DIE LADY MIT DER PEITSCHE - EIN FALL FÜR CHEFINSPEKTOR CROMWELL - Victor Gunn - E-Book

DIE LADY MIT DER PEITSCHE - EIN FALL FÜR CHEFINSPEKTOR CROMWELL E-Book

Victor Gunn

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Die Schlossherrin Lady Gleniston herrscht über ihr Personal wie eine Sklaventreiberin. Den Gärtner Ned Hoskins jagt sie mit der Peitsche aus dem Haus. Und am selben Abend ist Lady Gleniston tot – erschlagen mit Neds Hammer.

Ned hat ein Alibi – nicht jedoch die Schlossbewohner und ihre Gäste.

Chefinspektor Cromwell von Scotland Yard wittert perfiden Mord.

Er nimmt die Ermittlungen auf...

 

Der Roman Die Lady mit der Peitsche von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1957. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

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VICTOR GUNN

 

 

Die Lady mit der Peitsche

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DIE LADY MIT DER PEITSCHE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Die Schlossherrin Lady Gleniston herrscht über ihr Personal wie eine Sklaventreiberin. Den Gärtner Ned Hoskins jagt sie mit der Peitsche aus dem Haus. Und am selben Abend ist Lady Gleniston tot – erschlagen mit Neds Hammer.  

Ned hat ein Alibi – nicht jedoch die Schlossbewohner und ihre Gäste.

Chefinspektor Cromwell von Scotland Yard wittert perfiden Mord.

Er nimmt die Ermittlungen auf...

 

Der Roman Die Lady mit der Peitsche von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1957. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur. 

  DIE LADY MIT DER PEITSCHE

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Bruce Campbell war zum ersten Mal in das Seengebiet gefahren; aber als er in Gleniston Water aus dem Zug stieg, lautete sein Urteil nicht gerade günstig. Man hätte es in die Worte zusammenfassen können: Nicht geschenkt...! 

Die düsteren Wolken am Himmel, die eine für Anfang August vorzeitige Dämmerung gebracht hatten, gaben den fernen Bergen ein finsteres und unfreundliches Aussehen. Bei einem Vergleich mit dem höheren und eindrucksvolleren Gebirge seiner schottischen Heimat schnitten sie schlecht ab.

Zunächst hatte er allerdings nur für einen flüchtigen, recht oberflächlichen Rundblick Zeit; wichtigere Dinge in seiner allernächsten Umgebung zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Mit ihm zugleich waren noch andere Leute ausgestiegen, und der kleine Bahnsteig zeigte daher jetzt nichts von seiner üblichen schläfrigen Abendstille. Es waren wohl auch Ferienreisende, die gleich ihm nach Schloss Gleniston wollten - übrigens eine recht unsympathische Gesellschaft. Einige waren dick, andere hager, aber alle ältlich. Als der Zug anfuhr, bewegten sich diese Leute mit Koffern und Schachteln zum Ausgang. Das Barometer von Bruces Stimmung fiel noch um einige Grade.

Dann plötzlich - im letzten Augenblick, als der Zug schon schneller zu fahren begann - öffnete sich die Tür eines Abteils, und ein schlankes junges Mädchen -in einem blauen Reisekostüm sprang geschickt auf den Bahnsteig. Ein älterer Mann aus ihrem Abteil drückte ihr rasch einen Lederkoffer in die Hand, während sie neben dem Zug herlief.

Wie angewurzelt blieb Bruce stehen. Es erschien ihm ganz selbstverständlich, dass in diesem Augenblick die Sonne die Wolken durchbrach und den blonden Kopf des jungen Mädchens golden aufleuchten ließ. Ihr längliches Gesicht, von der Anstrengung des Laufens leicht gerötet, hatte eine breite, klare Stirn und eine fein geformte Nase. Ihre roten Lippen waren etwas geöffnet und ließen blendend weiße Zähne sehen. Ihre tiefblauen Augen strahlten geradezu.

»Donnerwetter...«, murmelte Bruce erstaunt.

Plötzlich hatte sich die Landschaft für Bruce völlig verändert, obwohl die Sonne schon wieder verschwunden war. Bruce gestand sich, dass er in seinem ganzen bisherigen Leben noch keinen schöneren Ort gesehen habe; das Seengebiet, das ihm bisher düster und unfreundlich erschienen war, wurde für ihn zu einem zweiten Arkadien. Allerdings muss hier mit Bedauern festgestellt werden, dass sich Bruce recht auffällig und nicht gerade übermäßig wohlerzogen benahm. Die Aufmerksamkeit, mit der er das blonde Mädchen betrachtet hatte, verwandelte sich nämlich zu einem indiskreten Anstarren.

Er war eben nun einmal so - ein impulsiver, leicht erregbarer Mensch - und für weiblichen Charme äußerst empfänglich. Seit seinem siebzehnten Lebensjahr war er schon einige Male von einer Art Lähmung befallen worden, sobald er einen gewissen Typ Mädchen zu Gesicht bekam. Aber alle diese Mädchen waren, verglichen mit der Vision des Schwanes, die jetzt vor seinen entzückten Augen stand, nur hässliche Entlein gewesen. Diese Frau war einfach in jeder Beziehung vollendet, und dabei nicht nur schön, sondern auch anmutig. Bruce musste selbst jetzt, während sie von dem schweren Koffer behindert war, unwillkürlich an die Grazie einer Gazelle denken.

In diesem Augenblick hatte das Mädchen erschöpft seinen Koffer abstellen müssen. Welch wunderbare Gelegenheit, ihr höflich seine Hilfe anzubieten! Aber leider verpatzte er, im Bestreben, seinen lobenswerten Plan auszuführen, alles gründlichst; denn als er zu ihr eilte, verfing sich sein Absatz in einer Lücke der Pflastersteine des Bahnsteigs, und er stolperte. Anstatt den Koffer hochzuheben, wie er beabsichtigt hatte, gab er ihm einen Stoß, der das Gepäckstück auf die Schienen schleuderte. Dort ging er auf und streute duftige weibliche Unterwäsche auf die Gleise.

»Oh, mein Gott!«, stieß Bruce erschreckt hervor.

Nur durch ein akrobatisches Kunststück konnte er vermeiden, dem Koffer nachzufolgen. An der Kante des Bahnsteigs erlangte er jedoch mühsam sein Gleichgewicht wieder.

»Das haben Sie ja großartig gemacht!«, rief eine Stimme, in der das Eis Grönlands klirrte. Bruces Blut erstarrte.

»Es tut mir furchtbar leid...«

Seine Stimme erstarb, als ihm klar wurde, wie unpassend diese abgegriffene Redensart hier wirken musste. Außerdem verschlug ihm auch noch etwas anderes die Stimme - nämlich ein Blick in das Gesicht des Mädchens, das jetzt unmittelbar vor ihm stand. Denn sie sah ihn jetzt mit dem Ausdruck einer so starken Abneigung, ja des Abscheus an, dass Bruce hoffte, die Erde werde sich öffnen und ihn verschlingen.

»So einen ungeschickten, hirnverbrannten Tollpatsch habe ich schon lange nicht mehr gesehen!«, fuhr das Mädchen fort, dessen eisige Verachtung sich mit unerwarteter Plötzlichkeit in vulkanische Hitze verwandelt hatte. »Sehen Sie sich nur an, was Sie mit meinem Koffer angestellt haben! Der ganze Inhalt ist herumgestreut...«

»Ich stolperte, als ich Ihnen helfen wollte - es tut mir furchtbar leid!«, stieß er hervor, von den Flammen versengt, die aus ihren Augen schossen. »Ich weiß gar nicht, wie es kam - ich bin wohl mit dem Absatz hängengeblieben.«

Verzweifelt blickte er sich nach Hilfe um. Aber inzwischen hatte sich der Bahnsteig geleert; nur er und dieses Mädchen standen noch da.

Da ihm die Notwendigkeit raschen Handelns klar war - er musste einfach irgendetwas tun, was ihn ihrem Blickfeld entzog -, sprang Bruce auf die Schienen und begann, die verstreuten Wäschestücke wieder in den Koffer zu verstauen. Verächtlich sah ihm das Mädchen zu. Gewiss, er war kein großartiger Kofferpacker. Zarte Sommerblusen und plissierte Röcke wurden wirr durcheinander in den Koffer gestopft. Bruce musste schwer atmen, als er Büstenhalter und hauchdünne Höschen den übrigen Kleidungsstücken folgen ließ. Mit einem Gefühl tiefer Befriedigung schloss er endlich den Deckel, ließ das Schloss einschnappen und hob den Koffer auf den Bahnsteig.

»Hier - jetzt ist alles wieder drin«, sagte er atemlos.

»Ja - zerdrückt und mit Ölflecken von den Schienen!« Das Mädchen nickte und sah ihn mit Verachtung an. »Aber geben Sie nur schnell her, sonst fährt mir noch der Autobus zum Schloss davon!«

»Der Autobus zum Schloss?«, wiederholte er, und sein Gesicht erhellte sich. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie in Schloss Gleniston wohnen werden? Das ist ja großartig! Dorthin will ich ja auch!«

»Das auch noch«, rief sie verzweifelt.

»Irgendein Auto wird schon vor dem Bahnhof warten«, fuhr er fort und nahm den Koffer. »Man hat mir versprochen, mich abzuholen. Wir sollten uns aber doch beeilen.«

»Der Ansicht bin ich schon lange«, antwortete sie verächtlich.

»Ach ja, das stimmt.«

Mit seinem eigenen Koffer in der einen und dem des Mädchens in der anderen Hand eilte er zur Sperre, wo ein vierschrötiger älterer Beamter stand. Wortlos nahm der Mann ihnen die Fahrkarten ab; durch das kleine Bahnhofsgebäude hindurch kamen sie nun auf den Bahnhofsplatz.

Aber hier waren keine Autos, kein Autobus - gar nichts. Der Platz lag in der Abenddämmerung völlig ausgestorben da.

»Sehen Sie jetzt, was Sie angerichtet haben?«, rief das Mädchen in neu ausbrechendem Zorn. »Jetzt ist der Autobus fort! Wegen Ihres idiotischen Benehmens haben wir ihn verpasst!«

»Das macht nichts - ich werde ein Taxi besorgen«, beruhigte er sie. »Es muss ja hier Taxis geben. Ich werde mich beim Stationsvorsteher erkundigen - er wird mir schon Bescheid sagen können.«

Er ging ins Bahnhofsgebäude zurück, wo der ältere Beamte - der anscheinend ganz allein Dienst tat - gerade dabei war, den Fahrkartenschalter zu schließen.

»Bitte noch eine Minute!«, rief ihm Bruce zu. »In Ihrem Schalterraum ist doch ein Telefon, nicht wahr? Ich möchte mir ein Taxi bestellen...«

»Taxi, Sir?«, unterbrach ihn der Mann verwundert, als ob er dieses Wort noch nie gehört hätte. »Hier gibt es keine Taxis!«

»Nun, dann sonst ein Auto«, sagte Bruce ungeduldig. »Es muss kein Taxi sein. Irgendjemand muss doch hier einen Wagen haben...«

»Hier gibt es auch keine Autos, Sir«, entgegnete der Stationsvorsteher kopfschüttelnd. »Wollen Sie vielleicht zum Schloss? Dafür gibt es nur den Kleinbus - aber der ist schon fort.«

»Hat denn der Fahrer nicht gewusst, dass noch mehr Leute kommen?«, rief Bruce wütend. »Hätte er nicht ein oder zwei Minuten warten können? Warum haben Sie ihm denn nicht gesagt«, fügte er hinzu und sah den Stationsvorsteher vorwurfsvoll an, »dass noch zwei weitere Fahrgäste auf dem Bahnsteig waren?«

»Da Sie und die junge Dame es nicht eilig zu haben schienen, nahm ich an, dass Sie nicht ins Schloss wollten«, erwiderte der Mann. »Ich dachte, dass Sie sich vielleicht im Dorf eingemietet haben. Nicht in Upper Gleniston, das liegt am andern Ende des Sees beim Schloss, sondern in Lower Gleniston, hier beim Bahnhof.«

»Das ist ja reizend!«, fiel eine eisige Stimme ein. »Wir sitzen also fest, wie? Kein Autobus - kein Taxi. Wie weit ist es denn bis zum Schloss?«

»Drei Meilen, Miss.«

»Diese beiden Koffer werden Ihnen recht schwer vorkommen, wenn Sie sie drei Meilen getragen haben werden«, meinte das Mädchen und warf Bruce aus ihren blauen Augen einen eisigen Blick zu. »Auch für mich wird es kein reines Vergnügen sein, in meinen hohen Schuhen drei Meilen weit zu laufen. Dumm von mir, dass ich mir keine Halbschuhe angezogen habe. Dazu kommt noch«, fügte sie bitter hinzu, »dass es aussieht, als ob es regnen wollte.«

»Ich kann Sie nur nochmals um Entschuldigung bitten«, stieß Bruce ängstlich hervor. »Selbstverständlich werde ich Ihren Koffer tragen. Es war natürlich von mir sehr ungeschickt, zu stolpern. Aber glauben Sie mir bitte - ich wollte Ihnen nur helfen.« Wieder folgte er ihr auf den Vorplatz hinaus. »Was für ein elendes Nest! Nicht einmal ein Taxi gibt es hier! Und dieser Narr, der Fahrer des Autobusses...«

Seine Stimme erstarb. Er presste die Lippen fest aufeinander, vermied es, das Mädchen anzusehen, nahm die zwei Koffer und machte sich auf den Weg. Sie ging neben ihm her.

Aber sie waren kaum fünf Minuten unterwegs, als die ersten Regentropfen fielen.

»Das soll August sein!«, rief Bruce empört. »Montag ist Feiertag - und sehen Sie sich das Wetter an! Grauer Himmel, dicke Wolken und ein kalter Wind! Und da rühmen die Leute das Seengebiet!«, fügte er bitter hinzu. »Ich möchte wetten, in Brighton ist das strahlendste Wetter.«  

»Jammerschade, dass sie nicht nach Brighton auf Urlaub gefahren sind«, meinte sie spitz. »In Brighton würde es Ihnen sicher viel besser gefallen als hier in einem ruhigen, alten Schloss!«

Er war viel zu böse, um zu antworten. Sie kamen nicht durch Lower Gleniston, denn ein Wegweiser hatte besagt, dass Schloss Gleniston in der entgegengesetzten Richtung vom Dorf drei Meilen entfernt lag. Die Straße führte am See entlang. Auf der einen Seite erhoben sich sanfte Hügel, und auf der anderen lag die stumpfgraue Fläche des Sees. Die Landschaft wirkte deprimierend, obwohl sich der Regen als falscher Alarm erwiesen hatte. Nach einigen Tropfen hatte er wieder aufgehört.

Das Schweigen wurde bedrückend, als sie die erste halbe Meile zurückgelegt hatten. Jetzt taten Bruce schon die Finger und die Schultern weh, und er hatte nur den Wunsch, die Koffer für eine Weile abzusetzen und sich auszuruhen. Aber sein Stolz verbot ihm, nachzugeben und damit seine Schwäche einzugestehen.

Die junge Dame bemerkte wohl seine Verfassung, aber sie reagierte absichtlich nicht, denn sie war der Ansicht, dass er es durchaus verdient hatte. Hin und wieder warf sie einen verstohlenen Seitenblick auf seine große, sportliche Gestalt und auf sein Gesicht, das jetzt schon schweißüberströmt war. Es war gar nicht so unsympathisch, wie es ihr zuerst erschienen war. Sein eckiges Kinn deutete auf Energie hin, sein breiter Mund ließ Humor vermuten und seine große - nicht gerade klassische - Nase sprach von Charakter. Alles in allem genommen war er zwar keine Schönheit, aber er sah nett aus und gehörte zu einem Typ, der auf Frauen anziehend wirkt. Außerdem konnte sie auch nicht übersehen, dass sein Gesicht einen ehrlichen und liebenswürdigen Ausdruck hatte und dass sein kastanienbraunes, lockiges Haar sehr hübsch war.

Langsam begann sie, mit ihm Mitleid zu haben. Vielleicht war sie doch etwas hart zu ihm gewesen. Wieder musste sie an die Szene auf dem Bahnsteig denken. Er war ja schließlich nur deshalb zu ihr geeilt, um ihr beim Tragen des Koffers seine Hilfe anzubieten. Manche Leute, dachte sie, sind eben von Geburt an ungeschickt - und Bruce schien durchaus dazuzugehören.

»Vielleicht sollten Sie die Koffer einen Augenblick absetzen und sich ausruhen«, sagte sie daher. »Sie müssen ja müde sein. Bei dieser Gelegenheit könnten wir uns auch einander vorstellen.«

Bruce war so verwundert, dass er die Koffer fallen ließ, als ob ihre Griffe plötzlich glühend geworden wären. Zum ersten Mal hatte er jetzt ihre normale Stimme gehört - eine Stimme, in der nichts von Hass oder Abscheu lag. Sie klang in seinen Ohren wie Musik. Es war merkwürdig, dass im gleichen Augenblick - als ob sie nur auf dieses Stichwort gewartet hätte - auch die Sonne wieder aus den Wolken trat und mit ihren Strahlen das graue Wasser des Sees in eine herrliche, schimmernde Fläche verwandelte. Ja, über ihrem Kopf zeigte sich sogar ein großes Stück klarblauen Himmels!

»Vielen Dank«, stieß er hervor und massierte seine schmerzenden Handflächen. »Ja, ich bin wirklich müde. Eigenartig, dass die Koffer immer schwerer und schwerer werden! Ich hatte ganz vergessen, dass ich mir ein paar Vierzehnpfundhanteln eingepackt habe! Mein Name ist übrigens Campbell - Bruce Campbell!«

»Ach, Sie sind Schotte?«, fragte sie, als ob das alles erklären würde.

»Ja, warum nicht?«

»Gewiss, warum nicht?«, erwiderte sie lachend. »Einige meiner besten Kunden sind Schotten. Ich heiße Carol Gray. Ich kann nicht sagen, dass ich Ihnen Ihr Ungeschick auf dem Bahnhof schon verziehen habe, aber das hindert uns doch nicht daran, zueinander höflich zu sein.«

Kunden? Was für einen Beruf mochte sie haben? Ladenfräulein? »Also Carol...«, meinte er verträumt. »Ein hübscher Name...« Er hielt inne. »Aber was sage ich da? Es ist ein ganz entzückender Name, der großartig zu Ihnen passt! Sehen Sie nur, wie die Sonne auf das Wasser scheint! Wer hat je zu behaupten gewagt, dass der Seenbezirk nicht herrlich ist?«

»Rasch!«, rief sie so plötzlich, dass er zusammenfuhr.

»Wie?«

»Hören Sie denn nichts? Ein Auto! Versuchen wir, es anzuhalten!«

»Ach, Sie haben natürlich recht!«

Er warf einen Blick auf die Landstraße zurück. Wirklich kam ein Sunbeam um die Kurve in Sicht. Hastig griff Bruce nach den Koffern, die er mitten auf der Straße abgestellt hatte, und zog sie auf den Grasrand. Dann winkte er heftig dem Auto zu.

Der Fahrer nahm aber nicht die geringste Notiz von ihm. Wenn ein Mädchen wie Carol Gray mit bittendem Lächeln am Straßenrand stand und mit hübscher Hand winkte, hätte von Bruce wohl kein Autobesitzer Notiz genommen. Jedenfalls knirschten die Bremsen, und der Wagen hielt.

»Wollen Sie mitfahren?«, fragte der Mann am Steuer freundlich.

»Wenn Sie so gut sein wollten...«, rief Carol eifrig. »Am Bahnhof ist uns der Autobus weggefahren, und...«

»Sie meinen wohl den Autobus vom Schloss?«, unterbrach sie der Mann am Steuer. »So - so! Sie sind also auch Gäste der alten Lady, wie?« Er blinzelte, während er Carol wohlgefällig betrachtete - besonders ihre Figur. »Ich wette, ihr beide seid auf der Hochzeitsreise...«

Carol wurde rot.

»Falsch geraten!«, erwiderte sie rasch. »Wir waren uns völlig fremd - kannten uns gar nicht, bevor wir aus dem Zug stiegen. Dann kam es zu einem kleinen Unglück mit meinem Koffer, und das hielt uns auf, so dass der Idiot, der den Autobus vom Schloss fährt, ohne uns abgefahren ist.«

»Nun, das trifft sich ja gut - ich fahre auch ins Schloss«, meinte der Fremde freundlich. »Steigen Sie nur beide ein! Sie sind also nicht auf der Hochzeitsreise?«, fuhr er fort und sah Carol mit erneutem Interesse an. »Aber Sie machen mir doch keinen Vorwurf, dass ich an so etwas dachte, nicht? Mein Name ist übrigens Morton-Gore - Sir Christopher Morton-Gore. Ich bin schon seit drei Wochen Gast der alten Lady. Sicherlich wird es Ihnen in dem alten Schloss gefallen. - Alles fertig?«

Bruce hatte inzwischen die Koffer in dem geräumigen Kofferraum des Wagens verstaut. Er war sich nicht klar, ob er sich freuen sollte, dass sie mitgenommen wurden, oder nicht. Sir Christopher hatte den Vordersitz umgeklappt, so dass er - Bruce - in den Fond des Wagens klettern konnte. Offensichtlich hielt Sir Christopher den Vordersitz für Carol reserviert. Aber schließlich konnte er keine Ansprüche stellen, und Bruce musste froh sein, dass ihn überhaupt jemand mitnahm.

»Sie müssen die alte Dame mit Glacéhandschuhen anfassen«, sagte Sir Christopher, als er den Wagen anließ. »Sie ist zwar in ihrer Art eine reizende Frau, aber doch furchtbar altmodisch. Wie eine Gestalt aus einem Dickens-Roman... Allerdings werden Sie sie nicht viel zu sehen bekommen - Miss Cawthorne, die Hausdame, spielt die Gastgeberin; sie ist ganz reizend. Sie kommen übrigens zeitig für das Wochenende, nicht wahr? Ich meine, heute ist doch erst Donnerstag. Wollen Sie am Dienstag, nach dem Feiertag, zurückfahren?«

»Ich will die ganze nächste Woche hierbleiben«, erwiderte Bruce.

»Ich auch«, sagte Carol zu Bruces Freude.

Bruce hatte reichlich Gelegenheit, den Mann am Steuer zu betrachten. Er war groß, gutgebaut, mittleren Alters, hatte ein graues Schnurrbärtchen und freundliche Falten um die Augen. Das einzige an ihm, was Bruce unsympathisch fand, war, dass er immer wieder zu Carol hinüberschielte. Schielen ist dafür genau der richtige Ausdruck!, dachte Bruce. Aber man darf nicht vergessen, dass Bruce in diesem Fall nicht objektiv war.

»Sie werden die Atmosphäre oben im Schloss erheblich verbessern, mein Fräulein«, meinte Sir Christopher zufrieden. »Es gibt dort zwar auch junge Leute, aber niemanden wie Sie!« Er warf ihr einen langen, prüfenden Blick zu, bei dem Bruce das Gefühl hatte, dass er sie im Geist entkleidete. »Wenn sich das Wetter hält - das ist allerdings hier in den Bergen nie sicher dann werden Sie beim Schwimmen viel Freude haben.«

»Ich werde mich hier hoffentlich überhaupt amüsieren«, antwortete Carol, die sich der Blicke Sir Christophers durchaus bewusst war. »Ich bin zum ersten Mal hier im Seengebiet... Ach, sehen Sie nur dort das schöne Motorboot!«, fügte sie hinzu und wies auf den See.

»Möchten Sie einmal darauf fahren?«, fragte Sir Christopher. »Es gehört nämlich einem meiner Freunde - Gus Reed und ich brauche ihn nur zu bitten, damit er Sie so oft mitnimmt, wie Sie wollen.«

»Das ist ja großartig!«, rief Carol vergnügt.

Das ist ja grässlich!, dachte Bruce, der von vornherein gegen diesen Gus Reed eingenommen war, dem ein solches Motorboot gehörte.

»Gus ist ein netter Kerl«, fuhr Sir Christopher gesprächig fort. »Aber bei ihm ist Vorsicht geboten, Kindchen! Er ist verdammt hinter den kleinen Mädchen her.« Wieder überflog sie sein Blick. »Dort oben werden Sie erst richtig Leben in die Bude bringen! Jemanden wie Sie haben wir im Schloss gerade gebraucht!«

Bruces Abneigung gegen Gus Reed übertrug sich jetzt auf den Mann am Steuer. Der Kerl benahm sich doch wirklich reichlich salopp. Für wen hielt er sich eigentlich, dass er sich erlaubte, Carol mit Mädchen und Kindchen anzureden, obgleich er sie doch erst seit zehn Minuten kannte?

Carol jedoch schien ihm das nicht zu verübeln; sie beobachtete das Motorboot. Die Landschaft, die bisher düster erschienen war, hatte sich nun völlig geändert. Jetzt war der Himmel fast ganz blau, und die Abendsonne schien mit sommerlicher Wärme. Der See, die Hügel, und die wie Spielzeug verstreuten Häuser unter den grünen Bäumen leuchteten in kräftigen Farben.

Eine Biegung der Straße eröffnete eine andere Aussicht; Sir Christopher wies mit dem Finger nach links.

»Das dort ist Schloss Gleniston!«, erklärte er.

Sie näherten sich jetzt dem oberen Ende des Sees; dort standen im Sonnenlicht einige Häuser und eine kleine Kirche - das Dorf Gleniston. Auf einer kleinen Insel im See konnte man ein malerisches Gebäude sehen, das von schönen alten Bäumen umgeben war. Das offenbar sehr alte Gebäude sah so romantisch aus, dass Carol den Atem anhielt.

»Das ist also das Schloss?«, fragte sie verwundert. »Wie schön! Ich wusste gar nicht, dass es auf einer Insel liegt! Wie kommt man denn eigentlich hinüber?«

Sir Christopher lachte.

»Aus der Nähe gesehen, wirkt das Haus nicht mehr so eindrucksvoll. Es ist ganz leicht zu erreichen, denn es liegt nicht auf einer richtigen Insel; es gibt einen Damm, der das Dorf mit dem Schloss verbindet. Sie können ihn nur von hier aus nicht sehen.«

»Eigentlich ist es doch traurig«, meinte Carol nachdenklich. »Die Glenistons wohnen dort schon seit Jahrhunderten, nicht wahr? Und jetzt müssen die Leute Feriengäste aufnehmen, um durchkommen zu können! Das muss doch für sie schrecklich sein...«

»Weil dadurch aus dem Schloss eine Art von besserem Hotel geworden ist?«, fragte Sir Christopher. »Gewiss, das ist schon richtig - obwohl besseres Hotel vielleicht sogar übertrieben ist. Schade, dass kein männlicher Nachkomme der Familie mehr vorhanden ist. Lady Angela Gleniston hat keine Kinder; ihr Mann, Sir Simeon Gleniston, der vor zwanzig Jahren gestorben ist, war der letzte Baron. Es ist ihm verdammt schlecht gegangen, glaube ich, und er musste fast seinen ganzen Grundbesitz verkaufen, um sich über Wasser zu halten. Früher einmal gehörte den Glenistons viel Land - so ziemlich alles, was Sie am See sehen. Jetzt ist ihnen nur noch das kleine Inselchen geblieben, auf dem das Schloss steht. Aber die alte Lady Gleniston ist verdammt stolz, und so wird sie an dem Familiensitz festhalten, solange es geht. Darum blieb ihr schließlich nichts anderes übrig, als im Sommer Feriengäste aufzunehmen.«

»Aber ich dachte doch...«, begann Bruce.

»Ach, Sie meinen wohl den Major«, unterbrach ihn Sir Christopher. »Er entstammt nicht der direkten Linie. Er ist Lady Glenistons Neffe, der Sohn einer Schwester, die dieses Jahr gestorben ist. Ein steifer Patron, der gute Claude Fanshawe - aber tüchtig ist er. Er kümmert sich mehr oder weniger um alles, was auf dem Gut geschieht, und spielt den Hausherrn. Vielleicht gefällt er Ihnen. Ich persönlich halte ihn jedoch eigentlich für einen Trottel.«

Bevor Carol noch Zeit hatte, ihr Haar zurechtzumachen und aus ihrer Handtasche den Lippenstift herauszunehmen, fuhr das Auto schon über das Kopfsteinpflaster des alten Damms. Der Damm war nur etwa zweihundert Meter lang; dann war man auf der Insel und kam zunächst auf einen weiten Kiesplatz. Dort stand auch der kleine Autobus. Eine breite Freitreppe am Ende dieses Platzes führte auf eine Terrasse, wo die massive Tür des Schlosses einladend offenstand.

»Lassen Sie Ihr Gepäck ruhig im Auto«, riet Sir Christopher. »Der junge Tom wird das schon erledigen. Er ist hier Hausdiener.«

Von der Würde der mächtigen alten Mauern beeindruckt, stieg Carol aus dem Wagen. Schloss Gleniston entsprach allerdings nicht ganz dem Bild, das sie sich vorher davon gemacht hatte. Es gab keine Türme und Söller; so romantische Dinge wie Zugbrücken und Verliese waren ebenfalls nicht vorhanden. Der Stammsitz der Glenistons war einfach ein großes Landhaus - schon jahrhundertealt, wenn auch deutlich zu sehen war, dass man sich in letzter Zeit bemüht hatte, es zu modernisieren. Aber das Ergebnis dieser Bemühungen war nicht in allen Punkten zufriedenstellend ausgefallen.

Die breite Terrasse an der Vorderseite lief, schmaler, auch um die Seiten herum; linker Hand waren Rasenflächen und farbenfrohe Blumenbeete zu sehen; rechts lag, halb verborgen durch einen Laubengang, der gut gehaltene Küchengarten, über den hinweg man einen ausgedehnten Obstgarten sehen konnte.

»Das ist doch entzückend!«, rief Carol mit leuchtenden Augen.

»Ja, Ihnen zu Ehren, meine Liebe, ist die Sonne herausgekommen«, versicherte ihr Sir Christopher. »Sehen Sie sich doch den Himmel an! Blau wie Ihre Augen! Dabei war er den ganzen Tag dicht verhangen.«

Ohne Zweifel zeigte die helle Abendsonne den Neuankömmlingen die Landschaft von ihrer besten Seite. Der See zog sich als langer, gewundener Streifen viele Meilen lang, aber nur dreiviertel Meilen breit, durch das Tal, und überall am Ufer stiegen bewaldete Berge auf. Das Motorboot, das dem verhassten Augustus Reed gehörte, jagte noch immer auf dem See herum und zog einen weißen Schaumstreifen hinter sich her.

»Ja, das sieht recht hübsch aus«, meinte Bruce. »Ich glaube, es wird uns gefallen, Miss Gray. Aber wie mag das Essen sein?«

Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, antwortete aber nicht. Sir Christopher ging voran, und so kamen sie über die Terrasse in die Halle - die, wenn auch groß und eindrucksvoll, sich doch kaum von der Halle eines großen Landhauses unterschied. Es gab hier weder Ritterrüstungen noch Jagdtrophäen an den Wänden, wie es Carol eigentlich erwartet hatte.

Eine zierliche, fast zerbrechliche alte Dame, ganz in Schwarz, nur mit einer weißen Krause am Hals, erwartete sie dort. Lady Angela Gleniston war schon siebzig, hielt sich aber sehr aufrecht, und ein stolzer, fast hochmütiger Ausdruck lag auf ihrem verrunzelten Gesicht. Ihr straff zurückgestrichenes Haar war schneeweiß.

Hinter ihr stand Major Claude Fanshawe - ihr Neffe, den Sir Christopher als Trottel bezeichnet hatte. Bruce konnte auf den ersten Blick dieses Urteil nicht teilen. Ihm erschien Fanshawe recht sympathisch. Er war ein zart gebauter Vierziger, der unmilitärisch gebeugt ging, was vermuten ließ, dass seine Laufbahn in der Armee nicht lange gedauert hatte. Vermutlich gehörte er zu den Offizieren, die im Krieg einen bequemen Büroposten gehabt hatten. Er war blond, an den Schläfen schon leicht ergraut, mit hellen Augen und einem unausgeprägten Kinn. Er wäre vielleicht hübsch gewesen, wenn er nicht sehr vorstehende Zähne gehabt hätte.

Sir Christopher stellte die neuen Gäste vor, und Lady Gleniston begrüßte sie, als ob sie hochgeehrte Gäste in ihrem Haus willkommen hieße. Diese Art der Aufnahme war, wie Bruce später herausfand, eine ihrer Eigenheiten. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass ihre Gäste für ihre Gastfreundschaft zu zahlen hatten. Ihr Neffe war praktischer. Als er Carol und Bruce die Hand schüttelte, brachte er die Hoffnung zum Ausdruck, dass es ihnen in Gleniston gefallen möge. Er forderte sie auf, es ihm zu melden, wenn die Bedienung zu wünschen übrigließ, oder wenn sie sonst etwas störte. Er benahm sich durchaus geschäftsmäßig und bat sie noch, die Anmeldeformulare bald auszufüllen.

Lady Gleniston hingegen bemühte sich, diese geschäftlichen Notwendigkeiten zu übersehen; vielleicht war sie auch zu sehr damit beschäftigt, Sir Christopher zu beobachten, der mit onkelhafter Freundlichkeit mit Carol scherzte und lachte. Die alte Dame richtete sich noch steifer auf, und ihre Augen wurden eisig, als sie sich warnend räusperte.

»Sir Christopher, ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mich in mein Arbeitszimmer begleiten würden«, meinte sie spitz. »Und zwar sofort!«

Beim Klang dieser frostigen Stimme erstarb das Lachen, das Morton-Gore gerade ausstieß. Er riss sich zusammen und wandte sich entschuldigend an Lady Gleniston.

»Ja, gewiss...«, meinte er hastig. »Major, Sie werden sich dieser Herrschaften annehmen, nicht? Natürlich, Madam, ganz zu Ihren Diensten.«

Bruce wunderte sich, warum der Mann so bemüht war, die alte Dame zu beruhigen, aber er hatte zu weiteren Beobachtungen keine Zeit. Fanshawe hatte ein Zimmermädchen herangewinkt. Nun sah er in einem Verzeichnis nach, das er aus der Tasche zog.

»Miss Carol Gray und Mr. Bruce Campbell...«, nickte er. »Sie wohnen beide im ersten Stock im rechten Flügel, Zimmer einundzwanzig und sechsunddreißig. Susan...«, er winkte dem Zimmermädchen, »führen Sie die Herrschaften auf ihre Zimmer.«

»Jawohl, Sir«, erwiderte Susan gehorsam.

Bruce hatte den Eindruck, dass das Zimmermädchen sehr nervös war. Sie sah auch krankhaft blass aus. Aber von dieser Blässe abgesehen, war sie bemerkenswert hübsch und sicher nicht älter als achtzehn.

Verdammt noch mal!, dachte Bruce. Warum war er eigentlich für Atmosphäre so empfindlich? Denn in diesem Augenblick hatte er ein eigenartiges, aber recht sicheres Gefühl, dass irgendetwas in diesem Schloss nicht in Ordnung war. Aber das war selbstverständlich glatter Unsinn...

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Bruce hatte jenes Gefühl schon vergessen, als er hinter Carol die breite Treppe hinaufging; denn jetzt ging ihm etwas anderes durch den Kopf, Sie hatten die Zimmer einundzwanzig und sechsunddreißig. Das war schlimm, denn es bedeutete, dass sein Zimmer von dem Carols weit entfernt lag. Tröstlich war nur, dass ihre Zimmer wenigstens im gleichen Stockwerk und Flügel lagen. Das war doch immerhin etwas.

Als er in dem breiten Korridor hinter Carol herging, fand er das leichte Schwingen ihrer Hüften höchst anziehend; sie bewegte sich mit einer gelenkigen Leichtigkeit, die seinem sportlichen Herzen Wohltat. Auch ihre Art, den Kopf zu halten, fand er bewundernswert.

»Ach, entschuldigen Sie...«, murmelte er hastig.

Er war fast mit den beiden Mädchen zusammengestoßen, als Susan plötzlich stehengeblieben war. Er hatte den Nummern der Zimmer, an denen sie vorbeigegangen waren, keine Beachtung geschenkt; jetzt sah er, dass das Zimmermädchen die Tür des Zimmers Nummer einundzwanzig geöffnet hatte.

»Das ist Ihr Zimmer, Miss«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Und dieses Zimmer, Sir, ist das Ihrige.«

Während sie sprach, hatte sie die gegenüberliegende Tür geöffnet - eine Tür, auf der Bruce zu seiner Überraschung die Nummer sechsunddreißig las. Er war so erfreut, dass er fast durch die Zähne gepfiffen hätte.

»Ach - wirklich?«, murmelte er verdutzt. »Ich dachte - das ist also mein Zimmer? Sehr schön!«

Carol hingegen sah nicht gerade zufrieden aus.

»Das ist Mr. Campbells Zimmer?«, fragte sie das Mädchen. »Könnte er nicht ein Zimmer weiter hinten im Gang bekommen? Vielleicht in einem anderen Flügel - oder in einem anderen Stockwerk?«

»Nein, Miss, das ist Mr. Campbells Zimmer.«

»Nun schön.« Carol zuckte resigniert die Achseln.

Bruce war tief betroffen. Offenbar war sie noch immer auf ihn böse - und diese Erkenntnis war schmerzlich. Als er, ganz unglücklich, in sein Zimmer trat, konnte er noch hören, wie Carol das Zimmermädchen fragte, ob sie sich nicht wohl fühle, und wie Susan antwortete, dass ihr nichts Ernsthaftes fehle und sie nur Kopfschmerzen habe. Dann schloss er seine Tür und seufzte.

»Mein Gott! Bin ich ihr wirklich so zuwider?«, murmelte er niedergeschlagen. »Dabei ist sie die schönste Frau, die ich je gesehen habe! Und diese Frau betrachtet mich als jemanden, der sie schon stört, wenn er nur mit ihr auf demselben Hotelflur wohnt!«

Es war nicht gerade ein glücklicher Anfang seiner Ferien. Er lernt das ideale Mädchen kennen - das Mädchen, von dem er schon jahrelang geträumt hatte - und gibt als erstes ihrem Koffer einen solchen Tritt, dass er auf die Schienen geschleudert wird. Dabei war doch, wenn man es sich richtig überlegte, gar nichts passiert. Schließlich waren sie ja gerade infolge seines Ungeschicks in einem herrlichen Sunbeam ins Schloss gefahren, anstatt sich mit anderen in einen Autobus quetschen zu müssen!

Gleichgültig sah er sich in seinem Zimmer um. Es war eigentlich recht hübsch eingerichtet, weit netter als das übliche, unpersönliche Hotelzimmer. Man konnte sich hier schon zu Hause fühlen. Die Möbel waren zwar altmodisch, aber auf dem Boden lag ein weicher Teppich, die Bettwäsche war tadellos sauber, und die bunten Chintzvorhänge am Fenster sahen freundlich aus. Auf seinem Nachttisch stand eine hübsche Lampe, und hinter einem Vorhang in einer Ecke gab es ein Waschbecken mit fließendem warmen und kalten Wasser und einer Lampe darüber.

Er zog eine helle Flanellhose und ein Nylonhemd an, nachdem Tom, der Hausdiener, ihm seinen Koffer aufs Zimmer gebracht hatte. Von unten ertönte ein Gong - wahrscheinlich das Zeichen, dass man sich zum Abendbrot fertigmachen sollte. Hoffentlich erwartete man von den Gästen nicht, dass sie zum Abendbrot im Smoking erschienen. Aber so etwas konnte man in einem Ferienhotel nicht verlangen - und schließlich war doch Schloss Gleniston nur ein Ferienhotel! Ach, Unfug! Der Abend war warm, er war in Urlaub, und er dachte gar nicht daran, es sich unbequem zu machen!

So ging er denn in das Wohnzimmer hinunter, gewillt, sich nicht darum zu kümmern, falls andere Gäste im Abendanzug erscheinen sollten. Zu seiner Erleichterung sah er jedoch, dass sich niemand in Abendtoilette geworfen hatte.

Das Wohnzimmer war ein riesiger Raum. Bruce betrachtete die hier versammelten Gäste mit Interesse. Nur die üblichen Ferienreisenden! dachte er schließlich. Ein Arzt und seine Frau - ein Börsenagent - ein Anwalt - zwei ältliche Jungfern, offenbar Schwestern - zwei oder drei jüngere Paare sportlichen Typs. Nicht gerade eine besonders interessante Gesellschaft, dachte Bruce, der das Zimmer auf der Suche nach Carol mit den Augen überflog. Er bemerkte dabei Major Fanshawe, der mit einer eleganten, lebhaften Frau von Mitte Dreißig sprach. Sie trat sofort auf Bruce zu und redete ihn an.

»Mr. Bruce Campbell?« Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage. »Ich freue mich, Sie in Schloss Gleniston begrüßen zu können. Ich bin Margaret Cawthorne, Lady Glenistons Sekretärin.« Ihre Augen blinzelten vergnügt. »Den Titel gibt man mir nur aus Höflichkeit«, vertraute sie ihm mit leiser Stimme an. »Eigentlich bin ich hier eine Art Mädchen für alles - Verwalterin, Hausdame - alles in einer Person. Lady Gleniston überlässt alles mir. Ich will mich bemühen, Ihnen den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu machen.«

Bruce war der Ansicht, dass Miss Cawthorne ein erfreulicher Ersatz für die steife Lady Gleniston war. Sie sprach lebhaft und sachlich, wirkte aber dabei gutmütig. Nachdem sie Bruce begrüßt hatte, ging sie zwischen den übrigen Gästen herum und lachte und schwatzte mit ihnen. Sie war etwas füllig, sah aber dadurch nur umso vergnügter aus. Sie trug ein buntes Sommerkleid von elegantem Schnitt, das ihrer Figur schmeichelte.

In diesem Augenblick tauchte Carol auf - und sofort vergaß Bruce Miss Cawthorne völlig. Außer Carol war für ihn überhaupt niemand mehr im Zimmer. Carol trug etwas Schimmerndes, Seidiges, das Bruce den Atem benahm. Mein Gott! Sie war ja noch viel hübscher, als er geglaubt hatte! Ihr blondes Haar glänzte, ihre roten Lippen waren leicht zu einem Lächeln geöffnet, und ihre Schultern schimmerten wie Samt.

Auch sie wurde von Miss Cawthorne begrüßt, aber obwohl sich Bruce bemühte, sie auf sich aufmerksam zu machen, gelang es ihm nicht. Plötzlich kündigte der Gong das Essen an, und alles ging hinaus in die Halle. Das Herz schlug Bruce bis in den Hals, als er eine leichte Berührung auf seinem Arm fühlte und sah, dass Carol neben ihm stand. Er musste schlucken. Sie hatte sich tatsächlich bei ihm eingehängt und sah ihm mit einem freundlichen Lächeln ins Gesicht.

»Außer Ihnen sind mir hier ja alle fremd«, murmelte sie. »Wenn Sie also nichts dagegen haben, möchte ich Sie bitten, mich zu Tisch zu führen.«

»Wenn - wenn ich nichts dagegen habe!«, stieß er hervor. »Aber Sie sehen ja gar nicht mehr böse aus!«

Sie lachte.

»Ach was - ich habe die lächerliche Geschichte auf dem Bahnhof schon längst vergessen«, erwiderte sie. »Meine Sachen sind zwar sehr zerdrückt - aber ich sagte Ihnen ja schon, dass ich Ihnen verziehen habe. Was halten Sie übrigens von den Leuten hier? Es sind nicht sehr viele junge Menschen da.«