Der Takt des Lebens - Reinhard Friedl - E-Book
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Der Takt des Lebens E-Book

Reinhard Friedl

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Beschreibung

Auf der ganzen Welt und durch alle Epochen steht das Herz für Liebe, Mitgefühl, Freude, Mut, Stärke und Weisheit. Warum eigentlich? Diese Frage stellte sich auch der Herzchirurg Reinhard Friedl. Aktuelle Forschungsergebnisse lieferten ihm verblüffende Antworten. 22 Tage nach unserer Zeugung löst das Liebeshormon Oxytocin den ersten Herzschlag aus, der uns ein Leben lang begleitet. Doch das Herz ist nicht nur eine Pumpe! Mit seinem Nervensystem aus zigtausend Neuronen kann es viel mehr wahrnehmen, als man bisher glaubte – und es hat dem Gehirn einiges mitzuteilen. Über welche komplexen Verbindungen menschliche Herzen außerdem miteinander kommunizieren können und weshalb ein gesunder Herzrhythmus chaotisch sein darf, erfahren Sie in diesem Buch von einem Autor, der das Herz aus erster Hand kennt. Reinhard Friedl ist überzeugt, dass in der Wahrnehmung des Herzens als bewusstes Sinnesorgan die Quelle seiner Gesundheit und Heilung liegt.

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Seitenzahl: 398

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Das Buch

Hochspannend: von der komplexen Verbindung zwischen Herz, Gehirn und Seele.

Denn unser Herz ist viel mehr als nur eine mechanische Pumpe: Es ist eine Art zweites Gehirn im Körper, das Signale sendet und empfängt – und ein Ort, an dem Weisheit und Bewusstsein ihren Ursprung haben.

DR. REINHARD FRIEDL

mit Shirley Michaela Seul

Der Takt

des Lebens

Warum das Herz unser

wichtigstes Sinnesorgan ist

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Originalausgabe Oktober 2019

Copyright © 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München,

unter Verwendung von Motiven von FinePic®, München

Lektorat: Doreen Fröhlich

DF · Herstellung: ik

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-23400-3V003

www.goldmann-verlag.de

Dieses Buch ist kein medizinisches Lehrbuch. Das Stellen einer Diagnose und das Durchführen einer Therapie kann ausschließlich durch einen Arzt erfolgen. Die in diesem Buch beschriebenen Patientenschicksale sind verfremdet und in ein fiktives Umfeld transplantiert.

Für Josef und Olivia

»Man hört immer von Leuten, die vor lauter Liebe den Verstand verloren haben. Aber es gibt auch viele, die vor lauter Verstand die Liebe verloren haben.«

Jean Paul

»Ich hatte die Rätsel des Gehirns erkundet, es war Zeit, genauso viel akademische Gründlichkeit und wissenschaftlichen Ehrgeiz auf die Erkundung des Herzens zu verwenden.«

James R. Doty (Klinischer Professor für Neurochirurgie, Stanford University, USA; Gründer und Direktor des Center for Compassion and Altruism Research and Education)

Inhaltsverzeichnis

Eröffnung des Herzens

Der Sechszylinder-Bio-Turbo

Herz auf dem Tisch

Das blutende Herz

Schlag auf Schlag

Herzgespinste

Die bunte Neuro-Show

Herzton

Die Weisheit aus dem Herzen

Herzen in Takt

Das Herz im Brutkasten

Was das Herz fühlen kann

Totentanz

Das Herz im Blick

Lieben

Das einsame Herz

Das große Ganze

Herzbewusstsein

Herzensbegegnung

Abschied vom Kunstherz

Homo Herz

Danksagung

Literatur

Eröffnung des Herzens

BuBumm BuBumm BuBumm

Sie hören ihn meistens nicht, aber wenn Ihr Herzschlag plötzlich weg wäre, wären es auch Sie. Denn Sie leben nur von Herzschlag zu Herzschlag. Dazwischen wohnt der Tod. Setzt nach einem Herzschlag kein nächster ein, bleibt die Uhr des Lebens stehen. Manchmal geschieht das im Schlaf oder beim Einkaufen. Kein Mensch kennt die Stunde seines Todes.

Ihr Herzschlag ist mein Beruf. Sechzig bis achtzig Mal in der Minute erzeugt dieser Ton Leben. Viele Herzen schlagen ruhig und kräftig, manche in steter Hetze. Auch wenn das Herz gelegentlich stolpert, es versucht immer weiterzumachen. Ich habe viele Herzen gesehen, die sich mit letzter Kraft dahinschleppten. Das Herz kennt kein Wochenende und keinen Urlaub. An Ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag hat es rund drei Milliarden Mal geschlagen. Es hat seine Arbeit schon acht Monate vor Ihrer Geburt aufgenommen – zweiundzwanzig Tage nach der Zeugung. Das Herz ist das erste Organ, das sich entwickelt, lange vor dem Gehirn und dem ersten Atemzug. Ohne Herz läuft nichts. Es pocht durch die Jahre und Jahrzehnte, unbemerkt bis … etwas nicht mehr funktioniert. Oder eine Hightech-Optik als Zufallsbefund einen Defekt offenlegt, der noch gar nicht zu spüren war.

Herzsachen erscheinen immer gleich dramatisch. Ein Stechen im Herzen ist etwas ganz anderes als ein Stechen in der Hüfte. Alles, was mit dem Herzen zu tun hat, empfinden wir als einen Angriff auf unser Leben, unsere Unversehrtheit. Auch wenn die Ursache sich später als nicht lebensbedrohlich herausstellt: Herzschmerzen sind Anlass zur Sorge und gehen häufig einher mit Todesangst. Auch ein Kopfschmerz kann ein gefährlicher Vorbote sein, der letztlich zum Tode führt, durch einen Schlaganfall oder eine Hirnblutung. Doch ein heftiger Kopfschmerz ängstigt uns weniger als ein sachter Druck auf der Brust. Wir Menschen spüren tief im Inneren: Das Herz ist die Quelle allen Lebens.

Als Herzchirurg habe ich viele tausend Herzen in meinen Händen gehalten. Ich habe frühgeborene Babys operiert und bei hochbetagten Patienten Herzklappen repariert. Ich habe Kunstherzturbinen implantiert und Messerstichverletzungen am Herzen genäht. Als Organ ist das Herz bis in seine kleinsten Bestandteile untersucht. Wir wissen scheinbar alles – und doch wissen wir nichts. Wöchentlich erscheinen hunderte neue wissenschaftliche Publikationen mit Erkenntnissen über ein Organ, das sich mit dem Auftreten des Homo sapiens in den letzten dreihunderttausend Jahren nicht verändert hat ((1)). Der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal (1623–1662) scheint immer noch recht zu haben: »Das Herz hat seine Geheimnisse, die der Verstand nicht kennt.«

Unabhängig voneinander, zeitlich und räumlich getrennt, ohne Wissen voneinander und obwohl die Menschen weltweit verschiedene Sprachen benutzen, werden Herzen gemalt, um Liebe auszudrücken, irdisch und himmlisch. Handelt es sich dabei um eine in jedem Menschen zutiefst verankerte innere Wahrheit? Oder nur um einen Wunsch, den wir alle unbewusst teilen? In allen großen Kulturen der Menschheit, von der Steinzeit bis zur Gegenwart, in allen Religionen und spirituellen Schulen galt und gilt das Herz als ein Symbol, als das biologische Zentrum für Liebe, Mitgefühl, Freude, Mut, Stärke, Wahrheit und Weisheit. Im Zeitalter von Herztransplantationen und Datenmigrationen scheint der Zauber des Herzens verflogen, gerade so, als könnte er unserer technisierten Welt nicht standhalten. Aber vielleicht bräuchten wir genau diese Eigenschaften für eine humane Zukunft. Der kleine Prinz sagt: »Man sieht nur mit dem Herzen gut«. Und doch haben wir bisher an unserem biologischen Herzen keine Augen gefunden, keine Sensoren für Mitgefühl und Liebe, keine Pumpe, die Mut und Stärke ausstößt. Aber wir alle erleben diese Herzensqualitäten als eine innere Realität, die unser Leben auch leiten kann. Doch in welchem Zusammenhang steht das mit unserem pumpenden Herzen? Was lässt sich aus naturwissenschaftlicher Sicht über dieses »andere« Herz sagen, seine Dimensionen von Bewusstsein? Und wie beeinflusst das Erkrankungen und Therapie?

Aristoteles glaubte, das Herz, und nicht das Gehirn, sei Sitz der Gefühle. Die modernen Neurowissenschaften sind der Meinung, dass Liebe im Gehirn entsteht. Haben auch sie dem Herzen die Geheimnisse der Liebe gestohlen? Und ist unsere Sprache nur mehr eine Erinnerung – woran? Oder handelt es sich um belanglose Metaphern, Worthülsen, wenn wir davon sprechen, dass uns jemand ans Herz gewachsen ist, wir unser Herz verschließen oder jemanden in unser Herz schließen, das wir auch verlieren können, und selbst wenn wir etwas auf dem Herzen haben, können wir uns ein Herz fassen, von dem hin und wieder ein Stein fallen kann, an dem aber keiner stirbt, sondern am gebrochenen Herzen, wir kriegen gleich einen Herzschlag, stehlen womöglich fremde Herzen, während wir selbst unseres verschenken, das wir womöglich auf der Zunge getragen haben, was besser ist, als wenn es vor Freude zerspränge oder es einem die Angst abschnürte. Was hat das Herz auf dem Herzen? Manche dieser Symptome werden tatsächlich zum Kardiologen getragen – zum Beispiel als Herzrhythmusstörungen oder Herzenge. Herr Doktor, ich fühle mich, als würde mir ein Stein auf die Brust drücken. Früher kümmerte ich mich ausschließlich als Chirurg um diese Patienten, heute interessiert mich der ganze Mensch.

Herzchirurgen können Herzen schlafen lassen und zum Schlagen bringen – doch sie sprechen in der Regel nicht zum Herzen, sondern über Maschinen: Herz-Lungen-Maschine, EKG, Ultraschall oder sogar Kunstherzen. Und natürlich mit ihren Kollegen – Assistenzärzten, Anästhesistinnen, Kardiotechnikern, OP-Pflegern. Eine Herzoperation ist keine intime Angelegenheit. Das tief im Brustkorb verborgene und von den Rippen gut geschützte Herz wird in grellem Licht unter dem konzentrierten Blick vieler Augenpaare in hochtechnisierten Operationsräumen eröffnet. Für den Herzchirurgen ist es zunächst einmal eine Pumpe, die er reparieren soll – der Motor des Lebens. Im Gegensatz zu allen anderen Ärzten kennt er die Funktionsweise dieses Motors nicht nur von Filmen und Daten, die mit Ultraschall, Computertomografie, Herzkatheter oder in der Kernspintomografie erstellt werden. Auch in Zeiten der Hightech-Medizin bedeutet es für das wahre Verständnis dieses Organes einen großen Unterschied, ob man es schon einmal mit eigenen Augen gesehen und mit den eigenen Händen berührt hat, oder ob man es nur aus zweiter Hand und von Monitoren kennt.

Als Herzchirurg greife ich tief in den Brustkorb und lege Hand ans Herz. Ein Herz ist es nicht gewohnt, angefasst zu werden. Herzen können auf Berührung sehr empfindlich reagieren. Manche erschrecken förmlich und antworten mit Rhythmusstörungen. Doch selbst kranke Herzen sind stark, so stark, dass es mich immer wieder erstaunt, welche Kraft ihnen innewohnt. Wenn sie in meiner Hand liegen, fühlt es sich an, als seien sie die Essenz des Lebens, der pure, unbedingte Lebenswille. Für mich ist jedes Herz ein eigenes Wesen; jedes Herz hat ein ganz eigenes Erscheinungsbild. Ich weiß nie, was sich mir gleich offenbaren wird, wenn ich mit dem Skalpell die Haut über dem Brustkorb durchtrenne und den Brustkorb eröffne. Manche Herzen sind sehr lebhaft und muskulös, andere ein bisschen pummelig mit deutlichem Fettbesatz. Vielen sieht man ihren langen Weg durch das Leben und ihre Krankheit an, und sie wirken müde und verbraucht. Doch eines haben sie alle gemeinsam: Sie schlagen für ihr Leben gern.

Was halte ich da eigentlich in der Hand? Wirklich nur die Pumpe oder nicht vielmehr den Ursprung allen menschlichen Bewusstseins?

Die Neurowissenschaften können die Frage nach der Entstehung von Bewusstsein nicht ansatzweise beantworten. Die vorherrschende Meinung lautet, Bewusstsein entstehe als Ergebnis biochemischer und elektrophysiologischer Prozesse im zentralen Nervensystem, dem Gehirn. Neurowissenschaftler kennen die Bauteile, ihre Funktionen und komplizierten Verschaltungen sehr genau. Doch wie aus der organischen Materie unseres Körpers etwas Geistiges wie ein Gedanke oder ein Gefühl entsteht, ist weitgehend unbekannt. Das Entstehen von Bewusstsein ist nach Ansicht des bekannten Neurochirurgen Eben Alexander und anderer Gehirnforscher ein weißer Fleck auf der Karte der Neurowissenschaften ((2, 3)). Und wenn das Herz zumindest einen Teil dieses unbekannten Gebietes ausfüllen könnte?

Stillgelegt

Ich weiß noch gut, wie ich als junger Arzt das erste Mal ein Herz sah. Es erinnerte mich an eine empfindliche, frisch geschälte Frucht. Ich betrachtete das apfelsinengroße Organ voller Ehrfurcht. Nur Muskeln, die pumpen, teilweise von einem dünnen Fettkleid bedeckt, sonst nichts. So schien es mir auf den ersten Blick. Ich sollte den Sauger halten, um austretendes Blut abzusaugen, und war froh, etwas in der Hand zu haben, an dem ich mich festhalten konnte, so mächtig waren die Eindrücke. Unbeirrt schlug das Herz weiter, während meine Kollegen sorgfältig den Anschluss an die Herz-Lungen-Maschine vorbereiteten und zahlreiche sehr feine Nähte am Herzen und der großen Körperschlagader setzten. Die meisten Herzoperationen können nur durchgeführt werden, nachdem das Herz stillgelegt wurde. Dazu wird die Blut- und damit auch Sauerstoffversorgung des Herzens unterbrochen. Um einen geschützten Herzstillstand zu erzielen, wird in die Herzarterien ein bestimmtes Flüssigkeitsgemisch infundiert, im Wesentlichen Blut und Kalium. Die elektrische Erregung des Herzens kommt so zum Erliegen – es hört auf zu schlagen. Dadurch wird sein Energieverbrauch gesenkt, und seine Zellen brauchen weniger Sauerstoff. Manchmal wird es zusätzlich gekühlt. So kann das Herz eine bestimmte Zeit, bis es wieder durchblutet wird, ohne großen Schaden überdauern. Damit aber der künstlich erzeugte Herzstillstand nicht zum Tode führt, wird das Herz vor der Stilllegung an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Sie transportiert nun das Blut anstatt des Herzens, das während der Operation pausiert, und reichert es auch mit Sauerstoff an.

Häufig muss jemand das Herz im Brustkorb in einer bestimmten Position festhalten, damit der Operateur bei Klappenoperationen Zugang zu den Herzhöhlen hat oder einen Bypass an der Hinterwand anbringen kann. Meistens der jüngste Assistenzarzt. Und plötzlich wurde es mir in die Hand gegeben; ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Schockstarr bewegte ich mich nicht. Jetzt bloß nichts kaputtmachen. Bloß keinen Fehler machen. Ich hielt das Herz in der Hand wie einen frühgeborenen Säugling. Es erschien mir so zart, so verletzlich, und gleichzeitig ist seine kräftige Muskulatur selbst im erschlafften Zustand sehr definiert spürbar. Ich hatte noch kein Gefühl für die Konsistenz, das Gewebe, für das Wesen des Herzens. Ich glaube, es war ein Männerherz, aber es könnte auch ein Frauenherz gewesen sein. Sie sehen nahezu gleich aus, ähnlich groß, ähnlich stark, zirka dreihundert Gramm schwer.

Mit den Monaten und Jahren wurden meine Aufgaben als angehender Herzchirurg im OP anspruchsvoller. Ich durfte den Brustkorb eröffnen, den Anschluss an die Herz-Lungen-Maschine übernehmen, schließlich den ersten Bypass nähen. Meine Lehrer überwachten jeden Handgriff mit Argusaugen, gelegentlich führten sie mir sogar die Hand. Vor Aufregung fiel mir manchmal beinahe der Nadelhalter aus den Fingern, und wenn irgendwo auch nur ein Blutstropfen durchsickerte, blieb mir fast das Herz stehen. War ich zu tief oder noch richtig? Mein erfahrener Kollege sagte nichts, also weiter. Ich lernte, meine Emotionen zu kontrollieren, am besten: keine zu haben. Millimeter für Millimeter tastete sich die Nadel durch die Wände der Herzarterien, die selbst nur einen Innendurchmesser von ein bis zwei Millimetern haben und Wände dünn wie Pergamentpapier. Wenn die Körperschlagader, der große Strom des Lebens, reißen würde, könnte das Blut bis hoch zur OP-Lampe spritzen. Da zittern jedem Anfänger die Hände. Klarer Verstand und äußerst präzise Mechanik machen eine Operation sicher. Das verinnerlichte ich und wurde immer souveräner, doch außerhalb des OPs drückte dieses kühle Funktionieren mein Herz ab, und ich merkte es nicht einmal in meinem bedingungslosen Streben, ein guter Operateur zu werden.

Nach acht Jahren, bereits selbst Herzchirurg, nähte ich nach einer langen Operation am Ende die Haut zu, ohne mir viele Gedanken zu machen. Ich begeisterte mich für die Technologien und ihre faszinierenden Möglichkeiten. Mittlerweile konnte ich eine bestimmte Art von Bypass-Operation sogar am schlagenden Herzen routinemäßig durchführen. Bei den meisten Operationen wird das Herz jedoch wie beschrieben stillgelegt, repariert und danach wieder zum Schlagen gebracht. Die komplexen Reparaturen von Herzklappen und die enorme Verantwortung meines Berufes reizten mich gleichermaßen. Das Herz verzeiht nicht viele Fehler, der Zeitdruck ist enorm, denn der Herzstillstand sollte in der Regel nicht länger als 60 bis 90 Minuten dauern. Je kürzer, umso besser. Es ist ein bisschen wie Reifenwechseln in der Formel 1. Der Boxenstopp sollte nicht zu lange dauern, sonst ist der Patient aus dem Rennen. Ich hatte einen wundervollen Lehrer, der es so formulierte: »Der Patient darf bei der OP nicht aus der Kurve fliegen, und die Voraussetzung dafür ist ein handwerklich hervorragend reparierter Motor.«

Natürlich wollte ich als Arzt zuallererst meinen Patienten helfen. Doch ich verhehle nicht, dass mich der äußerliche Glitter, die Bewunderung, die Herzchirurgen häufig zuteil wird, ebenfalls lockte. Verantwortung und Ansehen sind sicher vergleichbar mit dem eines Jetpiloten. Doch gegenüber dem Herzen ist ein Flugzeug eine eher überschaubare Maschine, es reagiert aufgrund planbarer technischer Gesetzmäßigkeiten immer gleich. Als Herzchirurg kann ich mich auf keine eindeutige Kausalität verlassen – im Sinne von »Wenn ich diesen Knopf drücke, wackelt die Klappe«. Die Mechanik des Herzens ist sehr viel subtiler, nicht steuerbar, und gar nicht so selten benehmen sich Herzen anders, als man es erwartet. Der Chirurg muss mit allem rechnen, den Überblick behalten, Ruhe bewahren – und darf sich vor allem nicht von Gefühlen leiten lassen. Was ich perfektionierte.

Erweckt

Tagein, tagaus arbeitete ich mit Herzen. Ich lebte in der sterilen Wirklichkeit des OPs. Meine Herzensbegegnungen beschränkten sich darauf, jeden Tag vor einem offenen Brustkorb zu stehen. Mit meinem Team holte ich halb tote Patienten ins Leben zurück, reparierte Pumpen, um ihren Eigentümern wieder Lebensqualität zu ermöglichen, dachte selten über den OP-Tisch hinaus. Herzoperationen finden an der Quelle des Lebens statt, und bei den meisten Menschen sprudelt sie danach wieder. Doch manche sterben auch dabei. Das muss man wegstecken. Man darf nicht zu viel fühlen, schon gar nicht Mitleid. Sonst funktioniert man nicht mehr gut. Eines Tages merkte ich, dass ich die Stimme meines eigenen Herzens nicht mehr richtig hören konnte. Denn immer öfter beschäftigte ich mich mit Fragen, die, eigentlich unvorstellbar, nichts mit der Chirurgie zu tun haben. Ist das Herz mehr als eine Pumpe? Können wir mit dem Herzen bewusst wahrnehmen? Vielleicht sogar aus dem Herzen heraus handeln? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Stimme des Herzens und Erkrankungen, einem erfüllten oder leidenden Leben? All dem wollte ich auf die Spur kommen. Das Resultat meiner Reise zu den Geheimnissen des Herzens halten Sie nun in Händen.

Wo sollte ich anfangen? Als Wissenschaftler recherchierte ich bei anderen Kollegen meines Fachs und auch interdisziplinär. Mathematiker, Ingenieure und Herzspezialisten rücken dem Herz mit immer mehr Technologie und virtueller Realität zu Leibe. Alles außerordentlich faszinierend, habe ich doch selbst Navigationssysteme für das Herz entwickelt. Aber ich fand leider nicht das, was ich suchte. Bis mich an einer Bahnhofsbuchhandlung ein knallrotes Herz anstrahlte. »Herz-Schmerz« lautete die Schlagzeile der Bildzeitung, gefolgt von der Frage: »Woher weiß ich, ob mein Herz krank ist?« Das hätte ich auch gern gewusst, also trat ich näher und fand Altbekanntes zum Thema Herzinfarkt und Co. Im Zeitschriftenständer daneben versprach ein Heft »Alles Wissenswerte über Bluthochdruck, Cholesterin, Infarkt, Gefäßverengung, Herzschwäche, Herzrhythmusstörungen, Herzenge und Organersatz«. Man sollte als Wissenschaftler nicht im Elfenbeinturm sitzen, und so investierte ich acht Euro neunzig Cent und erfuhr null Neues.

Ein Freund schickte mir einen Artikel. »Neurologie. Wie der Bauch den Kopf bestimmt.« Ich las Interessantes über das Nervensystem des Darmes und seine Kommunikation mit dem »Kopfgehirn«, wie es genannt wurde, und dass Ärger auf den Magen schlägt sowie bestimmte Arten von Bewusstsein im Darm entstehen können. »Das Bauchhirn ist hochintelligent«, verkündete der amerikanische Neurowissenschaftler Michael Gershon, Chef des Departments für Anatomie und Zellbiologie der Columbia University in New York. Wenn es »Intelligenz« im Bauch gab, der bisher eher dafür bekannt war, zu verdauen und Kot zu produzieren, konnte doch auch im höher gelegenen Herzen etwas zu finden sein. Doch im Weiterlesen lief ich in eine linke Gerade: »Das Herz ist dagegen eine primitive Pumpe«, erklärte Gershon. Für einen Augenblick wurde mein Herz auf die Bretter geschickt. Doch es ließ sich nicht auszählen, schlug mir im Hals, klopfte bis zum Hirn, Empörung wallte hoch. Primitiv? »Mein« Herz? Niemals!

Früher habe ich mal geboxt und gelernt, auf die Schläge meiner Gegner vorbereitet zu sein. Doch dieser erwischte mich kalt. Irgendwo ganz tief in mir wusste ich, das stimmte nicht. Aber wie sollte ich es beweisen? Wie ein Geigenbauer eine Stradivari liebt, schätze ich die Biologie des Herzens, seine Töne und Mechanik. Und eine Geige ist nicht nur ein simpler Kasten mit vier Saiten. Wenn sie jemand zu spielen versteht, entsteht ein Universum an Musik und Emotionen.

Wenn das Herz nur eine primitive Pumpe wäre, wieso hat man es bisher nicht geschafft, eine Pumpe zu bauen, die auch nur annähernd so einzigartig gut funktioniert? Wieso konnte man das Herz nicht einfach ersetzen, und wieso mussten so viele Menschen auf Wartelisten für Organtransplantation sterben?

Mein Kämpferherz erwachte. Ich ging in gewisser Weise noch einmal zurück auf Start und verließ die Sicherheit, die ich mir als Herzchirurg angeeignet hatte. Ich begann, Fragen zu stellen, die über den Operationstisch hinausreichten. Ich schaute mir diese »primitive Pumpe« noch einmal ganz genau an, auch aus unkonventionellen Perspektiven, um sie mit meinen Erfahrungen aus vielen tausend Herzoperationen abzugleichen. Im Operationssaal beobachtete ich nun mit Argusaugen. Ich wollte mir keine Herzensregung entgehen lassen.

Immer wieder fiel mir in dieser Zeit die Diskrepanz zwischen den medizinischen und symbolischen Darstellungen des Herzens auf, und ich sprach auch mit anderen darüber. »Das Herz darf wohl nur gut sein«, wandte einmal eine Bekannte ein, nachdem ich einige Stilblüten rund um das Herz aufgezählt hatte. »Aber es gibt auch ein Hasenherz und ein klammes Herz und ein eiskaltes Herz und eines aus Stein und ein erkaltetes.«

Im ersten Moment war ich sprachlos. Sie hatte Recht, ohne Zweifel. Auch diese Frage musste ich zulassen und nicht ausklammern. War ich selbst einer Sehnsucht auf den Leim gegangen? Dann sah ich ein krankes Herz vor meinem inneren Auge, ein Herz, das, nicht mehr richtig durchblutet, klamm geworden war. Kalk hatte es versteinern lassen in seiner Angst, die ihm jeden Mut genommen hatte. Und da wusste ich, dass ihr Einwand meine Absicht bestätigte. Das Herz aus sich heraus ist stark, lebensbejahend – positiv. Angst ist gestockter Fluss, gefrorene Energie.

Manchmal ist es erforderlich, einen Schritt zurückzutreten, um das gesamte Bild zu sehen. Als Wissenschaftler habe ich gelernt, dass erfolgreiche Frauen und Männer, große Persönlichkeiten immer Herz und Verstand einsetzen. Es ist erlaubt und unsere Aufgabe, nichts als gegeben hinzunehmen, alles in Frage zu stellen, neu zu denken. Gerade dem Unvorstellbaren entspringen in der Wissenschaft die besonders interessanten Fragen.

Wie ich zu meinen Erkenntnissen gelangte und wie sie unser Leben positiv verändern können, erzähle ich auf den folgenden Seiten, in denen ich auch das Wunderwerk Herz eröffnen möchte. Das Herz begleitet uns vom Mutterleib bis zur Mutter Erde am Ende, wir führen seinen Namen so oft im Munde, und doch ist dieses zentrale Organ vielen Menschen sonderbar fremd, ja, nicht wenige haben sogar Angst davor. Einige Menschen sind froh, wenn sie ihr Herz nicht spüren. Denn das bedeutet doch, dass alles in Ordnung ist? Das habe ich auch lange geglaubt, bis ich eines Besseren belehrt wurde. Heute meine ich, dass die Wahrnehmung des Herzens in der Medizin nicht nur als Pumpe, sondern als Quelle des Lebens und von Bewusstsein und ursächlich an vielen Störungen und Krankheiten beteiligt, uns ein neues und tieferes Verständnis über die Zusammenhänge im Körper schenken könnte, das in der Folge zu mehr Gesundheit und auch Lebensfreude führt.

Auf der Suche nach der wahren Natur des Herzens habe ich auch mein eigenes Herz wiedergefunden. Eine gewisse Herzarmut, so mag mir scheinen, ist Medizinern nicht fremd. Vielleicht glauben wir, unser Herz stilllegen zu müssen, weil wir mit so viel Leid konfrontiert sind. Gesellschaftlich werden wir dafür mit Anerkennung und hohem Status belohnt. Lieber der eiskalte Chirurg als der mitfühlende, dem womöglich die Hände zittern. Heute weiß ich, dass auch meine mitfühlenden Hände nicht zittern, nein, sie haben Augen. Die ganzheitliche Wiederbelebung meines Herzens hat mein Leben, meinen Umgang mit mir selbst und auch die Beziehung zu meinen Mitmenschen und natürlich Patienten gravierend verändert. Sie sind keine Behältnisse, in denen die Pumpe streikt, sondern ganze Menschen, denen ich mit Medizin und Anteilnahme begegne.

Niemand würde bestreiten, dass es Liebe gibt. Aber können wir sie messen? Wir können innere Phänomene spüren und fühlen, die wir nicht direkt objektivieren können. Wir können sie auch nicht im Labor nachweisen oder ihre molekulare Entstehung vollständig erklären. Aber wir fühlen sie intuitiv. Immer mehr Menschen suchen Antworten, vielleicht weil sie »spüren«, dass uns ein Leben, basierend nur auf Technologie und Beschleunigung, nicht glücklicher und zufriedener macht. Wäre es möglich, zu uns selbst und in unsere Herzen zurückzukehren? Körperzentrierte Therapien und spirituelle Schulen versuchen, Bewusstsein über den Körper zu erlangen und dabei »ihr Herz zu öffnen«. Irgendetwas scheint in unserem modernen, komfortablen, aber auch leistungsorientierten und zunehmend technisierten Leben zu fehlen. Unsere rationale und doch alles andere als vernünftige westliche Lebensart entspricht nicht den Vorstellungen von einem ganzheitlichen Dasein.

In den folgenden Kapiteln erzähle ich die Geschichte eines Herzchirurgen, der sich auf den Weg machte, das abhandengekommene Herz wiederzufinden. Ich habe uralte und hochaktuelle Erkenntnisse aus verschiedenen wissenschaftlichen Welten zusammengetragen, vor allem auch über die geheimen Verbindungen von Herz und Gehirn und wie sie Emotionen und Bewusstsein beeinflussen. Daraus ergeben sich neue Erkenntnisse für die Gesundheit des ganzen Herzens und seiner Therapie. Also für den ganzen Menschen.

Herzhören

BuBumm, BuBumm, BuBumm – das gesunde Herz macht zwei Töne, von denen der erste etwas kürzer klingt. Es ist keine monotone Marschmusik, kein BummBumm, BummBumm, sondern ergibt, durch den verkürzten ersten Takt, einen tänzerischen, leichten Rhythmus. Wir können das BuBumm hören, wenn uns jemand erlaubt, unser Ohr an seine Brust zu legen. Als Kind habe ich es geliebt, dem Herzschlag meiner Geschwister und Eltern zu lauschen. Der erste Herzton, das Bu, wird erzeugt, wenn das Herz kontrahiert und die Herzklappen öffnen, der zweite, das Bumm, wenn das Herz wieder entspannt und die Klappen schließen. Aus der Embryologie und Pränataldiagnostik wissen wir, dass dies der erste Ton ist, den wir in unserem Leben hören, lange bevor wir geboren werden. Er ist von immenser Bedeutung für die Mutter-Kind-Beziehung.

Das Herz eines anderen Menschen hören zu dürfen ist etwas sehr Intimes, Besonderes. Herzhören erfordert Nähe. Auch in der Medizin. »Machen Sie bitte Ihren Oberkörper frei.« Was hierbei eigentlich geschieht – Ich höre dein Herz! –, ist eine rein diagnostische Maßnahme, die immer seltener eingesetzt wird. In früheren Jahrhunderten und auch noch Jahrzehnten galt es als hohe ärztliche Kunst, die feinen Töne und Geräusche zu unterscheiden und die richtige Diagnose zu stellen. Noch zu Zeiten meiner Ausbildung wurde in einem der angesehensten medizinischen Fachblätter überhaupt, dem New England Journal of Medicine, ein wissenschaftlicher Artikel publiziert, der darlegte, dass mit der Auskultation des Herzens, also dem Abhören durch erfahrene Fachleute, Diagnosen mit hoher Treffsicherheit gestellt werden können ((4)).

Und genau 30 Jahre später ist es für einen Herzchirurgen ernüchternd, wenn ein Patient kurz vor einer Operation sagt: »Sie sind der erste Doktor, der auf mein Herz hört« ((5)). Das Abhören des Herzens ist für die meisten Patienten die größtmögliche Intimität zwischen Arzt und Patient. Ich bin der festen Überzeugung, darin liegt auch ein tiefer Wunsch des Menschen, dass sein Innerstes gehört wird.

Heute hat das bewegte Bild den Ton abgelöst. Nach meiner Beobachtung horchen Herzspezialisten nur noch selten auf die Herzen ihrer Patienten. Dies betrifft nicht nur die Töne und Geräusche, welche die Mechanik des Herzens verursacht, sondern auch die andere Stimme des Herzens, die aus den Welten der Weisheit und des Mitgefühls kommt. In zunehmendem Maße sind sich Herzforscher, Psychologen und spirituelle Lehrer einig: Diese Stimme ist untrennbar mit dem organischen Herzen verbunden.

Wann haben Sie sie zuletzt gehört?

Ich möchte Sie zu einer bewussten Wahrnehmung Ihres Herzens einladen. Legen Sie Ihre rechte Hand auf Ihr Herz und fühlen Sie Ihren Herzschlag. Atmen Sie gleichmäßig ein und aus und nehmen Sie wahr: Was hat Ihnen Ihr Herz zu sagen?

Was immer Sie auch hören oder nicht, es ist das Richtige. Bleiben Sie geduldig und urteilen Sie nicht. Es gibt viele verschiedene Arten von Meditation. Das Ziel ist immer das gleiche: innehalten, langsamer atmen, in sich hineinspüren und die Gegenwart sowie alle Gedanken und Gefühle beobachten.

Vielleicht fühlen Sie nach einer Weile, wie Ihnen Ihr Herz mit jedem BuBumm Leben schenkt. Jetzt. Von Augenblick zu Augenblick. Und dann wird aus dem Leben eine neue Lebendigkeit.

Als ich diese Meditation vor über zehn Jahren zum ersten Mal praktizierte, hörte ich … nichts. Ich stand noch ganz am Anfang meiner Reise zum wahren Herzen. Das Herz war damals noch eine Pumpe für mich, wenn auch keine primitive, sondern ein Wunderwerk der Präzision und Kraft.

Der Sechszylinder-Bio-Turbo

Neuntausend Liter Blut befördert das Herz täglich und schlägt dabei rund hunderttausend Mal. Die großen Muskelbahnen des Herzens verwinden sich spiralförmig ineinander und formen fantastische Höhlensysteme, die durch die Herzklappen verbunden und Scheidewände getrennt sind. Für den Ausstoß von Blut rotieren innere und äußere Muskelschichten gleichzeitig in verschiedene Richtungen und folgen dabei einer fein abgestimmten Choreografie ((6)). Physikalisch könnte man das Herz daher nicht nur als Pumpe, sondern fast schon als eine Turbine betrachten. Und wenn es Ihnen manchmal vorkommen mag, als würde es in Ihrem Leib springen, ist das ebenfalls zutreffend. Blickt man in den offenen Brustkorb, hüpft das Herz mehr, als dass es läuft. Und wie diese Sprünge und Drehungen aussehen, in welchem Rhythmus sie vollführt werden, welche Figur das Herz dabei macht, das verrät dem Herzchirurgen schon sehr viel über seinen Zustand. Dieser Tanz des Herzens und seine geometrischen Formen sind so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Sie könnten damit als Person identifiziert werden, denn es gibt keine zwei Menschen mit einem identischen Herzen auf der Welt. Diese Erkenntnis machten sich auch Forscher an der Universität Buffalo zunutze und entwickelten prototypisch einen Herzradar. Die Menschen der Zukunft können sich vielleicht mit ihrem Herzensabdruck in ihren Computer einloggen, im Supermarkt bezahlen oder am Flughafen einchecken – sich ausweisen mit ihrem Herzen ((7)).

Üblicherweise jedoch verbirgt sich das Herz gerne vor allzu neugierigen Blicken. Damit der Herzchirurg es sehen kann, muss er sich zuerst einmal Zutritt verschaffen in den Maschinenraum des Herzens, der vom Herzbeutel, auch Perikard genannt, gebildet wird. Das Perikard formt eine feuchte Höhle, damit sich das Herz nicht wund reibt und darin schön gleiten kann. Es unterstützt seine Arbeit, engt es aber nicht ein. Auch sorgt es dafür, dass das Herz nicht zu voll werden kann und in bewegenden Situationen dort bleibt, wo es hingehört. Es gab nach Herzoperationen Fälle, in denen das Herz seinen angestammten Platz verlassen hat und in die Lungenhöhlen gefallen oder gehüpft ist – eine tödliche Komplikation, sofern sie nicht sofort erkannt und behoben wird.

Wenn das Herz verletzt wurde oder Entzündungen überstanden hat, kann die Wohnung des Herzens eine harte Schale bilden. Zuerst verklebt das Perikard mit dem Herzen, das wird als Herzbeutelentzündung oder Perikarditis bezeichnet. Später bilden sich Kalkstränge, welche die Bewegungen des Herzens massiv einengen. Das Herz kann sich dann nicht mehr richtig füllen und befindet sich in einem ausweglosen Würgegriff. Seine ehemals kuschelige Wohnung wird zu einer tödlichen Falle, der Maßanzug zu einer Zwangsjacke. Passenderweise wird diese Situation als Panzerherz bezeichnet. Ein Panzer hat am Herzen nichts verloren, er schützt nicht, sondern behindert es, macht es unfrei in vielerlei Hinsicht. Rein biologisch betrachtet verliert das Herz dann die Fähigkeit, ausreichend Blut aufzunehmen. Und das kann zum Tode führen.

Ein gesundes Perikard schützt also das Herz und sorgt dafür, dass es seinen eigenen Raum hat und frei und ohne Behinderung oder Einengung schlagen kann. Beides braucht das Herz – Schutz und Freiheit. In der traditionellen chinesischen Medizin wird der Herzbeutel als »die Mutter des Blutes und Beschützer des Herzens« bezeichnet. Unsere Schulmedizin bestätigt diese Sichtweise, denn das Perikard übernimmt auch eine Immunfunktion und schützt das Herz vor Infektionen. Die Vielseitigkeit des sehr flexiblen und gleichzeitig reißfesten Perikards ist uns Herzchirurgen bei Operationen eine große Hilfe. Gelegentlich verwenden wir sogar ein kleines Stück Perikard bei unseren Operationen. Einige Quadratzentimeter Perikardflicken, so sagen Herzchirurgen tatsächlich dazu, werden beispielsweise entnommen, um eine Klappe zu reparieren oder ein Loch bei einem angeborenen Herzfehler zu verschließen.

Das Herz hat eine Pumpfunktion, und um Blut zu transportieren, bewegen sich Basis und Spitze in einer geschmeidigen Bewegung aufeinander zu. Seine flüssige Fracht wird durch labyrinthartige Höhlen dirigiert, vielgestaltige, fantastisch geformte Kathedralen des Lebens, die von muskulären Säulen, markanten Simsen und feinsten Sehnen durchzogen sind. Sie sorgen für Stabilität und Kraft und bilden die diffizile Mechanik der sechs Herzklappen. Diese Ventilsysteme sorgen dafür, dass das Blut im Höhlensystem nach vorne fließt und niemals zurück.

Ja, Sie haben richtig gelesen. Es sind sechs Klappen, wobei die kleinsten den längsten Namen haben: Valvula sinus coronarii thebesii und Valvula venae cavae inferioris. Sie treten vor allem als »Einserfragen« bei Anatomieprüfungen in Erscheinung und helfen dabei, das sauerstoffarme Blut, das im rechten Vorhof angesaugt wird, weiterzuleiten Richtung Lunge. Der Blutstrom im Herzen darf nicht abreißen. Sind Klappen grob undicht, stark verkalkt oder bestehen falsche Verbindungen, werden Patienten sehr krank.

Im gesunden Herzen fließt das sauerstoffarme Venenblut, das aus dem Körper kommt, vom rechten Vorhof durch die Trikuspidalklappe in die rechte Kammer und wird von dort kraftvoll an die mehrere Liter großen Lungenflügel weitergereicht. Jetzt kommt die Atmung ins Spiel. Jedes Mal, wenn wir ausatmen, entschwindet in den Lungen Kohlendioxid aus dem Blut in die ausgeatmete Luft. Wenn wir einatmen, werden unsere roten Blutkörperchen mit Sauerstoffatomen beladen. Solchermaßen erfrischt wird das sauerstoffreiche Blut nun in den linken Vorhof gesaugt und steht bereit für die große Reise bis zu den entlegensten Zellen unseres Körpers. Mit dem nächsten Herzschlag flutet es, die Mitralklappe passierend, blitzartig die linke Herzkammer und verlässt dann durch die Aortenklappe das Herz. Die linke Kammer ist eine muskelstarke Urgewalt und kann die physikalischen Drücke aufbauen, die wir in den Arterien als Puls fühlen. Blut zirkuliert in einem geschlossenen Kreislauf. Diese Entdeckung wurde erst vor 360 Jahren von dem englischen Arzt und Wissenschaftler William Harvey gemacht. Zuvor folgten Ärzte über 1.400 Jahre lang der irrigen Lehre des antiken Arztes Galen, nach welcher Blut in der Leber produziert wird und in anderen Organen wieder versickert. Das Herz betrachtete er als eine Art Ofen, in dem eine Flamme zur Reinigung des Blutes brannte, und über die Lungen wurde der Rauch abgeführt. Harvey hatte den Mut, diese damals bindende Lehrmeinung anzuzweifeln, und wurde dafür von vielen verspottet. Er hat jedoch ein neuzeitliches Verständnis unseres Körpers und des Herzens begründet, und dank ihm wissen wir heute, dass Blut zirkuliert und über die Venen zum Herzen zurückkehrt ((8)).

Das Herz gibt also nicht nur, es kann gleichzeitig auch nehmen. Mit jeder Kontraktion wird nicht bloß Blut ausgestoßen, sondern auch angesaugt. Geben und Nehmen in einem ist das fundamentalste Prinzip des Herzens und auch das Wesen der Liebe und einer ausgewogenen Beziehung zwischen Menschen und jeder Partnerschaft. Acht bis zehn Tonnen Blut empfängt und verteilt dieser Muskel pro Tag bei einem erwachsenen Menschen. Stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten jeden Tag neun Tonnen Blut über die Straße tragen und wieder zurückbringen. Bei einem Fassungsvermögen von zehn Litern wären das neunhundert Eimer. Wie lange würden Sie wohl durchhalten? Das Herz setzt noch einen oben auf: Es »trägt« Ihr Blut nicht nur über die Straße, es pumpt es durch ein hunderttausend Kilometer langes Blutgefäßsystem. Das alles geschieht Herzschlag für Herzschlag im Inneren des Körpers – und nur selten kommt uns in den Sinn, welche geradezu überirdische Leistung das Herz vollbringt. Vielleicht möchten Sie an dieser Stelle noch einmal innehalten und eine Hand auf die linke Seite Ihrer Brust legen? Scheuen Sie sich nicht! Sie können spüren, was Menschen seit Anbeginn ihrer Evolution in sich fühlen. Etwas Lebendiges wohnt in Ihnen: Ihr Herz. Es schafft Leben aus sich selbst heraus. Und gleichzeitig ist es in Ihrem ganzen Körper zu Hause, es ist vernetzt mit jeder einzelnen Zelle. Das Herz ist die Mutter und die Quelle, deren Blutstrom alle Zellen mit lebenswichtigen Zutaten versorgt. Und es ist die Abschussrampe der Zellen unseres Immunsystems, ohne die wir in kürzester Zeit an Infektionen sterben würden.

Ein lebendiges Herz ist tief verwurzelt im Körper, und seine Blutgefäße sind verbunden mit jeder einzelnen Zelle, den vielen tausend Milliarden Zellen in unseren Eingeweiden, unseren Genitalien, unseren Armen und Beinen und unseren Sinnesorganen. Seine Äste reichen tief hinab in unser Innerstes, weit hinauf in unser Gehirn und umarmen es mit Millionen von feinen und immer feiner werdenden Verästelungen. Dies erkennt man leider nicht auf den geradezu verstümmelten Darstellungen von Herzen, die wir in anatomischen Zeichnungen und Gesundheitsmagazinen sehen. Sie erinnern an Bilder von Bäumen, denen Wurzel und Krone abgeschnitten wurden. Will man sich ein Bild vom ganzen Herzen machen, so darf man es nicht von seinen pulsierenden Wurzeln und Kronen trennen. In seinem Inneren fließt ein ungehindert freier, starker, gewaltiger Fluss von Blut und Leben. Es ist angetrieben von elektrischer Energie, und sein hochenergetisches elektromagnetisches Feld ist noch in über einem Meter Abstand von einem Menschen messbar ((9)). Manchmal kommt es mir so vor, wir Menschen hätten sehr viel mehr über Bäume verstanden als über unser Herz.

Mit jeder Kontraktion des Herzens rast eine Pulswelle durch unsere Arterien, und das Gehirn pulsiert pausenlos im Takt des Herzens. Kein Organ ist so sehr angewiesen auf die Durchblutung aus dem Herzen wie das Gehirn. Fällt sie länger als ein paar Sekunden aus, werden wir bewusstlos.

In den Medien kennen wir den Puls vor allem aus Emergency Room, Dr. House oder diversen Krimis. Lebt er noch? Und dann folgt der obligate Griff an den Hals und manchmal der Ruf: »Schnell einen Arzt!«

Herz auf dem Tisch

Es ist eine klirrend kalte Winternacht, als ich neunundzwanzig Minuten nach dem Anruf auf den Parkplatz der Klinik einbiege. Die großen Fenster des OP-Traktes sind hell erleuchtet, und ich weiß, dass mein Team alle Vorbereitungen trifft, um einen lebensrettenden Eingriff durchzuführen. Bei einem Patienten droht die Verbindung, an der die große Körperschlagader dem Herzen entspringt, zu zerreißen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, der längst begonnen hatte, als mich mitten in der Nacht ein Anruf weckte. »Bist du wach?«, fragte mich der Assistenzarzt.

»Ja«, erwiderte ich, bereits alarmiert und auf dem Weg zum Badezimmer. Es gibt zwei Arten von Telefonaten. Die angenehmeren beginnen mit: Guten Morgen, ist nichts Schlimmes, ich habe nur eine Frage. Bist-du-wach-Fragen verheißen meist nichts Gutes. Und so war es auch bei diesem Anruf gewesen: »Wir bekommen gleich eine Typ-A-Dissektion; der Hubschrauber landet in fünfzehn Minuten. Der Patient ist sechzig Jahre alt, mehr weiß ich noch nicht.«

»In fünfunddreißig Minuten bin ich da«, sagte ich. Wenn so ein Notfall nicht operiert wird, nimmt die Sterblichkeit innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden um zwei Prozent pro Stunde zu. Innerhalb einer Stunde sterben also zwei Prozent, innerhalb von zwei Stunden vier Prozent und innerhalb von vierundzwanzig Stunden achtundvierzig Prozent der Patienten.

Im OP mache ich mich mit dem Fall vertraut. Dem Notarztprotokoll entnehme ich, dass der Patient am Nachmittag über ein extrem starkes Schmerzereignis in der Brust berichtete. In der Fachsprache nennen wir das Vernichtungsschmerz, wobei der Schmerz bei dieser Erkrankung häufig in den Rücken ausstrahlt. Der Landwirt hatte im Wald gearbeitet und Bäume gefällt. Es dauerte eine Weile, bis der Notarzt vor Ort war und er mit der Verdachtsdiagnose Herzinfarkt in die Notaufnahme der dreißig Kilometer entfernten Klinik eingeliefert wurde. Weitere kostbare Zeit verstrich, bis klar war, dass der Patient keinen Herzinfarkt hatte. Die Bilder der Computertomografie sind für mich eindeutig, die Aorta ist auf fast den doppelten Durchmesser des Normalen erweitert und misst acht Zentimeter. Geteilt wird sie durch die gut sichtbare Dissektionsmembran. Das ist ein Gewebefetzen, der nun innen an der großen Körperschlagader hängt wie bei einem geplatzten Reifen. Bei dieser Erkrankung reißt die innerste Schicht der größten Blutbahn des Körpers, und der kraftvolle Blutstrom aus dem Herzen wühlt sich einen falschen Kanal.

Der Patient muss sofort operiert werden, denn zwischen Leben und Tod steht nur noch die pergamentpapierdünne äußerste Wandschicht. Sie wird dem enormen Druck nicht mehr lange standhalten. Schon sickert Blut durch den verbleibenden Damm, und bald wird er bersten. Im Perikard, also dem Herzbeutel, befinden sich bereits größere Mengen Blut und drücken das Herz zusammen. Eine sofortige Entlastung des Herzens ist jetzt lebensrettend, der Patient hat eine Herzbeuteltamponade. Durch die Fehlleitung gelangt das Herz paradoxerweise in den tödlichen Würgegriff seines eigenen Blutes. Selbst sehr starke Herzen halten das nicht lange aus. Und dieses Herz hier ist kein sehr starkes. Wir beobachten das Drama im Ultraschallbild, das eine echte Momentaufnahme der Vorgänge im Herzen liefert. Auf der Stirn des Assistenzarztes bilden sich kleine Schweißperlen. Die OP-Schwester schaut mich fragend an. Die erfahrene Anästhesistin teilt mir mit, dass die Aortenklappe undicht sei und möglicherweise auch ersetzt oder repariert werden müsse.

»Das ist doch im Augenblick völlig uninteressant«, entgegne ich unwirsch. Dabei hat sie recht, aber das spielt jetzt wirklich keine Rolle. An meiner Reaktion erkenne ich meine eigene Nervosität. Der Blutdruck ist schlecht, der Patient befindet sich in einem beginnenden Schock. Leben oder Tod. Ich muss mich auf das Wichtigste fokussieren.

»Messer«, sage ich knapp zur OP-Schwester und durchtrenne die Haut über dem Brustbein. Dem geraden Schnitt des Skalpells folgt eine dünne Blutspur. Der Druck auf die Klinge ist gerade so stark, dass die Haut durchtrennt wird, aber noch nicht das darunterliegende Gewebe. Hier entsteht eine lange Narbe mittig über dem Herzen, vom Hals bis ans Ende des Brustbeines. Sie wird den Patienten für den Rest seines Lebens zeichnen. Wie lange das sein wird, darüber würde ich im Augenblick lieber keine Prognose abgeben. Sicher ist nur, dass der Patient, von dem ich lediglich den Ausschnitt sehe, weil er unter grünen Tüchern liegt, todkrank ist. Mit einem weiteren Schnitt dringe ich bis zum Brustbein vor. Wortlos reicht mir die Schwester die Druckluftsäge. Ihr heulendes Geräusch übertönt den schwächer werdenden Piepton des Pulsmonitors. In aller Eile wird der Thoraxsperrer eingebracht, eine Art Wagenheber, der den knöchernen Brustkorb aufhält und auseinanderdrückt. In der Tiefe erkenne ich den ballonartig zum Bersten aufgeblähten Herzbeutel, durch den bedrohlich dunkelrot das angesammelte Blut schimmert.

»Schere«, sage ich. Wenn es um alles geht, verzichtet man auf Bitte und Danke. Ich eröffne den Herzbeutel. Sollte die Aortenwand jetzt nicht halten, wird der Patient mit hoher Wahrscheinlichkeit verbluten. Wenn ich den Herzbeutel aber nicht eröffne, wird er einen Herzstillstand erleiden. Wir müssen sofort handeln.

Ich fühle nichts. Mit der Ruhe, die mich immer überkommt, wenn ich operiere, tue ich, was getan werden muss. Meine Bewegungen werden für einen kurzen Augenblick langsam, und ich blicke meinem Assistenten in die Augen. Er ist erfahren, und ich mag ihn und vertraue ihm. Er hat mir schon oft bei schwierigen Operationen beigestanden und mich enorm unterstützt. Er weiß, um was es geht und was jetzt passieren wird. Den großen Sauger hält er bereits in der Hand. Ich nicke, er nickt zurück. Das alles findet in weniger als einer Sekunde statt. Dann eröffne ich mit einem Schnitt den Herzbeutel, und schlagartig entleert sich ein halber Liter Blut ins OP-Gebiet. Wir sehen nichts mehr. Es ist, als blickte man in ein Blutbad, trübes blutiges Gewässer, dessen Grund man nicht erkennen kann. Man weiß nicht, wie gefährlich es darin ist und was sich darunter verbirgt. Die Sauger laufen maximal, und endlich sehe ich das Herz wieder. Dieses sonst so majestätische Organ hat sich in der linken Ecke seines Zuhauses, dem Herzbeutel, in einer unnatürlichen, verformten Lage zusammengekauert. Normalerweise thront es stolz in der Mitte, jetzt wird es durch die bocksbeutelartig vergrößerte Aorta verdrängt.

»Drucke steigt«, höre ich den italienischen Akzent der Anästhesistin. Ich atme tief ein, dieses eigenartige Gefühl von eisiger Kälte in meinem Körper nimmt ab. Die Aorta hat gehalten, und die tödliche Gefahr ist abgewendet. Fürs Erste.

Ich bereite den Anschluss an die Herz-Lungen-Maschine vor. Das gesamte Team weiß: Was nun folgt, ist eine der größten, schwierigsten und gefährlichsten Operationen, die man in der Herzchirurgie und wahrscheinlich überhaupt an einem Menschen durchführen kann. Noch ist nicht klar, welches Ausmaß die Operation annehmen wird. Auch das ist eine Besonderheit dieser Erkrankung. Man kann selbst mit modernsten bildgebenden Verfahren nicht bestimmen, welche Teile der Aorta und der eventuell zum Gehirn führenden Arterien betroffen sind. Klar ist nur, es wird viele Stunden dauern – mit ungewissem Ausgang.

Da die Aorta zerstört ist, erfolgt der Anschluss der Herz-Lungen-Maschine über die Arteria subclavia unterhalb des Schlüsselbeines. Diese wird nun in der Tiefe freigelegt und parallel ein Draht über eine große Vene in der Leiste ins Herz vorgeschoben, unter dem strengen Blick der Anästhesistin, die diese Prozedur im Ultraschallbild verfolgt und mir sagt, ob mein Draht richtig liegt.

»Dreißigtausend Einheiten Heparin«, weise ich an. Damit wird jegliche Blutgerinnung bei dem Patienten aufgehoben.

»Dreißigtausend Einheiten Heparin drin«, höre ich kurz darauf. Ich mag diese knappen klaren Ansagen. Es ist wie in einer Raumstation oder einem Flugzeug. Hoch konzentriert und schnörkellos – das Wesentliche.

Die Kanülen werden eingebracht und die Herz-Lungen-Maschine gestartet. »Voller Fluss, sechs Liter«, meldet der Kardiotechniker. Das beruhigt mich enorm. Bisher waren wir quasi Artisten auf einem Hochseil ohne Netz. Jede Komplikation konnte tödlich enden. Nun haben wir einen Parallelkreislauf installiert und können das Blut, das wir saugen, an den Patienten zurückgeben und jederzeit das Herz stilllegen. Doch noch ist es nicht so weit. Erst einmal wird der Herzbeutel vollständig eröffnet, und ich begutachte den Schaden von außen. Die Aorta, dieser ästhetische und mächtige Kanal des Lebens, liegt aufgebläht und blutunterlaufen wie ein abgestürzter Lindwurm im eröffneten Brustkorb. Wir wissen nicht viel über den Patienten, doch er hatte seit Jahren einen zu hohen Blutdruck, und das Verbindungsrohr von Herz und Körper dehnte sich unmerklich und ohne für den Patienten spürbare Symptome immer weiter – bis die innerste Schicht einriss. Die Frage ist nur, wo genau sich der Einriss befindet und wie viel Gewebe zerstört ist. Geht der Riss hinauf bis in die Hirnarterien oder hinunter zu den Herzkranzarterien? Manchmal reicht er auch sehr nahe an eine Herzklappe, die Aortenklappe, heran, so dass auch sie ersetzt und repariert werden muss. Genau an jener Stelle, wo sie aus dem Herzen entspringt, ist die große Körperschlagader nach allen Seiten etwas erweitert. Schon Leonardo da Vinci wusste, dass diese Erweiterung, Sinus valsalva genannt, das Blut auf eine symmetrische und geradezu harmonische Art verwirbelt. Der Sinn dieser Verwirbelung ist auch heute noch nicht vollständig verstanden, aber sie begünstigt das Strömungsprofil und die Fließeigenschaften. Möglicherweise sind in diesen Verwirbelungen Informationen kodiert, die das Herz an den Körper und das Gehirn sendet.

Eines ist jedoch klar. Dieses Rohr muss ersetzt werden, und das klappt nur bei einem totalen Herz-Kreislauf-Stillstand. Es wird somit, falls der Patient durchhält, in den nächsten Stunden eine Zeitspanne geben, in der nicht nur das Herz, sondern auch die Herz-Lungen-Maschine pausiert. Das ist das Einzigartige an dieser speziellen Operation. Meine Anweisung lautet »Auf achtzehn Grad Rektaltemperatur kühlen.« Daraufhin wird am Wärmetauscher der Herz-Lungen-Maschine das Blut langsam immer tiefer gekühlt, bis die Körperkerntemperatur im Darm achtzehn Grad beträgt. Wieso dort? Jede Mutter weiß, dass das Fieber, das man bei Kindern am Popo misst, das wahre Fieber ist, weil im Inneren des Körpers gemessen wird und dies zuverlässiger ist als die Messung der Hauttemperatur unter dem Arm. Es dauert mindestens eine Stunde, um einen Menschen über die Bluttemperatur von sechsunddreißig auf achtzehn Grad zu kühlen. Diese Zeit nutze ich, um die Aorta und ihre Verbindungen ins Gehirn weiter freizulegen und mit sterilen Stoffbändern zu umschlingen, um jedes einzelne Blutgefäß zu markieren und dadurch Übersicht über die Anatomie zu erlangen. Obwohl die meisten Menschen prinzipiell dem gleichen Bauplan folgen, sind sie doch sehr unterschiedliche Gewächse. Und wie es nur äußerst selten im Leben zwei gleiche Gesichter gibt, gestaltet sich auch unser Innenleben höchst individuell. Ich gehe mit größter Vorsicht vor, das OP-Gebiet um die Aorta ist sozusagen vermint. Eine unbedachte Bewegung, und sie könnte brechen, und die lebensgefährliche Situation, die wir im Moment einigermaßen unter Kontrolle haben, würde eskalieren.

Bei ungefähr sechsundzwanzig Grad beginnt das Herz des Patienten zu flimmern. Dies wäre die Todesursache bei unterkühlten Menschen, die in eine Gletscherspalte fielen oder im Eismeer trieben. In unserem Fall ist diese Reaktion beabsichtigt. Da mein Blick an der Aorta verwurzelt und mein Sehfeld durch eine Lupenbrille mit zweieinhalbfacher Vergrößerung stark eingeschränkt ist, bekomme ich die Information vom Kardiotechniker, der unablässig die Monitore im Auge hat: »Herz flimmert«. Ich verlasse den optischen Fokus, und jetzt sehe ich es auch. Obwohl die Situation bewusst herbeigeführt wurde, ist ein flimmerndes Herz ein Bild des Elends. Seit ich vor Jahrzehnten bei den ersten Herzoperationen dabei sein durfte, gibt es mir jedes Mal einen Stich, wenn ein Herz flimmert. Es sieht so jämmerlich aus und zum Erbarmen; ein sterbendes Wesen, das in seinen letzten Zuckungen liegt. Natürlich weiß ich, dass das Herz kein Lebewesen ist, aber irgendwie ist es doch eines. Es erinnert mich an einen Vogel, der an eine Fensterscheibe geflogen ist und zuckend verendet. Die unvergleichliche Ästhetik der Bewegung des Herzens und seine natürliche Kraft liegen darnieder. Bei dieser Operation gehört die Stilllegung des Herzens jedoch zum unvermeidlichen Ablauf und letztlich auch Erfolg. Ich lasse mir die große Aortenklemme geben und setze das zirka fünfundzwanzig Zentimeter lange Instrument mit größter Sorgfalt und aller Vorsicht langsam über die Aorta. Millimeter für Millimeter schließe ich sie, bis mir ein feines Klicken verrät, dass sie arretiert ist. Jede Wurst hat zwei Enden. Die Klemme sitzt in der Mitte der Wurst. Die Seite, an der sich das Herz anschließt, ist nunmehr nicht mehr durchblutet. Einschließlich des Herzens.