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»Was ist denn das?«, fragte Michael Ellison und deutete mit dem Finger hinab.
Auch Betty blickte nun in den Graben hinunter. Zuerst konnte sie nur die Steinstufen und die leere, gepflasterte Sohle des Grabens sehen; aber dann verstand sie, was er meinte. Dort unten lag, undeutlich und schattenhaft, die Gestalt eines Mannes mit gespreizten Gliedern auf dem kalten Stein, etwas links von den Treppenstufen. Halb unbewusst hörte Betty sich nähernde Schritte. Sie klangen in diesem Augenblick gespenstisch und düster...
Der Roman Verabredung im Tower von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Victor Gunn
Verabredung im Tower
Roman
Apex Crime, Band 198
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
VERABREDUNG IM TOWER
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
»Was ist denn das?«, fragte Michael Ellison und deutete mit dem Finger hinab.
Auch Betty blickte nun in den Graben hinunter. Zuerst konnte sie nur die Steinstufen und die leere, gepflasterte Sohle des Grabens sehen; aber dann verstand sie, was er meinte. Dort unten lag, undeutlich und schattenhaft, die Gestalt eines Mannes mit gespreizten Gliedern auf dem kalten Stein, etwas links von den Treppenstufen. Halb unbewusst hörte Betty sich nähernde Schritte. Sie klangen in diesem Augenblick gespenstisch und düster...
Der Roman Verabredung im Tower von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
»Sie sind natürlich nicht echt«, murmelte Betty Winston überzeugt.
Sie stand im Tower von London im Wakefield-Turm und sah sich die britischen Kronjuwelen an. Die phantastische, glitzernde Schau wertvollster gefasster Juwelen, deren Glanz die geschickt angebrachte indirekte Beleuchtung noch erhöhte, war wirklich ein Fest für die Augen, das dem Beschauer den Atem verschlagen konnte. Aber Betty Winston in ihrem schicken Pelzmantel blieb dennoch skeptisch.
»Sie können ja nicht echt sein«, fügte sie hinzu.
Ihre Worte waren an niemanden gerichtet; es war kaum jemand da, der sie hätte hören können. Der Wakefield-Turm war fast menschenleer – was nur selten vorkam. Bei ihren Worten reckte sich aber ein ältlicher Aufseher in seiner malerischen blauen Uniform mit der rot-blauen Mütze steif auf. Er tat hier Dienst und hatte offenbar die respektlosen Worte des Mädchens doch vernommen.
»Nein, Miss«, sagte er scharf. »Sie sind echt! Das sollte Ihnen auch bekannt sein. Man hätte sie sicher nicht ausgestellt, wenn sie nicht echt wären.«
»Wirklich?« Betty fühlte sich unter seinem tadelnden Blick unbehaglich. »Entschuldigen Sie bitte.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die indische Kaiserkrone. »Aber ist das nicht gefährlich? Die Juwelen liegen doch nur hinter einer Glaswand. Jeder könnte sie einschlagen und hineingreifen...« Sie hielt inne. »Gewiss, es sind zwei Glasplatten da, und so ist es doch nicht so ganz leicht...«
»Nein, Miss – es ist ganz unmöglich!«, unterbrach sie der Aufseher besänftigt. »Schlagen Sie nur das Glas ein – dann werden Sie schon sehen, was geschieht!« Er lächelte nachsichtig und wies auf das dünne Drahtgeflecht, das zwischen dem äußeren Glas und dem inneren Schaukasten lag. »Niemand würde weit kommen, wenn er faule Sachen mit den Kronjuwelen zu machen versuchte.«
Fasziniert von der Schönheit des Schmucks, konnte Betty nur mit Mühe ihre Blicke auf den Draht richten. Aber dann wurde ihr alles klar. Zweifellos würde das Einschlagen der Scheibe und das Zerreißen des Drahtes einen Mechanismus in Gang setzen. Feste Stahlgitter würden sich sofort schließen und in Sekundenschnelle den inneren Behälter sichern.
»Ja, ich verstehe jetzt, was Sie meinen«, sagte sie und lächelte dem Aufseher freundlich zu. »Wie töricht von mir! Selbstverständlich ist der Schmuck echt! Es hätte ja sonst gar keinen Sinn, ihn auszustellen. Ist er nicht herrlich?«
Sie schrieb einiges in ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch und ging weiter. Es war doch eigentlich sehr schön, dass der Saal jetzt fast leer war. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Eltern sie einmal an einem heißen Sommertag als Kind hergeführt hatten. Damals hatte man vor der Tür Schlange stehen müssen, und der ganze Wakefield-Turm war von einer schwitzenden Menschenmenge angefüllt gewesen.
Heute, um drei Uhr, an einem windigen, kalten Januarnachmittag, war es ganz anders. Unerwartet hatte sich über London Nebel gebildet, der die Themse und ihre Ufer verhüllte. Gerade dieser Nebel hatte ja Betty bewogen, jetzt den Tower aufzusuchen. Sie hatte – wie sich nunmehr herausstellte, mit Recht – angenommen, dass das scheußliche Wetter Besucher fernhalten werde; das war ihr nur lieb, denn für ihre Besichtigung der Kronjuwelen wollte sie möglichst wenig Menschen hier haben. Heute war Freitag; Betty hatte schon früh das Wochenende frei, und so war sie auf den Gedanken gekommen, sich mit einem netten Artikel über die Kronjuwelen etwas Taschengeld zu verdienen.
Sie setzte ihren Rundgang fort, wobei sie sich hin und wieder Notizen machte. Dabei war sie sich der Tatsache sehr wohl bewusst, dass gleichzeitig auch der ältliche Aufseher etwas höchst wohlwollend betrachtete – allerdings nicht die Kronjuwelen, sondern ihre schlanke, graziöse Gestalt, deren schöne Formen selbst der Pelzmantel nicht verbergen konnte. Auch ihr Gesicht war schon wert, eingehender betrachtet zu werden. Es war ein überaus lebendiges Gesicht, dessen Farben nicht aus einem Kosmetikköfferchen stammten, mit dunklen Augen, die von Intelligenz und Charakter zeugten. Ihr kastanienbraunes, naturgewelltes Haar war gerade der richtige Rahmen für ihre Züge. Wenn sie lächelte, öffnete sich ihr Mund leicht und zeigte herrliche Zähne; dann blinzelten auch ihre Augen vergnügt – mit einem Wort: Betty war ein sehr hübsches Mädchen.
Sie war Mitarbeiterin bei dem recht erfolgreichen Magazin Woman’s Life. Ihre Stellung in der Redaktion war allerdings nicht sehr bedeutend – sie war sogar recht bescheiden und so ließ sie keine Gelegenheit vorbeigehen, sich zu ihrem Gehalt etwas hinzuzuverdienen, indem sie für andere Zeitungen kleine Artikel schrieb. Sie hatte den Ehrgeiz, einmal als freie Journalistin genügend zu verdienen, um sich völlig von der Eintönigkeit des Bürobetriebs befreien zu können.
Außer ihr waren neben zwei Aufsehern nur noch einige Fremde, meist Ausländer, im Wakefield-Turm anwesend. Betty konnte daher ihren Rundgang ungestört vollenden und alles notwendige Material für einen interessanten kleinen Artikel sammeln.
Als sie damit fertig war und sich dem Ausgang näherte, wünschte ihr der freundliche Aufseher einen guten Tag. Dabei sah er fast betrübt aus; er fürchtete wohl, heute keine so hübsche Besucherin mehr zu Gesicht zu bekommen. Damit mochte er umso mehr recht haben, als die Besuchszeit des Towers bald zu Ende war.
Betty stieg die enge, steile Treppe des Wakefield-Turms mit der fröhlichen Unbekümmertheit der Jugend hinab, hatte ihren Leichtsinn aber bald zu bedauern. Denn in der Mitte der Treppe verfing sich ihr linker Absatz in einem Spalt, und sie konnte sich nur dadurch vor einem Fall schützen, dass sie sich an dem Geländer festhielt.
Vorsichtig schritt sie weiter, merkte aber sofort, dass ihr linker Absatz nicht mehr in Ordnung war. Wie dumm war sie doch gewesen, nicht ein Paar feste Straßenschuhe anzuziehen! Pfennigabsätze waren eben doch nicht das Richtige, damit über das Kopfsteinpflaster und die ausgetretenen Stiegen des Towers von London zu gehen. Als sie aus dem Turm in den Nebel hinaustrat, sah sie rechts die verschwommenen Umrisse eines Schilderhäuschens. Sie wandte sich jedoch nach links in die dunkle, geheimnisvolle Tiefe eines langen Ganges, der unter dem Blutigen Turm hindurchführte. Dieser Gang musste auf den Weg münden, der sie zum Ausgang des Towers brachte.
Wieder stolperte sie, und diesmal stürzte sie sogar. Sie war nur froh, dass niemand in der Nähe war, der sie beobachten konnte. Rasch stand sie auf und griff nach ihrem linken Schuh.
»Verdammt nochmal...«, murmelte sie leise.
Der Absatz war abgebrochen.
»Herr Gott – so ein Pech!«, rief sie ärgerlich.
Jede Frau, die einen Absatz verloren hat, wird Bettys Ärger nachfühlen können. Denn mit nur einem Absatz kann man nicht mehr richtig gehen, man muss entweder hinken oder hüpfen. Bis zum Hauptausgang war es aber noch ein weites Stück. Die Dunkelheit des tunnelartigen Ganges, die noch vom Nebel vertieft wurde, nahm ihr jede Sicht. So zog sie ein kleines Feuerzeug aus der Tasche und knipste es an, jedenfalls versuchte sie es – aber natürlich funktionierte es nicht. Ein Feuerzeug funktioniert ja nie, wenn man es wirklich braucht. Wieder drückte sie das Feuerzeug gab einen schönen Funken – aber keine Flamme.
»Verdammt nochmal!«, rief Betty ärgerlich.
Für gewöhnlich fluchte sie nicht, aber diesmal verlangte die Situation nach einer kräftigen Erleichterung der Seele. Sie kniete nieder, tastete mit den Händen herum und versuchte, im nebligen Zwielicht etwas zu sehen. Aus der Ferne konnte sie das klagende Nebelhorn eines Themseschleppers hören. Aber die Dämmerung war tiefer geworden, und der Nebel, zusammen mit den Steinen des Tunnels, die vor Alter schwarz waren, schuf im Durchgang ein geradezu mitternächtliches Dunkel. Sie glaubte Schritte zu hören, war aber ihrer Sache nicht sicher. Im nächsten Augenblick jedoch stieg ihr das Blut ins Gesicht, als sie mit den Händen an Hosenbeine anstieß. Männliche Hosenbeine!
»Oh...!«, rief sie und richtete sich auf. »Entschuldigen Sie bitte!«
Eine unbestimmte Gestalt, im Nebel kaum zu sehen, richtete sich vor ihr auf; zunächst überfiel sie sogar eine gewisse Furcht. Denn es war in dem Gang sehr dunkel und geheimnisvoll, und man konnte die altertümlichen Fallgatter am Ende nur ahnen. Aber sie beruhigte sich bald, als sie ein freundliches Lachen hörte.
»Haben Sie etwas verloren?«, erkundigte sich eine Stimme mit amerikanischem Akzent – eine Stimme, die ebenso freundlich klang wie das Lachen. »Sie tasteten ja auf dem Boden herum
»Ich suche meinen Absatz.«
»Absatz?«
»Den Absatz meines Schuhs!«, sagte Betty. »Ich habe ihn verloren. Ich stolperte, als ich vom Wakefield-Turm herunterkam. Jetzt ist er ganz abgebrochen. Er muss hier irgendwo liegen, aber ich kann ihn nicht sehen...«
»Das werden wir gleich haben!«, unterbrach sie der Mann lachend. »Es war wohl ein Pfennigabsatz, wie? Ja, das ist schon peinlich.«
Man hörte ein Knipsen, und eine helle gelbe Flamme leuchtete im Nebel auf. Betty war ärgerlich darüber, dass sie sich von dem Fremden zeigen lassen musste, wie ein Feuerzeug funktionieren sollte. Warum versagte ihr Feuerzeug immer? Aber eine Erleichterung und ein warmes Gefühl überkam sie, als sie in dem gelben Lichtschein Gesicht und Gestalt des Fremden erblickte.
Es war ein gutgewachsener junger Mann in Tweedmantel und weichem Hut. Er hatte ein scharfgeschnittenes, sonnengebräuntes Gesicht, um das wohl der Wind der fernen weiten Welt geweht haben mochte. Seine grauen Augen lächelten. Übrigens hielt er sein Feuerzeug schulterhoch und sah sich auch seinerseits an, mit wem er es zu tun hatte.
»Nun?«, fragte er schließlich zufrieden.
Betty wurde rot. Sie hörte Stimmen – Stimmen, die in fremden Sprachen redeten – von außen in den Gang hineintönen und dann wieder das traurige Tuten des Nebelhorns vom Fluss. Sie war sich bewusst, dass dieser Amerikaner in dem Tweedmantel sie musterte – und offenbar von seiner Prüfung befriedigt war. Ohne dass sie es wusste, verliehen ihr die Röte ihrer Wangen, die leichte Unordnung ihrer Frisur und das Glänzen ihrer Augen eine zusätzliche Anziehungskraft, die schon den Pulsschlag eines Mannes beschleunigen konnte. Die Rolle der Jungfrau im Unglück, die sich nach dem helfenden Ritter umsieht, stand ihr großartig.
»Er muss – er muss irgendwo hier liegen murmelte Betty leise.
»Auf dem Boden? Ach natürlich – der Absatz!« Rasch wandte der Fremde seinen Blick von ihrem Gesicht ab, bückte sich und hielt die Flamme seines Feuerzeugs tief. Dieses Manöver ermöglichte es ihm, auch die Schlankheit ihrer Gestalt und die graziöse Form ihrer Knöchel zu sehen. Noch besser!, meinte er für sich. Nicht immer findet man, dass zu einem Gesicht auch eine schöne Gestalt gehört!
»Hier ist der Unheilstifter!«, sagte er und hob etwas vom Boden auf. »Hm – das nennen Sie einen Absatz? Es sieht eher wie eine Art Dolch aus.«
»Ja, es ist einer dieser dummen Pfennigabsätze«, nickte sie. »Vielen Dank – ich bin sehr froh, dass Sie ihn gefunden haben. Dumm von mir, solche Schuhe anzuziehen... Glauben Sie, Sie können etwas damit machen? Ich meine, ihn wieder am Schuh befestigen... Wohl kaum...«
»Wir können es versuchen«, erwiderte er vergnügt. »Ich heiße übrigens Michael Ellison.« Er hielt das Feuerzeug wieder schulterhoch und blickte auf ihr gerötetes Gesicht hinab. »Verlassen wir zunächst einmal dieses schwarze Loch hier. Draußen ist ein Geländer; ich bemerkte es, als ich hereinkam. Sie können sich an ihm festhalten, während ich...«
»Nein...«, unterbrach sie ihn. »Ich glaube nicht, dass sie ihn wieder an dem Schuh befestigen können. Ich werde also schon humpeln müssen... Mein Name ist Winston – Elizabeth Winston. Sie sind doch aus den Vereinigten Staaten, nicht wahr?«
»Oh, nein!«, lachte er, während er sie fest am Arm fasste und aus dem Tunnel hinausführte. »Ich bin Kanadier. Schon als Kind in Ottawa habe ich mir immer gewünscht, den Tower in London sehen zu können.« Er lachte. »Und was geschieht? Ich komme hierher, und bevor ich mich hier umsehen kann, sitze ich in einem dichten Londoner Nebel fest. Ich wollte zum Wakefield-Turm, in dem die Kronjuwelen ausgestellt sind.«
»Der Turm liegt gerade hinter uns – ich kam von dort, als ich meinen Absatz verlor«, unterrichtete ihn Betty. »Da möchte ich Sie nicht aufhalten. Es war sehr nett von Ihnen, und ich danke Ihnen noch vielmals, dass Sie meinen Absatz gefunden haben. Jetzt kann ich mir schon allein weiterhelfen.«
Als Antwort lachte er nur wieder sein tiefes, anziehendes Lachen und führte sie zu einem niedrigen Geländer, das vor einem Absturz in einen breiten, tiefen, jetzt vom Nebel angefüllten Graben schützte.
»Halten Sie sich an dem Geländer fest«, sagte er. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Vielleicht kann man den Absatz wieder festmachen. Heben Sie nur den Fuß hoch!«
Sie sah über die Schulter und glaubte eine schemenhafte Gestalt zu bemerken, die sich nach dem Lanthorn-Turm zu bewegte. Aber daran erinnerte sie sich erst später wieder.
»Meinen Fuß hochheben?«, wiederholte sie lachend. »Halten Sie mich etwa für ein Pferd? Sollte ich nicht lieber meinen Schuh ausziehen?«
Sie bückte sich, um es zu tun. Unklar war sie sich bewusst, dass sie am Verrätertor standen. Hinter dem Geländer, an das sie sich klammerte, lag ein leerer, breiter Graben, der einst von der Themse angefüllt worden war. Breite Steinstufen führten zu ihm hinab. In der Tat war hier früher vom Fluss aus der Eingang zum Tower gewesen. Barken hatten an dem großen Torbogen ihren Anlegeplatz gehabt, aber schon seit vielen Jahren war die gepflasterte Sohle des Grabens trocken und der Zutritt zu ihr für das Publikum gesperrt.
»Hier ist der Schuh«, sagte Betty.
Aber zu ihrer Verwunderung war ihr Begleiter mit seinen Gedanken anderswo. Anstatt auf ihre Worte zu achten und ihr den Schuh abzunehmen, den sie ihm hinhielt, starrte er in den Graben am Verrätertor hinab. Hier im Freien war noch etwas Tageslicht, und im Graben war der Nebel nicht völlig undurchsichtig.
»Was ist denn das?«, fragte Michael Ellison und deutete mit dem Finger hinab.
Auch sie blickte nun in den Graben hinunter. Zuerst konnte sie nur die Steinstufen und die leere, gepflasterte Sohle des Grabens sehen; aber dann verstand sie, was er meinte. Dort unten lag, undeutlich und schattenhaft, die Gestalt eines Mannes mit gespreizten Gliedern auf dem kalten Stein, etwas links von den Treppenstufen. Halb unbewusst hörte Betty sich nähernde Schritte. Sie klangen in diesem Augenblick gespenstisch und düster.
»Das – das sieht doch wie ein Mensch aus!«, flüsterte sie und klammerte sich an Ellisons Arm. »Er muss wohl hinuntergefallen sein und sich verletzt haben. Mein Gott – was sollen wir denn tun?«
Michael gab ihr durch die Tat die Antwort auf ihre Frage. Mit der Leichtigkeit des Sportlers schwang er sich über das Geländer und schritt die Steinstufen hinab. Wieder knipste er sein Feuerzeug an, als er sich über die am Boden liegende Gestalt beugte. Es war der Körper eines ziemlich korpulenten Mannes mittleren Alters. Seine Augen standen weit offen und starrten nach oben. In der Mitte seiner Stirn war das kleine Einschussloch einer Kugel.
»Großer Gott!«, sagte Michael laut.
»Ist er schwer verletzt?«, rief ihm Betty von oben zu.
Sie hatte seinen Ausruf gehört, und das Grauen in seiner Stimme war ihr aufgefallen. Noch immer beugte er sich, mit dem Feuerzeug in der Hand, nieder. Jetzt erblickte er ein kleines, viereckiges Stück Pappe, das, durch einen Mantelknopf festgehalten, an dem Mantel des Toten haftete. Auf der Pappe stand in großen, mit Bleistift gemalten Buchstaben nur ein Wort: Verräter!
Michael Ellison stand auf und löschte die Flamme seines Feuerzeugs. Er stieg die Treppen hinauf, überkletterte wieder das Geländer und trat Betty gegenüber.
»Das sieht sehr hässlich aus«, meinte er ruhig.
»Sie meinen – er ist schwer verletzt?«
»Schlimmer, Kindchen – er ist tot!«, erwiderte Michael. »Er hat entweder Selbstmord begangen oder wurde ermordet. Eine Kugel drang ihm durch den Kopf. Da ich aber neben ihm keinen Revolver sehen konnte, sieht es eher nach Mord aus.«
Sie schrie auf.
Es war eine unwillkürliche Reaktion. Michaels Worte trafen sie wie ein Schlag ins Gesicht. Jetzt hörte sie schwere Schritte, und als sie sich umsah, fuhren ihre Blicke zufällig nach oben. Sie blinzelte. War es nur Einbildung, oder hatte sie wirklich für einen Augenblick über dem Wall den Kopf eines Mannes gesehen? Dunkel erinnerte sie sich, dass dort oben ein schmaler Gang entlanglief, der Raleigh’s Walk hieß.
Die uniformierte Gestalt eines Aufsehers tauchte plötzlich aus dem Nichts auf und kam näher. Es war ein älterer Mann, der sie misstrauisch ansah.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Miss?«, fragte er streng. »Ich hörte, wie Sie vorhin aufschrien.« Er warf Michael einen scharfen Blick zu. »Es klang fast wie ein Hilferuf...«
»Nein – wirklich nicht...«, begann Betty.
»Einen Augenblick!« Michaels Stimme klang ärgerlich. »Es ist nicht so, wie Sie vielleicht annehmen«, fuhr er fort. »Die junge Dame schrie auf, weil sie da unten etwas sah...« Er wies hinunter.
»Ein Mann liegt dort – vielleicht das Opfer eines Unfalls...«
Der Aufseher starrte über das Geländer.
»Ich kann nichts sehen – ach, Sie meinen...« Er brach ab und beugte sich über das Geländer. »Sie – Sie da unten! Was ist mit Ihnen?«
Betty klammerte sich fester an Michaels Arm. Sie hatte das Gefühl, wiederum aufschreien zu müssen. Es war grausig anzuhören, wie der Aufseher einen Toten anbrüllte und von ihm Antwort erwartete.
»Ja, Sir, das sieht recht merkwürdig aus«, murmelte der Aufseher. »Ich sollte wohl hinuntergehen und nach ihm sehen...«
Mühsam kletterte er über das Geländer und stieg die Steinstufen in den trockenen Graben hinab. Betty drückte den Arm ihres Begleiters und sah zu ihm auf.
»Sollten wir nicht lieber fortgehen?«, flüsterte sie. »Hier können wir ja doch nichts mehr helfen.«
»Ja, das ist ein guter Gedanke...«
Michael brach ab, als eine zweite, untersetzte Gestalt aus dem Nebel auftauchte.
»Wenn Sie den Ausgang suchen, Miss – hier, immer geradeaus!« Der Sprecher, ein zweiter Aufseher, brach plötzlich ab, denn von unten drang ein heiserer Aufschrei zu ihm herauf. »Hallo – wer ist denn dort unten?«
»Ich, Ted!«, kam die Antwort. »Hier unten liegt ein Mann – tot! Er wurde erschossen. Benachrichtige bitte Mr. Lomas. Nein, warte noch – ich komme hinauf!«
»Verdammt – jetzt ist es zu spät für uns, wegzukommen«, flüsterte Michael leise. »Es tut mir leid, Kindchen. Wir beide, obwohl vollkommen unschuldig, sitzen hier fest und müssen der Polizei Fragen beantworten – nur, weil wir zufällig am Tatort waren...«
»Aber sie können uns doch nicht festnehmen!«
»Nein? Wenn die Londoner Polizei so ähnlich ist wie unsere in Ottawa... Unser Pech, dass wir den armen Kerl sahen! Nützen konnten wir ihm damit nichts!«
»Woher wollen Sie das wissen? Sie dachten doch, er sei ohnmächtig oder sonst etwas...«, flüsterte Betty zurück. »Ach Gott, wie dumm von mir, aufzuschreien! Das mussten ja andere Leute hören!« In der Tat tauchten jetzt verschiedene Gestalten aus dem Nebel auf. Der erste Aufseher hatte inzwischen die Stufen wieder erklommen und sprach mit seinem Kollegen. Ein aufgeregter Mann in einem schweren Mantel mit einem dicken wollenen Schal drängte sich vor.
»Was ist denn geschehen?«, fragte er atemlos. »Das ist doch hier das Verrätertor, nicht wahr?«
»Ja, Sir, hier ist ein Unfall passiert«, erwiderte einer der Aufseher. »Jemand hat sich verletzt. Wenn Sie nichts dagegen haben... Hallo, Sir!«, fügte er scharf hinzu. »Einen Augenblick!«
Ein weiterer, bärtiger Mann mittleren Alters, der eine Brille trug, war kurz stehengeblieben, um einen Blick auf die kleine Gruppe im Nebel zu werfen. Dann hatte er weitergehen wollen. Nun blieb er von neuem stehen.
»Ja – was ist denn?«, fragte er nervös.
»Bitte bleiben Sie hier – wenn Sie nichts dagegen haben, Sir.«
»Hierbleiben? Wozu denn? Dagegen habe ich durchaus etwas!« Die Stimme des Bärtigen klang nervös und ungeduldig. »Warum denn? Was ist geschehen?«
»Gott sei Dank – endlich ein Mensch!«, erklang eine neue Stimme. »Ich kann den Weg zum Ausgang nicht finden...«
»Ich werde Ihnen den Weg sofort zeigen, meine Dame«, sagte einer der Aufseher, als eine nervöse, ältere Frau aus dem Nebel auftauchte. »Ich werde hierbleiben, Ted, während du Hilfe holst. Sag auch Mr. Lomas Bescheid – und beeil dich!«
»Ja«, sagte der andere Aufseher und ging fort.
»Was soll denn das?«, fragte der Bärtige erregt. »Ich möchte auch zum Ausgang! Aber dieser verdammte Nebel...«
»Einen Augenblick, Sir!« Der Aufseher sprach ruhig, aber bestimmt. »Leider muss ich Sie alle bitten, meine Damen und Herren, noch hierzubleiben. Vielleicht werden Sie als Zeugen benötigt...«
»Zeugen?«, wiederholte die ältere Frau aufgeregt. »Was meinen Sie? Ich habe doch nicht das Geringste gesehen! Was ist denn los?«
»Das möchte ich auch wissen«, sagte der Bärtige. »Aber man will es mir nicht sagen...«
»Es ist ganz einfach, meine Herrschaften«, fiel Michael mit resignierter Stimme ein. »Hier unten im Graben am Verrätertor liegt ein Mann, und die Aufseher sagen, dass er tot ist. In der Tat haben ihn diese junge Dame hier und ich zuerst gesehen, und ich kann verstehen, dass man uns als Zeugen braucht. Aber das gilt doch nicht für Sie...«
»Verzeihen Sie, Sir, aber ich weiß schon, was ich zu tun habe«, unterbrach ihn der Aufseher streng. »Bald wird jemand kommen, und dann werden Sie vielleicht die Erlaubnis erhalten, fortzugeben.«
»Unerhört!«, erklärte der große Mann in dem schweren Mantel, unfähig, seine Aufregung zu verbergen. »Woher sollen wir etwas von einem Toten wissen?«
»Einen Augenblick, Sir – ja, Sie!«, rief der Aufseher laut. »Ich habe Ihnen nicht erlaubt, fortzugehen!«
Der Bärtige mit der Brille hatte nämlich Miene gemacht, sich zu entfernen, wobei er eine Aktentasche an sich presste.
»Das ist doch unglaublich!«, protestierte er. »Ich weigere mich, einem so lächerlichen Befehl Folge zu leisten!«
Wieder wandte er sich zum Gehen, als Michael ihn am Arm ergriff.
»Bleiben Sie hier, mein Herr«, sagte Michael kurz. »Sie haben doch gehört, was der Aufseher gesagt hat! Niemand darf fortgehen! Tun Sie lieber, was Ihnen der Mann sagt!«
Jetzt waren rasche Schritte zu hören. Der erste Aufseher tauchte, vom Laufen atemlos, aus dem Nebel auf; er wurde von einem Soldaten in Uniform begleitet.
»Wir sollen die Leute hier in unsere Wachstube bringen!«, rief der erste Aufseher dem zweiten zu. »Dort kommt auch Mr. Lomas hin. Er möchte die Herrschaften sprechen. Er hat auch die Polizei schon benachrichtigt.« Er hustete. »Es tut mir leid, meine Herrschaften, aber so lauten meine Weisungen. Niemand darf den Tower verlassen, bevor die Polizei da ist. Glücklicherweise ist heute schlechtes Wetter, und die Besichtigungszeit ist bald um, sodass kaum noch Besucher hier sind.«
»Haben Sie denn vollkommen den Verstand verloren?«, protestierte der bärtige Mann, der jetzt vor Angst geradezu schlotterte. »Glauben Sie etwa, ich habe den Burschen umgebracht? Oder sonst jemand von uns hier? Der Mörder hatte doch reichlich Zeit zu flüchten, bevor die Leiche aufgefunden wurde! Es ist eine unerhörte Zumutung, unschuldige Menschen sinnlos festzuhalten.«
»Dem kann ich nur zustimmen!« Der Mann in dem schweren Mantel nickte wütend...
»Ich auch!«, rief die ältere Dame.
Die beiden Aufseher zeigten größte Geduld.
»Gewiss, Sir – gewiss, Madam!«, erwiderte einer von ihnen. »Aber es ist jetzt nicht mehr zu ändern. Ich glaube auch, dass man Sie kaum lange aufhalten wird. Es ist ja nur Routinesache.«
Michael brachte seinen Mund nahe an Bettys Ohr.
»Nun, Liz, jedenfalls ist es einmal etwas anderes«, meinte er trocken.
»Nennen Sie mich nicht Liz!«, erwiderte sie heftig. »Das mag ich nicht! Alle meine Bekannten nennen mich Betty. Das ist zwar auch nicht besonders hübsch, aber daran habe ich mich schon gewöhnt. Ich weiß gar nicht, was ich ohne meinen Absatz anfangen soll...«
»Das macht nichts – hängen Sie sich bei mir ein!«, riet ihr Michael in seinem warmen kanadischen Tonfall. »Die Aufseher haben ganz recht. Haben Sie den großen Mann in dem schweren Mantel beobachtet, als er herkam? Er sah fast so aus, als ob er ein schlechtes Gewissen hätte.«
»Ja – er war wirklich recht nervös, nicht?«, stimmte Betty flüsternd bei. »Warum nur? Und der andere – der mit dem Bart, der durchaus Weggehen wollte – er benahm sich doch auch sehr eigenartig, nicht wahr? Ich glaube beinahe, er hat Angst! Beide wirkten geradezu verdächtig!«
»Nun, das möchte ich nicht gerade sagen«, meinte Michael. »Sie haben ja nicht, wie wir, die Leiche gesehen. So kam ihnen der Befehl, hierzubleiben, ganz überraschend und brachte sie begreiflicherweise auf. Trotzdem finde ich die beiden Burschen recht interessant...«
Die kleine Gruppe wurde nun den nebligen Weg in der Richtung nach dem Hauptausgang zu entlanggeführt. Die Winterdämmerung war jetzt völliger Dunkelheit gewichen, als sie an dem Häuschen vorbeikamen, in dem Führer durch den Tower und Postkarten zu kaufen waren. Betty humpelte den Weg entlang. Wieder ertönte klagend vom Fluss her das Nebelhorn. Bald tauchte auch die dunkle Masse des Byward-Turms aus dem Nebel auf. Nun wandten sich die begleitenden Aufseher nach links, der kleinen Wachstube zu. Einer der Aufseher öffnete eine Tür unter einem Torbogen und forderte die Versammelten mit einer Handbewegung auf, einzutreten.
Betty musste blinzeln, als sie den Raum betrat, weil das elektrische Licht sie blendete. Die alte Wachstube war ein runder Raum mit einer gotischen Decke. Hoch oben in den mächtigen Wänden gab es Schlitze, die als Fenster dienten. In dem großen Kamin brannte ein helles Feuer. Es war unangenehm warm.
Mitten im Zimmer stand ein großer Schreibtisch, an dem ein soldatisch straffer Mann saß. Seine Uniform war jedoch viel eleganter als die der gewöhnlichen Aufseher, die Betty bisher zu Gesicht bekommen hatte.
»Ich bedauere, Ihnen Unannehmlichkeiten machen zu müssen, meine Damen und Herren«, sagte der Mann am Schreibtisch. »Bitte nehmen Sie Platz, und machen Sie es sich bequem. Ich werde versuchen, Sie nicht zu lange aufzuhalten. Mein Name ist Lomas. Ich bin hier Oberaufseher.«
Alle sahen ihn unsicher an. Michael zog für Betty und sich selbst Stühle heran, und die anderen folgten seinem Beispiel. Aber dann herrschte ein einigermaßen peinliches Schweigen. Der Aufseher, der sie hergeführt hatte, bezog steif an der Tür Posten. Alles sah in unangenehmer Weise dienstlich aus.
»Die Umstände sind ungewöhnlich«, fuhr der Oberaufseher, über sein Pult gebeugt, fort. »Hier ist ein schweres Verbrechen, ein Mord, begangen worden. Der Kommandant des Towers wurde ebenso wie die Polizei bereits verständigt. Bevor jedoch die Polizei kommt, möchte ich, dass Sie mir Namen und Adresse angeben für den Fall, dass sich später die Notwendigkeit ergeben sollte, mit Ihnen nochmals Verbindung aufzunehmen.«
»Ein Mord!«, rief die ältere Dame aufgeregt. »Polizei! So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht durchgemacht! Was weiß ich denn davon? Ich weigere mich, hierzubleiben!«
»Ich bedauere sehr, aber leider werden Sie sich zu fügen haben«, erwiderte Mr. Lomas ruhig. »Wie mir gesagt wurde, wird Chefinspektor Cromwell von Scotland Yard die Untersuchung des Mordfalls hier übertragen werden; sicherlich wird er Sie vernehmen wollen.«
Betty Winston empfand eine ihr nicht angenehme Erregung. Sie hatte das Gefühl des Brennens auf der Haut und ein leichtes Schwindelgefühl im Kopf. Was sie jedoch am meisten beunruhigte, war die Erkenntnis, dass dieses Unbehagen nicht von der Tatsache herrührte, dass sie in einem Mordfall vernommen werden sollte, sondern auf der Anwesenheit eines jungen Mannes beruhte, den sie erst vor einer knappen Stunde kennengelernt hatte.
Es war lächerlich! Sie hatte sich stets gerühmt, völlig unabhängig und nicht beeindruckbar zu sein, gefeit gegen die Anziehungskraft jedes noch so liebenswürdigen Mannes, mit dem sie in Berührung kam. Und nun war sie schon von der Nähe dieses sonnverbrannten Kanadiers ganz verwirrt.
Sie konnte ihn jetzt bei vollem Licht sehen, und ihr erster, günstiger Eindruck wurde dadurch noch mehr verstärkt, als sie sich eingestehen wollte. Es lag einfach etwas Unwiderstehliches in der gebräunten Frische seines Gesichts mit den kleinen lustigen Fältchen in den Augenwinkeln. Die Augen selbst waren grau und freundlich und blickten fröhlich drein. In diesem Augenblick waren sie allerdings ernst – aber darum nicht weniger anziehend. Auch sein Alter – genau das richtige, nicht zu jung und nicht zu alt. Wohl über dreißig – aber kaum viel. Zweifellos war er ein Mann der Tat, der sich in der Welt herumgetrieben und dort die innere Sicherheit erworben hatte, die auf sie so großen Eindruck machte.
Sie tat, als sei sie an der geflüsterten Unterhaltung interessiert, die nun zwischen dem Oberaufseher und einem jungen Mann in Zivil geführt wurde, der vor kurzem eingetreten war. Sie wusste natürlich nicht, dass dieser junge Mann der Sekretär des Kommandanten des Towers war.
Auch Michael Ellison musste sich zu seiner eigenen Überraschung, ja Bestürzung, eingestehen, dass Betty das hübscheste Mädchen war, das ihm je vor Augen gekommen war; es fiel ihm schwer, seine Blicke von ihr abzuwenden. Verdammt, schließlich war er doch auf Urlaub in London, völlig frei und unbeschwert, und nun musste er feststellen, dass dieses Mädchen, das er zufällig in einem dunklen Torweg mit abgebrochenem Absatz gefunden hatte, sein Herz schneller schlagen ließ! Das war doch blödsinnig! Sie war für ihn nur eine Zufallsbekanntschaft, und sobald diese peinliche Geschichte vorbei war, würde jeder von ihnen seines Weges gehen. Dieser Gedanke beunruhigte ihn.
Er versuchte, seine Aufmerksamkeit den übrigen Menschen zuzuwenden, die zusammen mit ihnen festgehalten worden waren, aber bevor er seine Absicht ausführen konnte, hustete der Oberaufseher entschuldigend. Der junge Mann in Zivil war wieder gegangen; Lomas hatte kurz mit dem Aufseher gesprochen, der die Gruppe in den Byward-Turm geführt hatte.
»Hm – wie mir gesagt wurde, wurde die Leiche zuerst von zwei Herrschaften gesehen, die zufällig am Verrätertor vorbeikamen«, sagte er und blickte sich um. »Würden diese beiden Herrschaften vortreten?«
»Er meint uns«, sagte Michael und griff nach Bettys Arm.
Sie standen auf und gingen zum Tisch. Lomas sah sie ernst an.
»Es gibt kaum etwas, das ich Ihnen sagen könnte, was Sie nicht bereits wissen«, begann Michael leichthin. »Ich begegnete dieser jungen Dame auf dem Weg zum Blutigen Turm. Sie hatte den Absatz eines ihrer Schuhe verloren...«
»Was hatte sie verloren?«, erkundigte sich Lomas verwundert.
»Hier – sehen Sie!«, erwiderte Betty und zeigte ihm den abgebrochenen Absatz.
»Ach so! Sie gehören also nicht zusammen?«, fragte der Oberaufseher. »Ich meine, Sie kamen nicht zusammen in den Tower?«
»Nein – wir sind einander fremd«, erwiderte Betty.
»Ich konnte im Dunkel des Torwegs den Absatz nicht anmachen. Darum gingen wir zum Geländer auf den Weg hinaus«, erklärte ihm Michael. »Ich überlegte mir gerade, wie ich den Absatz wieder befestigen könnte, als ich zufällig in den trockenen Graben am Verrätertor hinabsah. Der Nebel war nicht sehr dick, und so konnte ich dort einen Mann liegen sehen. Ein Aufseher kam gerade vorbei, und ich forderte ihn auf, dort unten nachzusehen.«
»Soweit ich weiß, stieß die junge Dame einen Schrei aus?«
»Ja – als Mr. Ellison meine Aufmerksamkeit auf die regungslose Gestalt lenkte, die dort unten lag«, erwiderte Betty, die durchaus verstand, warum Michael nicht angegeben hatte, dass er selbst in den Graben gestiegen sei, um sich die Leiche anzusehen. »Die Gestalt lag so... so steif da, so verrenkt. Ich bekam einen Schreck...«
»Das kann ich durchaus verstehen«, meinte Lomas. »Würden Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse angeben, Sir?«
»Michael Ellison, Malcolm Avenue 103, Ottawa, Kanada«, erwiderte Michael. »Gegenwärtig wohne ich im Dorchester-Hotel, Appartement 406.«
Lomas schrieb die Adresse nieder und blickte auf.
»Und Sie, Miss?«
»Elizabeth Winston. Ich wohne in Kensington, Bellfont Mews 3a. Es ist eine kleine Wohnung; ich teile sie mit Molly Stanton, einer Studentin.«
»Danke, Miss. Vorläufig brauche ich nur Ihren Namen und Ihre Adresse.« Der Oberaufseher schrieb ihre Angaben nieder und sah dann auf. »Sie verstehen doch, dass es sich nur um Routine handelt? Sie haben keine Ursache, sich Sorgen zu machen.«
Mit einer Handbewegung entließ er sie wieder; Michael griff nach Bettys Arm und führte sie zu ihrem Stuhl. Bettys innere Aufregung verstärkte sich. Er wohnte also im Dorchester-Hotel... Aber ein Fremder, der im Dorchester-Hotel wohnte, musste ja viel Geld haben; und er hatte dort nicht ein Zimmer; sondern sogar ein Appartement! Plötzlich fühlte sie sich niedergeschlagen. Wie konnte sie nur annehmen, dieser reiche, junge Kanadier könnte sich für sie interessieren! Aber schließlich war es ja unwichtig. Bald mussten sich ihre Wege trennen – für immer.
Der nächste, der zum Tisch trat, um Namen und Adresse anzugeben, war der bärtige Mann mit der Brille. Er hielt noch immer die dünne Aktentasche fest unter dem Arm, war noch immer ärgerlich und aufgeregt.
»So ein lächerlicher Unsinn!«, rief er böse. »Wie kann ich etwas von dem Toten wissen? Ich kam nur am Verrätertor vorüber, weil ich einen Ausgang aus diesem verdammten Irrgarten suchte. Ich weigere mich entschieden, noch länger hierzubleiben! Ich bin Künstler und kam in den Tower, um hier ein paar Skizzen anzufertigen...«
»Gewiss, Sir.« Lomas nickte geduldig. »Bitte geben Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse an.«
»Ich heiße George Hickson und wohne in Putney, Wells Gardens 22«, sagte der Bärtige böse. »Von dem Toten weiß ich nichts.« Seine Augen hinter den Brillengläsern waren unruhig, und sein langes, schmales Gesicht, das vom Bart halb verdeckt wurde, war blass und verschwitzt. »Kann ich jetzt gehen? Hier kann ich Ihnen doch nichts nützen...«
»Bitte nehmen Sie wieder Platz, Sir.«
Hickson trat vom Tisch zurück und murmelte etwas. Michael wunderte sich, warum der Mann so erregt war. Sein Benehmen war ja ganz auffallend. Er musste doch einen Grund haben, so erbost zu sein!
»Ich stimme Mr. Hickson völlig zu«, begann der große Mann im Mantel und Schal, der jetzt zum Tisch trat. »Es ist eine Zumutung, uns hier festzuhalten, bis die Polizei eintrifft!« Sein Ton war anmaßend und herausfordernd, aber dabei sah er äußerst nervös und unsicher aus.
»Ihr Name, Sir?«
»Ich weiß gar nicht, ob ich ihn angeben soll«, erwiderte der große Mann. »Ich werde mich beim Kommandanten beschweren! Ich bin ein vielbeschäftigter, bedeutender Mann und habe keine Zeit für diese lächerliche Untersuchung. Verdammt, Sir, ich wusste ja noch nicht einmal, dass sich überhaupt ein Unfall ereignet hatte, als ich durch das Verrätertor ging...«
»Wenn Sie uns Ihren Namen nicht angeben wollen, Sir, werden Sie es der Polizei gegenüber tun müssen«, unterbrach ihn der Oberaufseher kurz. »Ich bedaure, Ihnen Unannehmlichkeiten machen zu müssen, aber darauf muss ich leider bestehen.«
»Walter Stillwell, aus Bayswater, Bloxham Court 226«, gab der dicke Mann wütend an. »Meine Wohnung auf dem Lande ist in Priory End bei Saint Albans«, fügte er mit wichtiger Miene hinzu. »Ich muss Ihnen sagen, dass ich erheblichen Einfluss besitze, und mich nicht nur beim Kommandanten des Towers, sondern auch bei dem Polizeidirektor beschweren werde. Mich in dieser Form festzuhalten, ist eine unerhörte Beeinträchtigung der Freiheit eines Bürgers.«
Das gedunsene Gesicht des großen Mannes zuckte nervös, und es war – jedenfalls für Michael – klar, dass er lediglich so anmaßend auftrat, um ein Gefühl zu verbergen, das nur Furcht sein konnte. Er war sicherlich jünger, als er aussah. Er mochte wohl noch nicht vierzig sein, obgleich man ihn leicht für einen Fünfziger hätte halten können. Ein ausschweifendes Leben war wohl die Ursache seines körperlichen Verfalls.
»Der Kerl interessiert mich«, flüsterte Michael Betty zu. »Er steht Todesangst aus. Warum nur? Auch der andere Mann dort hat Angst – der mit dem Bart. Es ist kaum anzunehmen, dass die beiden wirklich nichts von dem Toten wissen. Warum, um Himmels willen, sind sie sonst so nervös?«
»Keine Ahnung. Aber keiner von ihnen war am Tatort, als Sie die Leiche erblickten.«
»Nein, aber woher wollen wir wissen, dass sie nicht schon vorher dort gewesen sind? Jedenfalls einer von ihnen. Wenn der Aufseher nicht so energisch gewesen wäre, wären sie zweifellos fortgegangen. Selbst als er es ihnen verbot, musste ich ja einen von ihnen mit Gewalt festhalten.«
Michael dachte nach. Hickson interessierte ihn weniger als Stillwell, von dessen aufgedunsenem Gesicht er den Blick nicht abwenden konnte. Er beobachtete aufmerksam den wechselnden Ausdruck auf Stillwells Gesicht. Unzweifelhaft verriet Stillwell noch mehr Furcht als Hickson. Hickson wirkte mehr ärgerlich und nervös als ängstlich.
Jetzt trat die erregte Frau an den Tisch. Sie sprach so laut und scharf, wie es Stillwell getan hatte. Sie gab an, sie sei Mrs. Ethel Pryce und wohne in Mayfair. Sie fügte hinzu, ihr Mann sei Generaldirektor und werde den Beamten des Towers die Hölle schon heiß machen.
»Das ist ja unglaublich!«, rief sie empört. »Ich kann Mr. Stillwell nur zustimmen! Sobald ich hier hinauskomme, werde ich mich bei dem Polizeidirektor beschweren. Ich kann Ihnen versichern, dass mein Mann schon dafür sorgen wird, dass ich Genugtuung erhalte! Haben Sie tatsächlich die Stirn, anzudeuten, dass ich etwas von dem Toten weiß?«
»Danke, Mrs. Pryce«, nickte Lomas geduldig. »Wie ich Ihnen bereits mitteilte, können Sie gehen, sobald das vorläufige Verhör beendet ist. Ohne Zweifel hatte der Mörder bereits vor der Auffindung der Leihe den Tower verlassen. Es ist kaum anzunehmen, dass er sich noch hier aufhielt. Aber das ist eine Sache, die nur die Polizei zu entscheiden hat.«
Er brach ab. Einer der Aufseher war an ihn herangetreten und teilte ihm mit, dass die Polizei eingetroffen sei. Die Beamten untersuchten jetzt zusammen mit einem Polizeiarzt den Toten.
»Chefinspektor Cromwell bittet die Herrschaften, sich noch etwas zu gedulden«, fügte der Aufseher laut hinzu. »Er wird bald hier sein und glaubt, dass er in kurzem jeden von Ihnen entlassen kann. General McTaggart ist eben bei ihm, Sir.«