlichkeit zu küssen, genoss sie es jedoch, Geros weiche Lippen auf den ihren zu schmecken. Voller Vorfreude öffnete sie den Mund, lockte seine Zungenspitze mit der ihren und vergaß sich einen Moment völlig in dem Gefühl, ihn ganz bei sich zu wissen. Fest presste sie sich gegen seinen Leib, meinte durch die Kleidung hindurch die Hitze seines Körpers zu spüren. Genau das war es, wonach es sie seit Wochen verlangte. Kein Wunder, dass ein halbwegs charmanter Flirt wie der mit Robert oder Constanze ihr kurzzeitig den Verstand raubte. Eine Frau wie sie gierte einfach nach Liebe.
Zu ihrem Leidwesen besann sich Gero viel zu früh wieder darauf, dass sie vor den Augen ihrer Eltern bestehen mussten, und zog sich aus der Umarmung zurück. »Dein Temperament ist umwerfend, Darling.«
»Genau dafür liebst du mich doch, oder?«
»Nicht nur dafür, wie du weißt«, wisperte er ihr ins Ohr. Die sachte Berührung seiner Lippen kitzelte sie, sein verschwörerischer Blick machte sie frösteln. Laut verkündete er ihren Eltern: »Wenn Sie gestatten, entführe ich Ihre Tochter nachher zum Eröffnungsball des Tanzturniers ins Konversationshaus. Heute Abend stehen moderne Gesellschaftstänze auf dem Programm. Das dürfen wir nicht verpassen.«
»Eine hervorragende Idee!« Meta klatschte Beifall. »Bestimmt wird auch Tango getanzt. Ach, was gäbe ich darum, noch einmal so jung zu sein wie ihr beide! Gleich würde ich diesen lästigen Stock beiseitewerfen und mich im Rhythmus der Musik wiegen.«
»Ein langsamer Walzer täte es da durchaus auch schon«, merkte Hedda spitz an.
»Ein Tango ist aber viel sinnlicher, mein Kind«, erwiderte Meta und schürzte amüsiert die Lippen. »Gerade dass der Kaiser den Offizieren verboten hat, ihn in Uniform zu tanzen, hat seine Attraktivität enorm gesteigert. Ach, jung müsste man sein und kein Hüftleiden haben. Was würde ich die Nächte durchtanzen!«
»Vielleicht sollten wir uns auch einmal im Tango versuchen, Liebling?«, schlug Joseph in einem Anflug von Übermut seiner Frau vor, was diese stark verunsicherte. Mit einem einvernehmlichen Blick verständigten sich Selma und Gero, die drei allein zu lassen.
Unter Geros Führung schwebte Selma geradezu übers Tanzparkett. Es tat gut, den Liebsten nah bei sich zu wissen, seine Hände auf dem Körper zu spüren, den Duft seiner sorgsam gepflegten Haut einzuatmen. In Wahrheit hatte sich die ganze Zeit jede Faser ihres Leibes nur nach ihm verzehrt! Er schien genau zu wissen, wie sie sich fühlte. Mit der Leichtigkeit des Rags entführte er sie in eine andere Welt, in der allein die absolute Harmonie ihrer Bewegungen mit der Musik zählte. Zu ihrer Überraschung wechselte die Kapelle im Verlauf des Abends im Konversationshaus den bewährten Dreivierteltakt des klassischen Walzers gegen den stärker betonten Boston und den rascheren Zweivierteltakt des Tangos bis hin zum rhythmischen Rag. Die meisten Paare verstanden sich auf die individuelleren Tanzformen und drängten die gemächlich im Kreis schwelgenden Paare alter Schule mehr und mehr an den Rand. Auch Gero erwies sich als wahrer Meister, der Selma eng zu sich heranzog, die Beine waghalsig mit ihr kreuzte, sie für die Achten übermütig ausholen ließ und sie anschließend schwungvoll um die eigene Achse wirbelte, bevor es Wange an Wange eng aneinandergeschmiegt in die entgegengesetzte Richtung weiterging. Sie bewegten sich im selben Rhythmus, atmeten im selben Atemzug, verschmolzen mit jedem Schritt mehr ineinander.
In dieser Nacht schienen ihnen Rag und Onestepp mehr als sonst im Blut zu liegen, der Tango in seiner ganzen Verruchtheit berauschte sie geradezu. Mit allen Sinnen spürte, roch, wusste Selma Gero bei sich. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien vor Glück. Welch wundervolle Fügung hatte ihr diesen Mann vor die Füße geweht! Nie mehr wollte sie ihn missen. Voller Dankbarkeit dachte sie an ihre Freundin Luise, die sie miteinander bekannt gemacht hatte. Zwar grollte Luise ihr seither ein wenig, hatte sie doch selbst ein Auge auf den gutaussehenden Rechtsanwalt mit ostpreußischen Wurzeln geworfen, früher oder später aber würde sie ein anderes begehrenswertes Objekt aus der Männerwelt erjagen.
Auf leichten Druck von Geros linkem Oberschenkel hin zog Selma das rechte Bein hoch, vollführte mit dem Fuß in der Luft einen Kick, um den nächsten Schritt wieder parallel zu dem seinen zu setzen. Von neuem ging es acht Taktschläge vorwärts, dabei lockten ihre Körper einander, stießen sich in einer Drehung von sich, vereinten sich beim nächsten Blick wieder. Selmas knöchellanges Kleid mit der hoch angesetzten Taille und dem Schrägschnitt der Stoffbahnen war ideal für die Abfolge der Figuren. Gerade beim Ausführen der Achten und Drehungen erwies sich der kniehohe Schlitz auf der rechten Seite als spektakulärer Blickfang.
»Du verdrehst allen Männern im Saal den Kopf, Darling«, raunte ihr Gero bei der nächsten Drehung ins Ohr, presste seine glatt rasierte Wange einen Moment fest an ihre. »Ich darf dich nicht loslassen, sonst schießt einer der lauernden Fräcke auf dich zu und entführt dich direkt aus meinen Armen.«
»Mir geht es kaum besser«, erwiderte sie und ruckte wie gefordert mit dem Kinn zur anderen Seite hinüber. »Wenn Blicke töten könnten, läge ich jetzt mausetot auf dem Parkett. Die Damenwelt hat sich dich als Beute auserkoren und verschlingt dich bereits aus der Ferne mit Haut und Haar.«
»Um größere Schäden zu vermeiden, sollten wir die Flucht antreten, sonst erleben wir den morgigen Tag nicht mehr.«
»Flucht ist immer gut. Ich folge dir überallhin, Liebster!«