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Eine Tierarztpraxis in der Einöde, stolze Hochmoorschafe und eine Leiche in der Scheune
Den Uni-Abschluss als Veterinärin frisch in der Tasche, findet sich Jenny Little plötzlich in einer Tierarztpraxis in der schottischen Provinz wieder. So hat sie sich den Start ins Berufsleben aber nicht vorgestellt! Nun, da hätte sie wohl besser mal das Kleingedruckte in ihrem Vertrag gelesen ... Doch damit nicht genug! Kaum angekommen, verwickelt der derzeit noch amtierende Dorftierarzt und Hobbydetektiv Dr. Dagobert Harrison Jenny in seinen neuesten Kriminalfall, der einige Fragen aufwirft: Wer ist der tote Mann im Königskostüm, den Bauer Bryce in seiner Scheune gefunden hat? Hat die 1000-Jahr-Feier des Ortes etwas mit dem Fund zu tun? Zwischen stolzen Hochmoorschafen, verzogenen Pfarrerskatzen und hustenden Seemöwen nehmen Dag und Jenny die Ermittlungen auf ...
Ein Wohlfühlkrimi mit schottischem Flair und tierischem Spaß
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Seitenzahl: 373
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Über das Buch
Über den Autor
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Über das Buch
Eine Tierarztpraxis in der Einöde, stolze Hochmoorschafe und eine Leiche in der Scheune Den Uni-Abschluss als Veterinärin frisch in der Tasche, findet sich Jenny Little plötzlich in einer Tierarztpraxis in der schottischen Provinz wieder. So hat sie sich den Start ins Berufsleben aber nicht vorgestellt! Nun, da hätte sie wohl besser mal das Kleingedruckte in ihrem Vertrag gelesen … Doch damit nicht genug! Kaum angekommen, verwickelt der derzeit noch amtierende Dorftierarzt und Hobbydetektiv Dr. Dagobert Harrison Jenny in seinen neuesten Kriminalfall, der einige Fragen aufwirft: Wer ist der tote Mann im Königskostüm, den Bauer Bryce in seiner Scheune gefunden hat? Hat die 1000-Jahr-Feier des Ortes etwas mit dem Fund zu tun? Zwischen stolzen Hochmoorschafen, verzogenen Pfarrerskatzen und hustenden Seemöwen nehmen Dag und Jenny die Ermittlungen auf … Ein Wohlfühlkrimi mit schottischem Flair und tierischem Spaß
Über den Autor
Christian Humberg verfasst Romane, Comics, Theaterstücke und Sachbücher für Kinder und Erwachsene. Er schrieb unter anderem bereits für Star Trek und Perry Rhodan Neo, und seine Werke wurden in mehr als ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach für die Bühne adaptiert. Seine Kolumnen und Artikel erscheinen bundesweit in der Presse. Christian Humberg ist häufig auf Conventions zu finden. Noch häufiger zu finden ist er vor seinem PC-Monitor, der ihm die Sicht auf den Eifelwald versperrt. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse erhielt er 2015 den Deutschen Phantastik-Preis.
Weitere Titel des Autors
Inspector-Smart-Weihnachtskrimis
Mord kennt keine Feiertage
Mord macht keinen Weihnachtsurlaub
Clara-Clüver-Reihe
Mörderische Brise
Trügerische Ufer
Mörderisches-Santorin-Reihe
Mörderisches Santorin – Zoe und der tote Reeder
Mörderisches Santorin – Zoe und die tödliche Kreuzfahrt
Blut-und-Blümchen-Reihe
Blut und Blümchen – Mord hat immer Saison
Herr-Heiland-Reihe
(unter dem Pseudonym Johann Simons)
Herr Heiland und der tote Pilger
Herr Heiland und der gefallene Engel
Herr Heiland und die Tochter des Sünders
Herr Heiland und ein erholsamer Mord
Herr Heiland und der dicke Fisch
Herr Heiland und der Tote im Kuhstall
Herr Heiland und das todsichere Geschäft
Herr Heiland und der tote Herbergsvater
Herr Heiland und die letzte Fahrt eines Unbekannten
Herr Heiland und der falsche Film
Herr Heiland und die heiße Spur
Herr Heiland und ein mörderischer Gaumenschmaus
Herr Heiland und die Halbgötter in Weiß
Herr Heiland und der Geist von Halloween
Herr Heiland und das entführte Christkind
Herr Heiland und das letzte Gebet des Bischofs
Herr Heiland und das Geheimnis der vergessenen Bücher
Herr Heiland und das Spiel auf Leben und Tod
Christian Humberg
DER
Tod
KOMMTIM
Kilt
Kriminalroman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Lektorat: Dorothee Cabras, Grevenbroich
Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
Covermotiv: © shutterstock: Chester Tugwell | Pav-Pro Photography Ltd | inspi_ml
E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-7517-7459-8
Sie finden uns im Internet unter luebbe.de
Bitte beachten Sie auch: lesejury.de
Die Kälte hätte sie stutzig machen müssen. Es war nie kalt in diesem Haus – ganz egal, wie wild und unerbittlich der schottische Nachtwind vor den dunklen Fensterscheiben auch wütete. Nie.
Und doch …
Auch der Hund war eine deutliche Warnung gewesen. Er war doch sonst immer das reinste Seelchen, das keiner Fliege etwas Böses wollte. Der Inbegriff der vierbeinigen Gemütlichkeit, der höchstens durch seine Blähungen gefährlich wurde. Nun aber hatte der Basset geknurrt, aggressiv und drohend, und die Zähne gezeigt, als gelte es, das Revier gegen einen Feind zu verteidigen.
Wie untypisch! Hier im Wohnzimmer hatte es doch noch nie Feinde gegeben. Und selbstverständlich gab es auch jetzt keine.
Oder?
Jenny Little war langsam, zu langsam. Sie sah die Zeichen, die förmlich »Warnung!« schrien, konnte sie aber noch nicht zu einem sinnhaften Bild zusammensetzen. Dafür war ihr Verstand nach dem langen Tag schlicht zu müde, waren ihre kleinen grauen Zellen schlicht nicht mehr aktiv genug.
Und dann ging alles ganz schnell: Noch immer eher verwundert als besorgt, drehte Jenny sich um und sah in Richtung Hausflur – just als der dunkle Schatten von dort auf sie zugeflogen kam! Noch bevor sie richtig begriff, wie ihr geschah, riss er sie auch schon von den Füßen.
Und mit einem Mal verstand sie.
Wir lagen falsch! Es war der letzte Gedanke, der durch ihren Geist zuckte, bevor panische Angst in ihr aufwallte und alles Rationale und Beherrschte überflutete. Von Anfang an!
Sie wollte sich wehren, wollte schreien und um sich schlagen, doch der Schatten gab ihr keine Chance dazu. Schon schlug ihr Hinterkopf auf den Bodendielen auf, hart. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Körper wie ein warmes Messer durch wehrlose Butter.
Dann wurde die Welt schwarz. Es war fast eine Erlösung.
Einige Tage zuvor
Der Knall war laut und ließ Jenny Little zusammenfahren.
Ich bin getroffen!, dachte sie entsetzt. Der … Der hat mich erwischt!
Instinktiv wartete sie auf den Schmerz, doch der kam nicht. Erst nach einigen Sekundenbruchteilen, als die Verwirrung überhandnahm, öffnete sie vorsichtig die Augen.
Und sah Heidekraut.
Eine hügelige Landschaft zog an ihr vorbei, geprägt von felsdurchsetzten Weiden, kleinen Wäldern und jeder Menge Heidekraut. Einen Mörder entdeckte sie nirgends.
»Schlecht geschlafen?«, erklang eine Stimme neben ihr.
Blinzelnd drehte Jenny den Kopf. Erst jetzt begriff sie wieder, wo sie überhaupt war. Nicht in dem Kriminalroman, der ihr im Schlaf vom Schoß und auf den Boden des Reisebusses gefallen war, sondern mitten im schottischen Niemandsland. Auf dem Fensterplatz in Reihe vier.
»Sie haben leise vor sich hin gemurmelt«, sagte die Frau, die Jenny angesprochen hatte. Sie musste über siebzig sein – ein teigig blasses Gesicht über einer geblümten Bluse. Graue Locken, grüne Augen und ein richtig ausgeprägter Akzent – eine Schottin, unverkennbar. »Schon eine ganze Weile. War wohl kein allzu schöner Traum, hm?«
»Nein«, bestätigte Jenny. Müde rieb sie sich die Augen. »Das nicht gerade.«
Sie hatte sich dem Mörder aus ihrer Reiselektüre gegenübergesehen. Der Killer hatte ihr in einer Wohnung aufgelauert, die im Traum die ihre gewesen war. Kaum hatte Jenny sie betreten, war er aus dem Schatten gesprungen und auf sie losgegangen.
Die Einunddreißigjährige schüttelte den Kopf, tadelte sich innerlich für ihre abstruse Fantasie. Dann bückte sie sich nach dem Roman.
»Beim nächsten Mal nehme ich mir ein anderes Buch mit«, versprach sie ihrer Sitznachbarin. Wie zur Erklärung hielt sie ihr das Cover entgegen, das den Killer als dunklen Schemen zeigte – mitsamt Waffe. »Dann träume ich auch besser. Hoffentlich.«
Die Frau lachte und widmete sich wieder ihrer Strickarbeit.
Abermals sah Jenny sich um. Wie lange hatte sie geschlafen? Der Bus war gut gefüllt gewesen, als sie den Bahnhof von Gourock verlassen hatten. Nun gehörten sie und die ältere Dame zu den letzten verbliebenen Passagieren.
Kein Wunder, bei der Landschaft, dachte sie. Wer will hier schon hin? Hier ist doch nichts.
Die schmale Straße führte durch absolutes Nirgendwo. Wo Jenny auch hinsah, fiel ihr Blick auf grüne Wiesen, felsige Abhänge und hüfthohe Mauern aus Bruchstein, die aussahen, als wären sie älter als die Zeit. Moos wuchs auf nahezu jeder freien Fläche, und die einzigen Anzeichen von Leben waren die grasenden Schafe, die ihr gelegentlich in der Ferne auffielen. Der Himmel über dieser Ödnis tat sein Übriges, ihren trostlosen Eindruck zu unterstreichen: Er war grau und wolkenverhangen, ein stummes Versprechen von nahendem Regen.
Du meine Güte.
Jennys Reise hatte vor einer gefühlten Ewigkeit begonnen. In London war sie in den ersten von vielen Zügen gestiegen. Er hatte sie und ihr Gepäck gen Norden befördert, wo weitere Züge und sogar ein Grenzübergang gewartet hatten. Nun zuckelte sie durchs schottische Hinterland, erschöpft und reisemüde.
Sie hatte sich nie sonderlich für die Details ihrer Route interessiert und war schon froh, sich all die Umstiege und verschiedenen Stationen merken zu können. Eins war ihr aber klar: Dieser klapprige alte Bus mit seinen abgewetzten Sitzbezügen und dem wortkargen Stiernacken von Fahrer stellte die letzte Etappe dar. Er brachte sie ans Ziel – endlich.
»Entschuldigung«, wandte Jenny sich erneut an die Frau neben ihr. »Wissen Sie zufällig, wo wir sind? Ich muss nach North Hubbington.«
Sie hatte dem Fahrer ihr Ziel genannt, schon beim Einsteigen. Entsprechend sicher war sie sich eigentlich, es nicht im Schlaf verpasst zu haben. Doch die Ödnis draußen vor den Fenstern weckte unangenehme Zweifel an dieser Sicherheit.
»Ach, da wollen Sie hin.« Die Dame lächelte, und ein erstaunter Ausdruck schlich sich auf ihre teigigen Züge. »Ich hab mich das schon die ganze Zeit gefragt. Normalerweise kenne ich die Leute auf dieser Strecke, aber Sie habe ich noch nie gesehen. Ich bin übrigens Katherine, Katherine Douglas.«
»Angenehm.« Jenny erwiderte das herzliche Lächeln und schüttelte die ihr dargebotene Hand. Sie war kaum weniger teigig als das Gesicht. »Jenny Little.«
»Little?« Katherine hob die Brauen. »Na, das ist mal …«
»… ein passender Name, ich weiß«, fiel Jenny ihr schnell ins Wort. »Das höre ich schon mein ganzes Leben lang.«
Sie war eins zweiundsechzig groß und hatte schon als Mädchen zu der Sorte Mensch gezählt, die einfach nicht zunahmen. Ganz egal, was sie aß oder wie viel Sport sie trieb – ihr Körper blieb, wie er war: schlank, drahtig und eben klein. In puncto Figur war ihr das sehr recht … und Eric, ihrem Freund, nicht minder. Doch bei der Körpergröße hätte sie sich gerne noch ein paar Handbreit mehr gewünscht, erst recht wegen ihres Namens. Wer Little hieß und little war, konnte sich vor Scherzen nicht retten.
»Und Sie wollen wirklich nach North Hubbington?«
Jenny nickte. »Ich fange dort eine neue Arbeit an, wissen Sie? In der Forschung.«
»Forschung?« Ihre Nachbarin runzelte die Stirn. »Woran forscht man denn in North Hubbington?«
»Tiermedizin«, antwortete Jenny. Irgendetwas an der sympathischen Art dieser Katherine weckte die Plauderlust in ihr. Oder lag das an dem Nickerchen, das sie gemacht hatte? »Ich komme quasi frisch von der Uni, aus London. Und das Labor in North Hubbington ist für die nächsten Jahre mein Arbeitgeber. Da werden Arzneimittel entwickelt, verstehen Sie? Für Haus- und Nutztiere.«
»In North Hubbington?«, vergewisserte sich Katherine erneut. Sie klang überrascht. »Na, man lernt nie aus. Waren Sie früher schon einmal in Schottland?«
Jenny schüttelte den Kopf. »Bedaure. Meine Ortskenntnis ist gleich null. Ich hoffe, die Menschen im Labor sprechen so deutlich wie Sie, Katherine. Andernfalls wird das noch schwierig mit der Verständigung. Es soll hier ja die wildesten Dialekte geben.«
Das Land war dreisprachig, zumindest das wusste sie. Nahezu überall wurde Englisch gesprochen und verstanden, aber es gab auch noch die altertümlicher anmutenden Sprache Scots und natürlich das Gälische. Von den Letztgenannten hatte sie in etwa so viel Ahnung wie eine Milchkuh von Biochemie, weshalb sie voll und ganz auf ihr Glück und auf die lingua franca setzen musste. Es würde schon alles gut werden, davon ging sie aus. Menschen, die in Laboren arbeiteten, weiße Kittel trugen und Periodensysteme auswendig konnten, sprachen bestimmt nur ausgesprochen selten irgendwelche kruden Hinterwäldler-Akzente.
»Ja, die gibt es«, bestätigte die Siebzigjährige. »Bei uns im Dorf beispielsweise, da sprechen die Alteingesessenen ganz anders als die Leute zwei Dörfer weiter. Und wenn die Familie meines Ewan zu Besuch kommt …«
Nun war Katherine es, die plauderte. Mit sichtlicher Freude erzählte sie von Ehemann, ihrer Verwandtschaft, ihrem Dorf an der Küste und von den lästigen Arztbesuchen, die sie zwei Mal im Monat zu einer Fahrt mit dem Bus in die nächstgrößere Ortschaft zwangen. Ihr Nachbar habe zwar schon mehrfach angeboten, sie mit seinem Pkw zu kutschieren. Doch der Mann rauche regelmäßiger als ein Industrieschornstein – »und noch dazu diese Selbstgedrehten, die riechen, als bestünden sie aus nichts als Teer«. Weshalb sie die Mitfahrgelegenheit stets dankend ausschlug und den Bus nahm.
»Außerdem«, kam sie zum Schluss, »trinkt er gerne mal ein Glas. Und ich weiß nicht, ob ich ihm die weite Strecke dann noch zutraue. Er sich auf jeden Fall, aber ich? Nein, danke.«
Jenny schmunzelte. Es tat gut, so entspannt zu erzählen. Für einen kurzen Moment war sie versucht, sich zu revanchieren und von ihrem Leben in London zu berichten – von Eric und seiner Stelle als Hilfskraft des Dekans, von ihren zurückliegenden Examensprüfungen oder von der gemeinsamen Wohnung, die so viel Miete verschlang, dass Eric sie »ein schwarzes Loch für Bargeld« getauft hatte. Doch ein Seitenblick zum Fenster ließ sie innehalten. Dort, zwischen den grünen Hügeln, war für einen kurzen Augenblick das Meer erschienen – blau und weit bis zum Horizont.
»Die Küste!«, staunte sie. »Da. Ich habe sie genau gesehen.«
Katherine nickte. »Aye. Wir nähern uns den letzten Haltestellen auf dieser Route. Ich glaube, North Hubbington mit seinem schmucken kleinen Hafen kommt zuerst. Vorigen Sommer waren Ewan und ich mal wieder dort, wissen Sie? Ein Freund von ihm hat ein Boot dort liegen, und wir sind einen Nachmittag lang raus auf den Firth gefahren. Mir selbst liegt herzlich wenig an derlei Aktivitäten. Von Wellen wird mir stets schnell übel, und Fisch schmeckt mir sowieso nicht. Aber die Männer fühlen sich immer wie Kapitäne, wenn sie auf dem Wasser sind. Da will man ihnen den Spaß nicht verderben.« Katherine kicherte gutmütig.
Jenny hörte nur mit halbem Ohr hin. Das Meer!
Sie wusste nicht viel über ihren neuen Wohn- und Arbeitsort. Eric hatte sie sogar mehrfach deshalb aufgezogen. »Du verweigerst dich den Tatsachen«, hatte er gesagt. »Das nennt man ›Vogel-Strauß-Syndrom‹, Jenny. Du willst nicht wirklich dahin, also informierst du dich nicht darüber. Du denkst, es sei nicht echt, solange du es ignorierst.«
Die Worte hatten wehgetan, aber sie hatten ins Schwarze getroffen. Das war ihr klar.
Doch vom Meer hatte sie stets gewusst. Ihr neuer Wohnort lag am Wasser. Wann immer sie es wollte, würde sie es sehen, es besuchen können. Der Gedanke tat unendlich gut. Außerdem tröstete er ein wenig über den Trennungsschmerz hinweg. London und vor allem Eric ließen sie nicht los – ganz egal, wo sie sich befand.
»Ich fürchte, ich bin da wie Ihr Mann, Katherine«, gestand sie schmunzelnd und unterbrach den jüngsten Redefluss ihrer Begleiterin. »Ich bekomme auch nicht genug von der See. Stadtkinder und ihre romantischen Vorstellungen, hm? Schon als Kind bin ich mit meinen Eltern immer an die Küste gefahren.«
Sie erinnerte sich noch gut an diese Urlaube. Bournemouth mit seinem Amusement Pier, Brighton mit den alten Villen, das viktorianisch geprägte Eastbourne … Vielleicht hätte sie sich doch genauer über dieses North Hubbington informieren sollen. Hatten schottische Küstenorte auch Amusement Piers?
Der Regen kam ganz plötzlich. Von einem Augenblick auf den nächsten setzte er ein – und binnen weniger Sekundenbruchteile wurde aus vereinzelten Tröpfchen ein wahres Dauerfeuer. Jenny sah, wie die Wolken sich über das Land erbrachen und erste Pfützen am Straßenrand erschienen. Ein peitschender Wind, der von Westen kam, trieb den Regen gegen die Fensterscheiben, und das Prasseln auf dem Dach des Busses war lauter als das stete Röhren des alten Dieselmotors.
Geht das hier immer so schnell mit dem Wetter?, fragte sie sich staunend. In diesem Moment war sie richtig froh über ihren überdachten Sitzplatz.
Einen Atemzug später wurde der Bus langsamer.
»Nanu?«, murmelte Jenny. Sie kniff die Lider enger zusammen. Irgendetwas war da draußen, oder? Eine Art Wegweiser am Straßenrand? Da, wo die Teerstraße einen buckligen Schotterweg kreuzte?
Der Bus hielt exakt an der Stelle an. Und der Wegweiser entpuppte sich als …
»So, da wäre die Haltestelle«, rief der Stiernacken. Er stand auf, kaum dass die Räder nicht länger rollten, und sah zu Jenny herüber. »North Hubbington, ganz wie bestellt. Warten Sie, ich hole Ihnen noch schnell die Koffer aus dem Gepäckfach.«
Ungläubig runzelte sie die Stirn. Trotz des Regens konnte sie die Landschaft vor den Fenstern ganz gut erkennen: Da waren nur Wiesen und Hügel. Und natürlich der Schotterweg. Eine Stadt oder auch nur eine Siedlung suchte man vergebens.
»Das muss … ein Irrtum sein«, sagte Jenny. Doch der Fahrer war bereits ausgestiegen und hantierte am Kofferraum des Busses, der sich unter dem Sitzabteil befand. »Katherine? Macht der Scherze?«
Die ältere Dame sah sie an. »Aber nein, wo denken Sie hin? Das ist die richtige Haltestelle – die einzige weit und breit. Sie müssen den Weg da entlang, hören Sie? Immer der Nase nach in Richtung Westen. Den Ortsrand erreicht man dann in … Ja, so genau weiß ich das auch nicht. In einer halben Stunde?«
Der Fahrer kam zurück. »Was ist jetzt, lassie? Steigen Sie aus oder nicht?«
»A…« Entsetzen stieg in Jenny auf. »Aber hier ist doch nichts.«
»I wo!« Der Stiernacken winkte ab. »Sie müssen einfach in Richtung Küste, dann finden Sie das Kaff schon. Ist auch nicht weit, vielleicht knapp über eine Meile.«
Das ist ein Witz, keuchte sie innerlich.
Der Stiernacken schien ihr Entsetzen zu bemerken. Ratlos zuckte er mit den breiten Schultern. »Na ja. Normalerweise lassen sich Leute hier abholen, die nach North Hubbington wollen. Aber Sie schaffen das auch zu Fuß, wenn Sie müssen.«
Eine Meile über den Schotterweg? Mit zwei Koffern? In strömendem Regen?
Jenny traute ihren Ohren kaum. Ihr Körper war wie auf Autopilot, als sie von ihrem Platz aufstand, sich von Katherine verabschiedete und in Richtung Ausgang bewegte. Die Koffer standen bereits draußen am Wegesrand, gleich neben einer stetig größer werdenden Pfütze.
»Entschuldigung«, wandte sie sich an den Fahrer, ganz kleinlaut und hilflos. »Fahren Sie wirklich nicht in den Ort rein?«
»Nee.« Er lachte. »Da fährt gar nix rein, kein einziger Bus. Ist aber auch kein Wunder, bei der Lage. Wäre ein Umweg, verstehen Sie, und dafür hab ich echt keine Zeit. Es will auch kaum mal jemand per Bus dorthin, von daher …«
Mit einem Mal wusste Jenny, warum Katherine Douglas sie so fragend angesehen hatte. Jenny verließ den Bus wie ferngesteuert, und sofort fiel der Regen auf ihr blondes Haar. Wo sie auch hinschaute, sah sie nichts als Wiesen, Hügel und Nässe.
»Also dann«, sagte der Stiernacken. Er saß bereits wieder am Lenkrad, winkte freundlich. »Immer der Nase nach, klar? Ist ’n Katzensprung.«
Jenny wusste nicht, warum ihr Kopf dazu nickte. Es geschah ohne ihren Willen.
Der Fahrer schloss die Tür, der Bus setzte seine Fahrt auf der Teerstraße fort. Katherines Gesicht erschien am Fenster, als er Jenny passierte. Ihre Miene troff geradezu vor Mitleid. Dann war der Bus fort, und Jenny war allein mit dem Regen, dem Heidekraut und dem Schotter.
Kaltes Wasser lief ihr in den Nacken. Haare klebten an ihrer Stirn. Je leiser der röhrende Motor wurde, desto deutlicher hörte sie, dass sie hier draußen nichts anderes hörte. Nichts außer dem Prasseln des Regens.
»Katzensprung«, murmelte sie, halb taub vor Schock und Kälte.
Dann ging der Autopilot mit ihr in die Knie, zwang ihre Hände an die Griffe der beiden Koffer, und Jenny Little zog fröstelnd gen Westen.
Seamus Blair schlug den Kragen seiner durchnässten Jacke zurück, als er über die Schwelle trat. Die kleine Glocke über der Tür des Hubbington Hub bimmelte so fröhlich, als wäre das Wetter ihr vollkommen egal. Was, wie Seamus vermutete, auch absolut stimmte.
Das Innere des Dorfladens sah aus wie immer. Deckenhohe Regale säumten die Wände, und nur bedingt kleinere Exemplare prägten den Innenraum. Dunkle Holzbohlen bedeckten den Boden, und in der Luft lag der dezente Duft von frischen Äpfeln, Reinigungsmitteln und Kaffee. Überall fiel der Blick auf Konservendosen, Zeitschriften, Heftpflaster sowie eine Vielzahl weiterer Waren. Obst und Gemüse warteten in den Körben am Eingang, frische Backwaren in der Auslage hinter der schmalen Theke. Außerdem war es angenehm warm.
Der Hub zählte zu den Institutionen des Dorfes, genau wie der Hafen und der Pub. Jeder in North Hubbington frequentierte ihn – zum Einkaufen und zum Tratschen –, und seine Betreiberin Emma McDonald war die wohl bestinformierte Person weit und breit. Nicht einmal Father Green drüben in der Kirche wusste mehr über seine Schäfchen als Emma über ihre Kundschaft. Und wenn doch, behielt er es für sich.
Aktuell stand die Mittfünfzigerin hinter ihrem Tresen und bediente eine Touristin. Es war früh für Sommerurlauber, die vor allem in den wärmeren Monaten nach North Hubbington kamen. Doch eine von ihnen – eine Frau mit dunklem Haar und knallroter Windjacke – hatte es offenbar bereits hergeschafft. Ihr Rucksack und ihre Wanderschuhe bewiesen, wie sie sich den Tag vertrieb.
Emma McDonald sah auf, als Seamus näher trat. »So, Miss. Da ist Ihr Wechselgeld. Einen schönen Tag noch, ja?«
Die Touristin bedankte sich herzlich und verließ den Laden mit einer Papiertüte, aus der mehrere Illustrierte ragten. Abermals klingelte das Glöckchen.
»Seamus«, grüßte Emma nun. »Kommst du die Lieferung holen?«
»Aye«, nickte er. Nachdenklich sah er sich um. »Mairi meint, ihr hättet sie fertig. Ist John auch hier?«
»Bedaure«, erwiderte die Verkäuferin. Sie verschwand dabei kurz im Durchgang hinter dem Tresen, der zur Privatwohnung des Ehepaars McDonald führte. Als sie zurückkam, hielt sie einen Pappkarton in Händen, der mit allerlei Gemüse und Konserven gefüllt war. »Der treibt sich drüben am Hafen herum. Der alte Birch hat Probleme mit dem Bootsmotor. John wollte aber gleich wiederkommen. Bis dahin sind wir beide allein – abgesehen von ihr.«
Beim letzten Satz, den Emma deutlich leiser ausgesprochen hatte als den Rest, zuckte sie mit dem Kopf leicht nach links. Seamus runzelte die Stirn und lenkte den Blick in die Richtung. Erst dann bemerkte er die Frau.
Sie stand in der kleinen Nische mit dem Münzfernsprecher. Der rührte noch aus den Zeiten her, in denen Emmas Eltern den Hubbington Hub betrieben hatten. Damals war er der einzige öffentliche Fernsprecher weit und breit gewesen – und für viele Einwohner des Dorfes die einzige Sprechverbindung zum Rest der Welt. Heute hatte die Welt sich natürlich merklich weiterentwickelt, doch die McDonalds hatten es nie übers Herz gebracht, sich von der Nische mit dem Fernsprecher zu trennen. Das legendär schlechte Handynetz in der Region gab ihnen da recht.
»Nein, verdammt noch mal«, schimpfte die Frau gerade in den Hörer des Telefons. Sie war, wie Seamus amüsiert bemerkte, nass bis auf die Haut – und beileibe nicht unattraktiv. »Ich will nicht warten. Ich warte schon seit über zwanzig Minuten und … Hallo? Hallo??«
»Noch eine Urlauberin?«, murmelte Seamus. Dabei fiel sein Blick auf die beiden klobigen Koffer, die vor der Telefonnische standen und kleine Pfützen auf dem Holzbohlen bildeten. Dann nahm er den Karton mit den Lebensmitteln von Emma entgegen, stellte ihn kurz auf dem Tresen ab und zückte die Geldbörse. »Ohne Bleibe?«
Emma schüttelte den Kopf. »Sie sagt, sie sei aus London. Um in unserem Forschungslabor zu arbeiten.«
»In was?« Fragend runzelte er die Stirn. »Forschung?«
Sein Gegenüber hob die Schultern. »Ich bin genauso überfragt wie du. Aber sie kam wohl vorhin mit dem Bus und ist den ganzen Weg hierher zu Fuß gegangen. Durch strömenden Regen.«
Deshalb die schlechte Laune, hm?, dachte Seamus.
»Hallo?«, rief die Blonde gerade wieder in den Hörer. Sie war niedlich, auf eine ganz unaufgeregte Weise. Und wütend. »Ja, ich bin immer noch dran. Können Sie mich jetzt bitte endlich verbinden? Verflucht, das ist … Hallo? Man fasst es nicht!« Sie sah aus, als wollte sie das Telefon mit bloßen Händen erwürgen. Und danach sich selbst, mit dem Kabel des Telefonhörers.
Steht dir, die Wut, dachte Seamus schmunzelnd.
Er hatte noch nie von einem Forschungslabor in North Hubbington gehört. Da er hier geboren und aufgewachsen war, glaubte er auch, es wissen zu müssen, wenn es ein solches gäbe. Wer auch immer die junge Frau sein mochte, irgendetwas lief gerade bei ihr gehörig schief.
»Lass es uns wissen, falls sie ein Zimmer braucht, ja?«, bat er Emma in leisem Verschwörerton.
Die Verkäuferin nickte. »Und du, grüß Mairi von mir.«
Er versprach es, nahm den Pappkarton und verließ den Hub. Einmal mehr bimmelte das Glöckchen über der Tür. Seamus Blair beschloss, es als gutes Zeichen zu nehmen.
Jenny Little war den Tränen nahe und doch viel zu wütend zum Weinen. Nicht zum ersten Mal in der vergangenen halben Stunde schloss sie frustriert die Augen.
Das passiert nicht wirklich, sagte sie sich. Absolut nicht.
Aber das stumme Mantra verfehlte seine Wirkung. Jenny war längst darüber hinaus, sich noch etwas einreden zu können. Ihre Situation lag so offen vor ihr wie ein aufgeschlagener Kriminalroman – und sie war an Dramatik kaum zu überbieten.
Der Weg über die Schotterpiste ins Dorf war nicht allzu weit gewesen. Der Regen und das Gewicht ihrer beiden Koffer hatten ihn aber so wirken lassen. Als Jenny die ersten Häuser sah – kleine, maximal zweigeschossige Bauten mit windschiefen Dächern und uraltem Mauerwerk –, hatte sie es kaum glauben können. Auch nicht, dass es sich bei dieser Ansammlung von Gebäuden um ihren Zielort handelte. North Hubbington war nicht London, das war ihr natürlich klar gewesen. Provinz blieb Provinz. Aber etwas größer und lebendiger hatte sie sich ihren künftigen Wohnort doch vorgestellt.
Das Küstendorf am Firth war kaum mehr als ein Klecks auf der Landkarte. Jenny hatte nicht viele Straßen gesehen – und überwiegend alte Wohnhäuser. Es gab einen Pub, eine Schule, eine erstaunlich große Kirche und eine Art Marktplatz, auf dem ein Brunnen sprudelte. Die Luft roch nahezu überall nach der Würze und dem Tang des Meeres, und wenn der Regen und der Wind einmal nachließen, konnte man das klagende Krächzen von Möwen hören.
Ratlos war Jenny durch den Dorfkern gezogen, auf der Suche nach irgendeinem Gebäude, das ihr groß und vor allem modern genug für ein medizinisches Labor vorkam. Gefunden hatte sie keines, und als sie das Handy aus der Hosentasche zog, um Rücksprache mit ihrer alten Uni zu halten, war ein knappes KEINNETZ auf dem Display erschienen. Die Anzeige hatte sich auch dann nicht verändert, als Jenny weitergezogen war. Überall in North Hubbington schien man KEINNETZ zu haben.
Irgendwann hatte sie den Laden gesehen, den Hubbington Hub. Ein zweigeschossiges, rechteckiges Haus mit hohen Schaufenstern und einem verblichenen Öffentlicher-Fernsprecher-Aufkleber oben an der Eingangstür. Jenny war so ratlos gewesen, dass sie ihm gefolgt war.
Und nun stand sie hier, in einem hölzernen Alkoven im hinteren Bereich des Geschäftes, und wollte den Telefonhörer erwürgen. Die Nische hatte keine Tür, und das Telefon selbst sah aus wie aus Großvaters Zeiten – aber es funktionierte. Das allein zählte. Das und die Tatsache, dass Jenny noch immer genug Kleingeld hatte, um das Biest zu füttern.
»Miss Little?«, drang es aus dem Hörer. »Sind Sie noch dran?«
Kopfschüttelnd öffnete sie die Augen. »Mhm.«
Ihr war kalt, und das lag nicht nur an der Kleidung, die bloß langsam trocknete. Den Tee, den die Betreiberin des Ladens ihr vorhin hatte anbieten wollen, hatte sie abgelehnt. Nun fragte sie sich, weshalb.
»Miss Little«, sagte die Telefonistin am anderen Ende der Leitung. »Ich habe nun jemanden von der Stipendiatenstelle für Sie. Moment, ich verbinde.«
Na endlich!
Erleichterung strömte durch Jennys Körper. Jetzt würde sich alles aufklären, oder etwa nicht? Jetzt kam endlich Licht ins Dunkel.
»Miss Little!«, erklang eine andere weibliche Stimme an ihrem Ohr. Sie war fast schon übertrieben jovial. »Mein Name ist Thornton. Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen. Sie sind in Schottland, sagt Ihre Akte? North Hubbington? Ich fürchte, davon habe ich noch nie gehört. Wie ist es da?«
»Furchtbar«, antwortete Jenny. »Mrs Thornton, ich weiß nicht, was ich hier soll! Da muss ein Irrtum vorliegen. Man sagt mir, es gebe hier gar kein Labor für Tiermedizin.«
»Labor?« Papier raschelte in London. Mrs Thornton klang aufrichtig verwirrt. »Wie kommen Sie denn auf Labor? Praxis, steht hier. Sie müssen zur Tierarztpraxis D. Harriman, 8 Harbour Road.«
Jenny runzelte die Stirn. »Ein Irrtum, wie ich schon sagte. Ich muss zu einem Labor. Sind Sie mit meinem Fall vertraut? Das Stipendium, mit dem ich mein Studium der Tiermedizin finanziert habe …«
»Doch, doch«, unterbrach Mrs Thornton sie. »Ich sehe den Fall hier schwarz auf weiß vor mir. Ihr Studium wurde von externen Förderern finanziert, und im Gegenzug haben Sie sich bei Annahme des Stipendiums verpflichtet, diesen Förderern nach Examensabschluss beruflich zur Verfügung zu stehen. Für einen Zeitraum von …« Abermals raschelte Papier. »… drei Jahren.«
Jenny nickte. »Ganz genau. Und der Förderer war das Tiermedizinische Labor in North …«
»Nein, nein«, widersprach die Leiterin der Stipendiatenstelle. »Da irren Sie, meine Liebe. Die Fördermittel stammten von der Gemeinde North Hubbington. Nicht von einer dortigen Einrichtung. Vom gesamten Dorf.«
Unsinn!
Jenny spürte die Wut wieder in sich aufsteigen. Sie zog einen der Koffer heran, öffnete ihn. »Das kann nicht sein. Ich habe den Vertrag gleich hier. Da steht ganz eindeutig …«
Sie brauchte einen Moment, bis sie die Seiten des Vertrages und dann die entsprechende Textstelle fand. Ungeduldig blätterte sie durch das Dokument. Für einen simplen Stipendiumsvertrag war es erstaunlich umfangreich. Und das Kleingedruckte im Anhang auf der letzten Seite ließ sich ohne Lupe sowieso nicht lesen.
»Hier!«, sagte sie schließlich und las vor. »Die Förderung erfolgt durch … Ach, tatsächlich? … die Ortsgemeinde North Hubbington, Schottland. Die nutznießende Person verpflichtet sich zum dreijährigen Arbeitseinsatz in North Hubbington, bevorzugt im geplanten tiermedizinischen Forschungslabor an der Wallace Road.«
»Korrekt«, stimmte Mrs Thornton ihr zu. »Doch dieses Labor war bei Vertragsabschluss nur geplant, Miss Little. Sehen Sie das kleine Sternchen hinter dem Wort? Es verweist auf den Anhang …«
Tatsächlich sah Jenny das Sternchen zum allerersten Mal. Ihr Herz schlug schneller, als sie erneut zum Anhang blätterte, und ihre Fingerkuppen kribbelten nervös.
»Siehst du?«, hörte sie Erics tadelnde Stimme in ihrer Fantasie. »Das passiert nur, weil du nie richtig hinschaust.«
»Halt die Klappe, Eric«, murmelte sie, den Mund plötzlich ganz trocken. »Halt ein Mal die Klappe!«
»Wie bitte?«, fragte Mrs Thornton.
»Nichts, nichts.« Jenny winkte ab, obwohl die Frau am Ende der Leitung es nicht sah. Dann kniff sie die Lider enger zusammen und studierte den Anhang.
»Sind Sie an der Stelle?«, erkundigte sich Mrs Thornton. »Da sehen Sie es ja. Im Kleingedruckten ist glasklar vermerkt, dass die Gemeinde, sollte das Labor nicht zustande kommen, frei über ihre Arbeitskraft verfügen darf. Natürlich im Rahmen Ihrer Kompetenzen. Und wie mir ein Schreiben vom zweiten Februar dieses Jahres signalisiert …« Wieder blätterte sie in der Akte. »… setzt North Hubbington Sie nun eben in dieser Praxis ein: D. Harriman, 8 Harbour Road.«
Jenny ließ den Vertrag sinken. Hatte sie vorhin schon geglaubt, nass bis auf die Knochen zu sein, fühlte sie sich jetzt erst wie ein begossener Pudel. »Das … Das ist ein Scherz, oder?«
»Ich fürchte, nein«, meinte ihre Gesprächspartnerin. »Haben Sie unser Februar-Schreiben denn nicht erhalten? Da stand das alles noch einmal drin.«
Jenny zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Gut möglich. Da … Da war ich mitten im Examen. Zu der Zeit fiel so einiges unter den Tisch.«
»Na, Sie sind jetzt jedenfalls in North Hubbington«, betonte Mrs Thornton. Sie klang, als wollte sie das Telefonat zu einem Ende bringen. »Das allein zählt ja. Ich bin mir sicher, dass der Rest sich schon findet, wenn Sie diese Praxis aufsuchen. Wenn Sie mir eine E-Mail-Adresse oder Faxnummer nennen, schicke ich Ihnen gern eine Kopie des Februar-Schreibens und …«
Jenny hörte kaum noch hin. Hinter ihrer Stirn schien ein Karussell angefahren zu sein, und die Eindrücke der vergangenen Minuten saßen auf den Sitzen. Immer schneller wirbelten sie umher.
Es gab gar kein Forschungslabor? Sie war die ganze Strecke gefahren, ohne dass das Labor existierte? Und jetzt? Jetzt sollte sie in einer Praxis aushelfen? Als Ärztin?
»Miss Little?«, drang Mrs Thorntons Stimme über das imaginäre Geplärre des Karussells hinweg. »Sind Sie noch dran? Wohin darf ich Ihnen den Brief …«
»Nicht nötig«, murmelte Jenny. Ihr Blick ging ins Leere, und ihre Hand suchte nach der Gabel des altmodischen Telefons. »Ich komme schon klar. D… Danke.«
Dann fand die Hand ihr Ziel, und es klickte in der Leitung. Schweigend ließ Jenny den Hörer sinken.
Das Karussell drehte sich weiter. Kein Labor, schoss es wie Schlaglichter an ihr vorbei. Drei Jahre. Tierarztpraxis. Kein Labor. Kein Labor.
Sie hatte sich immer nur in der chemischen Seite der Tiermedizin gesehen. Als »Laborratte« – im weißen Kittel und am Mikroskop. Selbstverständlich hatte die Praxis auch zu ihrer Ausbildung gehört, mehrere Praktika in Tierarztpraxen und sogar einer Klinik. Aber nur im Labor half man allen Tieren, oder? Nur in der Medikamentenforschung schuf man wahre Unterschiede.
Und jetzt … das.
Abermals schloss sie die Augen. Sie fühlte sich leer, irgendwie. Als wäre sie nur noch eine Hülle ohne Inhalt. Es war kein unangenehmes Gefühl, ganz im Gegenteil. Nur sehr, sehr seltsam.
Das Kleingedruckte. Das gottverdammte Kleingedruckte. Eric hatte von Anfang an recht gehabt und würde innerlich bestimmt Purzelbäume vor Belustigung schlagen, wenn sie ihm ihren Fehler gestand. Er hatte ohnehin selten Verständnis für die Probleme und Sorgen anderer, auch nicht für die ihren. Nur dann, wenn er es wollte.
»Miss?«, drang eine andere Frauenstimme an ihr Ohr, ganz vorsichtig und zaghaft. »Ist alles in Ordnung?«
Jenny erkannte die Stimme. Das war die Frau von der Ladentheke. Die mit dem glatten grauen Haar und der weiten Schürze.
Langsam öffnete sie die Augen wieder. Die Betreiberin des Hubbington Hub stand direkt vor ihr. Ehrliche Sorge lag auf ihren Zügen, die früh faltig geworden sein mussten, und in der Hand hielt sie eine dampfende Porzellantasse. Einen Tee.
»Miss«, sagte sie und hielt Jenny die Tasse hin. »Hier. Ich will Ihnen wirklich nichts aufdrängen, aber … Na ja. Sie sehen aus, als könnten Sie ihn vertragen.«
Ehe Jenny wusste, was sie tat, sah sie ihre Hände nach der Tasse greifen. »Danke«, kam es über ihre Lippen. »Miss …«
»Mrs McDonald.« Ihr Gegenüber lächelte. »Aber sagen Sie ruhig Emma zu mir. Das ganze Dorf nennt mich so. Meinem John und mir gehört der Hub, wissen Sie? Und ich fürchte, ich habe Teile Ihres Telefonats mitangehört. Nicht verstanden, das nicht. Aber doch weit genug, um zu ahnen, dass Sie nicht da sind, wo Sie sein wollten.«
»Kann man so sagen«, erwiderte Jenny, noch immer halb taub. Wie auf Autopilot hob sie die Tasse an den Mund, roch daran … und runzelte die Stirn. »Ist … Ist da was drin?«
Die andere Frau – Emma – lächelte verschmitzt. »Single Malt. Aus den Beständen meines Gatten. Wie gesagt: Sie sehen aus, als könnten Sie es vertragen. Und John hat bestimmt nichts dagegen. Wir müssen es ihm ja nicht beichten.« Dabei zwinkerte sie ihr zu, als teilten sie ein Geheimnis.
»Zum Wohl«, murmelte Jenny und setzte die Tasse an die Lippen.
Emmas Lächeln wurde breiter. »Slàinte mhath, sagt man bei uns. Aber das lernen Sie bestimmt noch.«
Wollte sie das überhaupt? Jenny wusste es nicht. Doch als erst der heiße Whisky durch ihre Kehle lief und gegen die Leere und Kälte in ihrem Inneren ankämpfte, kam ihr die Frage gleich viel weniger wichtig vor.
Der Wagen war alt, mindestens drei Jahrzehnte. Seine Lackierung wies Makel auf, und die Modellbezeichnung, anhand derer Jenny ihn hätte identifizieren können, war längst abgefallen. Doch die Sitze wirkten bequem, und als Emmas Mann sie zum Einsteigen aufforderte, ließ sie sich nicht bitten.
»Es ist nicht weit bis zur Tierarztpraxis«, versprach John McDonald. Er setzte sich hinters Steuer und steckte den Zündschlüssel ins Schloss. »Aber mit dem Auto ersparen wir Ihnen die Pfützen. Der Regen hat zwar endlich aufgehört, doch die Straßen sind nach wie vor klatschnass – und Sie haben ja die schweren Koffer zu transportieren. Außerdem kann ich Ihnen mit dem Auto das Dorf besser zeigen, Miss Little. Einverstanden?«
John McDonald wirkte recht nett. Er hatte breite Schultern, kurzes graues Haar und ein Gesicht, das von einem Leben in der Natur und in wildestem Wetter kündete. An diesem Tag trug er ein blaues Karohemd zu einer dunklen Jeans und einer Strickweste. An den Ellenbogen seiner Weste prangten lederne Aufnäher, die jedem Dozenten an Jennys alter Uni zur Ehre gereicht hätten.
Seit Jennys Ankunft im Hub war eine gute Stunde vergangen. Noch während sie mit Emma hochprozentigen Tee getrunken hatte und über ihre Lage verzweifelt war, hatte John McDonald den Laden betreten. Sofort hatte Emma ihn über Jennys Situation informiert, und er hatte umgehend angeboten sie »zu Dag« zu bringen. Zwar wusste Jenny nicht genau, wer oder was ein Dag sein sollte, aber er, sie oder es stand garantiert in Zusammenhang mit dieser Praxis aus dem Kleingedruckten ihres Stipendiumsvertrags. Der Praxis in der Harbour Road Nummer acht.
»Einverstanden«, willigte sie nun ein. Was blieb ihr auch anderes übrig? »Fahren wir los, Mr McDonald? Ich bin wirklich gespannt.«
Sie hatte sich nach wie vor nicht mit ihrer Lage abgefunden. Der Vertrag, das Kleingedruckte … Sie kam sich vor, als hätte man sie für dumm verkauft. Klar, es war allein ihr Fehler, wenn sie Details übersah und sich nicht vollumfänglich informierte. Und doch: Etwas so Wichtiges wie das Fehlen eines Forschungslabors versteckte man nicht in Winzbuchstaben auf der hintersten Vertragsseite. Und auch nicht in einem Schreiben, das einem Jahre nach Abschluss besagten Vertrages erst ins Haus flatterte. Wer auch immer da im Hintergrund die Fäden zog, spielte nicht fair. Und Jenny Little hatte wenig Lust, sich über den Tisch ziehen zu lassen. Erst recht nicht die nächsten drei Jahre lang.
Sie würde sich wehren. Eric war gut vernetzt, auch außerhalb der Universität. Er kannte Menschen in hohen Positionen, CEOs und sogar Politiker. Er würde bestimmt auch einen Anwalt für sie finden. Und überhaupt: War er es nicht, der ihr immer sagte, Verträge seien auch bloß Absichtserklärungen, deren Details man jederzeit nachverhandeln konnte, wenn man wusste, wie? Jenny beschloss, ihn beim Wort zu nehmen. North Hubbingtons Strippenzieher würden sich noch wundern!
John McDonalds Wagen fuhr aus der Garage, die hinter dem Gebäude lag, und zurück auf die Dorfstraße. Während er den Weg zum Hafen einschlug, nahm der Endfünfziger eine Hand vom Lenkrad und deutete auf allerlei »Sehenswürdigkeiten« vor den Fenstern.
»Das dort vorne«, begann er, »erklärt sich ja von selbst. Unsere Pfarrkirche. Sie zählt zu den ältesten Gebäuden des gesamten Ortes, und unter uns gesprochen: Man merkt es ihr auch an. Sollten Sie Kirchgängerin sein, Miss Little, ziehen Sie sich ruhig einen warmen Mantel und einen Schal über. Sonst beschert Ihnen Father Greens Sonntagspredigt noch eine Erkältung. Der Father ist ein guter Mensch, aber er hört sich entsetzlich gerne reden. Wenn der mal in Fahrt ist, kennt der kein Ende. Was kein Wunder ist, wenn man da mal drüber nachdenkt. Daheim bei seiner Edna hat er vermutlich Sprechverbot, die ist strenger als der leibhaftige Satan.«
Jennys Mundwinkel zuckten amüsiert. »Ich werde es mir merken.«
»Hier drüben …«, John deutete auf ein besonders klobiges Eckgebäude schräg gegenüber, »… sehen Sie das Rathaus. Eigentlich ist es ein Mehrzweckhaus, in dem wir von Bürgerversammlungen bis hin zum Seniorenkaffee alles Mögliche abhalten. Aber oben unter dem Dach befindet sich auch noch ein Verwaltungsbüro, das kaum benutzt wird, und deshalb ist es eben das Rathaus.«
»Ihr Rathaus wird kaum benutzt?«, wunderte sie sich.
Ihr Fremdenführer schnaubte. »Warten Sie, bis Sie dem Bürgermeister begegnen. Dann verstehen Sie das. Dieser grundverwirrte Methusalem …« Er schüttelte den Kopf und gleichzeitig auch das Thema ab. »Direkt neben dem Rathaus liegt aber ein viel wichtigeres Gebäude, jedenfalls in meinen Augen. Der Drunken Rover. Den Pub gibt es hier schon, seit mein Vater selig in die Windeln gemacht hat, und er ist noch immer im Familienbesitz. Falls Ihnen der Sinn nach einem kühlen Pint Belhaven oder nach frittiertem Red Pudding stehen sollte, kann ich den Rover nur empfehlen.«
Jenny hatte keine Ahnung, was in aller Welt Red Pudding sein mochte. Von der schottischen Unart, alles Mögliche in Panade zu tunken und in Fett zu Tode zu braten, hatte sie allerdings gehört – meist im Kontext einer gut gemeinten Warnung. Also lächelte sie nur freundlich und wartete auf die nächste Station ihrer Fremdenführung.
»Sie haben vielleicht schon die Banner bemerkt«, sagte McDonald gerade. »Und die Schilder an der Kirchentür und am Pub.«
Jenny nickte. »Wie könnte ich nicht?«
Die Banner – eins hing quer über der Hauptstraße, eins an der Fassade des Rathauses – waren quietschgelb und äußerst auffällig. Die Schilder im Fenster des Pubs und vor dem Hub kamen da etwas dezenter daher. Doch sie alle verwiesen auf dasselbe Event.
»Unsere Eintausend-Jahr-Feier ist echt eine große Sache«, fuhr McDonald fort. »Das ganze Dorf freut sich deswegen ein Loch in den Bauch. Wir sehen vielleicht nicht allzu bedeutsam aus, erst recht nicht für jemanden aus London. Aber wir sind stolz auf unsere Heimat, Miss Little – und auf ihre Traditionen. North Hubbington hat Charme und Herz, warten Sie’s nur ab. Es wird auch Sie begeistern.«
Letzteres wagte sie zu bezweifeln, selbst wenn sie all dem, was sie da durch die Autofenster sehen konnte, eine gewisse pittoreske Schönheit nicht absprechen konnte. Der Drunken Rover wirkte zehnmal so gemütlich wie all die Bars ihrer Studentinnentage, und noch in keinem anderen Supermarkt der Welt hatte man ihr einen Tee und eine stützende Schulter angeboten.
»Wenn Sie das interessiert«, sprach ihr Fremdenführer weiter, »dann kommen Sie doch morgen Abend in den großen Saal im Rathaus. Oder ist das übermorgen? Jedenfalls haben wir dort unsere letzte große Planungssitzung für die Feier am Wochenende. Ich werde auch dort sein. Ich gehöre zum Organisationsteam.«
»Mal schauen, ja?«, wich Jenny freundlich aus. Wenn es nach ihr ging, war sie übermorgen schon nicht mehr hier.
Die Fahrt ging weiter, vorbei an Häusern mit schmucken Vorgärten, offenen Garagen und qualmenden Schornsteinen. Die Harbour Road machte ihrem Namen alle Ehre. Schon am Beginn der kerzengerade nach Westen führenden kleinen Straße, die von hohen Bäumen gesäumt wurde, sah man die sanft im Wellengang des Firth schwankenden Boote an ihrem Ende. Doch McDonald hielt den Wagen an, kaum dass er in die Harbour Road eingebogen war.
Vor dem Beifahrerfenster sah Jenny nun ein zweigeschossiges Haus mit hohen, oben abgerundeten Fenstern und einem kleinen Vorgarten, der mit dem Wort »verwildert« noch freundlich beschrieben war. Links säumte ein brusthoher Zaun das Grundstück und markierte die Grenze zum Nachbarn hin. Rechts führte ein gepflasterter Weg am Haus vorbei zu einem weiteren Grünstreifen und einem ehemaligen Stall, der zu zwei Garagen umfunktioniert worden war. In den Fenstern des Wohnhauses hingen schmucke Gardinen, und neben der Eingangstür, die man über zwei Stufen erreichte, prangte ein Schild.
Dagobert Harriman, Tierarzt, las Jenny schon vom Wagen aus. Damit dürfte klar sein, wer Dag war. Allerdings …
»Dagobert?«, murmelte sie. »Ist das etwa ein Name?«
»Und was für einer.« Ihr Begleiter lachte leise. »Der alte Dag erklärt ihn Ihnen sicher gerne, der lässt da ohnehin keine Gelegenheit aus. Germanisch, glaube ich. Ein Königsname, zumindest wenn man Dag zuhört.«
Sie stiegen aus. Im Erdgeschoss des Hauses brannte Licht, was angesichts des noch immer wolkenverhangenen Himmels kein Wunder war. McDonald durchquerte den Vorgarten und erklomm die beiden Stufen, dann klopfte er an. Jenny war ihm kaum gefolgt, da schwang die Haustür auch schon auf.
Eine ältere Dame erschien auf der Schwelle. Sie hatte silbergraues Haar, das zu einer Art Dutt gedreht war, und trug eine weiße Kittelschürze. Ihre Hände und ihr Gesicht waren faltig, ihre Augen blau und freundlich.
»John!«, staunte sie. »Was führt dich zu … Oh.« Nun bemerkte sie McDonalds Begleitung. »Das ist doch nicht etwa Doktor Little?«
»Sehen Sie?«, freute sich der Mann aus dem Hubbington Hub. »Sie werden ja doch erwartet.«
»Jennifer Little?«, hakte die Dame nach. »Aus London?«
Jenny nickte. »Das bin ich. Aber …«
Sie kam gar nicht dazu, Einwände zu äußern. Noch bevor sie den Satz auch nur zur Hälfte beendet hatte, war die ältere Frau bereits aus dem Haus getreten und drückte sie an sich wie ein verloren geglaubtes Kind.
»Willkommen!«, sagte sie dabei. »Oh, wir freuen uns ja so! Willkommen in unserer Praxis … Oder besser gesagt: in Ihrer Praxis. Sie übernehmen den Betrieb ja jetzt, richtig?«
Das wäre mir neu, dachte Jenny, als die erste Überraschung nachließ und sie wieder denken konnte.
»Ich hole schnell die Koffer«, erklärte McDonald. »Dann lasse ich Sie beide allein, damit Sie sich eingewöhnen können. Das ist übrigens Millie, Miss Little. Mildred Stuart, die gute Seele dieses Haushalts.«
»Mrs Stuart«, begann Jenny. »Bevor sich hier Missverständnisse festsetzen …«
»Och, Kindchen«, die Dame winkte ab, »Mrs Stuart war meine selige Schwiegermutter. Sagen Sie doch bitte Millie zu mir.«
McDonald stellte die Koffer im Eingangsbereich ab und wünschte Jenny einen guten Start, und sie bedankte sich für seine Hilfe. Dann ließ er sie mit Millie allein.
Schweigend sah Jenny sich um. Sie hatte eine Art Hausflur betreten. Rechts ging eine schmale Treppe ins obere Stockwerk, links führte eine offene Tür in ein gemütliches, wenn auch altmodisch eingerichtetes Wohnzimmer. Von diesem ging eine Küche ab, und folgte man dem Hausflur in kerzengerader Richtung, gelangte man an eine weitere Tür. Auf ihr stand – in schnörkeligen Lettern – das Wort »PRAXIS« geschrieben. Einige verwaiste Stühle im Hausflur deuteten an, dass dieser mitunter auch als Wartezimmer diente.
»Wir freuen uns wirklich