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Der Teufel hat einen Namen: Luke Danbury! Seit die elternlose Ellie in Kent lebt, schlägt ihr geheimnisvoller Nachbar sie immer mehr in seinen Bann. Als Luke verlangt, dass sie bei ihrem Vormund nach Unterlagen sucht, würde Ellie gern ablehnen. Aber der heiße Kuss des Teufels raubt der französischen Unschuld alle Sinne …
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Seitenzahl: 305
IMPRESSUM
Der Teufel und die keusche Schönheit erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2016 by Lucy Ashford Originaltitel: „The Captain And His Innocent“ erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISONBand 42 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg, Hamburg Übersetzung: Renate Körting
Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.
Veröffentlicht im ePub Format in 01/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751505239
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Kent, England, 1815
Im grauen Licht eines trüben Nachmittags im Januar standen zwei dunkel gekleidete Männer auf einem einsamen Strand und blickten hinaus auf das Meer. „Bald werden wir dort draußen gar nichts mehr erkennen können, Captain Luke“, brummte der ältere der beiden. „Dieser vermaledeite Nebel ist so dick wie der Porridge, den sie uns in der Army zu essen gegeben haben.“
„Du solltest lieber dankbar für den Nebel sein, Tom.“ Luke Danbury wandte den Blick keinen Moment vom Meer ab. „So können die Zollbeamten Monsieur Jacques’ Schiff dort draußen auch nicht sehen.“
„Ich weiß, Captain. Aber …“
„Und ich möchte“, fuhr Luke fort, „dass du endlich damit aufhörst, mich Captain zu nennen. Es ist schon über ein Jahr her, seit wir die British Army verlassen haben. Schon vergessen?“
Tom Bartlett schaute den jüngeren Mann misstrauisch an. Für eine Weile presste er die Lippen in seinem wettergegerbten Gesicht zusammen. Seine schwarzen Haare standen störrisch vom Kopf ab. Dann platzte er heraus: „Trotzdem. Ich finde immer noch, dass Sie mich mit den Watterson-Brüdern hätten hinausschicken sollen, um Monsieur Jacques abzuholen. Ich traue den beiden zu, dass sie sich dort draußen verirren.“
„So?“ Luke lächelte ein wenig. „Als wir beide auf der Iberischen Halbinsel kämpften, waren Josh und Pete Watterson schon seit Jahren in der Navy, hast du das vergessen? Die Brüder werden sich nie auf dem Meer verirren, egal bei welchem Wetter.“
Tom schien noch etwas sagen zu wollen, aber Luke entfernte sich bereits von ihm und ging auf das Wasser zu. Sein langer geflickter Umhang flatterte im Wind und die schwarzen Haare wehten wild um seinen Kopf.
„Nun“, sagte Tom leise zu sich selbst. „Ihr Wort in Gottes Ohr, Captain. Hoffentlich rudern die Watterson-Brüder den Monsieur ein bisschen schneller an Land, als ihr Verstand arbeitet.“ Er drehte sich zu den Klippen hinter ihnen um, als vermutete er dort Feinde, die bereits auf der Lauer lagen. „Wenn die Zollbeamten aus Folkestone uns erwischen, legen sie uns schneller in Eisen, als wir mit den Augen zwinkern können. Und das ist eine Tatsache.“
Luke Danbury hatte die Hände in die Taschen gesteckt und beobachtete den Nebel, der sich in immer dichteren Schwaden über das Meer wälzte. Als könnte er den Nebel durchdringen und die französische Küste sehen oder den weit entfernten Ort, an dem letztes Jahr sein Bruder spurlos verschwunden war.
Wieder einmal war Lukes Herz voller Bitterkeit. Er krümmte die Finger der behandschuhten rechten Hand und streckte sie wieder. Er brauchte neue Nachrichten, denn er war des Wartens müde und wollte endlich Gewissheit haben … so oder so.
Hinter seinem Rücken hatte Tom Bartlett, der früher in der Army sein getreuer Sergeant gewesen war, leise zu brummeln begonnen, doch er hörte sofort damit auf, als Luke warnend die Hand hob.
Luke hatte etwas vernommen. Und wirklich, einen Augenblick später konnte er es sehen – ein kleines Boot, das allmählich aus dem Nebel auftauchte. Zwei Männer saßen an den Rudern, während ein weiterer Mann im schwarzen Mantel und Hut sich ungeduldig am Bug vorbeugte. Der Bootskiel knirschte auf den Kieselsteinen. Tom watete durch das flache Wasser darauf zu und reichte dem schwarz gekleideten Passagier die Hand, damit er aussteigen und an Land gehen konnte. „Na also, Monsieur!“, rief Tom zur Begrüßung. „Sie sind sicher froh, wieder auf trockenem Boden zu sein, nicht wahr?“
„Auf festem Boden, ja.“ Jacques lachte. „Und bei Freunden.“
Tom schien sich über das Lob zu freuen. Dann wandte er sich an die Wattersons, die gerade die Ruder festmachten. Die Brüder hatten beide einen braunen Lockenkopf und sahen sich so ähnlich, dass sie hätten Zwillinge sein können. „He, ihr Ganoven“, rief Tom. „Ich habe immer schon gesagt, dass die Navy besser dran ist ohne euch. Ihr habt euch so viel Zeit gelassen, dass ich schon fürchtete, ihr hättet euch verirrt und wärt bis nach Frankreich und zurück gerudert.“
Die Brüder grinsten gutmütig. „Und die Army ist sicher besser dran ohne dein miesepetriges Gesicht, Tom Bartlett. Aber du wirst sicher ein bisschen fröhlicher dreinschauen, wenn du siehst, was wir im Boot haben.“
„Ein Geschenk von Monsieur Jacques?“ Tom nickte mit dem Kopf in Richtung ihres Passagiers, der sich in ein paar Schritten Entfernung bereits angeregt mit Luke Danbury unterhielt.
„Ein Geschenk von Monsieur Jacques.“ Die Brüder hievten das Boot ein Stück weiter nach oben auf den Strand, dann zogen sie einige alte Fischernetze zur Seite und brachten eine schwere Holzkiste zum Vorschein. „Brandy“, verkündeten sie unisono. „Monsieur Jacques belohnt seine Freunde. Komm schon, du Landratte, hilf uns beim Tragen.“
„Mein Schiff liegt hier für die Nacht vor Anker“, sagte Monsieur Jacques gerade zu Luke. „Wie gut, dass ihr uns entdeckt habt, bevor der Nebel sich noch weiter herabsenkte, mein Freund. Und wie gut, dass die Zollbeamten es nicht taten. Wie lange bin ich nicht mehr hier gewesen?“
„Seit Ende Oktober.“
„So lange schon …“ Jacques sah hinüber zu den Männern bei dem Boot und warf dann Luke einen Blick zu, der zu sagen schien: Später, mein Freund. Wir reden, wenn wir allein sind. Dann schritt er über den Kies dorthin, wo Lukes Männer die Kiste mit dem Brandy abgestellt hatten. Schwungvoll entnahm er eine Flasche und entkorkte sie mit seinem Taschenmesser.
„Auf das Wohl der braven Fischer, Josh und Peter Watterson!“ Er hob grüßend die Flasche und nahm einen Schluck. „Auf die Gesundheit von Tom Bartlett! Und ganz besonders auf deine Gesundheit, Captain Danbury!“
Jacques hielt die Flasche vor Lukes rechte Hand, aber rasch ergriff Luke die Flasche mit der linken, an der er keinen Handschuh trug. Sein Blick war ausdrucklos.
„Pardon.“ Jacques machte ein beschämtes Gesicht. „Mon ami, ich habe nicht daran gedacht.“
„Keine Ursache.“ Lukes Stimme war ruhig, aber ein Schatten schien kurz über sein Gesicht zu huschen. „Auf die Gesundheit von allen hier. Auf die wahren Freunde der Freiheit … in England und in Frankreich.“
„Auf die wahren Freunde der Freiheit!“, wiederholten die Übrigen.
Luke trank und reichte dann die Flasche zurück zu Jacques. „Möge eines Tages Gerechtigkeit geübt werden“, fügte er hinzu, „an den Regierungsbeamten in London mit ihren hinterhältigen Worten und gebrochenen Versprechungen.“
„Gerechtigkeit.“
„Ja, Gerechtigkeit, Captain.“ Nacheinander wiederholten alle den Trinkspruch und tranken, bevor sie die Flasche weitergaben.
Schließlich wandte sich Luke an Tom. „Selbstverständlich übernachtet Jacques bei mir im Haus. Aber bevor wir aufbrechen, möchte ich, dass du für mich die Straße kontrollierst, Tom.“
„Die nach London?“
„Genau. Bitte vergewissere dich, dass dort keine Spione sind, keine Regierungsleute.“
Sofort eilte Tom zu dem Pfad, der an der steilen Klippe schräg nach oben verlief. Die Wattersons waren dageblieben, aber Luke erteilte auch ihnen einen Auftrag. „Josh, Peter. Ich möchte, dass ihr den Brandy zum Haus bringt und dort Bescheid sagt, dass unser Gast angekommen ist.“
„Jawohl, Captain.“
Das Tageslicht verblasste allmählich, und der Nebel wallte landeinwärts, nur noch die Schreie der Möwen waren zu hören. Luke und der Franzose waren allein. Und ich kann ihm endlich die einzige Frage stellen, auf die es mir ankommt. Diese Frage hatte er in den vergangenen anderthalb Jahren schon so oft und so vielen Menschen gestellt.
„Jacques, mein Freund.“ Er war selbst erstaunt, dass sich seine Stimme so gelassen anhörte. „Gibt es etwas Neues von meinem Bruder?“
Der Franzose sah traurig und missbehaglich aus. Luke wurde es bange ums Herz.
„Hélas, mon ami!“, sagte Jacques nach einer Weile. „Ich bin die gesamte Küste auf und ab gesegelt und habe jeden befragt, dem ich begegnete. Ich habe in jedem Hafen bei meinen Freunden herumgefragt, von Calais im Norden bis nach Royan im Süden. Und … nichts.“ Der Franzose zog bedauernd die Schultern hoch. „Dein Bruder ist mit den anderen Männern im September 1813 bei La Rochelle verschwunden. Leider weiß man inzwischen, dass die meisten umgekommen sind. Bezüglich deines Bruders jedoch … wir können nur hoffen, dass keine Nachricht eine gute Nachricht ist, wie ihr Engländer zu sagen pflegt.“ Sein Gesicht zeigte tiefes Mitgefühl. „Aber ich habe etwas für dich.“
Er griff in die Innentasche seines Mantels und gab Luke ein kleines, in Öltuch gewickeltes Päckchen. Luke hielt es in der behandschuhten rechten Hand und öffnete es vorsichtig mit der linken, bis etwas in seiner Handfläche zum Vorschein kam. Glänzendes Messing, Kriegsorden mit den eingravierten Namen von Schlachten: Badajoz, Salamanca, Talavera. Luke war zutiefst aufgewühlt.
Schließlich blickte er auf. „Woher hast du das?“
„Von einer alten französischen Bäuerin. Sie fand es halb vergraben in einem ihrer Felder nahe der Küste von La Rochelle und erkannte, dass es sich um britische Orden handelte. Sie bat mich, sie nach England zu bringen. Es könnten die deines Bruders sein, nicht wahr?“
Wortlos nickte Luke. Es wäre möglich. Aber selbst wenn, sagte er sich, bedeutet das nicht, dass er tot ist. Er könnte noch irgendwo dort drüben leben. Als Gefangener vielleicht. Und auf Hilfe warten …
Er riss sich zusammen, weil ihm plötzlich die dunklen Ringe unter den Augen des Franzosen auffielen. Sein Freund war müde, trotz seiner zur Schau getragenen Fröhlichkeit.
„Wir haben später noch genug Zeit zu reden“, sagte Luke. „Es wäre mir eine Ehre, Jacques, wenn du wie üblich in meinem Haus essen und übernachten würdest.“
„Sehr gern, obwohl ich mich morgen vor Sonnenaufgang auf den Weg machen muss. Es ist für meine Mannschaft zu gefährlich, bei Tageslicht noch dort vor Anker zu liegen.“ Jacques drückte Lukes Schulter. „Du weißt, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um deinen Bruder zu finden. Es ist das Mindeste, was ich dir schulde, mon ami …“
Er brach ab, weil Tom Bartlett mit knirschenden Schritten auf sie zukam. „Auf der Hauptstraße sind Reisende, Captain.“
„Zollbeamte?“, fragte Luke mit scharfer Stimme.
„Nein, Captain, es ist eine feine Kutsche. Mit zwei Dienern und einem Kutscher. Jede Menge Gepäck.“
Luke bekam plötzlich kaum noch Luft. „Sah es so aus, als käme die Kutsche aus London, Tom?“
„Ja, würde ich vermuten. Konnte das Wappen auf der Tür nicht sehen, aber die Pferde gehören ganz sicher Lord Franklin. Ich habe die vier schönen Braunen erkannt, die er immer im Stall vom George Inn bei Woodchurch unterstellt.“
„Sitzt Lord Franklin selbst im Wagen?“
„Ich sah eine Frau mittleren Alters, daneben saß eine jüngere. Aber ob Seine Lordschaft auch im Wagen war?“ Tom schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht sagen.“
Luke musste genau wissen, wer in dieser Kutsche saß. „Tom, bitte führe Monsieur Jacques zum Haus. Ich komme nach, so schnell ich kann.“ Er war bereits auf dem Weg zu dem steilen Pfad, auf dem Tom soeben zur Klippe gestiegen war.
Tom war entsetzt. „Sie schaffen es niemals, die vier Braunen von Lord Franklin einzuholen!“
Luke blieb kurz stehen und wandte sich zu ihm um. „Sie werden unterwegs anhalten müssen, Tom. Weißt du nicht, dass die Straße kurz hinter Thornton bei dem heftigen Regen vor einer Woche teilweise eingebrochen ist? Auf diesem Straßenabschnitt muss der Kutscher das Tempo verlangsamen, sonst riskiert er einen Achsenbruch. Ich finde Deckung in dem Wald daneben. Von dort kann ich den Wagen und seine Insassen unbemerkt beobachten.“
„Und wenn Lord Franklin nun wirklich im Wagen ist, Captain, was machen Sie dann?“
Luke antwortete nicht sofort. „Keine Sorge, ich bringe ihn nicht um … noch nicht.“
Damit drehte er sich um und eilte wieder zu dem Pfad, über den man auf die Klippe gelangte.
Tom seufzte und lächelte Jacques resigniert an. „Nun denn, Monsieur“, sagte er. „Dann gehen wir mal zum Haus. Dort brennt ein Feuer im Kamin und meine liebe Frau hält gewiss schon einen leckeren Eintopf bereit. Und dank Ihnen haben wir sogar Brandy …“ Er zögerte. „Ich vermute mal, dass es nichts Neues vom jüngeren Bruder des Captains gibt?“
Jacques schüttelte den Kopf. „Nichts Neues.“
„Dann besteht ja noch Hoffnung“, meinte Tom, „dass er wohlbehalten zurückkehrt.“ Er ging weiter, weil ihn die Aussicht auf warmes Essen lockte. Monsieur Jacques folgte ihm, seine Miene war jedoch immer noch traurig.
„Wohlbehalten?“, murmelte er fast unhörbar. „Leider habe ich daran meine Zweifel, lieber Freund. Große Zweifel.“
Ellie Duchamp, neunzehn Jahre alt, betrachtete aus dem Fenster der Kutsche die ihr unbekannte englische Landschaft. Sie hatte eigentlich gehofft, allein nach Bircham Hall reisen zu können, denn sie brauchte Zeit und Ruhe zum Nachdenken über all das, was ihr in den vergangenen Monaten zugestoßen war.
Doch es blieb ihr keine Schonfrist, um über die Veränderungen in ihrem Leben und die Gründe dafür nachzudenken.
Lord Franklin Grayfield, ein reicher englischer Aristokrat und Kunstsammler, hatte sie in ihrer Dachkammer in Brüssel aufgestöbert und versicherte ihr seither ständig, dass sie seine Verwandte sei und daher unter seine Obhut gehöre.
Weder Zeit noch Ruhe waren ihr beschieden, denn neben ihr in der Kutsche saß die Begleiterin, die Lord Franklin für sie engagiert hatte. Es war Miss Pringle, eine besonders englische und altjüngferliche Dame, die vor wenigen Tagen in Lord Franklins Haus in Mayfair angekommen war. Miss Pringle konnte ihre Aufregung darüber nicht verbergen, mit der Aufgabe betraut worden zu sein, Ellie nach Bircham Hall zu begleiten, dem Landsitz Seiner Lordschaft in der Grafschaft Kent.
Gestern hatte Lord Franklin – ein stets höflicher Mann mittleren Alters – persönlich vor seinem prächtigen Londoner Haus in der Clarges Street gestanden und das Aufladen von Ellies Gepäck überwacht. Miss Pringle hatte ihm beim Abschied begeistert versichert, dass sie sich um Ellie kümmern werde, als wäre sie ihre eigene Tochter. Sehr schnell hatte Ellie begriffen, was „sich kümmern“ für ihre neue Begleiterin bedeutete – nämlich ununterbrochen zu schwatzen.
Während der Fahrt durch London hatte Miss Pringle geredet. Auf dem Weg durch die Vororte und die grünen Felder hinter Orpington hatte sie geredet, und sie hatte weitergeredet, als die Pferde gewechselt wurden.
Ellie hatte Miss Pringle schon bei ihrer ersten Begegnung mitgeteilt, dass sie Englisch sehr gut verstand, aber Miss Pringle sprach grundsätzlich langsam und betonte sorgfältig jede Silbe. Es strapazierte Ellies Geduld und stimmte sie zunehmend gereizt.
Obwohl die Fahrt nach Kent durchaus in einem Tag zurückgelegt werden konnte, glaubte Lord Franklin, dass es für Ellie bequemer sei, unterwegs in Aylesford zu übernachten. Sie hatte gehofft, dass ihre Gefährtin wenigstens während des Abendessens still sein würde. Miss Pringle genoss die Mahlzeit sichtlich, aber irgendwie gelang es ihr, eine beachtliche Portion zu essen und dabei ununterbrochen zu plappern.
„Lord Franklin hat meine Familie schon immer mit seiner Wertschätzung bedacht, Elise.“
Elise war Ellies französischer Taufname. Ihr französischer Vater und ihre englische Mutter hatten sie immer Ellie genannt, aber sie machte sich normalerweise nicht die Mühe, diejenigen zu korrigieren, die sie Elise nannten, wenn es Fremde waren, die nichts über ihre Vergangenheit wussten.
„Mein teurer Papa“, fuhr Miss Pringle zwischen zwei Bissen Schinken und Erbsen fort, „war viele Jahre lang Vikar in der Gemeinde Bircham, müssen Sie wissen. Und seit seinem traurigen Dahinscheiden – nun, niemand hätte freundlicher und rücksichtsvoller zu mir sein können als Lord Franklin. Er sagte: ‚Meine liebe Cynthia, wir können nicht zulassen, dass Sie Bircham verlassen, da Sie so viele Jahre ein wertvolles Mitglied der Gemeinde waren.‘ Das waren seine genauen Worte! Am Ende fand er sogar ein hübsches kleines Haus für mich – in einem gehobenen Ortsteil von Bircham Village. Dort lebe ich sehr komfortabel, und natürlich bin ich sehr beschäftigt mit meinen vielen gemeinnützigen Tätigkeiten.“
Miss Pringle beugte sich näher zu ihr. „Aber als ich dann von Lord Franklin erfuhr, dass ich nach London fahren sollte, um Sie nach Bircham Hall zu begleiten – nun, ich fühlte mich so geehrt. Und … Ellie, der Gedanke, dass er Ihr verloren geglaubter Verwandter ist …! Wie Sie bereits wissen, wird er bald wieder auf Reisen gehen. Nach dem Ende dieses scheußlichen Krieges mit Frankreich kann er endlich wieder nach Paris reisen und die Kunstwerke und klassischen Gebäude dort bewundern. Lord Franklin ist ja ständig unterwegs, um seine Kunstsammlung zu erweitern. So ist er natürlich auch Ihnen begegnet. In Brügge, nicht wahr?“
„In Brüssel“, antwortete Ellie fast tonlos und schob ihren Teller zur Seite. „Wenn Sie nichts dagegen haben, Miss Pringle, würde ich mich jetzt gern zurückziehen, denn ich bin sehr müde.“
Doch am nächsten Morgen ging schon beim Frühstück das Gerede weiter.
„Also …“, begann Miss Pringle bei Toast und Marmelade. „Lord Franklin begegnete Ihnen in Brüssel. Und welch ein glücklicher Zufall für Sie, als sich herausstellte, dass er ein Cousin zweiten Grades Ihrer Mutter ist.“ Plötzlich heftete sie ihren Blick auf Ellies schäbigen Reisemantel und die unelegante Haube und meinte noch gedehnter als sonst: „Man hat mir gesagt, Lord Franklin habe Sie in London großzügig mit neuen Kleidern ausgestattet.“
„So ist es“, antwortete Ellie. „Aber ich reise lieber in praktischen Kleidern.“
„Sehr vernünftig.“ Miss Pringle nickte. „Sie werden feststellen, dass praktischer Nutzen in Bircham Hall besonders wichtig ist.“
Ellie hätte gern gewusst, was sie damit meinte. War es kalt und zugig dort? Ungemütlich? Aber bestimmt nicht so kalt oder ungemütlich wie einige der schrecklichen Orte, an denen sie im letzten Jahr hatte Schutz suchen müssen.
Dann war es Zeit, wieder in die Kutsche im Hof des Gasthauses zu steigen. Unter der Aufsicht des Kutschers spannten die Stallknechte gerade vier wunderschöne Braune an, und Miss Pringle sah Ellies bewundernde Blicke. „Lord Franklin nimmt selbstverständlich immer nur die Besten“, verkündete sie. „Dies ist, soviel ich weiß, unser vorletzter Pferdewechsel, und gegen Nachmittag kommen wir in Bircham Hall an. Welch ein erhebender Gedanke! Dort werden Sie Lady Charlotte kennenlernen, die Sie sicher herzlich willkommen heißen wird …“
Bildete Ellie es sich nur ein, oder war Miss Pringle nicht mehr ganz so selbstsicher, als sie von Lord Franklins verwitweter Mutter sprach?
„Meine Mutter“, hatte Lord Franklin ihr erzählt, „reiste früher gelegentlich nach London, aber nun schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Ich habe ihr die Nachricht von Ihrer Ankunft in Bircham Hall gesandt, und sie wird dafür sorgen, dass Sie sich dort wohlfühlen.“
Doch wie wird Lady Charlotte wirklich darüber denken, fragte sich Ellie, als die Kutsche weiter durch die Landschaft von Kent fuhr. Wie wird es ihr gefallen, dass man ihr plötzlich ein neunzehnjähriges französisches Mädchen – eine mittellose Waise – aufdrängt?
Ellie würde es sehr bald erfahren, so viel stand fest.
Sie kamen langsam voran, nicht schneller als am Tag zuvor. Kurz nach dem letzten Pferdewechsel erblickte Ellie endlich das Meer. Allmählich verging das Licht des Nachmittags, und vom fernen Horizont her zog dichter Nebel über die weite graue Wasserfläche. Sie lehnte die Stirn an das Fenster der Kutsche. Draußen sah sie eine kleine alte Kirche, und in deren Nähe auf einer Anhöhe ein einsames altes Haus mit breiten Seitenflügeln und Giebeln inmitten von verkrüppelten Ahornbäumen.
Sie reckte den Hals, um mehr erkennen zu können, aber die Kutsche rollte wieder in ein Waldgebiet, und das Haus geriet außer Sichtweite. Ein Haus der Geheimnisse, dachte sie.
Ellie, hätte ihr Vater liebevoll zu ihr gesagt. Du hast zu viel Fantasie.
Wieder fühlte sie den intensiven Schmerz über seinen Verlust und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, hatten sie bereits die nächste Landzunge durchquert und man konnte wieder das Meer sehen. Dort unten standen mehrere kleine Häuser um einen Hafen herum. Ellie sah auch ein Wirtshaus und einen Landungssteg, wo Fischerboote vertäut waren und Männer ihre Netze flickten.
Miss Pringle redete immer noch über Lord Franklin. „Die Familie der Grayfields geht in ihren Anfängen bis in die Tudor-Zeit zurück …“
Ellie blickte zu ihrem kleinen schwarzen Handkoffer zu ihren Füßen. Was würde Miss Pringle wohl tun, wenn Ellie plötzlich nach ihrem Köfferchen griff, aus dem Wagen sprang und zu dem Hafen lief, um einen dieser Fischer zu bitten, sie von Englands kalter und feindseliger Küste wegzubringen? Ich habe Heimweh, dachte sie kummervoll. Heimweh nach dem Paris meiner Kindheit und den glücklichen Zeiten mit meinen Eltern. Ich vermisse sogar Brüssel, wo ich die letzten trostlosen Monate mit meinem armen sterbenden Papa verbracht habe.
„Oh, sehen Sie sich den Nebel an.“ Miss Pringle schauderte und schaute auch aus dem Fenster. „Und bald wird es dunkel sein. Wie ich den Januar hasse! Bei diesem Wetter kommen die Schmuggler aus ihren Löchern. Lord Franklin versucht alles, um ihnen das Handwerk zu legen, aber es sind gefährliche Verbrecher. Man sagt sogar, dass sie mit den Franzosen im Bunde stehen. Immerhin ist Frankreich von diesem Teil der Küste keine zwanzig Meilen entfernt.“
Das Fischerdorf war nicht mehr zu sehen. Die Straße entfernte sich wieder von der Küste und verlief nun durch ein dichtes Waldgebiet. Immer noch redete Miss Pringle weiter. Doch plötzlich schrie sie auf. „Was ist los? Warum halten wir hier?“
„Bitte, beruhigen Sie sich“, sagte Ellie.
Inzwischen stand einer der Diener am Wagenfenster. „Verzeihen Sie bitte, Ladys, aber es sieht so aus, als wäre ein Teil der Straße vor uns weggebrochen, wahrscheinlich wegen des starken Regens vor Kurzem.“
Miss Pringle schlug die Hand vor den Mund. „Oh mein Gott. Oh mein Gott …“
„Kein Grund zur Aufregung, Madam“, sagte der Diener rasch. „Wir müssen nur ein paar Reparaturen durchführen, damit die Strecke wieder befahrbar ist. Es dauert nur zehn, vielleicht fünfzehn Minuten, nicht länger.“
Sobald er verschwunden war, beugte Ellie sich vor. „Miss Pringle?“
„Ja?“ Miss Pringle hatte ihr Riechsalz hervorgeholt und schnüffelte herzhaft daran.
„Ich denke, ich nutze diesen Aufenthalt zu einem kleinen Spaziergang. Ich brauche frische Luft.“
„Aber Sie sind doch erst vor weniger als einer Stunde spazieren gegangen, beim letzten Pferdewechsel. Und bald sind wir in Bircham Hall. Können Sie nicht noch warten? Außerdem ist es bestimmt nicht sicher hier.“
Aber Ellie hatte bereits die Wagentür geöffnet und sprang auf die Straße, fest in ihren Mantel gewickelt.
Obwohl es noch nicht einmal vier Uhr war, begann es empfindlich kalt zu werden. Und der Nebel! Er waberte jetzt vom Meer her über das Land und umhüllte die Bäume ringsumher wie eine feuchtkalte gespenstische Decke. Die Straße vor Ellie war kaum noch zu erkennen, aber sie konnte sehen, dass ein großer Teil des Straßenbelags weggebrochen war.
Sie hatte wieder die Stimme ihres Vaters in den Ohren. Das liegt an der ungenügenden Entwässerung, Ellie. Sieh dir das schlechte Fundament an. Man kann keine Straße bauen, indem man einfach eine Schicht Steine auf den unbefestigten Untergrund streut. Die Römer wussten schon, dass man auf beiden Seiten einer Straße Gräben ziehen muss, damit das Wasser abfließen kann …
Lord Franklins Diener waren für solche Notfälle gerüstet, das hätte ihrem Vater gefallen. Die beiden Männer konnten sie nicht sehen, da sie im Dunkeln neben der Kutsche stand. Einer von ihnen hackte mit einer Axt dicke Äste von den Bäumen ab, die der andere auf den beschädigten Teil der Straße legte. So wurde die Oberfläche befestigt und würde für kurze Zeit das Gewicht der Pferde und der Kutsche aushalten.
Beim Zuschauen hörte sie, worüber sie sprachen.
„Hübsches kleines Ding, nicht? Das Mädchen? Und spricht richtig gut Englisch für eine Französin.“
„Ihre Mutter soll Engländerin gewesen sein. Eine englische Schlampe, die mit einem Franzosen durchbrannte. Ich hätte nichts dagegen, mit dieser hier abzuhauen …“
Ellies Wangen brannten. Schon wieder. Dieses dumme, giftige Geschwätz hatte sie schon so oft gehört. In aufrechter Haltung schritt sie weg von ihnen, die Straße entlang, auf der sie gekommen waren. Erst als die Dunkelheit Kutsche und Diener hinter ihr verschluckt hatte, spürte sie das Brennen der ungeweinten Tränen in den Augen.
Es ist nur die kalte Luft, dachte sie grimmig und rieb sich die Augen. Und die Kälte.
Sie ging weiter und dachte dabei an das Meer und das Fischerdorf. In welcher Richtung lag wohl die französische Küste? Südlich? Nach Osten? Sie griff tief in die Tasche in ihrem Mantel und zog eine kleine Lederschachtel hervor.
Doch dann schrak sie heftig zusammen, als eine große Gestalt plötzlich zwischen den Bäumen hervortrat. Die Schachtel fiel zu Boden und lag irgendwo im Unterholz neben der Straße.
„Ich an Ihrer Stelle“, sagte der Mann leise, „würde nicht versuchen zu fliehen. Es wäre zwecklos, fürchte ich.“
Ellies Magen krampfte sich angstvoll zusammen. Der Mann war groß und kräftig gebaut. Sie würde es in ihren schweren Reisekleidern niemals zurück zur Kutsche schaffen, bevor er sie einfing. Wer war er? Ein Wegelagerer? Vielleicht einer der Schmuggler, von denen Miss Pringle gesprochen hatte?
Jedenfalls sah er nicht wie ein gesetzestreuer Bürger aus. Sein langer Umhang war vielfach geflickt, die Stiefel voller Schmutz. Er musste weit gelaufen sein. Seine Wangen waren dicht mit Bartstoppeln bedeckt, und die langen Haare hingen zottelig um sein Gesicht. Doch seine Augen strahlten leuchtend blau, und sein Blick wirkte intelligent.
Ein Mann zum Fürchten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie zwang sich zur Gelassenheit. „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ich nichts Wertvolles bei mir habe. Wenn Sie mich ausrauben wollen, verschwenden Sie nur Ihre Zeit.“
Seine Augen funkelten. „Ich will Sie nicht berauben. Bin nur neugierig. Ich habe gehört, dass Lord Franklin jetzt ein Mündel hat. Das müssen Sie sein.“
Was war mit seiner Stimme – dieser tiefen, rauchig klingenden Stimme? Warum jagte er ihr damit Schauer über den Rücken? Und wie hatte er erfahren, dass sie nach Bircham Hall kommen würde?
„Ich bin nicht Lord Franklins Mündel“, antwortete sie. Ruhig atmen, Ellie. Schau ihn mit der Verachtung an, die er verdient. „Es gibt allerdings eine familiäre Beziehung. Meine Mutter war mit ihm verwandt …“
Er kam näher. Ängstlich trat sie einen Schritt zurück. „Gewiss, Mam’selle“, sagte er sanft. „Plötzlich ist da dieser reiche englische Aristokrat und kümmert sich um Sie. Wie im Märchen. Man sagt, dass Lord Franklin ein großer Sammler ausländischer Kunstwerke ist. Was würde besser dazu passen, als ein hübsches französisches Mädchen vom Kontinent mitzubringen?“
Ihr Atem kam in schnellen Stößen. Sie war eine Närrin gewesen, sich so weit von der Kutsche zu entfernen. „Sie irren sich“, sagte sie mit fester Stimme, „wenn Sie glauben, ich würde mich einfach so … aufsammeln lassen. Lord Franklin hat mich aus Pflichtgefühl unter seinen Schutz genommen, das ist alles. Monsieur, lassen Sie mich bitte sofort gehen.“
Sie trat einen Schritt vor, aber er war schneller und stellte sich ihr in den Weg. Seine Größe und die beeindruckend breiten Schultern schüchterten sie ein.
„War Ihnen eigentlich bekannt“, meinte er, „dass Lord Franklin mit Ihnen verwandt ist, bevor Sie ihn kennenlernten?“
Einen Augenblick lang fühlte sie sich überwältigt von seinem harten und entschlossenen Gesichtsausdruck. Und den intensiv blauen Augen. Nein, nein, nein, so etwas will ich nicht.
Erinnerungen stiegen in ihr auf. Sie dachte an das schlecht möblierte Dachzimmer über der Bäckerei in Brüssel und an ihren sterbenden Vater auf seiner schmalen Matratze. Wie sie versuchte, sein Fieber zu senken, indem sie sein Gesicht mit kaltem Wasser abwusch. Dann die Bäckerin, die Witwe Gavroche, die zu ihr nach oben eilte und einen feinen englischen Gentleman ankündigte.
Ellie war ganz allein auf sich gestellt gewesen, ständiger Gefahr ausgesetzt, ohne Freunde und Geld. Sie hatte gehofft, diese Bedrohung läge nun hinter ihr, aber dieser Mann, der so plötzlich aus dem Nebel auftauchte, erinnerte sie daran, dass es nicht so war.
Sie musste fort. Aber die Schachtel …
Sie schaute auf dem Boden umher, bis sie sie plötzlich entdeckte. Schnell bewegte sie sich darauf zu, aber er war schneller und hatte die kleine Lederschachtel schon in der Hand.
Ellie spürte, dass ihr Gesicht plötzlich blutleer war. „Das gehört mir. Geben Sie es mir zurück!“
Er sah sie mit einem seltsamen Lächeln an, aber er ignorierte sie. Das Herz hämmerte ihr schmerzhaft in der Brust. Ihr fiel auf, dass er die Schachtel mit der linken Hand aufgehoben hatte und sie dort hielt, während er die rechte Hand benutzte, um sie langsam zu drehen.
An der rechten Hand trug er einen Handschuh, aber irgendetwas stimmte nicht damit. Die ersten beiden Finger fehlten. Aber er hatte anscheinend keine Schwierigkeiten, die Schachtel zu öffnen. Ellie fühlte sich fast krank, als sie den glänzenden Messing-Kompass ihres Vaters sah.
„Ein hübsches Ding“, sagte er mit anerkennender Stimme. „Das ist bestimmt etwas wert.“
„Möglicherweise. Oder auch nicht.“ Ellie ließ eine Hand in ihren Mantel gleiten. „Aber, Monsieur, wenn Sie noch ein bisschen Verstand übrig haben, geben Sie es mir zurück, oder ich schwöre Ihnen, dass Sie es bereuen werden.“
„Wie wollen Sie mich denn dazu zwingen?“
Anstelle einer Antwort hob sie die Pistole in ihrer Hand und entsicherte sie. Sie zielte genau auf sein Herz.
Er schien sich leicht anzuspannen, aber immer noch schaute er sie mit einem spöttischen Blick an. „Mam’selle“, sagte er vorwurfsvoll. „Also wirklich. Wollen Sie es auf die Spitze treiben? … Wissen Sie denn überhaupt, wie man mit einer Waffe umgeht?“
Diese Stimme. Dunkel und samtig. Bei jedem seiner Worte lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie packte die Pistole noch fester. „Wollen Sie es herausfinden?“ Sie ließ ihre Stimme ganz ruhig klingen. „Geben Sie mir den Kompass zurück. Oder ich schieße.“
Er betrachtete sie mit abschätzendem Blick. Dann lachte er und überreichte ihr den Kompass mit einem kurzen Kopfnicken. Ellie griff hastig danach. Ihr Puls raste.
„Ein sehr ungewöhnliches Objekt“, meinte er ungerührt. „Vermutlich von einigem Wert, würde ich meinen.“ Er machte eine knappe Verbeugung. „Unsere Begegnung war sehr interessant, aber jetzt möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Bircham Hall. Zu Ihren Diensten, Mademoiselle.“
Und er war fort. Verschwunden im Nebel unter den Bäumen. So plötzlich und unerwartet, wie er erschienen war.
Immer noch bekam sie kaum Luft. Der Glanz in seinen blauen Augen beim Betrachten des Kompasses fiel ihr ein. Dieu. Hatte er etwa Zeit genug gehabt, ihn sich anzusehen? Wirklich anzusehen?
Mit großer Anstrengung gewann sie die Fassung zurück, sicherte die Pistole und schob sie zusammen mit der Schachtel wieder in ihre Manteltasche.
Sie eilte zurück zur Kutsche und versuchte sich zu beruhigen. Hoffentlich hatte der Kompass seine Aufmerksamkeit nur erregt, weil er ihn für wertvoll hielt. Aber er hatte eigentlich nicht wie ein gewöhnlicher Wegelagerer ausgesehen. Wer war er? Und woher wusste er so viel über sie?
Sie atmete tief durch. Die Antwort war vermutlich ganz einfach. Wie Miss Pringle nur allzu oft betont hatte, war Bircham Hall das größte und bedeutendste Haus in diesem Teil von Kent. Sicherlich war die Dienerschaft über ihre bevorstehende Ankunft informiert worden und hatte die Nachricht in der ganzen Umgebung verbreitet.
So hatte er wahrscheinlich erfahren, dass sie erwartet wurde und in welcher Beziehung sie zu Lord Franklin stand. Und er hatte die Kutsche beobachtet und gewusst, dass sie hier anhalten mussten. Vermutlich hatte er darauf spekuliert, die Insassen auszurauben. Mit ihrem kleinen Spaziergang hatte sie ihm eine perfekte Gelegenheit dazu verschafft.
Ein gewöhnlicher Dieb. Das war die plausibelste Antwort. Und doch konnte sie eine Ahnung nicht unterdrücken, dass seine wahren Absichten sehr viel bedrohlicher waren als ein Raubüberfall.
Sie sah Miss Pringle neben dem Wagen stehen. Offenbar war sie sehr besorgt und stieß einen Schrei aus, als sie Ellie sah. „Da sind Sie ja. Ich habe mir schon die schrecklichsten Dinge ausgemalt …“
„Mir geht es gut, Miss Pringle“, sagte Ellie beschwichtigend. „Wirklich.“
Ein Diener kam und teilte ihnen mit, dass sie weiterfahren konnten. Für den Rest der Reise nach Bircham Hall schloss Ellie die Augen und gab vor zu schlafen.
Doch sie bekam den Mann mit der verstümmelten rechten Hand und den gefährlichen blauen Augen nicht aus dem Kopf. Ein seltsames und ihr fremdes Gefühl hatte sie erfasst. Angst? Nein. Dieses Gefühl kannte sie nur zu gut. Aus Angst würde ihr Puls nicht so rasen, wenn sie an sein männliches Gesicht und sein verwegenes Lächeln dachte. Wenn sie Angst gehabt hätte, wären ihr nicht die langen dichten Wimpern dieses Mannes aufgefallen, und sie würde sich nicht so genau an die magisch geschwungenen Lippen erinnern. Und sie würde sich nicht fragen, wie viele Frauen er wohl schon geküsst hatte …
In Bircham Hall würde sie in Sicherheit sein, obwohl sie dort keine Freunde hatte. Der Mann war bestimmt nur ein gewöhnlicher Rüpel.
Dann schauderte sie. Es war ihr eingefallen, dass der Fremde in dem langen geflickten Umhang durchaus nicht wie ein Rüpel gesprochen hatte, sondern wie ein englischer Gentleman. Seine weiche Stimme hatte sie zutiefst berührt, obwohl jedes seiner Worte entweder eine versteckte Beleidigung oder eine Drohung gewesen war.
Jetzt bekam sie doch Angst. Sie hatte gehofft, außer Gefahr zu sein, wenn sie erst in England war, aber offenbar hatte sie sich getäuscht.
An diesem Abschnitt der Küste senkte sich die Dämmerung immer sehr schnell herab und ließ die einsamen, mit Ginster bewachsenen Klippen und die meilenweiten Kieselstrände vor den Augen des Betrachters verschwimmen. Immer noch erinnerte vieles dort an den kürzlich beendeten Krieg mit Frankreich. In der Ferne sah man die trutzigen Umrisse eines Wehrturms, der für den Fall einer Invasion durch Napoleon erbaut worden war, und von Zeit zu Zeit ritten Soldaten aus Folkestone Patrouille entlang der Küste. Wahrscheinlich waren sie auf der Jagd nach Schmugglern.
Luke konnte in dem verbleibenden Licht gerade noch erkennen, dass die Landzunge und der Strand verlassen dalagen. Er hörte nur die Schreie der Möwen über dem Meer. Zu Fuß ging er durch den Wald und gelangte über die alten Schleichwege der Fischer und Farmer zu einem schmalen Pfad, der zu einem einsam stehenden Haus führte, das hinter dicht stehenden windschiefen Ahornbäumen stand.
Das Haus war an der Stelle erbaut worden, wo sich vor über tausend Jahren angeblich einmal eine Burg befunden hatte, von der aus man das Land gegen germanische Eroberer verteidigt hatte. Nun war es von dichtem Nebel eingehüllt. In der Stille vermeinte man manchmal Stimmen zu hören, die von lang vergangenen Schlachten flüsterten und von Menschen, die schon seit sehr langer Zeit tot waren. Die Einheimischen glaubten, dass es hier spukte. Sie behaupteten, dass die Felder ringsherum verflucht seien, weil sie sehr dürftige Ernten hervorbrachten und nur die robustesten Schafe dort überlebten. Aber Luke liebte dieses Land mit einer Leidenschaft, die ihm im Blut zu liegen schien.
Er liebte den Winter, wenn Eis und Schnee die karge Landschaft bedeckten und der eiskalte Wind heulend vom Meer her wehte. Luke liebte auch den Sommer, wenn die Weiden voller Schafe und Lämmer waren und die Vögel von morgens bis abends ihre Lieder sangen.
Ein Fremder würde das Haus von Weitem für unbewohnt halten, aber die Einheimischen wussten, dass dort Luke Danbury lebte, ein verschwenderischer Tunichtgut, der im Krieg als Captain in Spanien gekämpft hatte. Doch nun war der Familienbesitz bis unters Dach verschuldet, und der Eigentümer war die meiste Zeit irgendwo unterwegs. Was er eigentlich tat, wusste niemand.
Er unternimmt geheimnisvolle Seereisen, hatte er die Leute sagen hören. Führt wahrscheinlich nichts Gutes im Schilde. Ist ständig fort. Bestimmt spielt er und ist hinter Frauen her, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand. Früher war er eine Zeitlang mit einer reichen Erbin verlobt gewesen, aber die war gerade noch davongekommen. Sein Land, das vor dem Krieg noch gute Erträge erbrachte, ließ er verkommen. Und der verschollene Bruder war auch eine Schande. Der Name der ganzen Familie war entehrt …
Über den Pfad erreichte man das vordere Tor, das immer offen stand. Es war so von Unkraut überwuchert, dass man es wahrscheinlich gar nicht mehr schließen konnte, wie Luke vermutete. Das Haus selbst sah verwaist aus, aus keinem Fenster schien Licht, und der Nebel kroch zwischen die Erker und Türmchen. Doch Luke bahnte sich den Weg durch den verwilderten Garten, an den verkrümmten Ahornbäumen vorbei, bis zum Hof und den Ställen hinter dem Haus, wo ihn eine brennende Laterne willkommen hieß.