DER TOD HAT EINE CHANCE - Victor Gunn - E-Book

DER TOD HAT EINE CHANCE E-Book

Victor Gunn

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Beschreibung

Chefinspektor Bill Cromwell und Sergeant Johnny Lister von Scotland Yard verbringen ihren Urlaub im Anglerparadies Little Bassington, einem verträumten kleinen Dorf in der englischen Grafschaft Essex. Johnny rettet ein hübsches junges Mädchen im See vor dem Ertrinken. Kurz darauf erfährt Cromwell von dem mysteriösen Mord an Sir Herbert Cartwright. Ort der Tat: die Bibliothek des Landsitzes Bassington Hall. Bill Cromwell stellt sofort Ermittlungen an und warnt zwei andere Kriminalbeamte vor allzu übereilten Schlussfolgerungen... Der Roman DER TOD HAT EINE CHANCE von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1958; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

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VICTOR GUNN

 

 

DER TOD HAT EINE CHANCE

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

DER TOD HAT EINE CHANCE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Impressum

 

Copyright © by Victor Gunn/Signum-Verlag.

Original-Titel: Nice Day For A Murder.

Übesetzung: Gisela Böttcher und Christian Dörge.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg

Cover: Copyright © by Christian Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

[email protected]

Das Buch

 

 

Chefinspektor Bill Cromwell und Sergeant Johnny Lister von Scotland Yard verbringen ihren Urlaub im Anglerparadies Little Bassington, einem verträumten kleinen Dorf in der englischen Grafschaft Essex.

Johnny rettet ein hübsches junges Mädchen im See vor dem Ertrinken. Kurz darauf erfährt Cromwell von dem mysteriösen Mord an Sir Herbert Cartwright. Ort der Tat: die Bibliothek des Landsitzes Bassington Hall.

Bill Cromwell stellt sofort Ermittlungen an und warnt zwei andere Kriminalbeamte vor allzu übereilten Schlussfolgerungen...

 

Der Roman Der Tod hat eine Chance von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1958; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960.  

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

 

  DER TOD HAT EINE CHANCE

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Erstaunlich, wie leutselig und friedlich Chefinspektor Bill Cromwell plötzlich aussah. Wer sein sonst so verschlossenes Gesicht kannte, würde kaum glauben, ein und dieselbe Person vor sich zu haben. Bill Cromwell hatte sich völlig verändert. Er trug ein offenes Polohemd, eine unmögliche alte Flanellhose und einen formlosen grauen Sportsakko.

Mit einem Wort: Bill Cromwell machte Ferien. Er verbrachte seinen Urlaub in dem verträumten kleinen Dorf Little Bassington in Essex.

Es war August und sehr heiß. Doch am frühen Morgen drang nur wenig von der Hitze in das Nebenzimmer des Gasthofs The Crown. Ironsides, wie man Bill Cromwell scherzhaft nach Oliver Cromwells grimmigen Reitern nannte, hatte es sich auf dem geräumigen Fensterplatz bequem gemacht. Er blickte auf die malerische Dorfstraße hinaus und lächelte jedem vergnügt zu, der vorüberkam.

Als die Tür geöffnet wurde, drehte er sich erwartungsvoll um. Aber es war nicht das Mädchen mit dem Frühstück. Ein eleganter junger Mann in schneeweißen Tennishosen und blauem Jackett kam herein. Dieser elastische, hochgewachsene Sportlertyp war so makellos gekleidet, dass Cromwell dagegen wie ein schmutziger alter Landstreicher wirkte,

»Ich hoffe, du willst nicht in diesem Aufzug fortgehen?«, fragte Ironsides verächtlich.

»In welchem Aufzug?«

»Du siehst aus wie ein ekelhafter Stutzer aus einem Operettenchor. Mein Gott, Johnny, du hast doch Urlaub! Du willst dich erholen! Warum ziehst du nicht etwas Bequemes an wie ich?«

Kriminalsergeant Johnny Lister schüttelte sich vor Abscheu.

»Denkst du, ich würde mich in deinem Räuberzivil wohl fühlen?«, entgegnete er. »Ironsides, es ist eine Schande mit dir. Du solltest dich schämen, den Leuten den Anblick solch grässlicher Lumpen zuzumuten. Hast du denn kein Anstandsgefühl?«

Cromwell schlug gemütlich die Beine übereinander.

»Ich bin hierhergekommen, um meinen Urlaub zu genießen und eine Woche lang zu angeln«, sagte er selbstzufrieden.

»Wenn das gestrige Fiasko ein Beispiel für Urlaub genießen war, dann bist du verdammt leicht zufriedengestellt«, schnaubte Johnny mit Nachdruck. »Warum ließ ich mich nur überreden, dich auf dieser spießerhaften Reise zu begleiten? Gestern den ganzen Tag am Fluss gesessen, mit Angelrute und Würmern die Zeit vertrödelt! Und was haben wir gefangen? Ein paar miserable Weißfische!«

»Es waren keine Weißfische, sondern Rotaugen.«

»Ganz egal, wie du sie nennst. Sie waren immerhin so winzig, dass du sie wieder zurückwerfen musstest. Jedenfalls ist es eine ungeheure Zeitverschwendung, Old Iron.«

»Du sagst das nur, weil du die verrückte Idee hast, dich im Urlaub mit Tennis, Bergsteigen, Wandern oder ähnlichem anstrengenden Unsinn austoben zu müssen. In den Dienst kommst du dann zurück wie ein ausgewrungenes Handtuch. Die einzig richtige Art, seinen Urlaub zu verbringen, ist es, auszuspannen - wirklich auszuspannen!«

»Ich weiß. Hauptsache: faulenzen! Meinetwegen, aber diese Angelei hängt mir allmählich zum Hals heraus. Ich würde nichts dagegen einwenden, wenn wir wenigstens hin und wieder einen mordsmäßigen Prachtfisch an Land ziehen würden. Aber einen geschlagenen Tag wegen ein paar Weißfischchen...«

»Rotaugen.«

»Ich glaube kaum, dass irgendein Rotauge so klein und mager aussehen kann wie diese armseligen Exemplare, die du gestern aus dem Fluss geholt hast... Mr. Wiggins!«, rief Johnny, als sich die Tür öffnete und ein stämmiger Mann mit rotem Gesicht hereinkam, »wo fangen Sie all die großen Fische hier in der Gegend? Diesen Burschen da an der Wand zum Beispiel?«

Der Wirt warf einen Blick auf den Glaskasten über dem Kaminsims und lachte.

»Ich bin sicher, dass Sie keinen solchen Prachtkerl fangen werden«, antwortete er. »Ted Beasley holte ihn vor bald zehn Jahren aus dem großen Teich.«

»Der große Teich, hm?«, entgegnete Lister fragend. »Ich vermute, dass auch heute noch einige Prachtfische in dem großen Teich herumschwimmen. Wir haben hier unsere Zeit an einem Fluss vertrödelt, der kaum mehr ist als ein breiter Graben, während irgendwo in der Nähe ein großer Teich liegt. - Prachtvoll! Da kommt Jessie mit dem Frühstück. Guten Morgen, Jessie, mein Schätzchen! Was gibt es denn alles? Eier mit Schinken? Und Wurst! Das ist sehr gut.«

»Wer hat all dies Zeug bestellt?«, fragte Cromwell und beäugte argwöhnisch die Platte mit dem Aufschnitt. »Du weißt sehr gut, dass ich nichts zum Frühstück essen kann außer ein wenig trockenem Toast. Nun gut - weil ich im Urlaub bin... vielleicht doch eine Scheibe Schinken...«

Johnny Lister nahm diesen Protest nicht so ernst und packte Eier, Schinken und Wurst auf Ironsides’ Teller.

»Gehen Sie noch nicht, Mr. Wiggins«, sagte er, als der Wirt zur Tür hinauswollte. »Sie haben uns noch nicht erzählt, wo wir den großen Teich finden können.«

Der Wirt zögerte. »Ich kam nur herein, Ihnen guten Morgen zu sagen, meine Herren... Hm, der große Teich - da mögen schon noch ziemlich große Fische drin sein. Sicherlich. Aber ich bezweifle, ob Sie die Erlaubnis bekommen werden, dort zu Engeln. Der Major ist recht eigen und lässt keine Fremden auf sein Grundstück. Der große Teich ist in Wirklichkeit ein netter kleiner See, hinter Bäumen verborgen, der direkt bei Huntley Priors liegt. Etwa zwei Meilen von hier, Sir, an der Straße nach Great Bassington. Major Loveridge ist einer der bekanntesten Männer hier in der Gegend. Vielleicht ein wenig schwierig, aber im Grunde doch gutmütig...«

»Niemand«, unterbrach Johnny Lister, »ist für uns so schwierig, dass wir nicht mit ihm fertig werden könnten. Erst recht nicht, wenn es darum geht, einen kapitalen Fisch zu fangen. Mr. Cromwell und ich haben kein Interesse mehr an dem kleinen Zeug. Wir hatten gestern genug davon.«

 

Nach dem Frühstück fuhren die beiden Urlauber mit Angelgerät in Johnnys Alvis-Sportkabriolett davon. Cromwell war nicht gerade darauf erpicht, Huntley Priors aufzusuchen. Er äußerte Johnny gegenüber seine Meinung sehr deutlich.

»Du weißt, wie diese ländlichen Dickbäuche sind, Johnny: vollgefressen und besitzstolz!«, sagte er. »Und dieser Mann ist ein pensionierter Major. Er gehört also zu der übelsten Sorte dieser Gattung. Dazu sind die meisten von ihnen selbstsüchtig. Sie haben erstklassige Fische in ihren Seen, die sie selbst gar nicht wollen. Aber Neidhammel sind sie, dass einem schlecht werden kann. Meine Ansicht ist: Solche Leute soll man besser meiden.«

»Und sich mit Weißfischen begnügen?«, fragte Johnny spöttisch.

»Bist du ein Mann oder eine Maus? Was ist schon dabei, den Major zu fragen?«

Sie hatten Glück. Als der Wagen die Auffahrt zu Huntley Priors hinauffuhr und vor dem langgestreckten Landsitz hielt, öffnete sich gerade die Tür, und Major Loveridge erschien. Er glich erstaunlich dem Bild eines ehemaligen Offiziers, das sich Johnny von ihm gemacht hatte. Groß, straffe Haltung, ein rotes Gesicht mit borstigem Schnurrbart - ganz der Typ eines alten Haudegens. Er betrachtete Bill Cromwell, der aus dem Wagen kletterte, abschätzend und mit offenem Missfallen.

»Major Loveridge?«, fragte Ironsides und zog seinen alten, verbeulten Panamahut.

»Ja«, bestätigte der Major nur kurz.

»Cromwell ist mein Name. Ich wohne mit meinem jungen Freund hier im Gasthaus The Crown«, stellte sich Ironsides nicht weniger kurz und derb vor. »Ich würde mich freuen, wenn Sie uns erlauben würden, in Ihrem See zu angeln. Der Wirt erzählte uns, dort wären noch einige gute...«

»Es ist ein Jammer, dass Wiggins nicht seinen Mund halten kann«, unterbrach ihn der Major scharf. »Es tut mit leid, aber Wiggins weiß verdammt gut, dass ich keinem Fremden erlaube, in meinem See zu angeln. Er ist ein Narr, Sie herzuschicken.«

Johnny Lister sprang elegant aus dem Wagen. Diese Unterhaltung war von Anfang an aussichtslos, und er wusste auch, weshalb. Major Loveridge hatte Mr. Cromwell von den unordentlichen Haaren bis zu den schmutzig-weißen Tennisschuhen abschätzend betrachtet. Und dieser ungepflegte Mensch schien ihm äußerst unsympathisch zu sein. Johnny dagegen mit seiner aristokratischen Eleganz würde dem Major sicherlich eine Augenweide sein.

»Ich hoffe, Major, dass Sie den seltsamen Aufzug meines Freundes nicht zu sehr beachten«, schaltete er sich in die Unterhaltung ein. »Er kleidet sich für gewöhnlich nicht wie ein Vagabund. Sein Anzug entspricht lediglich seiner Vorstellung von Ferienbequemlichkeit. Wir würden Ihnen in keiner Weise mehr lästig werden, wenn Sie uns erlauben könnten, Ihrem See einen kleinen Besuch abzustatten.«

»Kannst du kein Nein als Antwort hinnehmen?«, fragte Ironsides, während er sich zum Wagen zurückwandte. »Der Major wünscht nicht, dass wir in seinem See angeln. Und ich gedenke nicht, darum zu betteln.«

»Dir mag der Fluss genügen, aber mir nicht«, unterbrach ihn

Johnny. Er hatte bereits bemerkt, dass seine Erscheinung einen günstigeren Eindruck auf den Major machte. »Lister ist mein Name, Sir«, stellte er sich mit einer höflichen Verbeugung vor. »Johnny Lister.«

»Lister...? Lister...?«, überlegte Major Loveridge. »Kommt mir bekannt vor... Ach ja, natürlich! Ein Verwandter von General Lister - General John Everett Lister?«

»Sein Sohn.«

»Tatsächlich? Natürlich - General Listers Sohn!«, sagte der Major plötzlich strahlend liebenswürdig. »Erfreut, Sie kennenzulernen. Ich bin mit Ihrem Vater ein- oder zweimal zusammengetroffen und schätze ihn sehr. Selbstverständlich können Sie in meinem See angeln. Bitte - mit dem größten Vergnügen!«

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Major«, bedankte sich Johnny mit einem listigen Seitenblick auf Cromwell. »Wir werden unser Möglichstes tun, Sie in keiner Weise zu belästigen...«

»Unsinn - Sie stören mich nicht im Geringsten. Ich gehe nie in die Nähe des Sees. Darf sagen, er ist voller Fische. Nur zu! Und viel Vergnügen...!« Der Major unterbrach sich plötzlich und blickte Johnny erstaunt an. »Verflixt, Sie müssen doch der Lister sein, der bei Scotland Yard ist?« Er runzelte die Stirn. »Was hat sich Ihr Vater nur gedacht, dass er Sie zur Polizei gehen ließ? Ein strammer junger Mann wie Sie gehört in die Armee.«

Johnny lachte. »Es gibt vielfache Möglichkeiten in meinem Beruf, Major. Eines Tages werde ich vielleicht genauso bedeutend sein wie Mr. Cromwell hier. Mr. Cromwell ist mein Chef, und ich arbeite schon seit einiger Zeit als sein Assistent.«

Major Loveridge zeigte sich nicht im Geringsten davon beeindruckt, dass Cromwell Johnnys Chef und unmittelbarer Vorgesetzter war. Jedoch die Wiederholung von Ironsides’ Namen hatte bei ihm eine andere Erinnerung ausgelöst. Ein Ausdruck grenzenlosen Erstaunens trat in sein Gesicht.

»Cromwell? Verdammt, warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie der berühmte Chefinspektor Cromwell sind?« Er betrachtete Ironsides Kleidung mit empörtem Abscheu. »Chefinspektor Cromwell, äh? Ja, das zeigt mal wieder, dass man niemand nach der äußeren Erscheinung beurteilen kann! Was wollte ich sagen...?«

Er hustete nervös. »Freut mich, Sie kennengelernt zu haben, Mr. Cromwell. Habe schon viel von Ihnen gehört. Kann nicht sagen, dass ich Ihre Methoden unbedingt billige, aber Sie haben bestimmt Erfolg damit. Na schön! Verbringen Ihren Urlaub in dieser ländlichen Abgeschiedenheit, äh? Ausgezeichnet! Wenn Sie Erholung suchen, könnten Sie in ganz England keinen besseren Ort finden.«

Nach einigen weiteren Höflichkeitsphrasen deutete der Major auf einen Pfad, der durch den Obstgarten in den hinteren Teil des Parks führte und beschrieb ihnen den weiteren Weg. Dieser führte geradeaus durch dichtes Buschwerk direkt an das Ufer des Sees. Er gab ihnen auch die Erlaubnis, den Wagen auf der Auffahrt stehenzulassen, so lange sie wünschten, und zu kommen und zu gehen, wann es ihnen passte.

»Da hast du’s, Old Iron«, sagte Johnny, als sie mit ihrem Angelgerät durch den Obstgarten gingen. »Was habe ich dir vorhin über deine widerliche Kostümierung gesagt? Der alte Haudegen hat dich mit einem Blick taxiert und dementsprechend abgekanzelt.«

»Snobismus - reiner, unverfälschter Snobismus!«, erwiderte Ironsides verächtlich. »Oh, der Sohn von General Lister! In Ordnung - du kannst in dem See angeln bis du platzt! Wenn dein Name ihn nicht zufällig an deinen Vater erinnert hätte - glaubst du vielleicht, dass deine elegante Kleidung dir Eingang verschafft haben würde? Klassendünkel, wie man ihn nicht deutlicher und ausgeprägter finden kann.«

»Was geht uns das an!« Johnny grinste. »Hauptsache, der See ist unser, und wir können hier angeln. - Dies scheint der Weg zu sein. Richtig, dort schimmert schon das Wasser.«

Auch im Urlaub registrierten Ironsides’ geübte Augen automatisch jede geringfügige Kleinigkeit.

»So, so. Der Major sagte doch, dass er nie an den See geht! Irgendjemand hat trotzdem diesen Weg regelmäßig benutzt. Sie dir diesen feuchten Fleck an - frische Fußabdrücke. Abdrücke von Frauenschuhen.«

»Eines der Dienstmädchen vielleicht«, meinte Johnny. »Allerdings kann ich mir schlecht vorstellen, dass ein Dienstmädchen seine Freizeit mit Angeln an einem See verbringt. Mein Gott - ist das herrlich! Eine wahre Augenweide!«

Der Weg endete hier. Sie standen nun im Schatten hoher, schöngewachsener Bäume am Ufer des Sees.

»Ob die Fische hier gut beißen?«, überlegte Ironsides laut.

»Zum Donnerwetter, Ironsides, hast du denn überhaupt keine Augen für diese Schönheit? Wir stehen plötzlich in einem Märchenland, und du denkst nur an Fische!«

»Ist das ein Fisch?«, fragte Ironsides und deutete auf die Wasserfläche.

Etwa in der Mitte des Sees zog das Wasser Kreise, und Johnny entdeckte einen tanzenden orangefarbenen Punkt. Dann tauchte ein rosiger schlanker Arm aus dem Wasser auf und ein erschrockenes Gesicht. Über den See tönte ein überraschtes Oh!. 

»Die Seejungfrau, nicht wahr?« Johnny Lister grinste. »Wir haben anscheinend jemand beim Morgenbad gestört. Schon gut, Gnädigste, wir sind ganz harmlos! - Zum Teufel, was ist mit ihr los, Old Iron? Weshalb schießt sie so unheimlich schnell davon? Donnerwetter, kann die schwimmen!«

Das Mädchen mit der orangefarbenen Badekappe hatte sich anscheinend faul auf dem Wasser treiben lassen. Die Ankunft der Fremden verscheuchte sie. Hastig kraulte sie davon und hielt auf das obere Ufer des Sees zu. Sie floh ganz offensichtlich, als sei der Teufel hinter ihr her.

»Hallo!«, rief Johnny und winkte. »Kein Grund, so zu erschrecken. Wir haben Erlaubnis bekommen - was ist jetzt mit ihr los? Weshalb arbeitet sie sich so ab?«

»Drüben scheinen eine Menge Schlingpflanzen zu sein«, vermutete Cromwell. Er beobachtete das Mädchen gespannt. »Sie sitzt mitten drin fest. Vermutlich mit den Füßen hängengeblieben...«

Er schwieg, und Johnny wurde unruhig. Die Schwimmerin bewegte sich nicht von der Stelle, sondern peitschte wie wahnsinnig das Wasser auf. Zweimal ging sie ganz unter. Als ihr Kopf wieder an der Oberfläche erschien, gellte ein Schrei über das Wasser. »Hilfe! Hilfe!«

»Du hast recht, Old Iron! Sie hat sich tatsächlich in den Schlingpflanzen verfangen«, rief Johnny. »Hier, halte das.«

Er riss sich sein Jackett vom Leibe und warf es Cromwell zu. Dann raste er am Ufer entlang, bis er dem kämpfenden Mädchen am nächsten war. Mit einem kühnen Kopfsprung sprang er von der Uferböschung in den See. Als er wieder auftauchte, schlug ihm das. Herz bis zum Hals, denn sie war verschwunden. Doch bestand die Möglichkeit, dass sie tauchend versuchte, sich von den Schlingpflanzen zu befreien. Er war erleichtert, als er einen Moment später ihren Kopf wieder auftauchen sah. Sie schaute ihn jedoch voller Bestürzung an.

»Lassen Sie mich!«, keuchte sie. »Oh, bitte, schwimmen Sie zurück! Es ist nichts. Nein... doch... es hat sich eine große Wurzel um meinen linken Fuß gewickelt. - Nein, Sie dürfen nicht näher kommen!«

Völlig verwirrt durch diese widerspruchsvollen und offensichtlich hysterischen Zurufe, schwamm Johnny trotzdem auf sie zu. Der unnatürlich ängstliche Ausdruck in ihrem Gesicht verriet, dass sie in wirklicher Gefahr schwebte. Die ungeheure Anstrengung, sich selbst zu befreien, hatte ihre Kräfte völlig erschöpft.

»Sie werden gleich frei sein«, sagte Johnny beruhigend.

Er hatte sie nun erreicht und legte seinen Arm um ihre schlanke Taille, in der Absicht, sie aus den Schlinggewächsen herauszureißen. Und - dann wurde ihm plötzlich heiß. Seine Finger berührten nichts als weiche, nackte Haut! Sie hatte keinen Badeanzug an.

»Uff«, schnaufte er erschrocken. »Sie haben keinen...?«

»Nein.«

»Oh - bitte entschuldigen Sie vielmals...«

Er ließ sie so plötzlich los, als hätte er sich die Finger verbrannt, und war sehr verlegen. Ihr einziger Trost - wenn man in einer solchen Situation überhaupt von Trost sprechen konnte - war, dass sie durch ihr Strampeln so viel Schlamm vom Boden des Sees aufgerührt hatte, dass das Wasser um sie herum ganz trüb war. Johnny wusste kaum, was er tun sollte. Aber schließlich war es sinnlos, so rücksichtsvoll zu sein. Wenn das Mädchen schon kühn genug gewesen war, nackt zu baden, so musste es jetzt auch die Folgen tragen. Da die Schlingpflanzen eine ernstliche Gefahr bedeuteten, musste jetzt etwas Drastisches geschehen, ohne Rücksicht auf ihre Sittsamkeit.

Johnny tat es so diskret wie möglich. Er holte tief Luft, tauchte und fühlte nach ihren Füßen. Er hatte auch bald den einen Fuß gefunden, der sich im schleimig-klebrigen Wurzelwerk verfangen hatte. Eine kräftige Ranke hatte sich rings um ihren Knöchel gelegt und hielt ihn wie ein Schraubstock umklammert.

Als Johnny zum Luftholen auftauchte, gab er ihr schnell den Rat, sich vollständig locker treiben zu lassen, um dadurch den Druck zu verringern. Dann tauchte er wieder. Diesmal gelang es ihm, ihren Fuß zu befreien.

Als er an die Oberfläche kam, war sie schon ein ganzes Stück entfernt.

»Wagen Sie nicht, mir zu folgen«, rief sie atemlos. »Vielen Dank, dass Sie mich freigemacht haben... Bitte sagen Sie Ihrem Freund, er möchte hinter die Bäume gehen und sich nicht zu mir umdrehen.«

Johnny grinste. »Ich verstehe. Sie haben Ihre Kleider irgendwo dort am Ufer gelassen. In Ordnung. Wir werden beide hinter den Bäumen verschwinden und uns nicht umdrehen. Wofür halten Sie uns denn!«

Mit langen, kräftigen Stößen schwamm er ans Ufer und stieg an Land. Wie eine gebadete Katze sah Johnny aus, als er wieder zu Bill Cromwell stieß, der ein interessierter Beobachter der Episode gewesen war.

»Was tut sie jetzt noch im Wasser?«, fragte Ironsides.

»Sie wartet, dass wir verschwinden. Die junge Dame - das wird dich interessieren - hat nichts an.«

Cromwells Miene hellte sich auf.

»Ist das wahr?«, erkundigte er sich und suchte mit den Augen den See ab. »Das interessiert mich mächtig, Johnny. So, deshalb hat sie Reißaus genommen?«

»Ja. Und nun wartet sie, bis wir diskret hinter den Bäumen verschwunden sind und ihr den Rücken zudrehen, damit sie aus dem Wasser heraus und sich anziehen kann«, erklärte Johnny. »Ich hoffe, Ironsides«, fügte er ernsthaft hinzu, »dass du ein Gentleman bist!«

»Ich hoffe es auch«, beruhigte ihn Ironsides. »Aber du musst zugeben, es ist eine große Versuchung. Wenn das törichte kleine Mädchen so nicht gesehen werden möchte - warum badet sie dann ohne Badeanzug?«

Johnny winkte dem jungen Mädchen zu, dann gingen er und Cromwell mit langen Schritten vom See fort und verschwanden hinter den dichtstehenden Bäumen. Sie hörten Geplätscher vom Wasser her - dann war es still. Johnny zündete sich eine Zigarette an.

»Möchte wissen, wer sie ist?«, grübelte er. »Ich könnte nicht mal sagen, ob sie hübsch oder hässlich ist.«

»Das glaube ich dir. Du hast eben keine Zeit darauf verschwendet, ihr ins Gesicht zu sehen!«

»Sei nicht so blöd. Sie hatte so viel Schlamm aufgewühlt, dass das Wasser wie ein dicker Pudding war. Ein Jammer! Alles, was ich tun konnte, war, unterzutauchen, um ihren Fuß zu befreien.«

Nach überraschend kurzer Zeit tauchte das junge Mädchen auf. Sie war klein und schlank und bewegte sich mit graziöser Anmut. Sie trug eine weiße Bluse und eine lange Hose, ihr lockiges Haar war von einem herrlich leuchtenden Rot.

»Achtung, Angriff!«, murmelte Johnny wachsam.

Ihre aggressive Haltung war nicht zu übersehen. Aber ihr kleines und ebenmäßiges ovales Gesicht erschien noch viel hübscher und reizvoller durch die vor Unwillen geröteten Wangen. Ihre haselnussbraunen Augen sprühten Funken.

»Es ist doch die Höhe«, sprudelte sie hervor, als sie vor ihnen stand, wenn ein Mädchen nicht einmal ein ungestörtes Bad auf eigenem Grund und Boden nehmen kann, nur weil zwei große, plumpe Strolche auftauchen, um ihr entsetzliche Angst einzujagen!«

»Moment mal...«

»Sie sind unbefugte Eindringlinge«, fuhr sie wütend fort. »Sie wissen das vermutlich sehr gut. Ein Wunder, dass Sie mich nicht umgebracht haben. Der obere Teil des Sees ist gefährlich!«

»Ja, aber...«

»Was hätte ich sonst schon tun sollen, als so weit wie möglich von Ihnen fortzuschwimmen?«, schrie sie aufgebracht. »Ich vergaß gänzlich die elenden Schlingpflanzen - und dann fühlte ich etwas um meinen Knöchel. Was fällt Ihnen überhaupt ein, hierherzukommen? Niemand kam je hierher! Das ist der Grund, weshalb ich ungestört baden kann, ohne...«

»Nur ruhig, kleines Fräulein - nur ruhig«, sagte Cromwell geduldig. »Wir sind nicht unbefugt hier eingedrungen. Ihr Vater gab uns die Erlaubnis, hier zu angeln.«

»Wie können Sie es wagen, solche Lügen zu erzählen?«, rief sie ärgerlich. »Ich habe keinen Vater mehr.«

»Gut, also dann Major Loveridge.« 

»Major Loveridge ist mein Vormund, und ich sehe nicht ein - oh! Sie meinen...?« Sie hielt erschrocken inne. »Ist das Tatsache? Hat Onkel Horace Ihnen wirklich erlaubt, hierherzukommen?«

»Ja. Er sagte uns, wir könnten über den See verfügen«, erklärte Johnny. »Er muss vergessen haben, dass Sie beim Baden waren. Kein Grund also, uns so anzuschreien.«

»Sie schreit ja gar nicht«, sagte Ironsides ruhig. »Sie lacht.«

Der Zorn des jungen Mädchens war urplötzlich verraucht. Sie bog sich nun vor Lachen. Als sie die beiden jetzt ansah, blitzten ihre Augen vor Spaß.

»Es tut mir leid«, sagte sie, noch ganz atemlos vom Lachen. »Natürlich konnten Sie keine Ahnung haben. Es war nett von Ihnen, hinter die Bäume zu gehen, damit ich aus dem Wasser konnte. Natürlich weiß Onkel Horace nichts von meinen Nacktbädern hier im See. Wenn er davon wüsste, würde er einen Anfall bekommen, Sehen Sie, es ist hier so abgelegen, nicht eine Menschenseele ist in meilenweitem Umkreis, so dass ich an jedem heißen Morgen hierherkomme, um zu baden. Und es ist viel schöner - nun, Sie wissen schon... Es tut mir leid, dass ich Sie für Eindringlinge gehalten habe.«

»Wir werden jetzt regelmäßig während der nächsten Tage hierherkommen«, eröffnete Johnny dem jungen Mädchen. Und dabei stellte er interessiert fest, dass sie noch keinen Ring trug. »Mein Name ist Lister - Johnny Lister. Und das ist Mr. Cromwell. Aber Sie können ihn Bill nennen.«

»Mein Name ist Jill Anderson«, erklärte das junge Mädchen. Sie lachte. »Wenn Sie erwarten, mich morgen früh hier zu sehen, werden Sie bestimmt enttäuscht sein. - Sie haben mir das Leben gerettet«, fügte sie hinzu und betrachtete Johnny mit neuem Interesse. »Sie waren schrecklich schnell, und ich bin Ihnen dafür dankbar. Aber - bitte, erzählen Sie meinem Vormund nichts davon, vor allem nichts über mein Baden ohne...« Sie wurde rot vor Verlegenheit.

»Nicht ein Wort«, versprach Johnny. »Aber wir möchten Ihnen wirklich nicht Ihr morgendliches Bad verderben. Bitte, baden Sie doch wie immer. Wir werden nicht kommen, bevor die Gefahr vorbei ist. Sie brauchen nur die Zeit zu bestimmen.«

»Danke, das ist mir einerlei.« Jill Anderson lachte. »Aber ich möchte lieber kein solches Risiko mehr eingehen. Ein derartiger Schreck ist genug für mich. In Zukunft werde ich meinen Badeanzug anziehen, bevor ich aus dem Haus gehe.«

Sie lächelte ihnen zu und ging in Richtung Obstgarten davon.

»Das erste, was ich jetzt tun werde«, seufzte Johnny erleichtert, »ist, meine nassen Sachen ausziehen und in die Sonne zum Trocknen legen. Sieh dir meine schöne Hose an! Und mein Hemd!«

»Ich habe sie bereits eingehend betrachtet.« Ironsides nickte. »Ein großer Fortschritt!« Er ließ anerkennend seine Blicke über den See schweifen. »Johnny, ich glaube, hier wird es sehr schön. Irgendetwas sagt mir, dass dieses Stück Wasser ein Anglerparadies ist.«

»Irgendetwas sagt mir«, murmelte Johnny Lister, »dass unser Urlaub doch nicht so flau und eintönig wird, wie ich befürchtet hatte.«

Eine prophetische Bemerkung - aber durchaus nicht in dem Sinn, wie Johnny sie gemeint hatte!

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Captain a. D. Herbert Cartwright fuhr in schnellem Tempo auf der schnurgeraden und endlos langen Landstraße nördlich von Helmsford. Recht schläfrig saß er hinter dem Steuer und sah weniger die schattige Straße vor sich als das Bild eines zierlichen, schlanken Mädchens mit lustig sprühenden Augen und einer Wolke von rotem Haar.

Er hatte schon auf dem ganzen Weg an sie denken müssen. Doch jetzt, während er dem Ziel seiner Fahrt immer näher kam, verspürte er wieder die bange, nervöse Unsicherheit, die ihn immer befiel, sobald er in ihrer Nähe war. Allein schon die Vorstellung, dass er Jill wiedersehen würde, berauschte ihn und löste doch gleichzeitig eine beklemmende Stimmung in seinem Innern aus. Eine kuriose Erscheinung, denn Bertie Cartwright fürchtete nichts auf der Welt. Seine Rekordleistungen - sowohl am Steuer eines Autos wie m der Luft - waren beachtlich und sprachen für seinen Mut. Nur mit Jill war das anders Seine Schüchternheit ihr gegenüber beruhte allerdingst auf einer seltsamen seelischen Hemmung. Er war 45 und Jill gerade 22 Jahre alt. In seiner Einbildung war das ein gähnender Abgrund, über den man keine Brücke schlagen konnte. Dreimal schon in diesem Jahr war er fest entschlossen gewesen, Jill einen Heiratsantrag zu machen. Doch im letzten, entscheidenden Moment hatte er dann versagt. Allein schon die Vorstellung, dass sie ihn auslachen könnte, hatte ihm die Zunge gelähmt. Solange er nichts sagte, konnte er wenigstens noch hoffen. Weshalb sollte ein so liebes, frisches Mädchen wie Jill einen hartgesottenen Junggesellen mittleren Alters wollen? Das war sein Fehler. Sobald seine Gedanken bei Jill verweilten, sah er sich selbst unweigerlich als alten Tattergreis. Das Gegenteil davon war er. Bertie wirkte jung, ausgesprochen anziehend und war im besten Mannesalter. Er war ein ausgemachter Esel, sonst würde er schon längst in Jills Augen eine heimliche Aufforderung gelesen haben, die ihn vielleicht ermutigt hätte.

Jill und ihr Vormund waren an diesem Abend in Bassington Hall eingeladen. Er würde sie also sehr bald wiedersehen.

Die tiefhängende Wolkendecke passte gut zu seiner pessimistischen Stimmung. Nach einem drückend heißen Tag hatten sich jetzt riesige schwarze Wolkenbänke am Himmel zusammengeballt. Es war dadurch sehr früh dunkel geworden. Bisher war noch kein Donnergrollen zu hören, kein Tropfen Regen fiel, doch schien das Unwetter jeden Augenblick losbrechen zu wollen.

Der Unfall ereignete sich so plötzlich, dass Bertie Cartwright einen sehr unsanften Stoß bekam. Eine Ziege hatte sich losgerissen und war ihm direkt in den Wagen gerannt. Es gab einen dumpfen, dröhnenden Krach, Blut spritzte, und der Wagen schwankte, als er über den Körper des Tieres fuhr. In diesem kurzen Augenblick bewies sich Berties langjähriges Training. Der Wagen schleuderte und raste auf den gegenüberliegenden Straßengraben zu. Neunundneunzig von hundert Fahrern würden mit zertrümmertem Wagen liegengeblieben sein. Bertie war der hundertste. Er beherrschte die Situation meisterhaft und handelte mit unerhörter Genauigkeit innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde. Doch wusste er nachher selbst nicht, wie es ihm gelungen war, das lange, cremefarbige Sportkabriolett auf die Fahrbahn zurückzureißen. Er bremste scharf und stieß dann einen kräftigen Fluch aus.

Er stieg aus und blickte die dunkle Straße entlang. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Dann ging er zurück zu der überfahrenen Ziege. Ein Blick genügte völlig. Warum, zum Teufel, konnten die Leute ihre verdammten Ziegen nicht richtig festbinden? Er hatte lediglich Glück gehabt, dass er nicht genauso verstümmelt und tot am Straßenrand lag wie dieses arme Vieh. Grimmig betrachtete er dann seinen verbeulten Kotflügel, der voller hässlicher Blutspritzer war. Glücklicherweise kein wesentlicher Schaden. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass der Ziege nicht mehr zu helfen war, setzte er sich in den Wagen und fuhr weiter.

Sehr langsam rollte der Wagen über die Landstraße, bis Bertie das verschlafene Dorf Great Bassington erreicht hatte. Eigentlich war es schon kein Dorf mehr, sondern bereits eine kleine Stadt. Great Bassington bildete irgendwie ein Zentrum in der ländlichen Einsamkeit von Nord-Essex.

An der Ortseinfahrt standen zwei Polizeiwachtmeister mitten auf der Straße und stoppten ihn. Er hielt. Die Polizeibeamten betrachteten finster seinen Wagen. Einer von ihnen trat zu ihm an den Wagen.

»Kann ich Ihren Führerschein sehen?«

»Bitte.« Bertie holte ihn hervor und reichte ihn aus dem Wagen. »Was ist los? Überhöhte Geschwindigkeit oder so etwas?«

Der Wachtmeister warf einen Blick auf Berties Führerschein und gab ihn dann zurück.

»Woher kommen Sie?«

»Von Kingston.«

»Sind Sie durch Helmsford gefahren?«

»Natürlich.«

»Aha!« Die Stimme des Wachtmeisters klang grimmig. »Wollen Sie nicht lieber eine Erklärung abgeben?«

»Eine Erklärung abgeben? Aber weshalb, zum Teufel...?« Bertie betrachtete den Mann in der zunehmenden Dunkelheit mit maßlosem Erstaunen. »Was meinen Sie damit - eine Erklärung abgeben? Warum sollte ich eine Erklärung abgeben?«

»Ich denke, Sie wissen weshalb«, erwiderte der Wachtmeister scharf.

Er wurde unterbrochen, denn sein Kollege hatte ihn gerufen. Er ging um den Wagen herum und betrachtete den verbeulten Kotflügel. Die beiden Beamten unterhielten sich flüsternd.

»Ja, Blut«, hörte Bertie den einen sagen.

»Der beschädigte Kotflügel?«, sagte Bertie, dem es jetzt dämmerte. »Ach, das hat nichts zu bedeuten, Wachtmeister. Ich bin nur glücklich, noch am Leben zu sein. Eine Ziege rannte mir in den Wagen...«

»Es wäre besser, wenn Sie schweigen würden«, unterbrach ihn der Wachtmeister. »Bedaure, ich muss Sie verhaften. Fahren Sie zur Polizeistation - geradeaus die Hauptstraße entlang, etwa zweihundert Meter weiter.«

»Mich verhaften?«, rief Bertie halb ärgerlich, halb belustigt aus. »Wenn Sie schon jemand verhaften wollen, dann sollten Sie lieber den Besitzer dieser verdammten Ziege verhaften.«

»Das glauben Sie jetzt, aber wenn wir erst auf der Polizeistation sind, werden Sie vielleicht anders darüber denken und doch noch eine Erklärung abgeben«, sagte der Wachtmeister. »Es würde bedeutend besser für Sie sein.«

»Ich werde eine Erklärung abgeben, wenn Sie es durchaus wünschen. Aber solch idiotischer Diensteifer um eine lächerliche Kleinigkeit ist mir noch nie vorgekommen«, entgegnete Bertie ungeduldig. »Wo, sagten Sie, ist die Polizeistation?«

Er fuhr los. Der eine Wachtmeister saß neben ihm, während der andere draußen auf dem Trittbrett hing. Eine Anzahl neugieriger Dörfler, die sich angesammelt hatten, kamen um ihre Sensation.

Bertie stoppte vor der kleinen Polizeistation und stieg aus. Er war überrascht, dass man ihn in die Mitte genommen hatte und der Wachtmeister die Hand auf seinen Arm legte, als sie die Treppe hinaufgingen. Diese Landpolizisten behandelten ihn wie einen Schwerverbrecher. Bertie wusste tatsächlich nicht, ob er ärgerlich werden oder mit Langmut alles über sich ergehen lassen sollte.

In dem kleinen Dienstraum war es sehr schwül. Im grellen Licht einer starken Deckenlampe saß ein Polizeiinspektor hinter seinem Schreibtisch. Er blickte auf, als sie eintraten.

»Wir haben ihn«, sagte der Wachtmeister wichtig.

»Nun, es scheint, dass Sie nicht eine Minute zu früh dort gewesen sind, Botts«, stellte der Inspektor fest. »Saubere Arbeit.« Er sah Bertie scharf an. »Wie ist ihr Name?«

»Wollen Sie mir nicht sagen, was dies hier alles bedeuten soll?«, fragte Bertie gereizt. »Zum Teufel, ich habe allmählich genug von diesem Possenspiel!« 

»Name!«, schnaufte der Inspektor.

»Cartwright, wenn Sie es durchaus wissen müssen - Herbert Cartwright.«

»Herbert Cartwright?« Der Inspektor sah ihn zweifelnd, wenn nicht sogar argwöhnisch an. »Ein Verwandter von Sir Herbert Cartwright in Bassington Hall?«

»Ich bin sein Neffe und wurde nach ihm genannt.«

»Ihren Ausweis...«

Nachdem er den Ausweis gesehen hatte, klang die Stimme des Beamten schon bedeutend anders.

»Captain Cartwright? Nun, es tut mir leid, Mr. Cartwright. Eine sehr hässliche Sache. Ihr Onkel wird sehr bestürzt sein.«

»Vergessen Sie meinen Onkel eine Minute. Was soll ich getan haben? Wessen beschuldigt man mich?«

»Nun, nun! Sie wissen recht gut, wessen man Sie beschuldigt«, sagte der Inspektor nicht unfreundlich. »Mein Name ist Vickery, und Ihr Onkel kennt mich recht gut. Nachdem ich jetzt weiß, wer Sie sind, kann ich Ihnen vielleicht einen kleinen freundschaftlichen Rat geben - wenn es auch meine Dienstvorschriften etwas überschreitet. Ich achte Ihren Onkel sehr. Dies wird bestimmt ein sehr schwerer Schlag für ihn sein.«

»Weil ich diese verdammte Ziege überfahren habe?«, fragte Bertie ungeduldig. »Wenn Sie glauben, mein Onkel würde sich über eine solche Geringfügigkeit aufregen...«

»Es wird nur Ihre Lage erschweren, Mr. Cartwright, wenn Sie von einer Ziege sprechen«, unterbrach ihn Inspektor Vickery und schüttelte den Kopf. »Um Gottes willen, weshalb haben Sie nicht angehalten? Welcher Teufel hat Sie geritten, dass Sie weiterfuhren?«

»Halten? Weiterfahren?« Bertie wurde immer verwirrter. »Aber ich habe gehalten.«

»Nein, Sie haben nicht gehalten. Und es sind genug Leute da, die bezeugen werden, dass Sie nicht gehalten haben. Nun, wir wollen den Sachverhalt klären. Sind Sie vor etwa zwanzig Minuten durch Helmsford gefahren?«

»Nein.«

»Seien Sie vorsichtig...«

»Es war vor gut einer halben Stunde. Als ich durch die Stadt fuhr, hörte ich ein eigentümliches Quietschen im Motor. Ich brauchte sowieso Benzin und stoppte an einer Tankstelle. Der Autoschlosser dort hat versucht, die Ursache dieses quietschenden Geräusches ausfindig zu machen. Wir haben zehn Minuten gebraucht, bis wir den Fehler gefunden hatten.«

»Hören Sie damit auf«, sagte der Inspektor ruhig. »Ich möchte Ihnen den Rat geben, vorsichtig zu sein. Ich wurde informiert, dass Sie durch Helmsford gefahren sind, in Richtung Great Bassington, und das vor...« Er sah auf die Uhr. »...ja, vor zwanzig Minuten. Sie haben einen alten Mann überfahren und sind, ohne sich um ihn zu kümmern, weitergefahren. Der Mann wurde getötet. Ich muss Sie daher verhaften.«

Bertie fühlte sich erleichtert. »Es tut mir leid, dass dieser alte Mann getötet wurde. Aber ich habe den Unfall nicht verursacht und konnte deshalb auch nichts davon wissen«, erklärte Bertie bestimmt und höflich. »Deshalb also wurde ich angehalten und verhaftet? Ich hoffe, Sie merken jetzt, mein lieber Inspektor, dass Sie sich zu einem kompletten Narren machen. Und der Wachtmeister hier ist ein noch größerer Narr, weil er mich hierherbrachte!«

»Jetzt reicht es aber, Mr. Cartwright«, fiel ihm der Inspektor scharf ins Wort. »Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich meine Vorschriften überschreite, wenn ich Ihnen Gelegenheit gebe, die Dinge in dieser ungezwungenen Art zu erklären. Und ich tue es nur deshalb, weil Ihr Onkel hier in der Gegend sehr hohes Ansehen genießt. Es verschlimmert Ihre Lage nur, wenn Sie die Tatsachen in dieser lächerlichen Weise verdrehen wollen.«

»Ich versuche gar nicht, die Tatsachen zu verdrehen. Aber ich sage Ihnen, dass Sie dabei sind, den größten Bock Ihres Lebens zu schießen. Ich habe nie in meinem Leben jemand überfahren, und wenn ich tatsächlich jemand überfahren hätte - klopfen Sie an Holz -, würde ich kein so feiger Hund sein und die Flucht ergreifen.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass Sie vielleicht diesen alten Mann in Helmsford überfahren haben, ohne es zu merken?«

»Ich habe keinen alten Mann in Helmsford überfahren.«

»Sie sind sehr töricht, bei dieser Aussage zu beharren, Mr. Cartwright«, sagte der Inspektor ärgerlich. »Vor weniger als achtzehn Minuten erhielt ich von der Helmsforder Polizei die telefonische Anweisung, einen cremefarbigen M. G.-Sportwagen anzuhalten. Das ist doch Ihr Wagentyp, nicht wahr?«

»Ja, aber...«

»Wenn bei dieser Durchsage ein Fehler gemacht wurde, so ist für Sie ohnehin nichts zu befürchten. Verschiedene Leute wurden Zeugen des Unfalls. Einige von ihnen sind bereits nach hier unterwegs. Es ist meine Pflicht, Sie vorerst zu verhaften.«

»Sie sind verrückt«, rief Bertie ungeduldig. »Ich muss nochmals ausdrücklich verneinen, irgendjemand in Helmsford überfahren zu haben.«

»Welche Erklärung haben Sie dann für den verbeulten und verbogenen Kotflügel Ihres Autos, der blutbespritzt ist?«, fragte der eine Wachtmeister aufgeregt. Er wandte sich an den Inspektor. »Den müssen Sie sich ansehen.«

»Ich habe ihn schon vom Fenster aus gesehen, als Sie ankamen«, entgegnete Vickery. »Mr. Cartwright, ich warne Sie nochmals. Seien Sie vorsichtig. Ich habe versucht, Ihnen zu helfen, ob Sie nun Sir Herberts Neffe sind oder nicht.«

»Wenn Sie nur zuhören würden, anstatt vorschnelle Schlüsse zu ziehen, könnte ich Ihnen den verbeulten Kotflügel in einer Minute erklären«, sagte Bertie. »Eine Ziege hatte sich von der Kette gerissen und ist mir in den Wagen gerannt. Sie war auf der Stelle tot.«

Der Inspektor sah den Wachtmeister bedeutungsvoll an.

---ENDE DER LESEPROBE---