MORD AUF FLÜSTERNDEM SAND - EIN FALL FÜR CHEFINSPEKTOR CROMWELL - Victor Gunn - E-Book

MORD AUF FLÜSTERNDEM SAND - EIN FALL FÜR CHEFINSPEKTOR CROMWELL E-Book

Victor Gunn

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Der englische Badeort Marling-on-Sea ist berühmt für seinen herrlichen Strand. Eines Tages wird er zum Schauplatz eines grauenvollen Verbrechens. An einem Wellenbrecher wird ein toter Mann entdeckt: gefesselt, mit einem Seil an den Holzpfahl festgebunden.

Chefinspektor Bill Cromwell von Scotland Yard sucht den Mörder...

 

Der Roman Mord auf flüsterndem Sand von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1965; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr unter dem Titel Der Mann im Regenmantel.

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

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VICTOR GUNN

 

 

Mord auf flüsterndem Sand

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

MORD AUF FLÜSTERNDEM SAND 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Der englische Badeort Marling-on-Sea ist berühmt für seinen herrlichen Strand. Eines Tages wird er zum Schauplatz eines grauenvollen Verbrechens. An einem Wellenbrecher wird ein toter Mann entdeckt: gefesselt, mit einem Seil an den Holzpfahl festgebunden.  

Chefinspektor Bill Cromwell von Scotland Yard sucht den Mörder...

 

Der Roman Mord auf flüsterndem Sand von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1965; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr unter dem Titel Der Mann im Regenmantel.  

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur. 

  MORD AUF FLÜSTERNDEM SAND

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Da, hörst du?«, flüsterte Roy Armitage.

Er fasste den Arm des Mädchens an seiner Seite fester und zwang es stehenzubleiben. Nebeneinander verharrten sie regungslos an dem menschenleeren, in fahles Mondlicht getauchten Strand. Es war Ebbe. Die Sandfläche schien sich bis ins Unendliche zu dehnen.

»Was?«, fragte Nora Jarrell zurück. »Was soll ich hören?« Und in ihrer Stimme klang eine Spur von Ungeduld mit.

»Ich weiß nicht«, murmelte Roy. »Es ist eigenartig, fast unheimlich. Es kommt und geht. Die See kann es nicht sein. Sie ist jetzt viel zu weit draußen. Außerdem liegt sie vollkommen still; da ist nicht die kleinste Welle.«

Nora wollte etwas antworten, aber er rüttelte sie sanft, und sie schwieg. Nun hörte sie es auch. Ein leises, unheimliches Flüstern, das von überall und nirgendwoher zu kommen schien. Es erstarb wieder. Und sie überlegte, ob sie es überhaupt wirklich vernommen hatte. »Roy, lass uns zurückgehen!«, bat sie erschaudernd.

»Natürlich, wenn du dich fürchtest«, erwiderte Roy. »Seltsam... Nur ein undefinierbares Raunen ist zu hören, wenn man ganz ruhig steht. Aber es scheint so nah.«

Er blickte über den endlosen breiten Strand.

Weiter drüben, dort, wo die vielen kleinen Lichter funkelten, lag Bancombe, der bekannte Badeort. Nicht weiter als drei Meilen von hier entfernt. Die unzähligen Lämpchen der erleuchteten Landungsbrücke und der Uferpromenade hingen wie eine lange Perlenschnur über dem dunklen Wasser. Auf der entgegengesetzten Seite, vielleicht sechs Meilen entfernt, flimmerten die - im Vergleich dazu trübseligen - Lichter von Southwick. Und ganz in der Nähe, direkt hinter ihnen, dort wo der Strand endete, lag ganz im Dunkeln der kleine Ort Marling-on-Sea. Das heißt, auch dort brannten natürlich noch Lampen. Aber von hier aus waren sie nicht zu erkennen, weil die lange Düne mit der Grasnarbe auf dem Kamm die Sicht nahm.

»Ach, nichts als alberne Hirngespinste, Roy«, meinte das Mädchen, löste seine Hand von seinem Arm und trat einen Schritt von ihm fort. »Komm, lass uns gehen. Dieser Strand ist grausig. Ich weiß wirklich nicht, warum wir ausgerechnet hierherfahren mussten.«

»Ach, gib ihm wenigstens eine Chance!«, protestierte Roy. »Du kannst doch den Strand nicht nach einem flüchtigen Blick in der Nacht beurteilen, wenn obendrein noch Ebbe ist. Außerdem - sieh doch nur, wie wundervoll das Mondlicht über dem Meer schimmert! - Da! Da war es wieder! Hast du es gehört? Was, zum Teufel, kann es bloß sein?«

Abermals hing das feine, geisterhafte Raunen in der Luft. Fragend sah Roy sich um, nach einer logischen Erklärung dafür suchend.

Nora war, im Gegensatz zu ihm, bedeutend realistischer.

»Wahrscheinlich dieser stinkende Seetang«, äußerte sie abfällig, angeekelt die Nase rümpfend. »Widerwärtiges Zeug wie Krabben, Krebse, Würmer, oder was weiß ich.«

Roy mochte nicht zugeben, dass der Tang, der den weichen, hellen Sand bedeckte, ziemlich unangenehm roch. Er war mit seiner Freundin für ihren gemeinsamen vierzehntägigen Jahresurlaub hierher nach Marling-on-Sea gefahren, weil er diesen kleinen Ort in sein Herz geschlossen hatte. Immer schon, seit er mit seinen Eltern als ganz kleiner Junge hier gewesen war. Damals, erinnerte er sich, hatte der Sandstrand golden und sauber in der Sonne dagelegen, ohne eine Spur von Seetang.

»Krabben und Krebse würden ja wohl kaum ein Raunen hervorbringen, wie wir es eben gehört haben, Liebling«, wandte er ein. »Es ist so unfasslich, so trügerisch. Es geht nicht der geringste Wind; eine Luftströmung kann es also nicht sein. Ich dachte, es würde dir Spaß machen, vor dem Schlafengehen noch ein Stückchen den Strand entlangzuwandern...«

»Spaß!«, fiel sie ihm scharf ins Wort. »Ich will dir mal was sagen! Ich finde den Strand so schäbig, so hässlich, wie ich noch nie einen gesehen habe! Marling-on-Sea! Du und dein goldener Strand! - Gehen wir doch endlich ins Hotel zurück.«

Sie setzte sich in Bewegung, bevor ihm überhaupt Zeit zu einer Entgegnung blieb. Er folgte ihr niedergeschlagen und betrübt.

Alles lief so ganz anders, als er erwartet hatte. Seit ihrer Ankunft im Sandy Beach Hotel hatte Nora fortwährend an allem etwas auszusetzen gehabt. Nichts hatte Gnade vor ihren Augen gefunden. Ihr Zimmer war nicht recht gewesen. Das Abendessen ebenso wenig - obwohl es, Roys Meinung nach, ausgezeichnet gewesen war.

Seit Monaten hatte er diesen Urlaub vorbereitet. Ach, wie hatte er sich darauf gefreut! Zwei ganze Wochen allein mit Nora! Im Lauf dieser herrlichen, ewig langen vierzehn Tage hatte er vor, sie zu fragen, ob sie seine Frau werden wolle. Aber sie hatten sich schon gestritten, als sie in Roys Wagen die Fahrt angetreten hatten, und erst recht, als sie angekommen waren. Nora war in einer eigenartigen, selbstzerstörerischen Stimmung gewesen. Weder das entzückende Hotel noch Marling-on-Sea selbst hatten ihren Gefallen gefunden. Daraufhin war er mit ihr zum Strand hinuntergewandert, hoffend, sie hier ganz für sich zu haben. Aber der weite Strand, mit dem - bei Ebbe - dunklen, salzig riechenden Tang, hatte ihre ohnehin gereizte Stimmung nur noch verschlechtert.

Widerwillig musste er sich eingestehen, dass es nicht das erste Mal war, dass sich Nora in einer derart unerfreulichen Stimmung befand. Allerdings musste er ihr andererseits auch Gerechtigkeit widerfahren lassen. Im Allgemeinen war sie vergnügt und guter Dinge, stets bereit zu lachen, mit einem fröhlichen Funkeln in ihren wunderschönen braunen Augen.

Er fühlte sich enttäuscht, leer, wie ausgehöhlt, als sie jetzt zum Hotel zurückgingen und dabei langsam den Kamm der niedrigen Dünen entlangschlenderten.

 

Die Wellenbrecher mit ihren hohen Holzpfählen ragten in einiger Entfernung wie düstere, unbewegliche Schildwachen aus dem bleichen Sand. Da, nach einigen Schritten, fasste Roy abermals nach Noras Arm und zwang sie stehenzubleiben.

»Halt, warte!«, flüsterte er. »Jetzt, jetzt musst du es doch auch hören!«

»Ich hasse das!« Sie stand gespannt lauschend da. »Es - es ist mir nicht geheuer.« Sie klammerte sich fest an ihn. »Roy, ich fürchte mich! Komm doch endlich fort von diesem grauenhaften Strand.«

Sie bebte am ganzen Körper. Und abermals sah er sich, nach einer logischen Erklärung für die wispernden, säuselnden Laute suchend, um. Es musste doch eine Begründung dafür geben! Stieg das feine Schwirren vom Tang auf, der sich, in der lauen Sommerluft langsam austrocknend, wand und zusammenschrumpfte?

»Weshalb hast du mich denn bloß hierhergeschleppt? Ausgerechnet hierher?«, fragte Nora erregt, als sie weitergingen und ihre Angst langsam nachließ. »Ich hatte gehofft, wir würden baden, uns in der Sonne aalen. Wie soll man denn hier baden? Das Meer ist kilometerweit entfernt!«

»Liebling, so ist es doch nicht immer. Nur bei Ebbe!« bemühte er sich geduldig, sie zu besänftigen. »Marling ist berühmt für seinen breiten Sandstrand. Bei Flut reicht das Meer weit herauf, und wir werden wundervoll schwimmen, glaube mir. Warte nur bis morgen früh. Wenn die Sonne scheint, sieht alles ganz anders aus.«

»Da bin ich gespannt! Das wird ja märchenhaft sein!«, gab das junge Mädchen gereizt zurück.

Roy war ein unkomplizierter und gutmütiger junger Mann von fünfundzwanzig Jahren. Hochgewachsen, ein wenig ungeschickt, sehr impulsiv, mit einem frischen, offenen Gesicht. Er arbeitete bei der Werbeagentur Chappin in London und hatte dort eine gute Stellung. Nora Jarrell war Sekretärin bei derselben Firma. Sie war ein temperamentvoller Typ. Ein starker physischer Reiz ging von ihr aus. Sie war unbestritten attraktiv, ja fast schön zu nennen. Roy liebte sie seit Monaten mit verzehrender Leidenschaft.

Anwandlungen einer derart negativen Stimmung wie eben jetzt hatte sie schon ein-, zweimal gehabt. Und er suchte sich damit zu beruhigen, dass ihre Erschöpfung nach der langen Fahrt daran Schuld trug und Nora am kommenden Morgen schon wieder ganz die alte sein würde. Aus Erfahrung klug geworden, bemühte er sich, die Geduld nicht zu verlieren und Nora behutsam anzufassen. Trotzdem dämmerte ihm, dass er mit Marling-on-Sea wohl keine allzu gute Wahl getroffen hatte. Es war einfach zu ruhig. Und Nora liebte nun einmal Trubel und Menschen um sich herum.

Am Ende des Strandes angekommen, stiegen sie die Stufen bis zu dem breiten, als eine Art Uferpromenade dienenden Grasstreifen hinauf. Alle paar Schritte stand eine einladende Bank. Ein Stückchen dahinter schlängelte sich eine Privatstraße entlang, die zu der eigentlichen Ortschaft Marling führte. Weitere Privatwege zweigten zu beiden Seiten ab. Das Gelände war Privatbesitz, besiedelt mit kleinen Häusern oder Bungalows, die meist von Rentnern bewohnt wurden. Eine alte, schon früh gegründete Gemeinde und einer der wenigen Orte an der Südküste, die von Omnibus-Reisegesellschaften und Tagesausflüglern noch verschont geblieben waren. Roys Meinung nach der ideale Ort, um ein Mädchen für sich allein zu haben.

»Wer wohl da drüben in dem kleinen Palast wohnen mag?«, bemerkte Roy beiläufig, mehr um irgendetwas zu sagen, als aus wirklichem Interesse. Er wies in die Richtung eines hellerleuchteten, langgestreckten Gebäudes mit großen Veranden, das von zwei kleinen Türmchen flankiert wurde, die gar nicht zum Bungalowstil passen wollten. Eine große, halbrunde Auffahrt führte hinauf und öffnete sich unmittelbar vor der Villa zu einer Art Rondell, auf dem schimmernde, chromfunkelnde Straßenkreuzer parkten. Musik und Gesprächsfetzen drangen aus den weit geöffneten Verandatüren.

»Nun, wer es auch immer ist, in Geld muss er jedenfalls schwimmen«, äußerte sich Nora neiderfüllt. »Die Leute da drin machen sich eine schöne Zeit. Feiern, Tanzen, das ist ihr Leben.«

»Na also, du siehst, Marling ist doch gar kein so totes Nest!«

»Phantastisch! Welche Aussichten - für uns!«, schnappte Nora prompt zurück. »Die werden gerade auf uns gewartet haben, um uns einzuladen, wie? Das ist doch ganz offensichtlich die Sommerresidenz irgendeines Nabobs. Wir hingegen - wir hocken in unserem muffigen Hotel, das so verstaubt und tot ist wie ein Altersheim!«

»Das ist nicht fair!«, widersprach Roy heftig. Ihre bissige Art wurde ihm allmählich zuwider. »Du bist wirklich reichlich vorschnell in deinem Urteil! Das Sandy Beach Hotel genießt einen ausgezeichneten Ruf. Denk doch nur an das Abendbrot. Erstklassig! Und die Zimmer sind nett und gemütlich.«

»Meins ist genauso schäbig wie das ganze Hotel.«

Roy setzte zu einer Entgegnung an, zog es dann aber vor zu schweigen. Er holte tief Atem und zählte erst einmal bis zehn. Heute passte Nora aber auch rein gar nichts. Es war vollkommen sinnlos, sich auf lange Diskussionen mit ihr einzulassen.

Sie bogen in einen der Wege ein, die vom Strand fortführten. Von hier aus war es nicht weit zum Hotel.

Aber schon nach wenigen Schritten wurden sie durch den Lärm ärgerlich streitender Stimmen aufgehalten. Auf einer Kreuzung, von der zwei Privatwege abzweigten, stand eine kleine Gruppe erregt diskutierender Leute. Besonders zwei ältere Herren erhoben ihre Stimmen zu beachtlicher Lautstärke. Ein schlankes, blondhaariges junges Mädchen bemühte sich vergeblich, die beiden Kampfhähne zu trennen und zu beruhigen. Um diese drei hatte sich ein kleiner Kreis neugieriger Zuhörer gebildet, die hin und wieder mit einem Einwurf das Feuer wieder anfachten.

».Was ist denn da los?«, fragte Roy verwundert.

Einer der beiden Streitenden war ein hochgewachsener Mann von auffallend militärischer Haltung, mit grauen Schläfen und einem Schnurrbart. Trotz seiner nun offenkundigen Erregung wählte er seine Worte knapp und treffend. Sein Widersacher hingegen war von untersetzter Gestalt und grobknochig gebaut. Das Gesicht wurde von einer riesigen, hakenförmigen Nase beherrscht. Ein wildwuchernder brauner Bart bedeckte das Kinn. Dieser Mann war zweifelsohne ein temperamentvoller, ungeduldiger Zeitgenosse. Seine Stimme dröhnte laut durch die stille Nacht.

»Daddy!«, bat das blonde Mädchen flehentlich. »Du kannst doch nicht hier, mitten auf der Straße, herumstreiten! So lass es doch gut sein. Komm mit nach Hause! - Colonel Andrews, hören Sie einfach nicht auf ihn, bitte!«

»Entschuldigen Sie, schließlich hat mich Ihr Vater einen störrischen Kommissesel genannt. Das kann ich mir doch nicht bieten lassen, Miss Stanhope!«, gab der hochgewachsene, militärisch aussehende Mann zurück. »Ich möchte mich auf das entschiedenste gegen derartige Beleidigungen verwahren.«

Das junge Mädchen, dessen sonnengebräunte Haut reizvoll von dem vollen, leuchtend blonden Haar abstach, gab sich nicht so leicht geschlagen. Sie ergriff ihren Vater beim Arm und zerrte ihn mit aller Kraft weiter - bis er sich unvermittelt wieder losriss und wie ein gereizter Stier zu seinem Gegner zurückkehrte.

Roy und Nora gingen weiter. Der hitzige Streit dauerte an. Roy bemühte sich vergeblich zu begreifen, worum es eigentlich ging.

Das einzige, was er kapierte, war, dass der Mann mit der Hakennase immer wieder auf die hellerleuchtete Villa wies und laut über jemanden namens Budge schimpfte. Das blonde Mädchen hatte es inzwischen offenbar aufgegeben, die beiden Kampfhähne trennen zu wollen.

»Nanu, Sie, Mrs. Stout?«, grüßte Roy verwundert, als er die wohlgerundete Figur der Besitzerin seines Hotels bemerkte, die am Rande der kleinen Gruppe begierig jedes Wort verfolgte.         

Tatsächlich, es war Mrs. Jennifer Stout, die Eigentümerin des Sandy Beach Hotel. An der Leine hielt sie einen prachtvollen Collie, mit dem sie sich offensichtlich auf dem abendlichen Spaziergang befunden hatte.

»Guten Abend, Mr. Armitage!«, grüßte Mrs. Stout zurück. »Und Miss Jarrell. Was für ein wundervoller Abend, nicht wahr? Zu dumm, dass Colonel Andrews und Captain Stanhope sich schon wieder in die Haare geraten sind. Dabei sind die beiden langjährige Nachbarn. Aber jedes Mal, wenn sie sich über den Weg laufen, stecken sie wieder mitten im schönsten Wortgefecht.«

»Die beiden Herren wohnen also ständig hier?«, erkundigte sich Roy mehr höflich als interessiert.

»Oh, ja. Sie leben schon jahrelang hier. Colonel Ross Andrews ist der Präsident der Sandy-Beach-Anwohner-Interessengemeinschaft. Er ist ganz hingerissen von Mr. Budges abscheulichen Vorschlägen. Ich nicht. Ganz im Gegenteil. Ich stehe auf Captain Stanhopes Seite.«

»Eine kleine lokale Fehde, wie?«

»Ich fürchte, es geht dabei um mehr als nur um eine persönliche Fehde zwischen zwei hitzköpfigen Männern«, gab Mrs. Stout zurück, offensichtlich mehr als bereit, sich weiter über dieses Thema auszulassen. »Es betrifft immerhin die ganze Ansiedlung. Stanhope, der schon vor mehreren Jahren von der Handelsmarine pensioniert wurde, ist der Kopf der Opposition. Seine Tochter, das bildhübsche Mädchen dort drüben, führt ihm den Haushalt - und hält nebenher noch ihren Vater in Schach. Ein prachtvoller Kerl, die kleine Penny!«

»Ja, sie ist mir auch schon aufgefallen«, pflichtete Roy mit einem Seitenblick auf Nora bei. »Hier trifft die Bezeichnung Pfirsichhaut wirklich zu. Und wie wundervoll sonnengebräunt sie ist. Dieser Kontrast zu dem prachtvollen blonden Haar!«

Nora schwieg, aber sie wurde ganz steif vor eisiger Ablehnung.

»Wissen Sie, Mr. Montgomery Budge hat nämlich den Stein ins Rollen gebracht«, fuhr Mrs. Stout redselig fort. »Dort drüben, das ist sein Haus Bellevue.« Sie deutete auf das langgestreckte, niedrige Gebäude mit den beiden Türmchen. »Er ist Millionär, das sieht man ja. Dienstboten noch und noch... Jeden Abend Partys und Feste. Dabei ist er erst achtundvierzig und wirkt bedeutend jünger. Sie haben doch bestimmt schon von Montgomery Budge gehört?«

»Meinen Sie den Hotelmillionär?«

»Ja. Überall hat er seine Hotels. Über das ganze Land verstreut... Und jetzt will er unsere Sandy-Beach-Siedlung auch noch schlucken. Sie in ein kleines Monte Carlo verwandeln, wie er sagt.« Mrs. Stouts Stimme bebte vor Entrüstung. »Ein Hotelhochhaus, Schwimmbassins, ein Spielkasino, Ziergärten - und so weiter.«

»Eine himmlische Idee!«, rief Nora begeistert aus.

»Es tut mir leid, Miss Jarrell - aber da stimme ich leider nicht mit Ihnen überein.« Es war verwunderlich, dass die kleine, rundliche Frau einen so kalten Ton anschlagen konnte. »Der Charme von Marling-on-Sea hat immer in seiner Ruhe und Abgeschiedenheit gelegen. Unser Strand ist berühmt wegen seiner Ausdehnung und seines feinen Sandes. Das Ufer fällt so allmählich ins Meer ab, dass es der ideale, sicherste Badeplatz für Kinder ist.«

»Montgomery Budge?«, grübelte Roy laut vor sich hin. »Ich dachte, er lebte in London und hätte außerdem noch einen Landsitz in der Grafschaft Shropshire? Dann ist dieses prachtvolle Anwesen da drüben wohl nur so eine Art Sommersitz für ihn?«

»Ja, genau«, bestätigte Mrs. Stout. »Bis zu diesem Sommer haben wir ihn allerdings kaum zu sehen bekommen. Seine Frau und die Kinder waren wohl öfter hier, um das Meer und die Sonne zu genießen. Aber er kam eigentlich nur an Wochenenden heraus - und auch dann nur gelegentlich. Dieses Jahr scheint er allerdings für den ganzen Sommer hier seine Zelte aufgeschlagen zu haben. Er ist jetzt schon seit Wochen hier und leitet seine Kampagne selbst.«

Nora lachte.

»Für einen Sommersitz ist das da allerdings das reinste Schloss«, meinte sie. »Ich muss schon sagen, ein schöneres Sommerhaus habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Springbrunnen... Personal... Rauschende Partys. Ist das ein Leben!«

»Dagegen wäre ja auch gar nichts einzuwenden, wenn er sonst hier alles beim alten ließe«, versetzte die Hotelbesitzerin schroff. »Aber diese fixe Idee von ihm, hier ein noch mondäneres Blackpool schaffen zu wollen, ist geradezu unerträglich. Er versucht jetzt jeden einzelnen Bungalow, jedes Häuschen aufzukaufen. - Nicht einmal vor meinem Hotel macht er halt. Er betont fortwährend, dass die Vorbedingungen hier geradezu ideal seien, und das will ich ja auch gar nicht leugnen. Marling liegt gerade in bequemer Entfernung von London, die Landschaft ist abwechslungsreich und reizvoll. Aber wir wollen nun einmal nicht, dass aus unserem verträumten Refugium ein Rummelplatz wird. Ich lebe jetzt zwanzig Jahre hier, ich habe mühsam und mit großer Geduld meinem Hotel einen ausgezeichneten Namen geschaffen, und ich denke gar nicht daran, das Feld zu räumen. Ich kämpfe bis aufs Messer, darauf kann er sich verlassen!« Flammende Empörung loderte aus ihren Augen. »Und eine Menge anderer Leute sind ganz meiner Meinung. Eine niederträchtige Idee, dieses liebliche, friedvolle Stückchen Erde in eine laute, künstlich aufgezäumte Imitation von Saint-Tropez verwandeln zu wollen.«

»Na, na! Eben war es noch Blackpool, jetzt ist es schon Saint- Tropez«, mischte sich Nora belustigt ein. »Also, was mich anbelangt, ich hätte gegen Saint-Tropez nichts einzuwenden!«

Roy Armitage warf Nora einen wütenden Blick zu, schwieg aber.

»Es ist ja ganz verständlich, Miss Jarrell«, versuchte Mrs. Stout lächelnd zu begütigen, »dass solch eine grundlegende Umwandlung jungen Leuten wie Ihnen bestimmt gefallen würde. Das ist ja auch nur natürlich. Aber deswegen müssen Sie noch lange nicht glauben, dass wir hier eine kleine Kolonie altmodischer Tapergreise wären. Junge Ehepaare kommen mit ihren Kindern jedes Jahr wieder zu uns. Und es ist eine reine Freude, dieses kleine Volk hier fröhlich und unbekümmert toben zu sehen.« Sie machte eine kleine Pause und wechselte übergangslos das Thema. »Wir haben hier im Augenblick unseren richtigen kleinen Bürgerkrieg. Mr. Budge ist fest entschlossen, uns hier alle aufzukaufen. Aber die Hälfte aller Anwohner ist ebenso entschlossen, es nicht dazu kommen zu lassen. Colonel Ross Andrews, dem Sunny Point gehört, ist dafür, zu verkaufen. Captain Stanhope hingegen, der Besitzer von Moorings, ist der Führer der Opposition. Dabei sind das jetzt alles nur kleine Vorhutgefechte, um sozusagen das Gelände zu sondieren. Oh, ja, unter der ruhigen Oberfläche friedlicher Ferienstimmung gärt es hier heftig, und der offene Kampf kann jeden Tag ausbrechen.«

»Und wer, denken Sie, wird gewinnen?«, erkundigte sich Roy.

»Wir natürlich!« kam es prompt und ohne jeden Zweifel zurück. »Mr. Budge mit all seinem Geld kann uns gestohlen bleiben. Zum Verkauf zwingen kann er uns nicht! Gewiss, es gibt Dummköpfe genug, die sich von seinen schönen Sprüchen einlullen lassen. Deshalb ist nächste Woche auch wieder eine Sitzung anberaumt. Es wird eine Menge Gerede dafür und dagegen geben. Und Sie dürfen dessen versichert sein, dass auch ich vortragen werde, was ich dazu zu sagen habe!«

 

Das Mrs. Stout gehörende Sandy Beach Hotel stand auf eigenem Grund und Boden. Zu beiden Seiten schlossen sich Bungalows und Ferienhäuschen an. Das blendendweiß verputzte Gebäude ragte zwischen den kleineren, meist dunklen Nachbarhäusern hervor wie ein Ozeandampfer zwischen emsigen Schleppern. Das langgezogene Hotel war im Schweizer Landhausstil erbaut. Es hatte eine Veranda auf allen vier Seiten, sowie einen Balkon im ersten Stock, ebenfalls rundherum gebaut. Ein grün gestrichenes Spalier, an dem sich bunte Blumen emporrankten, gab der Front ein freundliches Aussehen. Ein weiter, kiesbestreuter Vorhof und ein breiter, rund um das Haus angelegter Weg boten hinlängliche Parkmöglichkeit. Der in der Mitte liegende, von zwei Buchsbäumen flankierte Haupteingang war modern und verlieh durch seine großzügige Bauweise dem Haus ein ausgesprochen herrschaftliches Aussehen.

Die Terrassentüren der Halle standen weit offen; an der rückwärtigen Wand konnte man noch einmal bis zum Boden reichende Glastüren erkennen, die in den Speisesaal führten. Jetzt um diese abendliche Stunde waren die Türen des Speisesaales geschlossen.

Als Roy Armitage, Nora Jarrell und Mrs. Stout gemächlich auf das Hotel zugingen, wurden sie von einem luxuriösen, wenn auch stellenweise verbeulten Austin-Healey-Sportkabriolett überholt. Mit knirschenden Reifen bog der Fahrer in einer rasanten Schleife auf den weitläufigen Parkplatz vor dem Hotel ein und kam schlitternd zum Stehen.

Der junge Mann, der schwungvoll herauskletterte, schien nicht mehr so ganz sicher auf den Beinen, als er durch die offenen Verandatüren die Halle betrat. Noch im Eingang blieb er stehen und sah sich unsicher um.

Nur zwei Tische der geschmackvoll eingerichteten Halle waren besetzt: zwei junge Ehepaare, Mr. und Mrs. Meadows und Mr. und Mrs. Wiles - die mit ihren Kindern Gäste des Hotels waren -, hatten es sich hier bequem gemacht. Entspannt in die großen Sessel zurückgelehnt, zufrieden, die lärmende kleine Schar endlich gut aufgehoben in den Betten zu wissen, genossen sie das Fernsehprogramm. Ein friedliches, harmonisches Bild.

»Was für einen Quatsch sehen Sie sich denn da an?«, unterbrach der Neuankömmling mit lauter Stimme die friedvolle Atmosphäre. »Scheint mir ja ein uralter Schinken zu sein! Oh, was soll’s - so ein verdammter Mist!«

Er warf sich in einen Sessel. Die beiden Ehepaare betrachteten den jungen Mann mit deutlichem Missfallen. Sie wussten, dass er kurz vor dem Abendessen im Hotel eingetroffen war. Er hatte sich auch gleich in nicht zu übersehender Weise bemerkbar gemacht, als er bereits innerhalb der ersten fünf Minuten mit den beiden Serviererinnen, Sally und Edna, ein Techtelmechtel anzuknüpfen versuchte.

Er hieß Reginald Irby. Wenn einem der südländische Typ lag, konnte man ihn zweifelsohne als anziehend bezeichnen. Anmaßung und Arroganz sprachen jedoch aus jedem seiner Worte, aus jeder Geste. Sein Lieblingssport schien es zu sein, mit jedem nur in Reichweite befindlichen Mädchen sofort zu flirten.

Im Augenblick liebäugelte er mit der jungen und bildhübschen Mrs. Wiles. An Mrs. Meadows mit ihrem langen, pferdeähnlichen Gesicht und den vorstehenden Zähnen wandte er keinen Blick.

»Der Teufel soll mich holen«, platzte er rücksichtslos in das Fernsehprogramm, »wenn ich verstehe, was Sie an einen derart langweiligen Ort verschlagen hat. Na ja, ich habe mich ebenso geirrt. Irgend so ein verdammter Narr hat mir da einen schönen Bären aufgebunden. Er erzählte mir, es wäre der Ort zum Ferienmachen, von dem man immer träumte. Eine schöne Bescherung! Was finde ich? Ein Hotel, das noch nicht mal eine Genehmigung zum Ausschank von Alkohol hat. Muss doch tatsächlich extra in den Ort fahren, um im Marling Arms einen Tropfen zu bekommen. Nun, es hat alles seine zwei Seiten im Leben. Und wie ich sehe, gibt es auch hier Lichtblicke.«

Zustimmend tastete sein Blick Mrs. Wiles ab, besonders lange auf ihren schlanken, übergeschlagenen Beinen verharrend. Sie wurde dunkelrot und zog mit einer hastigen Bewegung den Rocksaum tiefer. Dann sah sie ihn eisig und feindselig an.

»Und erst der Strand!«, fuhr Irby, nicht im geringsten beeindruckt fort. »Bin vor einer Stunde hinuntergegangen, um mal das Meer in Augenschein zu nehmen. Und, ob man es glaubt oder nicht, weit und breit ist kein Wasser zu sehen. Nichts als Sand! Also, so was habe ich noch nie erlebt.«

»Es dürfte Ihrer Aufmerksamkeit vollkommen entgangen sein«, unterbrach ihn Geoffrey Wiles, »dass wir uns gerne das Fernsehstück ansehen möchten.«

»Was denn, diesen Unsinn?«, spottete Irby.

Er lehnte sich noch weiter und bequemer zurück, holte dann langsam ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und steckte sich lässig eine an.

»So halten Sie doch endlich den Mund!«, fuhr jetzt der andere Ehemann verärgert dazwischen.

»Wenn Sie in diesem Ton mit mir reden wollen, mache ich mich wohl besser aus dem Staub«, gab Irby beleidigt zurück. »Aber weshalb eigentlich? Wie komme ich dazu! Diese Halle ist für alle da, und ich habe genauso gut wie Sie das recht, mich hier aufzuhalten. Schließlich bin ich ebenso Hotelgast.« Die Worte klangen undeutlich. »Was sage ich da? Hotel? Das ist ja schon mehr ein Krematorium!«

Die Terrassentür öffnete sich, und Mrs. Stout kam herein, hinter ihr Roy und Nora. Mrs. Stouts sonst so gutmütiges Gesicht war vor Zorn gerötet.

»Sie haben wohl nicht bemerkt, dass ich inzwischen eingetreten bin, Mr. Irby«, bemerkte sie kurzangebunden. »Aber wenn Ihnen mein Hotel derart missfällt, sehe ich keinen Grund, weshalb Sie länger bleiben sollten.«

Reginald Irby fuhr in seinem Stuhl herum und brach in schallendes Gelächter aus.

»Tut mir leid, meine charmante Gastgeberin!«, entschuldigte er sich. »War ja gar nicht so gemeint. Ihr Hotel ist natürlich ganz reizend. Ich hatte, als ich mein Zimmer bei Ihnen vorbestellte, bloß gedacht, hier könnte etwas mehr los sein.«

»Mein Haus ist auf Gäste eingestellt, die Ruhe und Entspannung suchen, Mr. Irby«, wies ihn die Besitzerin kühl zurecht. »Und auf Kinder.« Sie warf einen Blick zum Fernsehapparat hinüber. »Aber ich hoffe, ich habe hier nicht gestört.«

»Ganz im Gegenteil, Mrs. Stout«, fiel Mr. Meadows rasch ein. »Das Stören hat Mr. Irby bereits besorgt. Wir haben den Faden ohnehin schon verloren.« Er stand auf und schaltete das Gerät aus. »Einverstanden, Mr. Wiles?«

Roy, dem die feindseligen Schwingungen nicht entgingen, mischte sich hastig ein. »Was diesen lokalen Machtkampf anbetrifft, Mrs. Stout...«, sagte er. »Wann wird denn die endgültige Abstimmung vorgenommen werden?«

»Das wissen wir noch nicht. Es ist auch im Prinzip nicht nur eine Frage der Abstimmung. Es gibt immer noch Leute, die nur darauf brennen, Mr. Budges Angebot anzunehmen...«

»Ach ja! Was ist eigentlich wahr an diesem ganzen Palaver?«, unterbrach Irby sie rücksichtslos. »Mir ist in dem Wirtshaus auch schon davon zu Ohren gekommen. Irgendeine große Gesellschaft oder ein Millionär ist darauf aus, hier alles aufzukaufen, um ein riesiges Vergnügungszentrum aufzubauen, stimmt’s? Superhotel, Spielkasino, Swimmingpools und so weiter. Tolle Idee! Es geht doch nichts über ein bisschen Jubel, Trubel, Heiterkeit.«

»Sehen Sie, genau das finde ich ja auch!«, stimmte Nora begeistert zu und sah Irby strahlend an. »Das Dumme ist bloß, dass die Preise steigen werden, sobald man hier ein Las Vegas im Kleinen aufgebaut haben wird. Dann können wir uns hier keinen Urlaub mehr leisten.«

»Leisten - darum brauchen Sie sich doch wohl keine Kopfschmerzen zu machen«, lachte Irby. »Ein Mädchen wie Sie sollte doch spielend jemanden finden, der es als ein Vergnügen betrachtet, die Rechnung für Sie begleichen zu dürfen.« Er schüttelte sich geradezu vor Wonne. »Übrigens, da wir gerade beim lieben Geld sind...« Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog eine von Geldscheinen überquellende Brieftasche heraus. »Ich gedenke aus der Zeit hier das Beste zu machen. Will meinen Urlaub in vollen Zügen genießen! Wer hätte denn Lust, mir dabei zu helfen, das hier auf den Kopf zu hauen?«

Der eindeutige Blick, den er Nora gleichzeitig zuwarf, konnte nur als eindeutige Aufforderung gewertet werden. Das war auch Roy klar, und er fühlte glühenden Zorn in sich aufsteigen. Irby war ihm ohnehin vom ersten Augenblick an unsympathisch gewesen. Dieser Mann mit dem glänzenden dunklen Haarschopf sah wie ein Schürzenjäger aus. Mit seinen unverschämten, zudringlichen Blicken und den südländischen Gesichtszügen war er genau der Typ, auf junge Mädchen unwiderstehlich zu wirken. Was Roy so tief verstimmte, war, dass Nora offensichtlich zu diesen gehörte, denn sie lächelte Irby geradezu hinreißend an.

»Wie wär’s denn noch mit einem kleinen Drink, mein Fräulein?«, forderte Irby Nora jetzt unvermittelt auf, sie gleichzeitig am Arm fassend. »Spät genug ist es ja allmählich. Und der Tag war bestimmt anstrengend.«

»Lassen Sie doch den Unsinn!«, gab Nora ungehalten zurück und befreite sich aus seinem Griff. »Ich finde es hier in der Halle sehr gemütlich. - Wie lange haben Sie denn vor zu bleiben, Mr. Irby?«

Reginald Irby betrachtete sie mit einem wohlgefälligen Blick.

»Vor zehn Minuten war ich noch fest entschlossen, morgen hier meine Zelte abzubrechen«, erklärte er. »Aber inzwischen habe ich es mir anders überlegt. Ich hatte mein Zimmer für vierzehn Tage bestellt, und - siehe da! - Marling-on-Sea gefällt mir plötzlich gar nicht mehr so schlecht. Es bietet Reize, die ich erst jetzt bemerkt habe.«

Augenscheinlich hatte Irby mehr getrunken, als gut für ihn war, und der Alkohol hatte seine Zunge bedenklich gelockert.

Mrs. Stout sagte allen gute Nacht und ging. Offensichtlich konnte sie Irbys anmaßendes Gerede nicht länger ertragen. Wenig später erhoben sich die beiden jungen Ehepaare und verkündeten, ebenfalls schlafen gehen zu wollen.

»Für uns wird es, glaube ich, wohl auch Zeit«, meinte Roy und nahm nun seinerseits Nora fest beim Arm. »Komm, gehen wir hinauf! Was meinst du, wie wundervoll morgen früh die Welt aussieht, wenn du ausgeschlafen aufwachst und die Sonne bei dir zum Fenster hereinscheint.«

Irby absichtlich den Rücken zukehrend, schob er Nora mit sanfter Gewalt vor sich her aus der Halle. Sie folgte widerstrebend, er hob jedoch keinen Einwand. Hinter ihnen lachte Irby belustigt vor sich hin. Dieses Lachen trieb Roy zur Weißglut.

Er ließ Noras Arm nicht los, bevor sie im ersten Stock vor Noras Zimmer, Nummer 12, angekommen waren.

Zu sagen gab es nichts mehr. So gab er ihr schweigend einen Gutenachtkuss und bemerkte sehr wohl, dass sie diesen nur kalt und gefühllos erwiderte.

Er wandte sich ab und ging zu seinem Zimmer, Nummer 16, um die Ecke des L-förmig verlaufenden Flurs. Er trat ein, schaltete das Licht an, schloss die Tür und setzte sich auf das Bett.

»Verdammt!«, machte er seiner angestauten Wut Luft. Er fühlte sich leer und niedergeschlagen. Seine Ferien entwickelten sich so ganz anders, als er es sich erhofft hatte. Er liebte Nora von ganzem Herzen. Umso mehr beunruhigte und kränkte ihn ihre gereizte Stimmung während des ganzen Abends. Seine gute Laune war verflogen und hatte mutloser Erschöpfung Platz gemacht. Und jetzt, um allem die Krone aufzusetzen, noch ihr unbegreifliches Verhalten Reginald Irby gegenüber. Ihre Bereitschaft, sich dessen Avancen nicht nur anzuhören, sondern sogar darauf einzugehen. Abermals stieg die Wut siedend heiß in ihm auf.'

»Wenn dieser Blender nicht von jetzt ab seine Finger von Nora lässt«, tobte Roy, »schlage ich ihn kurz und klein!«

Innerlich noch kochend vor Zorn, tastete er seine Taschen nach Zigaretten ab. Er fand das Päckchen und wollte eine herausnehmen. Leer... Zu dumm! Nie sehnt man sich mehr nach einer Zigarette, als wenn gerade keine verfügbar ist.

Dann kam ihm der rettende Gedanke: Nora hatte ja noch ein nahezu volles Päckchen in ihrer Handtasche. Inzwischen würde sie noch keine Zeit gefunden haben, sich auszuziehen.

So stürzte er aus dem Zimmer, lief den Flur entlang, bog um die Ecke - und blieb wie angewurzelt stehen.

Reginald Irby war eindeutig dabei, unverschämterweise in Noras Zimmer einzudringen.

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Roy Armitages erste Reaktion war typisch für ihn. Von Natur aus impulsiv und durch diesen unverschämten Burschen aufs tiefste in seinem Besitzerstolz getroffen, stürzte er wutentbrannt vorwärts. Ohne zu überlegen, hastete er auf Zimmer 12 zu und hielt erst an, als er die halb offenstehende Tür erreicht hatte.

Reginald Irby stand Nora dicht gegenüber, gleich neben dem Fußende des Bettes. Und Roy stellte als erstes erleichtert fest, dass sie tatsächlich noch keine Zeit gefunden hatte, mit dem Auskleiden anzufangen.

»Wer ist dieser Bursche eigentlich, der da unentwegt um Sie herumscharwenzelt?«, erkundigte sich Irby gerade. »Ein Trottel, wenn ich je einen gesehen habe...«

»Das dürfen Sie nicht sagen, Mr. Irby«, protestierte Nora, lachte dabei aber so belustigt auf, dass es ihren Worten jede Überzeugungskraft nahm. »Roy und ich sind befreundet.«

»Sind Sie verlobt?«

»Nein, nicht richtig jedenfalls.«

»Warum schicken Sie ihn dann nicht dorthin, wo der Pfeffer wächst?«, wollte Irby wissen. »Sie und ich - wir könnten zusammen eine Menge Spaß haben...«

»Wie kommen Sie überhaupt dazu, unaufgefordert mein Zimmer zu betreten?«, fiel Nora neckend ins Wort. »Sie scheinen ganz zu übersehen, dass es sich um ein Schlafzimmer handelt.«

»Und außerdem scheinen Sie übersehen zu haben, Sie aufdringlicher Laffe, dass Miss Jarrell mein Mädchen ist!«, brüllte Roy, der gleichzeitig die Tür ganz aufstieß und ins Zimmer getobt kam. »Machen Sie, dass Sie rauskommen! Und zwar ein bisschen plötzlich!«

Irby, vollkommen unbeeindruckt, wandte sich mit beleidigender Langsamkeit um. »Ich gehe, wann es mir passt«, versetzte er knapp.                 

»Sie gehen augenblicklich, in dieser Sekunde, oder ich werfe Sie eigenhändig hinaus! Haben Sie verstanden?« Roy war vollkommen außer sich: »Wer zum Teufel, glauben Sie eigentlich, dass Sie sind, hier einfach in Miss Jarrells Schlafzimmer eindringen zu dürfen?«

»Du liebe Güte! In was für einer Zeit leben Sie eigentlich - achtzehnhundertachtundachtzig?«, spottete Irby. »Ich bin hier, weil ich mit Miss Jarrell noch etwas ganz ruhig und freundschaftlich zu besprechen hatte. Und für Sie, mein Freund, besteht kein Grund, hier gleich ein Rad zu schlagen wie ein Pfau.«

»Wollen Sie jetzt gehen, oder soll ich Sie eigenhändig vor die Tür setzen?«, fragte Roy, der sich mit vor Wut funkelnden Augen Irby langsam näherte. »Ich gebe Ihnen eine letzte Frist von zehn Sekunden!«         

Irby war kein Dummkopf. Roys kriegerische Miene war unmissverständlich. Die wütend geballten Fäuste sprachen deutlich genug. Auf Irbys gutgeschnittenem, eben noch zynisch verzogenem Gesicht erschien jäh ein gewinnendes Lächeln.

»Schon gut... Es lohnt nicht, deswegen einen Streit vom Zaun zu brechen... Ich gehe ja schon«, erklärte er, einen großen Bogen um sein hochgewachsenes, durchtrainiertes Gegenüber schlagend, um die Tür zu erreichen. »Also dann bis morgen, Miss Jarrell.«

Nonchalant verschwand er, ohne sich die Mühe zu nehmen, die Tür hinter sich zu schließen.

Roy, zornrot, wandte sich Nora zu. Und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Ihr hübsches Gesicht war vor Wut verzerrt. Aus den sonst so warm blickenden Augen schossen funkelnde Blitze.

»Weshalb musst du dich eigentlich wie ein Kindskopf aufführen, Roy?«, fuhr sie ihn mit vor Erregung heiserer Stimme an. »Was war denn schließlich dabei? Er hat sogar die Tür offenstehen lassen, falls dir das entgangen sein sollte.«

»Dabei!«, schnaubte Roy. »Er hat mich einen Trottel genannt!«

»So, du hast also draußen gelauscht?« Sie konnte sich kaum mehr bezähmen. »Wie höflich, wie diskret von dir!« Giftig musterte sie ihn von Kopf bis Fuß. »Wenn du es ganz genau wissen willst - du bist ein Trottel! Mir scheint, ich sehe dich zum ersten Mal im richtigen Licht. Ich hasse dich!«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein. Nora...«

»Es ist mein voller Ernst - und du tätest gut daran, jetzt zu verschwinden!«, unterbrach sie ihn, rasend vor Zorn. »Oder gedenkst du hier zu bleiben, während ich mich ausziehe und schlafen gehe? Das würde dir wohl so gefallen, wie?«

Roy war empört. Er war zwar bestimmt nicht prüde, aber er hatte ganz fest umrissene Vorstellungen von dem, was schicklich war. Und plötzlich wurde es ihm bewusst, dass er hier genau das tat, was er Irby eben zum Vorwurf gemacht hatte. Er befand sich in Noras Schlafzimmer, wo er nicht das Geringste zu suchen hatte.

Ohne ein Wort der Entgegnung wandte er sich ab und ging hinaus. Sekunden später, kaum draußen auf dem Flur, bereute er diesen brüsken Abgang bereits. Er hätte ihr noch so viel zu sagen gehabt. Aber umkehren und zurückgehen wollte er nicht.

Mit fest zusammengepressten Lippen, einen dicken Kloß im Hals, kehrte er in sein eigenes Zimmer zurück. Dort schloss er die Tür, ließ sich abermals auf sein Bett sinken und atmete schwer.

Ein schöner Ferienanfang! Nora schlecht gelaunt, seit sie hier eingetroffen waren, und nun auch noch ein Streit vor dem Schlafengehen! Damit hatte er alles nur noch verschlimmert.

»So ein Blödsinn!«, schimpfte er wütend vor sich hin.

Etwas später begann er sich langsam zu beruhigen. Und jetzt fiel ihm ein, dass er über dem ganzen Theater vollkommen vergessen hatte, weswegen er eigentlich zu Nora hinübergegangen war. Immer noch saß er ohne eine Zigarette da, und seine Gier danach begann nachgerade unerträglich zu werden.

Nach zehn Minuten der widerstreitendsten Empfindungen stand er auf, öffnete seinen Koffer und begann auszupacken. Wo, zum Teufel, steckte denn bloß sein Pyjama? Hemden, Socken, Unterwäsche, alles flog wild ins Zimmer, bis er sich endlich bis zu dem Pyjama durchgewühlt hatte. Ungestüm riss er ihn heraus. Und - ah! - ganz unten auf dem Boden des Koffers lag ein neues, noch nicht angebrochenes Päckchen Zigaretten, das er vollkommen vergessen hatte. Mit bebenden Fingern riss er die Packung auf, und gleich darauf inhalierte er genussvoll.

Die Wirkung war wunderbar beruhigend. Er vergaß den Pyjama und trat durch die offene Tür auf den Balkon hinaus, wo er zuvor schon einen Liegestuhl bemerkt hatte. Bequem zurückgelehnt, saß er kurz darauf da und bedachte in der lauen Sommernacht seine verfahrene Situation.