GUTE ERHOLUNG, INSPEKTOR CROMWELL - Victor Gunn - E-Book

GUTE ERHOLUNG, INSPEKTOR CROMWELL E-Book

Victor Gunn

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Beschreibung

Seinen Jahresurlaub verbringt Chefinspektor William »Old Iron« Cromwell normalerweise beim Forellenfischen im ländlichen England. Dieses Mal konnte ihn Sergeant Johnny Lister, sein Assistent und Freund, jedoch zu einer Auslandsreise ins sommerliche Venedig überreden. Damit die Ferien ungestört bleiben, schließt sich das berühmte Duo unter falschen Namen einer Reisegesellschaft an... Der Roman GUTE ERHOLUNG, INSPEKTOR CROMWELL von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

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VICTOR GUNN

 

 

GUTE ERHOLUNG,

INSPEKTOR CROMWELL

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

GUTE ERHOLUNG, INSPEKTOR CROMWELL 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Impressum

 

Copyright © by Victor Gunn/Signum-Verlag.

Original-Titel: All Change For Murder.

Übesetzung: Irene von Berg.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg

Cover: Copyright © by Christian Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

[email protected]

Das Buch

 

 

Seinen Jahresurlaub verbringt Chefinspektor William »Old Iron« Cromwell normalerweise beim Forellenfischen im ländlichen England. Dieses Mal konnte ihn Sergeant Johnny Lister, sein Assistent und Freund, jedoch zu einer Auslandsreise ins sommerliche Venedig überreden.  

Damit die Ferien ungestört bleiben, schließt sich das berühmte Duo unter falschen Namen einer Reisegesellschaft an...

 

Der Roman Gute Erholung, Inspektor Cromwell! von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1962.  

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur. 

  GUTE ERHOLUNG, INSPEKTOR CROMWELL

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Der Schuss schien aus dem Nichts zu kommen...

Der Fernschnellzug im Londoner Victoria-Bahnhof war um 15.50 Uhr, zehn Minuten vor der planmäßigen Abfahrt, nahezu voll besetzt mit Ferienreisenden. Gerade als eine Lokomotive auf dem Gleis daneben unter schrillem Lärm Dampf ausstieß, summte die Kugel durch den Eingang zu einem Waggon erster Klasse und grub sich in die Holzfüllung der gegenüberliegenden Wagentür ein.

Zwei oder drei Personen kamen um Haaresbreite mit dem Leben davon. Major Claude Thornton, der gerade in diesem Augenblick den Waggon bestieg, fuhr herum und hob die Hand, als wolle er eine Fliege abwehren; eine kleine, ältere Dame zuckte zusammen und stellte sich erstaunt die Frage, was da wohl eben an ihrem Ohr vorbeigezischt war. Derek Barnes, der sich hinter Major Thornton mit einem riesigen Koffer abplagte, bemerkte überhaupt nichts. Er musste sich sehr anstrengen...

Immerhin seltsam. Nicht eine dieser Personen ahnte, dass der Todesengel eben an ihnen vorübergehuscht war. Wer hätte auch auf die Idee kommen können, dass in einem der größten Bahnhöfe Englands Kugeln umherflogen?

Derek Barnes, das gutmütige Gesicht schweißüberströmt, zwängte sich durch den Korridor, bis er das Abteil erreichte, in dem seine Verlobte saß. Sie lächelte ihn erleichtert an.

»Endlich! Ich dachte schon, du hättest dich verirrt«, sagte sie.

»Was zum Teufel, hast du bloß in diesem Ungetüm verstaut?«, keuchte Derek, als er den Koffer ins Gepäcknetz stemmte. »Mein Reisekoffer ist höchstens halb so groß.«

»Du bist ja auch ein Mann und musst dich nicht so oft umziehen«, erwiderte sie gleichgültig. »Bist du sicher, dass der Koffer da oben richtig liegt? Warum muss er ausgerechnet da oben hin? Wenn der Zug plötzlich hält, fällt mir der Koffer bestimmt auf den Kopf!«

Enid Spencer war ein auffallend hübsches Mädchen; blondes Haar, blaue Augen und ein dunkelrot geschminkter Mund, dazu ein wohlgeformter, ein wenig üppiger Körper - es gab nur sehr wenige Männer, die sich nicht nach ihr umdrehten.

»Er fällt schon nicht runter«, lachte Derek. »Ist das mein Platz? Gut. Ich bin froh, dass wir Eckplätze bekommen haben.« Er wandte sich zur Tür. »Ich muss meinen Koffer noch holen. Er steht draußen auf dem Bahnsteig. Weit und breit ist wieder mal kein Gepäckträger zu sehen.«

Sie rief ihm etwas nach, als er das Abteil verließ, aber er hörte es nicht mehr. Zwei Minuten später kehrte er mit einem kleineren Koffer zurück.

»Hast du mir ein paar Illustrierte mitgebracht?«, fragte sie ihn. »Ich hab’ dich doch darum gebeten.«

»Tut mir leid, Liebes, ich hab’s vergessen.«

»Natürlich! Was soll ich denn jetzt lesen?«, fragte sie schmollend. »Kannst du denn nicht noch mal rausgehen?«

»Da müssen Sie sich aber beeilen, junger Mann. In fünf Minuten fahren wir ab«, sagte Major Claude Thornton, der in diesem Augenblick das Abteil betrat. »Ist hier noch ein Platz frei?« Er lächelte die Mitreisenden freundlich an, wandte sich aber dann sofort wieder an Enid. »Wenn Ihr Mann schnell...«

»Er ist nicht mein Mann«, unterbrach ihn das Mädchen schnippisch. »Wir sind noch nicht verheiratet.«

»Entschuldigen Sie«, sagte der Major. Er fand seine Vermutung gar nicht so abwegig. Ihr Ton Derek gegenüber deutete doch eher auf eine gesetzlich sanktionierte Verbindung hin.

»Ich glaube, ich schaffe es noch«, murmelte Derek.

Er fluchte innerlich, als er sich an anderen Reisenden vorbei zum Ausgang drängelte. Warum nörgelte Enid immer an ihm herum? Er konnte es nicht ertragen, wenn sie diesen Ton anschlug, schon gar nicht vor Fremden. Und was für Fremden! Alle diese Leute hatten bei Baker eine Urlaubsreise gebucht, aber von Vergnügen schien gar keine Rede zu sein. Vor allem der ältere Mann mit dem mürrischen Gesicht in der anderen Ecke machte eher den Eindruck, als befinde er sich auf dem Weg zu einer Beerdigung; sein Begleiter, ein wesentlich jüngerer Mann, hatte ihn die ganze Zeit missbilligend angestarrt.

Derek vergaß sie, als er vor der Waggontür mit einem Mann zusammenprallte. Der Fremde zögerte unschlüssig, dann sprang er wieder auf den Bahnsteig hinaus und trat einem anderen Mann in den Weg, der eben herbeieilte.

»Du hast ja schön gepfuscht«, sagte der Fremde.

»Ich kann nichts dafür, irgend so ein Trottel kam mir dazwischen«, murmelte der andere. »Meinst du vielleicht, mir macht’s Spaß? Ich dachte, wir könnten die Sache regeln, bevor der Zug abfährt. Jetzt wird es natürlich schwieriger werden.«

»Gott sei Dank hat niemand etwas gemerkt. Komm, steigen wir ein. Der Zug fährt gleich ab.«

Sie eilten zu einem anderen Waggon und mischten sich dort unter die Reisenden. Wie konnten die Leute auch ahnen, dass einer dieser Männer vor fünf Minuten am Fenster einer Herrentoilette gestanden und mit einem Gewehr auf einen Reisenden gezielt hatte? Nur durch einen unvorhergesehenen Zufall war ein Mord verhütet worden. Ohne es zu ahnen, war Derek Barnes dafür verantwortlich. Er war im entscheidenden Augenblick mit Major Thornton zusammengestoßen und hatte dadurch das Opfer gedeckt.

Als Derek vom Zeitungsstand zum Zug hastete, bemerkte er, dass ihm Zeit genug blieb. Ein paar Nachzügler hoben eben ihr Gepäck in die Waggons. Ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen schleppte vor Derek ihren schweren Koffer am Zug entlang. Das schwarze, wellige Haar fiel ihr fast bis auf die Schulter.

Ganz plötzlich löste sich der Griff ihres Koffers an einer Stelle aus der Halterung, und das Gepäckstück fiel zu Boden. Entsetzt blieb das Mädchen stehen.

Derek spürte den Appell an seine Rittertugenden und eilte zu ihr.

»Alles keine Qualität mehr heutzutage«, sagte er, als er den Koffer aufhob und sich ihn unter den Arm klemmte. »Aber das haben wir gleich.« Er warf einen Blick auf das Namensschild am Koffer. »Ich sehe, dass Sie auch erster Klasse reisen, Miss Greenwood. Am besten kommen Sie gleich mit mir.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte sie atemlos.

Sie trug ein blaues Jumperkleid, das Derek sehr gut gefiel. Ihr zartes, elfenhaftes Gesicht brachte ihm unangenehm in Erinnerung, wie sehr Enids vulgärer Typ dagegen abfiel... Er schob diesen Gedanken schnell beiseite.

»Ich wollte Sie natürlich nicht aufhalten«, sagte sie, als Derek in den Waggon stieg. »Bitte, bemühen Sie sich nicht. Sie können den Koffer hier stehenlassen...«

»Nein, ich besorge Ihnen noch einen Platz«, unterbrach er sie und zwängte sich an den Reisenden im Korridor vorbei. »Hier vielleicht?«, fragte er, als er in ein Abteil starrte, in dem nur vier Leute saßen. »Leider scheint kein Fensterplatz mehr frei zu sein.«

»Das macht gar nichts.« Sylvia Greenwood sah ihm dankbar zu, als er den Koffer ins Gepäcknetz hob. »Sie haben sich wirklich sehr viel Mühe gemacht. Recht herzlichen Dank...«

»Donnerwetter!«, rief Derek erfreut. Er hatte eben das Aufklebeschild auf dem Koffer bemerkt. »Ich sehe, dass Sie auch im Hotel Villa Esta wohnen werden. Ich habe ebenfalls für dort gebucht.«

»Tatsächlich? Das ist aber nett.«

Sie sagte das so überzeugend, dass Derek sich interessiert umdrehte. Er spürte jedoch, dass ihn die anderen Reisenden nicht gerade begeistert anstarrten.

»Ist jetzt alles in Ordnung?«, fragte er, als er zur Tür ging. »Schön. Vielleicht komme ich später noch einmal vorbei und kümmere mich um den abgerissenen Griff.«

Dass er hier doch ein wenig zu viel versprochen hatte, merkte er sofort, als er zu Enid ins Abteil nebenan zurückkehrte. Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, und er beherrschte sich nur mit Mühe. Wenige Augenblicke später setzte sich der Zug in Bewegung.

»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte er unnötigerweise.

Sie beugte sich vor und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, aber er stellte doch mit einiger Überraschung fest, welche Schärfe sie selbst einem Flüstern verleihen konnte.

»Musstest du dich um das junge Ding wirklich so bemühen? Mich wundert nur, dass du sie nicht mit ins Abteil gebracht hast!«

»Na, hör mal!«, protestierte er und sah sich verlegen nach den anderen Reisenden um, die jedoch alle mit sich selbst beschäftigt zu sein schienen. »Der Griff an ihrem Koffer riss ab, und ich musste ihr helfen.«

»Warum denn? Wofür gibt’s denn Gepäckträger? Und wo sind übrigens meine Illustrierten? Ich dachte, du wolltest zum Zeitungsstand gehen?«

»Da war ich ja auch. Ich hatte die Zeitungen... Ach, du meine Güte!« Derek machte ein betroffenes Gesicht. »Ich muss sie verloren haben, als ich den Koffer schleppte... Entschuldige, Enid. Das war sehr ungeschickt von mir. Vielleicht liegen die Zeitungen irgendwo im Korridor.«

»Du brauchst gar nicht nachzusehen«, erwiderte Enid mürrisch. »Jetzt will ich sie sowieso nicht mehr.«

Sie lehnte sich zurück, um zu zeigen, dass sie das Gespräch als beendet betrachtete. Derek biss die Zähne zusammen. Warum war sie eigentlich immer sofort eingeschnappt? Eifersucht konnte es ja nicht sein, denn er hatte mit dem anderen Mädchen nur zwei oder drei Minuten gesprochen. Enid musste ihn durchs Abteilfenster beobachtet haben... Aber natürlich, es war doch Eifersucht.

Er starrte Enid an und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum er jemals auf die Idee gekommen war, sich mit ihr zu verloben. Er bemühte sich, diesen Gedanken zu verscheuchen. Alles war in Ordnung gewesen, bis sie die Vorbereitungen zu dieser Reise getroffen hatten. Zwei Wochen in Venedig - das war immerhin kein Pappenstiel - so eine Art Probehochzeit -, wenn auch an seinen wohllöblichen Absichten nicht zu zweifeln war...

Richtig - er hatte bis jetzt nicht mehr als jeweils einen ganzen Abend mit ihr verbracht. Wenn sie miteinander ausgegangen waren, zum Essen oder ins Theater, hatte sie sich als fröhliche und glückliche Partnerin gezeigt - mit sanfter, zärtlicher Stimme und schmelzendem Blick. Jene andere Seite ihres Charakters war erst während der Vorbereitungen für die Urlaubs reise zutage getreten.

Und Derek war von Natur aus ein gutwilliger Mensch - groß, kräftig, impulsiv und manchmal ein wenig ungeschickt. Er hatte sich in der Firma Burden Television vom einfachen Angestellten bis zum stellvertretenden Verkaufsleiter hochgearbeitet, und erst nach seiner Beförderung war er mit Enid zusammengetroffen...

Enid Spencer war dreiundzwanzig Jahre alt und arbeitete bei seinem Chef, Mr. Humphrey Burden, als Privatsekretärin. Nachdem er ihr dienstlich ein paarmal begegnet war, hatte er sich in sie verliebt und ihr schon ziemlich bald einen Antrag gemacht. Er war doch ein wenig überrascht gewesen, als sie sich sofort bereit erklärt hatte, seine Frau zu werden. Vielleicht wurde ihre Entscheidung auch dadurch beeinflusst, dass sie über Dinge orientiert war, von denen er nichts ahnte. Sie wusste zum Beispiel, dass er in Kürze zum Verkaufsdirektor befördert werden sollte, womit natürlich ein beträchtlicher Gehaltszuwachs verbunden war.

Derek gestattete sich einen unterdrückten Seufzer. Wenn sie nur nicht so launisch wäre! Na ja, vielleicht wirkte diese Urlaubsreise Wunder. Enid hatte sicher zu viel gearbeitet... Sein Gedankengang wurde von einer lauten, aufdringlichen Stimme unterbrochen. Derek sah sich um und stellte fest, dass Major Claude Thornton eben dabei war, Kontakt zu seinen Mitreisenden aufzunehmen.

»Dann wollen wir uns mal bekannt machen!«, sagte er jovial. »Wir fahren doch sicher alle nach Venedig, nicht wahr? Ich wohne dort im Hotel Villa Esta.«

»Wir auch«, erwiderte Derek lächelnd.

»Aha, die Flitterwochen!«, meinte Thornton verständnisvoll und sah Enid an. »Oh, Entschuldigung, Sie sagten mir ja schon, dass Sie noch nicht verheiratet sind. Übrigens, meinen Glückwunsch, junger Mann. Sie haben sehr guten Geschmack.«

Enid lachte. »Das war wohl als Kompliment gedacht?«, fragte sie und blinzelte dem Major zu. »Wir werden uns wohl in Venedig sehr oft sehen, da wir alle im gleichen Hotel wohnen.«

»Großartig«, begeisterte sich Thornton.

Es dauerte ein bisschen, bis jeder seinen Namen nannte, und es schien dem Major schwerzufallen, die Augen von Enid loszureißen. Das entging ihr natürlich nicht, und sie zeigte sich geschmeichelt.

Der Major war anscheinend entschlossen, keine Außenseiter zu dulden, denn er wandte sich an den älteren Mann, der mit mürrischem Gesicht in der anderen Ecke saß.

»Wie steht’s mit Ihnen, Sir? Haben Sie auch im Hotel Villa Esta gebucht?«, fragte der Major neugierig.

Der andere warf ihm einen grimmigen Blick zu und sagte: »Jawohl, Sir, ich wohne im Hotel Villa Esta - wie mein junger Freund hier. Wir hoffen, einen ruhigen und ungestörten Urlaub verbringen zu können.« Dann nahm er seine Zeitung, entfaltete sie und verbarg sich dahinter. Vorher warf er seinem Begleiter einen vernichtenden Blick zu. Der junge Mann machte ein verlegenes Gesicht und schwieg. Thornton zuckte resigniert die Achseln.

Im nächsten Abteil saß Sylvia Greenwood und genoss jeden einzelnen Augenblick dieser Reise. Sie fuhr zum ersten Mal ins Ausland und war daher ziemlich aufgeregt! Venedig! Sie konnte es immer noch nicht richtig glauben.

Sylvia war zwanzig Jahre alt und Waise; sie lebte mit ihrer Tante zusammen in einer kleinen Wohnung im Stadtteil West Kensington. Sie arbeitete als Verkäuferin in einem Hutgeschäft in der Kensington High Street. Den letzten Sommerurlaub hatte sie in einer preiswerten Pension in Cornwall verbracht. Diese vierzehn Tage waren alles andere als angenehm gewesen. Es hatte beinahe jeden Tag geregnet, die Pensionsgäste waren langweilig gewesen, und im Meer hatte man auch nicht baden können.

Aber Venedig! Das war schon etwas ganz anderes. Der klare Himmel Italiens - der herrliche Sandstrand am berühmten Lido - das unwahrscheinliche Blau der Adria!

Außer einem jungen Ehepaar befanden sich noch zwei Frauen im Abteil. Die Dame am Fensterplatz neben Sylvia war klein, grauhaarig und zart. Sylvia konnte das Namensschild an dem Koffer im Gepäcknetz lesen. Madame Vera Kazinczy, Hotel Villa Esta, Lido, Venedig. 

»Ich wohne auch in diesem Hotel«, platzte Sylvia los und deutete auf das Kofferschild. »Hoffentlich haben wir schönes Wetter. Waren Sie schon mal in Venedig?«

Das etwas strenge Gesicht ihrer Nachbarin wurde von einem Lächeln aufgehellt.

»Ja, ich kenne Venedig recht gut«, erwiderte sie. Ihr Englisch war beinahe akzentfrei. »Ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen um das Wetter zu machen brauchen. Die Sonne scheint ganz bestimmt. Eher ein bisschen zu viel. Das ist für junge Damen, die ja fast alle einen Bikini tragen, nicht ganz ungefährlich.«

»Ich bin schon vorsichtig, Madame Kazinczy«, sagte Sylvia lachend.

Die alte Dame schien schwache Augen zu haben, denn sie trug auch im Abteil eine Sonnenbrille. Man wusste nie, ob sie einen ansah oder nicht.

Bei der anderen Dame am Fensterplatz gegenüber bestand dagegen kein Zweifel; sie starrte Sylvia an, schien aber nicht sehr begeistert zu sein, ihren missbilligenden Blicken nach zu schließen. Vielleicht stieß sie sich daran, dass Sylvia etwas mehr von ihren wohlgeformten Beinen zeigte, als allgemein üblich war. Sie sah auch danach aus, als nehme sie sehr leicht Anstoß. Sie war altmodisch gekleidet, hatte glattes Haar und einen strengen, schmalen Mund. Sylvia tat sie leid. Sie konnte kaum älter als vierzig Jahre sein, und mit ein bisschen Make-up hätte sie durchaus attraktiv gewirkt. Sie hieß, wenn Sylvia das auch noch nicht wissen konnte, Penelope Drake. Miss Penelope Drake.

Aus irgendeinem Grund war Sylvias gute Laune plötzlich verflogen. Sie fragte sich, ob die Dame mit dem strengen Blick wohl im selben Hotel wohnen würde. Vermutlich doch, denn der junge Mann aus dem nächsten Abteil hatte ihr ja erzählt, dass er auch im Villa Esta gebucht hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren alle Leute, die hier erster Klasse fuhren, in diesem Hotel untergebracht worden.

Sylvia fühlte, dass es für ihre plötzliche Missstimmung noch einen anderen Grund geben musste. Es kam ihr beinahe vor, als melde sich eine bedrückende Erinnerung...

 

Major Claude Thornton war ein Mann, der sich nicht so einfach abweisen ließ. Trotz der Unfreundlichkeit des Mannes mit dem mürrischen Gesichtsausdruck benutzte er die erste Gelegenheit, ihn wieder anzusprechen. Kaum hatte der andere die Zeitung sinken lassen, fragte Thornton freundlich: »Ich sehe nicht ein, warum wir uns nicht vertragen sollten, Sir? Wir haben doch alle einen sorgenlosen Urlaub vor uns, nicht wahr? Darf ich Ihren Namen erfahren, Sir?«

»Gut, wenn Sie darauf bestehen«, erwiderte der andere und starrte ihn finster an. »Ich heiße William Hunter, und das ist mein Neffe John Weston. Möchten Sie vielleicht sonst noch etwas wissen? Meine Adresse? Etwa meinen Beruf?«

»Reg dich nicht auf«, murmelte sein Begleiter verlegen.

»So war’s nicht gemeint, Mr. Hunter«, sagte der Major erschrocken. »Ich wollte mich nur ein bisschen unterhalten. Entschuldigen Sie die Störung.« Er wandte sich wieder an Enid. »Das eine steht ja fest, Miss Spencer«, begann er und ließ den Blick anerkennend auf ihren wohlgerundeten Formen ruhen, »in Venedig finden wir blauen Himmel und Sonnenschein. Ich war vor ein paar Jahren einmal dort...«

Er fing an, seinen Erinnerungen nachzuhängen. Mr. William Hunter erhob sich und verließ das Abteil. Sein junger Begleiter folgte ihm. Sie gingen bis zur nächsten Plattform.

»Verdammt noch mal, Johnny, was hab’ ich dir gesagt?«, fauchte der Mann mit dem mürrischen Gesicht. »Du mit deinen idiotischen Einfällen! Warum bin ich nur drauf reingefallen?«

»Herrgott noch mal, Old Iron, sei doch nicht immer so ekelhaft«, erwiderte der andere gereizt. »Der Mann hat’s doch nur gut gemeint. Es war doch wirklich nicht nötig, ihn so anzufahren!«

Muss an dieser Stelle wirklich erklärt werden, dass der Leser den großen Chefinspektor Cromwell von Scotland Yard vor sich hat? Oder dass es sich bei seinem Begleiter um Sergeant Johnny Lister handelt?

»Ich kann diese Kerle nicht ertragen, die sich mit jedem vertragen wollen«, knurrte Ironsides. »Wenn wir ihm das nicht gleich von Anfang an austreiben, bringen wir ihn überhaupt nicht mehr los.«

»Schön langsam muss ich dir recht geben - du hättest wirklich lieber zum Angeln fahren sollen«, erklärte der junge Sergeant bitter. »Wir sind noch gar nicht richtig unterwegs, da beleidigst du einen ganz harmlosen Menschen, der nur ein bisschen nett zu dir sein will. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Man kann sich ja vor den Leuten überhaupt nicht mehr blicken lassen.«

Bill Cromwell war wieder einmal auf Jahresurlaub, und er hatte vorgehabt, ruhige vierzehn Tage auf dem Land in Suffolk zu verbringen und dort zu angeln. Das tat er tatsächlich jedes Jahr. Aber Johnny Lister hatte ihm klargemacht, dass ein Wechsel wirklich nicht schaden könne. Zum Fischen bliebe immer noch Zeit; er habe hart gearbeitet und müsse einmal eine ganz andere Umgebung sehen. Venedig zum Beispiel. Sei er denn schon einmal in Venedig gewesen? Natürlich nicht! Was könne er schon in Suffolk erwarten? Regen, Wind und Kälte... Aber in Venedig...

Unter diesem Trommelfeuer von Argumenten hatte Cromwell schließlich nachgegeben. Seine Zweifel waren damit keineswegs behoben gewesen, und schon jetzt, kurz nach Antritt der Reise, bedauerte er seinen Entschluss.

»Mit welchen Leuten sind wir da bloß zusammengekommen, Johnny?«, brummte er. »Sieh dir bloß diesen Thornton an? Ist dir klar, dass er auch in unserem Hotel wohnt? Vielleicht gibt’s da noch ein paar solche Kerle. Das ist eben das Unangenehme an diesen Gesellschaftsreisen, man weiß nie, mit welchen Leuten man da Zusammensein muss.«

»Du brauchst gar nicht so hochnäsig zu tun«, fuhr ihn Johnny an. »Ich war schon mal in Venedig, und man muss es einfach gesehen haben. Der Lido ist eine eigene Insel mit herrlichem Sandstrand, du kannst schwimmen...«

»Und wie steht’s mit dem Angeln?«, unterbrach ihn Ironsides ironisch.

»Zum Teufel damit!«, fauchte Johnny. »Kannst du nicht wenigstens einmal davon aufhören? Du bist überarbeitet, Old Iron, du brauchst viel, viel Sonne und Ruhe. Warum nicht mal abwarten?«

»Na schön, wie du meinst«, sagte Cromwell widerstrebend. »Dann spiele ich eben wieder Mr. William Hunter. Aber das eine sage ich dir: Wenn Venedig eine Enttäuschung ist - wie ich es gar nicht anders erwarte -, dann fahre ich sofort nach Hause.«

Mit dem Gehabe eines Märtyrers kehrte er zu seinem Platz zurück und ging sogar so weit, Major Thornton anzusprechen und ihn auf die Schönheit der vorbeigleitenden Landschaft aufmerksam zu machen. Johnny war erleichtert. Für den Rest der relativ kurzen Reise nach Folkestone herrschte jedenfalls Ruhe im Abteil.

Bei der Ankunft in Folkestone gab es das übliche Gedränge; die Reisenden zwängten sich mit ihren Gepäckstücken durch die Korridore, es wurde gelacht und geschimpft. Cromwell, der etwas gegen Menschenansammlungen hatte, wartete, bis der Korridor frei war.

Beim Aussteigen erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Die Waggontür zum Bahnsteig stand offen, aber die gegenüberliegende Tür war geschlossen. Der Chefinspektor bemerkte im Holz eine Splitterung. Er stellte seinen Koffer ab, dann trat er näher.

»Johnny, was hältst du davon?«, fragte er. Johnny Lister knallte seinen Koffer auf den Boden und gesellte sich zu Cromwell.

»Komisch«, sagte er. »Sieht aus wie ein Einschuss.«

»Das ist es auch.«

»Wie, zum Teufel, soll denn hier eine Kugel reinkommen?«

»Das möchte ich auch gern wissen«, knurrte Ironsides und berührte das gesplitterte Holz. »Die Kugel ist ziemlich tief eingedrungen. Es kann erst vor ein paar Stunden passiert sein.«

»Kugel? Was für eine Kugel?« ertönte eine laute Stimme. »Was gibt’s denn da zu sehen, Mr. Hunter?« Major Thornton trat neugierig näher.

»Es ist nichts, Sir«, erwiderte Johnny lachend. »Mr. Hunter meinte eben, dieses kleine Loch da sähe so aus, als rührte es von einem Einschuss her. Natürlich hat er sich getäuscht. Also los, steigen wir aus.«

Es gelang ihm, den Major zum Ausgang zu drängen, und damit war der Vorfall anscheinend erledigt. Nicht jedoch für Ironsides und Johnny Lister. 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Das überfüllte Schiff trat die Fahrt über den Kanal ohne Verzögerung an; das Meer zeigte keinerlei Bewegung, und die Sonne schien. Zufrieden genoss die Mehrheit der Passagiere die Überfahrt auf den verschiedenen Decks. Bill Cromwell und Johnny Lister war es gelungen, dem Major auszuweichen. Thornton heftete sich jetzt an Sylvia Greenwoods Fersen. Wie Derek Barnes hatte er sie mit Enid Spencer verglichen und festgestellt, dass sie hübscher und anziehender war. Für den Major zählte natürlich auch, dass Enid bereits einen Kavalier bei sich hatte. Sylvia zeigte jedoch nicht die geringste Neigung, ihn zu ermuntern. Mit seiner überschäumenden Herzlichkeit hatte Thornton versucht, ihr gegenüber den netten Onkel zu spielen. Aber bei der ersten Gelegenheit ließ sie ihn stehen und wanderte allein auf Deck umher.

Ganz zufällig begegnete sie dabei Derek und Enid. Der junge Mann lächelte sie an und sagte ein paar Worte über das schöne Wetter und die ruhige See. Sie lächelte zurück und ging weiter.

»Warum sprichst du sie denn dauernd an?«, fragte Enid bissig. »Sei bloß vorsichtig, Derek. Sie scheint mir auf Männerfang aus zu sein.«

Derek beherrschte sich mühsam und schluckte seine Erregung hinunter. Früher hatte er nie bemerkt, dass Enid so gemein sein konnte.

Glücklicherweise tauchten in diesem Augenblick Ironsides und Johnny auf. Derek überließ Enid ihrem Schicksal und ging den beiden nach. Cromwell war ihm schon im Zug aufgefallen, und er sprach jetzt den mürrischen Chefinspektor aufgeregt an: »Entschuldigen Sie, Sir, Sie gehören doch auch zu uns?«

»Was heißt hier zu uns?«

»Ich meine, zu der Reisegesellschaft, die nach Venedig unterwegs ist.«

»Ja.«

»Wir wohnen alle im Hotel Villa Esta«, fuhr Derek fort, »und das bedeutet natürlich, dass wir alle sehr viel Zusammensein werden. Verzeihen Sie, Mr. Hunter, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wir uns schon irgendwo mal begegnet sind.«

»Das glaube ich weniger.«

»Ich bin ganz sicher«, meinte Derek hartnäckig. »Übrigens, ich heiße Barnes - Derek Barnes. Ich zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf, wo ich Sie gesehen haben könnte...«

»Sie täuschen sich, junger Mann«, unterbrach ihn Cromwell kurz. »Wir haben uns noch nie gesehen. Sie verwechseln mich mit einem anderen.«

Ohne Derek die Chance zu geben, weitere Fragen zu stellen, ging Ironsides weiter. Er kniff die Lippen zusammen und machte ein grimmiges Gesicht. Er blieb erst stehen, als er einen Teil des Decks erreicht hatte, wo sich keine Passagiere aufhielten. Er lehnte sich an die Reling und starrte düster auf das schimmernde Meer hinab. Johnny Lister trat zu ihm und lachte amüsiert.

»Das ist eben der Preis, den man für den Ruhm zahlen muss«, murmelte er.

»Ich hab’s ja gleich gewusst, Johnny«, ächzte Cromwell. »Schon erkannt! William Hunter, ausgerechnet! Jetzt kann ich mir ungefähr vorstellen, wie friedlich mein Urlaub sein wird!«

»Übertreib doch nicht so maßlos, Old Iron. Der junge Mann hat wahrscheinlich dein Bild in einer Zeitung gesehen«, sagte Johnny beruhigend. »Du darfst nicht vergessen, dass du berühmt bist. Ich habe sowieso nicht erwartet, dass sich das Inkognito lange halten lassen wird. Schließlich wolltest du ja unbedingt unter falschem Namen fahren. Was spielt das überhaupt für eine Rolle? Du hast Urlaub, und kein Mensch kann dich dazu zwingen, auch nur fünf Minuten zu arbeiten. Im Ausland bist du sowieso nur ein ganz gewöhnlicher Tourist wie jeder andere hier auf dem Schiff.«

»Und wenn ich nicht auf dich gehört hätte, würde ich jetzt gemütlich in einem kleinen Gasthof in Suffolk sitzen«, erwiderte der Chefinspektor unglücklich.

---ENDE DER LESEPROBE---