8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 1,99 €
Abrupter und schmerzhafter kann das Schicksal kaum zuschlagen: Als Eva nur wenige Monate nach der Hochzeit ihren Mann durch einen Unfall auf See verliert, erstarrt sie vor Schmerz und Entsetzen. Ihr gerade erst begonnenes Leben als glückliche Ehefrau soll schon zu Ende sein? Eva fühlt sich völlig allein in ihrer Trauer und reist kurzerhand nach Tasmanien, um Trost bei Jacksons Angehörigen zu finden. Doch so bezaubernd die australische Insel ist, so abweisend verhält sich Jacksons Familie. Warum nur wollen sein Vater und sein Bruder partout nicht über ihn sprechen? Auf Eva warten schockierende Wahrheiten, die sie zu einem schicksalhaften Sommer in der Vergangenheit führen - dem Sommer, in dem es zu schneien begann.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2015
Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Franz
Die englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »A Single Breath« bei HarperCollins UK, London.
ISBN 978-3-492-96931-4
November 2015
© by Lucy Clarke 2014
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Covergestaltung und Artwork: Lena Kleiner/Favoritbuero, München
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Jackson zieht sich die Mütze über die Ohren und wirft noch einen Blick auf Eva, die sich im Bett zusammengerollt hat, die Bettdecke unter das Kinn gestopft. Mit geschlossenen Augen murmelt sie schläfrig etwas vor sich hin. Geh nicht, soll das heißen.
Aber er muss gehen. Er kann nicht neben ihr liegen, wenn er sich so fühlt wie in diesem Moment. Seit Stunden liegt er schon wach, starrt in die leere Dunkelheit und zermartert sich das Gehirn, weil er an seine Entscheidungen und ihre Folgen denken muss. Er muss raus aus diesem Haus, muss den kalten Winterwind im Gesicht spüren.
Zuvor aber hebt er die Bettdecke noch einmal an, gerade genug, um Evas nackte Schulter freizulegen. Er berührt sie mit den Lippen und atmet den Duft der schlafwarmen Haut ein. Schließlich deckt er sie wieder zu, nimmt seine Angelausrüstung und geht.
Der Strand liegt menschenleer im Dämmerlicht. Es ist einer dieser englischen Tage, an die er sich immer noch nicht gewöhnt hat, weil es nie richtig hell wird und im Haus von morgens bis abends das Licht brennt. Er läuft in den Wind und lässt die Schultern kreisen, um sich warm zu halten.
Als er zu der Stelle kommt, wo sich die Felsen ins Meer hineinziehen, bleibt er stehen. Er beobachtet, wie die Wellen auf die Klippe zurollen und sich in einer Explosion von weißem Schaum brechen. Nach einer Abfolge besonders heftiger Wellen klettert er hinauf und eilt von einem Felsen zum nächsten, um das äußerste Ende der Formation zu erreichen. An dieser Stelle werden die Fische anbeißen, da die Strömung dort am stärksten ist. Die Leichtfüßigkeit verdankt er seiner Kindheit in Tasmanien, wo er barfuß über die Felsenkliffs gelaufen ist, um sich dann von oben herab ins Meer zu stürzen, jubelnd und kreischend, bis das Wasser ihn verschlang.
Bevor die nächsten Brecher heranrollen, hat er das Ende der Klippe erreicht. Die Felsen hinter ihm verschwinden im aufspritzenden Schaum. Starke Böen lösen Gischt von den Wellenrücken und durchsetzen die Luft mit Feuchtigkeit. Er dreht sich vom Wind weg, hockt sich hin und öffnet seinen Angelkasten. Verdammt, wenn er doch nur Handschuhe angezogen hätte. Hier draußen ist es schneidend kalt. Eisige Gischt spritzt ihm in den Nacken. Seine Finger sind so taub, dass er einen Köder fallen lässt und ihn zwischen den Felsen wieder herausfischen muss. Beim zweiten Versuch gelingt es ihm schließlich, den Köder auf dem Haken zu befestigen.
Dann wirft er die Leine aus. Die Bewegung, die etwas so Vertrautes und Beruhigendes hat, verfehlt an diesem Morgen ihre Wirkung, zu sehr ähneln seine Gedanken dem Meer, das trostlos unter dem wütenden Himmel brodelt. Als er auf dem Felsen steht und sein Körper allmählich vor Kälte erstarrt, beschleicht ihn das Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis alles ans Licht kommt. Es ist, als würde er sich Schicht um Schicht häuten, bis nichts mehr zu sehen sein wird als die spitzen Knochen der Person, die er in Wahrheit ist.
Beim Vibrieren seines Handys schreckt er zusammen. Mit einer Hand hält er die Angel fest, während er mit der anderen in der Manteltasche kramt. Das wird Eva sein. Schnell schiebt er die finsteren, zerstörerischen Gedanken beiseite. Sein Gesicht entspannt sich, als er sich den Klang der schläfrigen Stimme vorstellt, mit der sie ihn bitten wird, ins Bett zurückzukommen.
Genau das wird er tun, denkt er, und alles andere einfach vergessen. Wenn er sich beeilt, kann er in zehn Minuten bei ihr sein. Er wird ins warme Bett zurückschlüpfen, sich an ihren zusammengerollten Körper schmiegen und begreifen, dass dies die Wirklichkeit ist.
Als er den Anruf annimmt, ist es allerdings nicht Evas Stimme, die er hört.
Als Eva das schützende Land verlässt, schlägt ihr erbarmungslos der Wind entgegen und bläst ihr die Haare aus dem Gesicht. Sie drückt die Thermoskanne mit dem Kaffee an die Brust. Sandwolken fegen die Küste entlang und treiben ein Knäuel aus Angelschnüren vor sich her.
Eine Frau kommt ihr entgegen. Der Wind presst den violetten Mantel in ihren Rücken, und ihr Gesicht verschwindet in der mit Pelz verkleideten Kapuze. Eva wünschte, sie hätte auch an eine Kopfbedeckung gedacht. Sie hatte ganz vergessen, wie rau das Klima an der Küste sein konnte. In London schützen die Gebäude vor den Unbilden des Wetters, das man ohnehin meist nur vom Fenster aus erlebt.
Jackson und sie waren gestern Abend zum Geburtstag ihrer Mutter nach Dorset gekommen. Der Aufbruch war hektisch gewesen. Eva war im Krankenhaus aufgehalten worden, weil sie noch einen Fötus dazu anregen musste, sich in die Schädellage zu drehen, hatte es aber trotzdem geschafft, das Geschenk für ihre Mutter einzupacken und das Geschirr vom Frühstück zu spülen. Jackson war noch später gekommen, erschöpft von einer Sitzung, die sich ewig hingezogen hatte. Die ganze Woche war so gewesen: Sie hatten zu verschiedenen Zeiten etwas Essbares in sich hineingestopft, hatten die Spannungen von der Arbeit mit heimgebracht und waren zu spät und zu erschöpft ins Bett gefallen, um sich noch unterhalten zu wollen. Jetzt genießt sie es, dass sie ein ganzes Wochenende haben, um einfach zur Ruhe zu kommen.
Vor ihr tauchen die Felsen auf, wo Jackson angeln wird, gewaltige, düstere Brocken, die direkt ins Meer hineinragen. Eva fragt sich, ob er schon etwas gefangen hat. Es hatte gerade erst zu dämmern angefangen, als sie gespürt hatte, wie die Matratze nachgibt und Jackson aus dem Bett schlüpft. Sie hatte gehört, wie er in seine Jeans steigt, einen Pullover überstreift und den Reißverschluss seines Mantels zuzieht. Dann hatte er sich über das Bett gebeugt und ihr einen Kuss auf die nackte Schulter gedrückt. Sie hatte die Augen gerade weit genug geöffnet, um sehen zu können, wie er zur Tür hinausgeht, die rote Mütze weit über die Ohren gezogen.
Direkt hinter den Felsen sieht sie ein Boot aufblitzen. Im nächsten Moment ist es schon wieder in einem Wellental verschwunden, und sie denkt, dass die Wetterverhältnisse zu schlecht sind, um aufs Meer hinauszufahren. Sie blinzelt in den Wind und sieht, wie das Boot von einer Welle wieder emporgehoben wird: ein orangefarbenes Rettungsboot. Sie fragt sich, ob es einen Unfall gegeben hat. Und kaum hat sie diesen Gedanken gefasst, spürt sie, wie sich ein gewisses Unbehagen in ihrem Körper ausbreitet.
In ihrer Kindheit, als ihr Vater noch gelebt hatte, waren sie im Sommer jeden Morgen zum Baden an diesen Strand gekommen. Ihr Vater war auf dem Rücken geschwommen und mit ausladenden Bewegungen seiner langen, knochigen Arme durch das Wasser gepflügt. Eva hatte diese Strandpartien geliebt. Das Wasser war ruhig gewesen, und die frühe Morgensonne hatte auf der Wasseroberfläche geglänzt. Heute hat das Meer etwas Dunkles, Abweisendes.
Sie sucht die Felsen nach Jackson ab, und der Wind treibt ihr die Tränen in die Augen. Er muss dort sein; an dieser Stelle angelt er immer, wenn sie bei ihrer Mutter sind. Im Moment wird das Einheitsgrau von Meer und Himmel allerdings nur von dem Rettungsboot durchbrochen. Obwohl sie sich sagt, dass es vielleicht nur ein Übungseinsatz ist, fängt sie an, sofort loszurennen.
Die Thermoskanne schlägt ihr gegen die Hüfte, ihre Stiefel wirbeln Sand auf, und sie atmet hektisch. Sie fühlt sich durch die vielen Kleidungsschichten eingeengt – die Jeans klemmt an den Knien, und die Mantelknöpfe drücken ihr aufs Brustbein.
Als sie die Stelle erreicht, wo die Klippe beginnt, steht schon ein Dutzend Leute dort herum. Sie mustert die Gruppe und lässt den Blick dann über die Felsen schweifen, wo die Wellen anbranden und weiße Gischt in den zerrissenen Himmel jagen. Schwerer Salzgeruch liegt in der Luft.
Von Jackson ist nichts zu sehen.
Eva eilt zu einem Mann, der fast in seiner Öljacke verschwindet. Der Wind zerzaust seine stahlgrauen Augenbrauen. »Wieso ist da ein Rettungsboot?«, fragt sie und gibt sich Mühe, sich ihre Panik nicht anmerken zu lassen.
»Jemand wurde von den Felsen heruntergespült.«
»Wer?«, fragt sie aufgeregt.
»Angeblich ein Fischer.«
Im ersten Moment ist sie erleichtert, weil sie weiß, dass ihr Mann kein Fischer ist: Er ist dreißig Jahre alt und arbeitet in der Marketingabteilung einer Getränkefirma. Dann aber hört sie den Mann sagen: »Offenbar ein junger Mann. Vielleicht hat er ja bessere Chancen, im eiskalten Wasser zu überleben.«
Eva fühlt die Luft aus ihren Lungen entweichen, als würde ihr jemand den Brustkorb eindrücken. Sie lässt die Thermoskanne fallen, holt ihr Handy aus der Tasche und reißt sich die Handschuhe von den Fingern. Die sind starr vor Kälte, aber sie dreht sich mit dem Rücken in den Wind und wählt Jacksons Nummer.
Das Handy ans Ohr gepresst, tritt sie auf der Stelle und wartet, dass er abnimmt.
»Hallo, hier ist Jackson«, meldet sich die Mailbox. Evas Herz stockt.
Nachdem sie das Handy wieder in die Tasche gesteckt hat, stolpert sie zu den Felsen hinüber. Ein großes, rotes Schild warnt: NICHT BETRETEN. LEBENSGEFAHR. Der Schal flattert hinter ihr her, als sie über die nassen Felsen klettert, den heulenden Wind in den Ohren. Ihr Atem geht stoßweise. Finstere Ahnungen quälen sie und verwirren ihr den Verstand. Sie sagt sich, dass sie sich ausschließlich darauf konzentrieren sollte, wo sie ihre Füße hinsetzt. Schritt für Schritt kämpft sie sich vorwärts.
Irgendetwas Farbiges erregt ihre Aufmerksamkeit. Vorsichtig steigt sie über die mit Seepocken verkrusteten Felsen, bis sie nahe genug ist, um es erkennen zu können.
Eingeklemmt zwischen zwei Felsen steht ein offener Angelkasten aus grünem Plastik. Eva erkennt ihn sofort: Sie hat ihn Jackson letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, damit er die Köder und Gewichte, die sich in seiner Nachttischschublade angesammelt hatten, verstauen kann. Jetzt steht Salzwasser in den Fächern, in denen wie tote Fische zwei leuchtend blaue Köder treiben.
Mit ohrenbetäubendem Lärm bricht sich eine Welle an der Klippe. Eisige Gischt trifft auf Evas Wange. Sie fällt auf die Knie und klammert sich mit tauben Fingern an den Fels.
»Hallo!«, ruft jemand. »Kommen Sie sofort zurück.«
Sie kann aber nicht zurück, sie kann sich nicht einmal umdrehen. Sie ist vollkommen erstarrt, und die Angst liegt ihr wie ein Bleiklumpen im Magen. Langsam sickert die Feuchtigkeit durch ihren Schal.
Sekunden später spürt sie den Druck einer Hand auf ihrer Schulter. Ein Polizist steht vor ihr, nimmt sie am Arm und will sie hochziehen. »Hier ist es zu gefährlich«, schreit er, um den Wind zu übertönen.
Sie schüttelt ihn ab. »Mein Mann!« Sie stößt die Worte einzeln hervor. »Er war angeln! Hier an dieser Stelle!«
Der Polizist starrt auf sie hinab. An seinem Unterkiefer befindet sich eine Stelle mit dunklen Bartstoppeln, nicht größer als ein Daumenabdruck. Er muss sie übersehen haben, als er sich am Morgen rasiert hat. In seinen Gesichtszügen scheint sich Angst zu spiegeln, als er sagt: »Okay, okay. Lassen Sie uns an den Strand zurückkehren.«
Er packt sie am Arm und hilft ihr auf. Evas Beine zittern, als sie zusammen über die nassen Felsen klettern. Der Polizist blickt immer wieder über die Schulter und hält nach Wellen Ausschau.
Als sie den Strand erreichen, schaut er sie an. »Ihr Ehemann hat heute Morgen hier geangelt?«
Sie nickt. »Sein Angelkasten … er steht auf den Felsen.«
Der Polizist schaut sie lange an, reglos. »Man hat uns vorhin gemeldet, dass ein Angler ins Meer gespült wurde.«
Ihre Stimme ist leise. »War er es?«
»Das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen.« Er verstummt. »Klingt aber fast so, als wäre es möglich, ja.«
Ihr Mund füllt sich mit Speichel, und sie dreht sich weg. Das graugrüne Meer scheint von mächtigen Strömungen beherrscht, als sie es nach Jackson absucht. »Wann?«
»Vor ungefähr zwanzig Minuten. Ein Ehepaar hat angerufen.«
Sie dreht sich um und folgt seinem Blick zu einem Mann und einer Frau mittleren Alters, beide in dunkelblauen Parkas. Zu ihren Füßen liegt ein Golden Retriever. »Waren sie es? Haben die beiden ihn gesehen?«
Als er nickt, ist Eva schon auf dem Weg.
Der Hund wedelt aufgeregt mit dem Schwanz, als sie näher kommt. »Sie haben meinen Mann gesehen! Er hat hier geangelt!«
»Ihren Mann?«, fragt die Frau, und ihr schmales Gesicht verdüstert sich. »Wir haben ihn gesehen, ja. Es tut mir leid …«
»Was ist denn passiert?«
Die Frau fummelt an ihrem Schal herum, als sie sagt: »Wir haben ihn angeln sehen, als wir vorhin hier vorbeigekommen sind.« Sie wirft ihrem Ehemann einen Blick zu. »Du hast noch gesagt, dass das ziemlich gefährlich aussieht, bei diesem Wellengang, nicht wahr?«
Er nickt. »Als wir dann kehrtgemacht haben und zurückkamen, sahen wir, dass er ins Meer gespült worden war. Er war im Wasser.«
»Wir haben die Küstenwache angerufen«, fügt die Frau hinzu. »Wir haben versucht, ihn im Blick zu behalten, bis jemand kommt, aber … irgendwann haben wir ihn aus den Augen verloren.«
Sie müssen sich irren, denkt Eva, das kann nicht Jackson gewesen sein. »Der Mann, den Sie gesehen haben – was hatte er an?«
»Was er anhatte?«, wiederholt die Frau. »Dunkle Sachen, glaube ich. Und eine Mütze«, sagt sie und tippt sich an den Hinterkopf. »Eine rote Mütze.«
Später kommt Evas Mutter. Sie legt Eva eine Decke um die Schultern und streift ihr eine flauschige Mütze über das kurze Haar. Leise erkundigt sie sich, wie lange er schon im Wasser sei und was die Küstenwache gesagt habe.
Eva beobachtet das Rettungsboot bei seiner Suche. Es scheint ein Quadrat ins Wasser zu malen, erweitert dann den Aktionsradius und beschreibt immer größere Quadrate, bis es so weit draußen ist, dass Eva sich fragt, ob Jackson überhaupt so weit hinausgeschwommen sein kann.
An die eisigen Klauen des Meeres möchte sie auf gar keinen Fall denken, daher wärmt sie sich an der Erinnerung, wie Jackson letzten Monat nach ihrer Spätschicht überraschend im Krankenhaus aufgetaucht war, eine Tüte mit ihrem Lieblingskleid und ihren goldfarbenen High Heels in der Hand. Sie solle sich umziehen, hatte er gesagt, er werde sie ausführen.
Sie war begeistert gewesen, als sie in den Umkleideraum ging und ihren Kittel gegen das schwarze Seidenkleid eintauschte. Sie legte ein wenig Lippenstift auf und kämmte ihr dunkles Haar zurück. Die anderen Hebammen raunten und pfiffen, als sie herauskam und sich schwungvoll um ihre eigene Achse drehte.
Jackson fuhr mit ihr zu einer Bluesbar im Londoner Norden, die nur mit Kerzen beleuchtet war. Eva spürte den vibrierenden Rhythmus des Kontrabasses direkt in der Brust, lehnte den Kopf an Jacksons Schulter und ließ sich völlig von der Atmosphäre aufsaugen. Die Anstrengungen des Tages verflüchtigten sich. Sie tranken Cocktails, die sie sich nicht leisten konnten, und Eva bekam Blasen an den Fersen, als sie in ihren High Heels tanzte, aber das war ihr egal. Sie liebte Jackson für seine Gabe, einen ganz normalen Tag zu verzaubern.
Das Brummen eines Hubschraubers der Küstenwache drängt sich in Evas Gedanken. Das Meer wird von den Rotoren aufgewühlt. Die rot-weiße Bemalung leuchtet und strahlt vor den finsteren Wolken fast so etwas wie Optimismus aus. Durch die wachsende Menge der Schaulustigen läuft ein Schauder der Erwartung.
Der Polizist steht ganz allein da und reibt sich die Hände, um sich warm zu halten. Gelegentlich krächzt sein Funkgerät, und er hebt es an den Mund. Eva schaut immer wieder zu ihm hinüber und sucht nach Anzeichen dafür, wie dieser Tag enden wird.
Die meiste Zeit schweigen sie und lauschen auf die Wellen, die sich brechen und weiße Gischt an den Felsen aufschäumen lassen. Ihre Mutter hält ihre Hand und flüstert gelegentlich: »Nun mach schon, Jackson, nun mach schon.«
Als das letzte Tageslicht schwindet, hört Eva das Funkgerät krächzen. Sie dreht sich um und beobachtet, wie der Polizist es an den Mund hält und etwas hineinspricht. Dann schaut er aufs Meer hinaus, nickt ernst und lässt das Funkgerät wieder sinken.
Langsam kommt er auf Eva zu. Sie schüttelt den Kopf und denkt: Sag’s nicht!
»Es tut mir leid, aber die Küstenwache hat die Suche eingestellt.«
Ihre behandschuhten Finger klammern sich an den Schal. »Das können sie nicht machen.«
»Das Rettungsboot hat fast keinen Treibstoff mehr, und für den Hubschrauber ist es mittlerweile zu dunkel. Tut mir leid.«
»Mein Mann ist aber noch da draußen.«
»Die Küstenwache hat ihre Entscheidung getroffen.«
»Aber er wird die Nacht nicht überleben.«
Der Polizist starrt auf den Sand zu seinen Füßen.
Sie spürt die Hand ihrer Mutter an ihrer Taille. So fest packt sie zu, als wollte sie versuchen, den Schmerz aus ihrer Tochter herauszuziehen.
»Er ist da draußen«, sagt Eva noch einmal, entzieht sich der Umklammerung und taumelt über den Strand. In der Ferne sieht man die Lichter vom Kai. Sie hört ihre Mutter rufen, aber sie dreht sich nicht um. Sie weiß genau, was sie zu tun hat.
Jackson ist ihr Mann, und sie wird ihn nicht aufgeben.
Der Fischer springt soeben auf den Kai, als Eva ihn anspricht. »Ist das Ihr Boot?«
»Ja«, sagt er misstrauisch.
Sie holt Luft. »Sie müssen mich aufs Meer hinausfahren. Ich bezahle Sie dafür.«
»Dieses Boot wird heute bestimmt nicht mehr auslaufen, Schätzchen.«
»Mein Ehemann wurde heute Morgen von den Felsen gespült«, sagt sie.
»Ihr Ehemann? Um Gottes willen! Davon habe ich im Radio gehört.«
Sie tritt an ihm vorbei und springt in das Boot, als würde sie das Kommando übernehmen.
»He, hören Sie …«
»Kennen Sie die Strömungsverhältnisse und die Gezeiten hier?«, fragt sie, in dem Bemühen, sachlich zu klingen und sich auf die praktischen Details zu konzentrieren.
»Natürlich, aber ich kann nicht …«
»Bitte«, sagt sie und dreht sich zu ihm um. Lange machen ihre Nerven nicht mehr mit. »Sie müssen mir helfen!«
Sobald sie das offene Meer erreichen, rollt und schlingert das Boot auf den Wellen. Eva klammert sich an der Bordwand fest. Ihre Finger schmerzen vor Kälte, aber sie denkt nicht weiter darüber nach. Würde sie zugeben, dass ihre Füße taub und die Temperaturen derartig gesunken sind, dass sie unentwegt zittert, müsste sie sich auch eingestehen, dass Jackson keine Überlebenschance hat.
Die Klippe erhebt sich wie tief hängender Nebel aus dem Wasser. Als sie sich nähern, stellt der Fischer den Motor ab und schreit über den Wind hinweg: »Wir werden uns jetzt von der Strömung treiben lassen.«
Dann tritt er zu ihr, eine gelbe Öljacke in der Hand. »Hier, ziehen Sie die über Ihre Rettungsweste.«
Das Material ist schwer und kalt, und die langen Ärmel kratzen an der geröteten Haut am Handgelenk, wo ihre Handschuhe enden. Sie schaut an sich hinab und sieht, dass sich auf Brusthöhe eine breite Blutspur über die Jacke zieht.
»Das ist nur Fischblut«, sagt er, als er ihren Blick bemerkt.
Eva schaut sich an Bord um und sieht überall Hummerkörbe und schwere, mit Seegras durchzogene Netze herumliegen. Ein paar Lampen brennen, aber die sind bei Weitem nicht hell genug. »Haben Sie eine Taschenlampe?«
»Ja.« Er klappt den Deckel einer Holzbank hoch und holt eine schwere Taschenlampe mit einem Glasvorsatz in Tellergröße heraus. Die reicht er Eva, die sie mit beiden Händen festhalten muss. Nachdem sie die Lampe angeschaltet hat, richtet sie den Lichtstrahl auf das schwarze Wasser. Er ist so hell, dass sie ein paarmal blinzeln muss, bevor sie sich daran gewöhnt hat.
Er holt eine zweite, kleinere Taschenlampe heraus und beginnt ebenfalls, das Wasser abzusuchen. Während sie dahintreiben, rollen schwarze Wellen in den Lichtkegel hinein, fast wie Körper, die an die Oberfläche kommen und dann wieder untergehen.
»Angelt Ihr Ehemann oft?«
Ehemann. Das Wort klingt immer noch neu und aufregend. Sie sind noch keine zehn Monate verheiratet, und wenn ihr Blick auf den Ehering fällt, stockt ihr vor Freude der Atem. »Wir leben in London, deshalb kann er nicht so oft angeln gehen, wie er möchte. Als Junge hat er es oft getan. Er kommt aus Tasmanien.«
»Wo ist das?«
Sie vergisst immer, dass die Menschen nicht viel über Tasmanien wissen. »Das ist eine Insel südöstlich von Australien, auf der Höhe von Melbourne. Sie gehört zu Australien.«
Als sie auf das tiefschwarze Wasser blickt, kehren ihre Gedanken zu den Vorkommnissen des Tages zurück. Sie stellt sich vor, wie Jackson mit seiner Angelausrüstung am Strand entlanggegangen ist. War er vielleicht noch nicht ganz wach, weil er am Abend zuvor zu viel getrunken hat? Hat er wohl daran denken müssen, dass sie noch im warmen Bett liegt? Oder daran, wie sie sich in der Nacht geliebt hatten? Gab es einen Moment, in dem er am liebsten kehrtgemacht und sich in die Wärme des Bettes und an ihre Seite zurückgestohlen hätte? Sie stellt sich vor, wie er auf den Felsen steht, mit klammen Fingern Köder aufzieht und den Angeleimer zurechtrückt. Sie stellt sich den ersten Wurf vor, den sanften Ruck an der Angelrute. Die Brandung ist gut für den Fisch, da sie ihn ständig in Bewegung hält, hat er ihr mal erklärt.
Von Fischen versteht er etwas. Sein Vater ist zehn Jahre lang mit einem eigenen Boot ausgelaufen, um Krebse zu fangen, und Jackson selbst hat Meeresbiologie studiert. In London gibt es nicht viel Verwendung für Meeresbiologen, aber er sagt immer, seine Sehnsucht nach dem Meer sei gestillt, wenn sie gelegentlich zu ihrer Mutter an die Küste führen. In Tasmanien hatte er einen alten Meereskajak besessen, mit dem er durch die einsamen Buchten und Flussmündungen gepaddelt war, eine Angelrute am Heck befestigt. Sie liebt die Geschichten, wie er an Bergen und wilden Küsten vorbeigekommen war und sich am Lagerfeuer den selbst gefangenen Fisch gegrillt hatte.
Ein lautes Klatschen ist zu hören, und Eva hält den Atem an.
Die Taschenlampe ist ihr aus den Fingern geglitten und versinkt nun mit einem unheimlichen Leuchten im dunklen Wasser. »Nein! Nein …«
Sie will danach greifen, will mit ihren Händen im Meer herumwühlen, aber plötzlich beginnt das Licht zu flackern und erlischt dann.
»Es tut mir leid! Ich dachte, ich hätte sie«, sagt sie und klammert sich an die Bordwand, als sie sich hinausbeugt. »Ich habe sie verloren. Jetzt kann ich nichts mehr sehen. Es tut mir leid … ich …«
»Ist nicht schlimm«, sagt der Fischer sanft.
Sie schlingt die Arme um die Brust. Ihre Lippen brennen im eisigen Wind, als sie in die endlose Dunkelheit starrt. »Wie kalt ist es?«, fragt sie leise. »Das Wasser.«
Er atmet tief ein. »Acht, neun Grad vielleicht.«
»Wie lange kann man darin überleben?«
»Schwer zu sagen.« Er zögert. »Höchstens ein paar Stunden, würde ich vermuten.«
Schweigen senkt sich herab. Nur das Knarren der Bootsplanken und das Geräusch, mit dem die Wellen an den Rumpf schlagen, sind zu hören.
Er ist tot, denkt sie. Mein Ehemann ist tot.
Wir hatten nur zwei gemeinsame Jahre, Eva. Das ist nicht genug.
Es gab so viele Dinge, die ich erst jetzt entdeckt habe: dass du mit den Zehen wackelst, wenn du nervös bist; dass du nicht gerade unter einem Reinlichkeitswahn leidest; dass dein Geruchssinn dein wichtigster Sinn ist und du an allem, was du kaufst, erst riechst: an Büchern, an einem neuen Kleid, an der Zellophanhülle einer DVD.
Kürzlich habe ich die empfindliche Stelle in deinen Kniekehlen entdeckt, die ich nur berühren muss, damit du keuchend vor Lachen zusammenbrichst. Kaum zu glauben, dass meine Freunde dich für so besonnen und pragmatisch halten – dabei kannst du dich nicht zum Ausgehen fertig machen, ohne wie eine Verrückte durch die Wohnung zu springen, dir gleichzeitig die Zähne zu putzen und noch einmal schnell aufs Klo zu gehen oder dich schon mal zu schminken, während du noch hektisch ein paar Bissen hinunterschlingst.
Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind und du mich mit deinen großen, braunen Augen angeschaut hast, fühlte ich mich, wie ich mich als Kind immer gefühlt habe – unbeschwert, frei und voller Hoffnung.
Wie ich schon sagte, Eva, zwei Jahre mit dir sind nicht genug.
Und doch waren es zwei Jahre, die ich nicht verdient habe.
Eva sitzt auf der Bettkante und starrt wie gelähmt auf das Telefon in ihrer Hand. Sie ist noch im Schlafanzug, obwohl bald schon wieder Abend zu sein scheint. Gelegentlich kommt ihre Mutter die Treppe hoch und drängt sie, irgendetwas zu tun: Geh doch mal duschen. Schnapp ein wenig frische Luft. Ruf Callie an. Eva kommt das alles dermaßen sinnlos vor, dass sie nicht einmal antwortet. Lieber bleibt sie in ihrem Zimmer und wartet darauf, dass Jackson zurückkehrt, sie auf den Mund küsst und mit seinem schönen melodischen Akzent sagt: Sei nicht traurig, mein Schatz, ich bin ja jetzt bei dir.
Vier Tage ist es nun her. Die Küstenwache sagt, dass die Leiche möglicherweise weiter westlich an die Küste gespült werden wird, in der Gegend von Lyme Regis oder Plymouth oder so, wegen der starken Nordostwinde. Eva ist aber noch nicht bereit, an eine Leiche zu denken, die Leiche ihres Ehemanns …
Die rote Mütze, die Jackson getragen hat, wurde mittlerweile gefunden. Eine Polizistin hatte sie ihr kleinlaut überreicht, in einer durchsichtigen Plastiktüte. Eva hatte auf das mit Kondenswasser beschlagene Plastik gestarrt und gedacht, dass es aussah, als würde die Mütze atmen.
Unten sind leise Stimmen zu hören, ihre Mutter begrüßt jemanden. Evas Name fällt, dann der von Jackson. Sie vernimmt das Wort tragisch.
Im Haus hatte es von Besuchern nur so gewimmelt. Eva findet es sonderbar, wie viel Ähnlichkeit Geburt und Tod doch haben: all die Karten auf der Fensterbank, die Blumensträuße, deren Duft sämtliche Räume erfüllt, das Essen in Plastikbehältern, die sich im Kühlschrank stapeln. Dann die gedämpften Stimmen, der gestörte Schlaf, das Wissen, dass es nie wieder so sein wird, wie es mal war.
Sie blinzelt und konzentriert sich auf das Telefon. Eigentlich wollte sie Dirk anrufen, Jacksons Vater. Sie fühlt sich schuldig, weil die Polizei ihn informiert hat und nicht sie selbst. Sie konnte nicht. Sie hatte einfach nicht die richtigen Worte gefunden.
Nun schaut sie auf die Nummer, die sie sich auf dem Handrücken notiert hat, und wählt. Den Hörer ans Ohr gedrückt, lauscht sie auf das unbekannte Signal am anderen Ende und denkt an die räumliche Entfernung, die zwischen ihnen liegt. Sie befinden sich auf entgegengesetzten Seiten der Erdkugel. Dort ist Morgen, hier Abend; dort ist Sommer, hier Winter.
Sie hat erst einmal mit Dirk gesprochen, kurz bevor sie und Jackson geheiratet haben. Sie haben sich aber gelegentlich geschrieben, und Eva hat es gefallen, an ruhigen Abenden auf dem Sofa zu sitzen und diese Briefe zu verfassen. Auf Dirks Antworten hat sie sich immer gefreut, da ihr die in krakeliger Handschrift auf Luftpostpapier verfassten Texte einen Einblick in Jacksons Leben in Tasmanien gewährten.
»Ja?«, meldet sich eine mürrische Stimme.
»Dirk?« Sie räuspert sich. »Hier ist Eva, Jacksons Frau.«
Am anderen Ende herrscht Schweigen.
Sie wartet und fragt sich, ob die Verbindung gestört ist. Sie fährt sich mit der Zunge über die Zähne. Ihr Mund fühlt sich trocken und irgendwie geschwollen an.
»Aha«, sagt er schließlich.
»Ich … ich wollte mich die ganze Zeit schon melden … aber, na ja …« Sie fährt sich mit der Hand durch das matte Haar und kratzt sich am Kopf. »Die Polizei hat Sie angerufen, soviel ich weiß.«
»Er ist ertrunken. Das hat man mir mitgeteilt.« Seine Stimme bricht, als er das sagt. »Beim Angeln ertrunken.«
»Er wurde von einer Welle ins Meer gespült.« Sie zögert. »Das Wasser hier ist kalt. Eiskalt. Ein Rettungsboot war da. Und ein Hubschrauber. Sie haben ihn den ganzen Tag gesucht …«
»Hat man die Leiche gefunden?«
»Nein. Nein, noch nicht. Tut mir leid.«
Schweigen tritt ein.
»Man hat die Mütze gefunden, die er getragen hat«, sagt sie, obwohl sie weiß, dass das nicht zählt. Nichts zählt – außer Jackson.
»Aha«, sagt er langsam.
»Es tut mir leid. Ich hätte Sie früher anrufen sollen. Ich hätte das nicht der Polizei überlassen dürfen, aber … ich war einfach … ich bin vollkommen durcheinander.« Sie merkt, dass ihr die Tränen die Kehle verstopfen, und atmet tief durch. »Das fühlt sich alles … so unwirklich an.«
Dirk sagt nichts.
Sie schluckt die Tränen hinunter und braucht einen Moment, um sich zu sammeln. Dann sagt sie: »Es wird eine Beerdigung geben müssen. Oder eher eine Trauerfeier.« Ihre Mutter liegt ihr ständig in den Ohren damit. »Ich weiß noch nicht, wann das sein wird … nach Weihnachten vermutlich. Vielleicht möchten Sie ja kommen?«
»Hm.« Sie hört, wie ein Stuhl über den Fußboden kratzt, dann das Klirren von Glas.
Da Dirk nichts sagt, bricht sie das Schweigen schließlich. »Ich weiß, dass Sie nicht gerne fliegen, aber falls Sie kommen wollen, Sie sind herzlich willkommen. Sie können bei uns wohnen … bei mir«, korrigiert sie sich. Ihre Finger verhaken sich in ihrem Haaransatz, und sie hat das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. All die Worte, die sie sich zurechtgelegt hat, scheinen wie ausgelöscht. »Jacksons Bruder ist auch willkommen. Soviel ich weiß, war sein Verhältnis zu Jackson etwas« – sie sucht nach dem richtigen Wort, aber es fällt ihr nichts Besseres ein – »angespannt.«
»Nein. Nein, ich denke nicht, dass sich das machen lässt.«
Ihre Kehle schnürt sich zusammen. Sie möchte, dass Dirk zusagt. Auch wenn sie ihren Schwiegervater nicht kennt, verbindet sie doch die gemeinsame Liebe zu Jackson, der gemeinsame Verlust. »Bitte«, sagt sie, »denken Sie darüber nach.«
Irgendwie schreitet die Zeit voran. Evas Tage versinken im dichten Nebel der Trauer. Später wird sie sich nur noch an Momentaufnahmen aus dieser Zeit erinnern: ein Tablett mit Essen, das unberührt vor ihrer Tür steht; ein Spaziergang zu den Felsen in der Morgendämmerung, von dem sie durchnässt und zitternd heimkehrt; die orangefarbenen Pollen, die von einem Strauß Lilien auf den Glastisch ihrer Mutter herabgerieselt sind; ihr Finger, der darin herummalt.
Einen Monat später steht sie im Bademantel vor dem großen Spiegel. In einer halben Stunde wird der Wagen kommen, um sie zur Trauerfeier für ihren verstorbenen Ehemann zu bringen. Sie ist neunundzwanzig Jahre alt und Witwe.
»Witwe«, sagt sie zum Spiegel, um das Wort auszuprobieren. »Ich bin Witwe.«
Als sie ihr Spiegelbild aus der Nähe betrachtet, sieht sie eine verhärmte Frau. Die Haut um Nase und Mundwinkel herum ist rötlich und rissig. Zwischen ihren Augenbrauen hat sich eine Falte gebildet, und sie drückt mit den Fingern darauf, um dieses tief eingegrabene Leidenszeichen zu glätten.
Auf der Holztreppe sind Schritte zu hören, das Klirren von Armreifen, die am Geländer entlangschleifen, dann ein energisches Klopfen. Callie, ihre beste Freundin, tritt ein und lässt den Raum mit ihrem Lächeln erstrahlen.
Sie legt ein Kleid aufs Bett, kommt dann zu Eva herüber und schlingt ihr von hinten die Arme um den Körper. Callie ist einen Kopf größer als sie, daher muss sie sich bücken, um das Kinn auf Evas Schulter abzustützen, sodass ihr Gesicht neben dem ihren im Spiegel erscheint.
»Dies wird ein schwerer Tag für dich werden«, sagt sie leise. »Aber du wirst das schaffen. Und du wirst auch all die anderen schweren Tage durchstehen. Und irgendwann wird der Tag kommen, an dem es nicht mehr ganz so schwer sein wird. Okay?«
Eva nickt.
Callie holt das Kleid und hält es Eva hin. »Das habe ich in diesem Laden gekauft, den du so magst, in der Nähe von Spitalfields. Wie findest du es? Falls es dir nicht gefällt, ich habe noch zwei andere im Auto.«
Eva zieht den Bademantel aus und schlüpft in das schwere, schwarze, taillierte Kleid. Sie schließt den Reißverschluss an der Seite und betrachtet sich im Spiegel. Es passt wie angegossen.
Callie lächelt. »Du weißt, was Jackson gesagt hätte, nicht wahr?«
Eva nickt. Da schau einer her, mein Schatz! Da schau doch bitte mal einer her! Sie schließt die Augen und verliert sich in der Erinnerung an seine Stimme und an die Vorstellung, wie er sie bei der Hand nimmt, um ihre eigene Achse dreht und leise pfeift.
Callie schaut auf ihre silberne Armbanduhr und sagt: »Der Wagen kommt in zwanzig Minuten. Wenn wir an der Kirche sind, wirst du sofort mit deiner Mutter hineingehen. Ich habe mit dem Priester über die Musik gesprochen. Das hat mich auf andere Gedanken gebracht.«
»Danke.«
Callie drückt ihr die Hand. »Alles in Ordnung?«
Eva versucht zu lächeln, scheitert aber. Ihre Schläfen pochen, und sie fühlt sich innerlich vollkommen leer. »Mir kommt es so vor, als wäre es noch … zu früh.«
»Was meinst du damit?«, fragt Callie sanft.
Eva beißt sich auf die Unterlippe. »Vier Wochen. Haben wir wirklich lange genug gewartet?«
Sie schluckt. Am Morgen der Trauerfeier für den eigenen Ehemann kann man schlecht sagen: Ich warte immer noch darauf, dass er zurückkehrt. Daher sagt sie: »Es ist nur … ich kann mir das nicht vorstellen, Cal. Ein Leben ohne Jackson kann ich mir einfach nicht vorstellen.«
In Tasmanien löst Saul den Sicherheitsgurt und beugt sich vor, die kräftigen Hände auf dem Lenkrad seines Pick-ups verschränkt. Durch die Windschutzscheibe betrachtet er die Aussicht vom Gipfel des Mount Wellington. An klaren Tagen hat man das Gefühl, von hier aus ganz Tasmanien zu sehen, aber an diesem Nachmittag ziehen Wolken auf.
Neben ihm auf dem Beifahrersitz beugt sich sein Vater zur Seite, um einen silbernen Flachmann aus der Anzugjacke zu ziehen. Seine Hände zittern, als er den Deckel abschraubt, dann verbreitet sich der Geruch von Whisky in der Kabine.
»Einen zum Mut machen«, sagt Dirk.
Saul schaut weg und beobachtet die eintreffenden Trauergäste in ihren dunklen Anzügen. Es sind Freunde von Jackson darunter, die Saul schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat, Leute aus der Schule oder von der Werft. Den meisten ist er allerdings noch nie in seinem Leben begegnet.
Dirk steckt den Flachmann wieder in die Tasche, schnaubt einmal kräftig und fragt: »Bist du bereit?«
Saul zieht den Schlüssel aus dem Zündschloss und steigt aus. Seine Lunge füllt sich mit der kräftigen Bergluft, und die geliehene Anzugjacke flattert im Wind. Er schließt den obersten Knopf und beugt sich vor, um im staubigen Seitenspiegel seine Krawatte zurechtzurücken.
Als er fertig ist, begeben sie sich zögerlich zu der Gruppe der Trauergäste. »Ein Vater sollte seinen Sohn niemals überleben«, sagt Dirk, schüttelt heftig den Kopf und fügt hinzu: »England! Er hätte niemals dorthin gehen dürfen, verdammt.«
»Wird es dort auch irgendeine Zeremonie geben?«
»Ja. Sie werden eine Trauerfeier abhalten.«
»Wer organisiert das?«
»Seine Frau …«
Saul bleibt stehen. Er schaut seinen Vater an, der plötzlich erstarrt ist und mit offenem Mund dasteht. »Was hast du da gerade gesagt?«
Dirk kneift die Augen zusammen und fährt sich mit seiner kräftigen Hand übers Gesicht.
»Dad?«
Dirk atmet laut und vernehmlich aus. Als er die Augen wieder öffnet, schaut er Saul direkt ins Gesicht. »Wir müssen uns wohl mal unterhalten, mein Sohn.«
Eva steckt den Schlüssel ins Schloss, aber dann zögert sie. Seit Jacksons Tod war sie nicht mehr in ihrer gemeinsamen Wohnung gewesen. Sie war bei ihrer Mutter geblieben, um Weihnachten und die Trauerfeier irgendwie zu überstehen, bevor sie an eine Rückkehr auch nur denken konnte. Vielleicht hätte sie das Angebot ihrer Mutter, sie zu begleiten, doch nicht ablehnen sollen. Eva hatte darauf bestanden, es allein hinter sich zu bringen, aber jetzt erfüllt die Vorstellung sie mit Grauen.
Nachdem sie einmal tief Luft geholt hat, öffnet sie die Tür. Sie muss mit der Schulter nachhelfen, um sie über die Post, die auf der Fußmatte liegt, drücken zu können. Mit dem Fuß schiebt sie Werbung, Weihnachtspost und Rechnungen beiseite und quetscht sich dann in den Flur. Die Luft riecht muffig und abgestanden, aber es mischt sich auch noch der Ledergeruch von Jacksons Jacke darunter, die an einem Haken an der Tür hängt.
Eva stellt ihre Tasche ab, geht leise durch den Flur und schaut in jedes Zimmer. Verrückterweise hat sie das Gefühl, dass sie, wenn sie sich nur vorsichtig genug bewegt, Jackson irgendwo überraschen wird, im Wohnzimmer auf dem Sofa zum Beispiel, die Füße auf dem Couchtisch. Oder in der Dusche, wo er sich das Wasser über den Rücken laufen lässt.
Aber die Wohnung ist leer, natürlich. Die Welle der Einsamkeit, die Eva überrollt, ist so gewaltig, dass sie ihr die Luft aus den Lungen presst und den Boden unter den Füßen wegzieht. Eva lehnt sich Halt suchend an die Wand und atmet tief durch, bis das Gefühl verschwindet. Sie muss sich zusammenreißen. Jackson ist tot, und sie ist allein – eine Tatsache, mit der sie sich abzufinden hat.
Irgendwann schluckt sie, hebt das Kinn und zwingt sich, in die Küche zu gehen. In einer einzigen schnellen Bewegung tritt sie zum Fenster und reißt es auf. Verkehrslärm und Stimmen dringen herein, das Trippeln einer Taube auf dem Dach. Sie schaltet die Heizung ein und eilt durch die Wohnung, um sämtliche Lampen, Radios und den Fernseher einzuschalten. Nun fluten Geräusche, Licht und frische Luft durch die Räume.
Eva kehrt in die Küche zurück, immer noch im Mantel. Sie wird sich einen Tee machen und dann ihre Sachen auspacken. Der Wasserkocher. Du musst Wasser hineinfüllen, sagt sie sich. Sie legt die Finger um den Griff und wendet den Blick von dem Zerrbild ab, das ihr aus dem runden Metallbehälter entgegenstarrt. Als sie ihn zur Spüle trägt, erstarrt sie.
Im Spülbecken liegt ein alter Teebeutel, aufgebläht und ausgetrocknet, ein rostbrauner Fleck außen herum. Ein Teebeutel von Jackson. Er hatte die unangenehme Angewohnheit, seine Teebeutel einfach in die Spüle zu werfen statt in den Mülleimer. Das ist ein winziges, vollkommen unbedeutendes Detail aus seinem Leben, und doch bleibt ihr angesichts dieser Banalität die Luft weg.
Den Wasserkocher in der Hand, steht sie da, starrt ins Spülbecken und denkt, dass sie alles darum geben würde, wenn Jackson jetzt in die Küche kommen, sich einen Tee kochen und den Teebeutel in die Spüle werfen würde.
Eva stellt den Wasserkocher zurück und geht ins Schlafzimmer, wo ein Popsong aus dem Radio plärrt. Der elektronisch erzeugte Rhythmus macht sie wahnsinnig, und so schaltet sie das Radio aus. Als ihr Blick auf das ungemachte Bett fällt, beißt sie sich auf die Lippe, denn sofort steigen Erinnerungen an Wärme und Behaglichkeit in ihr auf. Ehe sie es sich versieht, ist sie im Mantel ins Bett geschlüpft und zieht sich die Decke bis ans Kinn hoch.
Trauer ist etwas Physisches, denkt sie. Es ist, als würde ihr Körper von innen her aufgefressen, Schicht um Schicht, bis sie vollständig ausgehöhlt sein wird. Sie legt den Kopf auf Jacksons Kissen und atmet mit ihrem Schluchzen den fernen Duft seiner Haut ein.
Sie muss eingeschlafen sein, denn als sie die Augen wieder öffnet, ist der Raum stockfinster. Ihr Kopf pocht, und ihre Haut ist heiß und feucht. Sie schiebt die Bettdecke zur Seite, setzt sich auf und schaltet Jacksons Nachttischlampe an.
Die Schublade darunter ist einen Spaltbreit geöffnet, und sie zieht sie auf. Ihr Blick wandert über Quittungen, ein defektes Fernglas, ein Kartenspiel, Kondome, ein Buch über Heinrich VIII., das er nie zu Ende gelesen hat, zwei AA-Batterien und ein paar Münzen.
Sie nimmt ein Foto heraus, das sie beide in Paris zeigt, als sie sich gerade den Arc de Triomphe anschauen. Unmittelbar nachdem das Foto gemacht worden war, hatte es zu regnen begonnen, und sie waren in ein Café geflüchtet. Nasse Mäntel und tropfende Schirme hatten auf dem Boden eine Pfütze gebildet. Bei Patisserie und Kaffee hatten sie sich getrocknet, und als sie wieder aufgebrochen waren, hatte die Sonne auf den regennassen Bürgersteigen geglänzt.
Als sie die restlichen Dinge in der Schublade durchstöbert, entdeckt sie einen Briefumschlag, der in ihrer eigenen Handschrift adressiert ist. Sie reißt ihn auf und findet einen ihrer Briefe an Dirk. Es war ihr letzter Brief, in dem sie über den Überraschungsausflug nach Wales berichtet. Sie hatte gedacht, sie würden ihre Mutter besuchen, denn Jackson hatte sie so erfolgreich getäuscht, dass sie erst nach einer halben Stunde gemerkt hatte, dass sie gar nicht nach Dorset fuhren. Stattdessen hatte Jackson ein gemütliches Bed&Breakfast in den Brecon Beacons gebucht, und sie hatten das Wochenende damit verbracht, durch die feuchten, mit Farn bestandenen Hügel zu wandern und sich vor dem Kamin in ihrem Zimmer zu lieben.
Eva sieht, dass Jackson am Ende des Briefs noch ein paar Zeilen hinzugefügt hat und sich bei seinem Vater erkundigt, ob er viele Spiele der Wallabies, der australischen Rugby-Union-Nationalmannschaft, gesehen habe. Jackson wollte immer noch ein paar eigene Worte schreiben. Normalerweise schickte er die Briefe dann von der Poststelle seiner Firma aus ab, aber diesen hier scheint er vergessen zu haben.
Als sie ihn in die Schublade zurücklegen will, merkt sie, dass dort noch ein zweiter Brief liegt, und holt ihn heraus. Es ist ebenfalls einer ihrer Briefe an Dirk, diesmal von Ende August. Sie überfliegt den Inhalt, der nichts Aufregendes enthält: einen Bericht von ihrem Picknick im Clapham Common Park und die Schilderung einer Aufführung vom Sommernachtstraum; außerdem ein Foto von Jackson und ihr bei einem Konzert.
Sie streicht die Briefe in ihrem Schoß glatt und verspürt ein eigenartiges Gefühl im Magen, als sie sich fragt, warum er sie nicht abgeschickt hat. Weitere Briefe liegen nicht in der Schublade, vergewissert sie sich. Logisch betrachtet, muss es sich schlicht um ein Versehen handeln, und doch fragt sie sich, ob nicht noch andere Gründe dahinterstecken könnten.
Eine Woche später sitzen sie und Callie in einer Bar, einen Kübel mit einer Flasche Weißwein zwischen sich. Callie schenkt großzügig ein und schiebt Eva über den Holztisch ein Glas zu. »Trink.«
Eva gehorcht und nimmt einen großen Schluck. Sie hatte Callie nach ihrer ersten Schicht im Krankenhaus angerufen, in Tränen aufgelöst.
»Also, was ist passiert?«
»Ich … es ging einfach nicht. Ich musste gehen. Hinausgerannt bin ich.«
»Es war dein erster Tag.«
»Aber ich dachte, ich bin so weit. Ich habe das Baby auf die Welt gebracht, und alles war wunderbar – ich war vollkommen konzentriert. An Jackson habe ich nur ganz selten gedacht. Aber dann, als alles vorbei war …« Sie schüttelt den Kopf.
Eva hatte das Baby aus dem Geburtsbecken gehoben und vorsichtig seiner Mutter gereicht, einer Polin namens Anka, die vollkommen erschöpft ausgesehen hatte. Der frischgebackene Vater hatte seinen Sohn verzückt betrachtet und dem Jungen sanft mit dem Handrücken die Wange gestreichelt. Dann hatte er aufgeschaut und den Blick seiner Frau gesucht. Einen Moment lang war es vollkommen still gewesen. Dann hatte der Mann mit erstickter Stimme etwas gesagt, und seine Frau hatte mit zitternder Unterlippe gelächelt.
Man musste kein Polnisch können, um zu verstehen, was der Mann gesagt hatte. Er hatte seiner Frau mitgeteilt, dass er sie zutiefst bewundere, dass er stolz auf sie sei, dass er sie vergöttere. Dieser Blick, dieser unendlich intime Moment zwischen Mann und Frau, der den Strapazen der Entbindung folgt, ist für Eva das Allerschönste an ihrer Arbeit.
Heute hatte es sie allerdings schier gelähmt. Diese Leute waren kaum älter als sie und Jackson, und sie hatte die beiden angestarrt und mit stummem Entsetzen begriffen, dass sie nie erfahren würde, wie es war, Jacksons Baby im Arm zu halten und so von ihm angeschaut zu werden – so von ihm geliebt zu werden wie diese Frau von diesem Mann.
Ihr Ehemann war nämlich tot.
Der Gedanke hatte sie umgehauen. Unvermittelt war sie zurückgewichen und hatte ihre Assistentin gebeten, schnell eine andere Hebamme zu rufen. Sie war durch den Flur gelaufen, in die Schwesterntoilette gerannt und gerade noch rechtzeitig am Waschbecken angekommen, damit es Tränen und Galle auffangen konnte.
»Ich konnte es einfach nicht ertragen«, erklärt sie Callie. »Ich habe es buchstäblich nicht ertragen, den Mann und seine Frau zusammen zu sehen. In Liebe vereint. Der Neid hat mir regelrecht die Luft abgeschnürt.«
»So geht es mir immer bei Hochzeiten.«
Das nötigt sogar Eva ein Lachen ab.
»Ich hatte schon fast vergessen, wie es klingt, wenn du lachst.«
Eva neigt den Kopf. »Du bist so schick. Hattest du eine Verabredung?«
»Nur mit David«, antwortet Callie und winkt mit großer Geste ab.
»Das tut mir furchtbar leid! Er hatte dich zum Essen eingeladen. Ihr wolltet über den Vertrag wegen der Melbourne-Geschichte reden. Das hast du mir gestern noch erzählt. Mein Kopf ist zu nichts mehr zu gebrauchen.«
»Eigentlich hast du mir sogar einen Gefallen getan. Er hatte einen Tisch im Vernadors reserviert«, sagt sie und verdreht die Augen. »Als ich vor Weihnachten mal da war, habe ich hinterher zwei Tage im Bett gelegen. Du solltest nie Muscheln dort essen.«
»Ich erinnere mich.«
»Klar, Jackson war an dem Abend ja auch da! Zu einem Geschäftsessen. Himmel, nicht gerade der beste Weg, einen neuen Kunden zu gewinnen, wenn der hinterher mit einer Lebensmittelvergiftung darniederliegt.«
»Jackson ging es prima.«
»Er ist ja auch damit groß geworden, sich sein Essen von den Felsen zu kratzen.« Callie trinkt einen Schluck und füllt dann beide Gläser nach. »Okay, jetzt aber raus mit der Sprache, was macht dir zu schaffen?«
»Der Tag war grässlich, das ist alles.«
»Erzähl keinen Unsinn. Mir nicht. Ich möchte alles wissen – all die abscheulichen Details des lausigen Lebens, das du jetzt führst. Los, raus damit.«
Eva atmet tief ein. »Ich … es ist einfach … ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll.« Sie hebt die Hand und zupft an ihren Haaren. »Ich ertrage es einfach nicht. Buchstäblich. Ich vermisse ihn so sehr. Ich muss ständig an ihn denken. Und mit ständig meine ich ständig. In meinem Kopf spielen sich endlose Unterhaltungen mit ihm ab. An manchen Tagen tut es derart weh, dass ich das Gefühl habe, ich schaffe es nicht. Dann schleppe ich mich mühsam durch die Welt, obwohl ich eigentlich nur die Augen zumachen und einschlafen möchte. Um irgendwann in der Zukunft aufzuwachen, wenn es vielleicht erträglicher und weniger schmerzhaft sein wird.«
Eva schluckt. »Und Mum … sie ruft ständig an und fragt, ob es mir gut geht. Ich könne doch wieder zu ihr ziehen, sagt sie.« Eva schüttelt energisch den Kopf. »Es geht mir nicht gut, natürlich nicht! Aber wieder nach Hause zu ziehen kann ich mir auch nicht vorstellen. Zu Hause würde ich ersticken. Ich kann nicht zurück.« Sie beißt sich auf die Unterlippe, dann sagt sie: »Ich bin immer davon ausgegangen, dass wir das ganze Leben miteinander teilen werden. Und jetzt … ist er tot. Ich werde ihn nie wiedersehen oder ihn umarmen oder sein Lachen hören. Oder irgendetwas von den Dingen tun, die wir geplant hatten. Das ist so ungerecht. Warum Jackson? Warum musste es ihn treffen? Wir waren noch kein Jahr verheiratet. Das ganze Leben lag noch vor uns – und er stirbt einfach.« Sie schlägt mit der Hand auf den Tisch, dass die Weingläser zittern. »Ich bin so wütend auf ihn, dass er so verdammt dämlich sein konnte, mitten im Winter auf diesen Felsen herumzuklettern, um Fische zu fangen! Und auf Mum bin ich auch wütend, weil sie uns eingeladen hat, das Wochenende bei ihr zu verbringen. Aber vor allem … vor allem … bin ich wütend auf mich selbst, denn wenn ich nur fünf Minuten eher aufgestanden wäre oder nicht noch eine Thermoskanne Kaffee gemacht hätte, dann wäre ich rechtzeitig dort gewesen. Ich hätte ihm gesagt, dass er von den Felsen herunterkommen soll. Und dann … dann wäre er jetzt noch da.«
Tränen laufen über Evas Wangen, und Callie nimmt ihre Hände.
»Es ist schrecklich, Cal. Es ist schrecklich, sich so zu fühlen. Ich bin so einsam ohne ihn. Die Wohnung … grauenhaft. Sie ist so still. Es ist, als wäre alles Leben aus ihr herausgesogen worden. Ich lebe in einem Vakuum.« Eva entzieht Callie eine Hand und wischt sich übers Gesicht. »Nachts bin ich ganz allein dort, und unser Schlafzimmer … fühlt sich so leer an … so ausgestorben. Wenn ich ins Bett gehe, lasse ich das verdammte Radio an und stecke eine Wärmflasche in Jacksons Schlafanzug! Das ist erbärmlich!«
Eva trinkt in einem Zug das halbe Glas Wein aus. »Ich wollte – und musste – zur Arbeit zurück, um mich irgendwie zu beschäftigen und bei Verstand zu bleiben. Aber dann? Das war grauenhaft heute. Die armen Leute.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich schon so weit bin.«
Plötzlich wird das Licht in der Bar herabgedimmt und die Musik lauter gedreht, um ein stimmungsvolles Ambiente für den Abend zu schaffen. »Du bist eine phantastische Hebamme«, sagt Callie und beugt sich vor, damit Eva sie noch versteht. »Du könntest einen Blumenladen eröffnen mit all den Sträußen, die du von dankbaren Müttern bekommst. Aber vielleicht ist es noch zu früh. Lass dir einfach noch ein bisschen Zeit.«
»Aber was soll ich mit all dieser Zeit anfangen? Ich fühle mich … getrennt von Jackson. Das klingt lächerlich, ich weiß, denn wie sollte ich mich sonst fühlen. Er ist schließlich tot! Es ist nur so, dass ich dieses Gefühl mit niemandem teilen kann. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich dich zum Reden habe, aber trotzdem. Es gibt hier niemanden, der Jackson kannte, der ihn wirklich kannte, so wie ich ihn gekannt habe. Seine Freunde sind großartig und haben ihn verehrt, und Mum hat Jackson gemocht, aber sie leidet wegen mir, nicht wegen ihm. Ich habe das Bedürfnis, Leute um mich zu haben, die ihn so geliebt haben wie ich.«
»Denkst du an seine Familie?«
Sie nickt. »Sein Vater hat immer noch nicht angerufen. Ich versuche es gelegentlich, aber er nimmt einfach nicht ab.«
»Vielleicht ist es im Moment noch zu schwer für ihn.«
Eva trinkt ihren Wein aus. »Ich habe mir überlegt …«, sagt sie und fährt mit ihrem Finger über den Stiel von ihrem Weinglas. »Was, wenn ich hinfahren würde?«
»Nach Tasmanien?«
Sie nickt. »Ich möchte Dirk kennenlernen. Und Jacksons alte Freunde. Ich möchte sehen, wo er aufgewachsen ist. Wir wollten im Herbst hinfahren. Melbourne ist auch nicht weit weg, sodass …«
»Sodass du mich besuchen könntest«, beendet Callie den Satz und strahlt über das ganze Gesicht.
Callie würde ab Februar für sechs Monate dort arbeiten, betonte aber ständig, dass sie den Vertrag auch platzen lassen könne, wenn Eva sie in London bräuchte.
»Ich könnte dich auch in Tasmanien besuchen«, sagt Callie. »Dann können wir zusammen nach Melbourne fliegen. Die Firma zahlt mir eine Zweizimmerwohnung. Du hättest also dein eigenes Zimmer.«
»Und was ist mit David?«
»Der weigert sich, so lange Strecken zu fliegen. Angeblich gerät dann sein Schlafrhythmus durcheinander. Das hat man davon, wenn man einen Fünfundvierzigjährigen fickt.«
Eva ringt sich ein Lächeln ab, aber sie spürt die Traurigkeit, die in ihren Mundwinkeln und in den dunklen Schatten unter ihren Augen lastet.
»Ernsthaft, Eva, warum nimmst du dir nicht eine längere Auszeit?«
Eva nickt. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht.«
»Hast du mit deiner Mutter darüber gesprochen?«
Eva schüttelt den Kopf. »Die wäre nicht begeistert von der Idee.« Das Leben ihrer Mutter war von Trauer überschattet. Sie hatte ihre zweite Tochter bei der Geburt verloren, und zwölf Jahre später war ihr Mann an einem Schlaganfall gestorben. All ihre Liebe – und all ihre Ängste – hatten sich auf Eva konzentriert.
»Du musst tun, was dir richtig erscheint, und nicht, was deine Mutter möchte.« Callie zögert. »Was hätte Jackson dir geraten?«
Ohne zu zögern, sagt Eva: »Fahr. Er hätte mir geraten zu fahren.«
Wir hatten darüber gesprochen, nach Tasmanien zu fahren. Du wolltest meine Familie kennenlernen, wolltest mit den Freunden, von denen ich so viel erzählt habe, einen trinken gehen, wolltest die Hütte auf Wattleboon sehen, wo ich meine Sommer verbracht habe.
Für viele Leute ist Tasmanien nur der arme Bruder Australiens, weil das Klima dort kühler ist und die Städte kleiner und weniger spektakulär sind. Auch die finstere Vergangenheit als Strafkolonie ist unvergessen. Trotzdem habe ich die Insel genau aus diesen Gründen immer geliebt – sie ist rau, zerklüftet und geheimnisvoll, und in ihrer ungezähmten Wildnis kann man sich wunderbar verlieren.
Es hätte mir gefallen, mit dir durch die gespenstische Schönheit der Cradle Mountains zu wandern, wo das Moos von den Bäumen herabhängt. Oder dir die Wombats zu zeigen, die an der Wineglass Bay herumlaufen. Wir hätten Touristen spielen und mit dem Boot die Ostküste hochfahren können, um Wale zu beobachten. Oder wir hätten bei Buggy ’s Takeout in Hobart fetttriefende Pommes mit Bratensoße essen können.
Du hast mir unendlich viele Fragen über Tasmanien gestellt, als könntest du dir ein Bild von mir machen, indem du meine Heimat kennenlernst. Es gibt aber vieles aus meinem Leben dort, das ich dir nie erzählt habe. Ganze Zeitabschnitte habe ich unterschlagen und die Namen etlicher Leute – alles, was ich vergessen wollte.
Ich hätte dir gerne jeden einzelnen Winkel von Tasmanien gezeigt, weil ich weiß, dass du dich in die kleine Insel im Meer sofort verliebt hättest. Die Wahrheit ist aber, Eva, dass ich nie die Absicht hatte, mit dir dorthin zu fahren. Wie könnte ich?
Es beginnt mit der Busfahrt nach Gatwick, dann folgt die ewige Warterei in der überfüllten, stickigen Flughafenlounge, ein Platz im Flieger mit staubigem Kopfpolster, ein übernächtigter Tankstopp in Dubai, weitere zwölf Stunden auf demselben beengten Platz, hektisches Gerenne zum Inlandsterminal in Melbourne und endlich der Flug mit einer kleineren Maschine nach Tasmanien.
Als sie die durchbrochene weiße Wolkendecke durchstoßen, schaut Eva aus dem verkratzten Fenster. Der Südliche Ozean trifft hier auf die gewundene tasmanische Küste, die in unzählige vom Wind aufgewühlte Flussmündungen, Buchten und Wasserarme zerfranst. Eva sieht Ackerland, Wald, baumbestandene Berge und nur wenige Gebäude. Was ins Auge sticht, ist der unendliche Raum. Fast ein Viertel von Tasmanien wurde zum Nationalpark erklärt – eine isolierte, wilde Insel, die sich von der Küste des Mutterlands Australien gelöst hat.
Eva empfindet ihre Reise als Gegenstück zu jener, die Jackson vor zwei Jahren unternommen hat. So hatten sie sich kennengelernt: in dem Flugzeug, in das Eva in Dubai zugestiegen war, nachdem sie Callie besucht hatte, die zu Dreharbeiten dort war.
Sie hatte einen grässlichen Kater, der nicht besser wurde, wenn sie daran dachte, dass sie nach Dorset zurückkehren würde. Solange sie noch für eine eigene Wohnung sparte, würde sie nämlich bei ihrer Mutter wohnen. Ihren Sitznachbarn nahm sie kaum wahr, als sie sich auf ihren Platz sinken ließ und ihr Buch herausholte. Erst, als er sich vorstellte, schaute sie ihn richtig an. Er hatte blassblaue Augen, die kühl und klar in seinem braun gebrannten Gesicht leuchteten. Als er ihr die Hand gab, lächelte er und entblößte seine gesunden weißen Zähne.
»Ich sollte dich warnen«, sagte er, und die lang gezogenen Vokale seines Akzents klangen in ihren Ohren sehr angenehm. »Ich habe eine niedrige Langeweile-Toleranz, und ich sitze schon seit Australien in diesem Flieger. Solltest du dir also einen anderen Platz suchen wollen, tu ’s am besten gleich.«
Unwillkürlich musste sie lächeln und merkte dann, dass er immer noch ihre Hand hielt.
Wie jeder Reisende wollte er nicht darüber reden, wo er herkam, sondern darüber, wo er hinwollte. Er fragte sie über England aus, und so erzählte sie ihm vom hektischen Leben in der Hauptstadt, die meilenweit ins Land hineinwuchert. Sie klärte ihn darüber auf, dass »Big Ben« nicht der Name des Turms ist, sondern der Name der Glocke darin, und dass Teile des Towers über neunhundert Jahre alt sind. Sie erzählte ihm, was sie an England liebte: die Kultur, die Geschichte, die Mischung aus Stadt und Land, und was sie hasste: die Tauben, das Wetter und eine falsch verstandene Political Correctness.
Er wiederum erzählte, dass er Meeresbiologe sei, und fesselte sie mit Geschichten von seiner Arbeit auf einem Safariboot vor dem Great Barrier Reef, wo er Touristen die Korallenschutzprojekte gezeigt hatte, oder von den drei Monaten, in denen er Jugendlichen in einem Erlebniscamp an der tasmanischen Ostküste das Tauchen beigebracht hatte.