Der Tod und das dunkle Meer - Stuart Turton - E-Book
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Der Tod und das dunkle Meer E-Book

Stuart Turton

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  • Herausgeber: Tropen
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Viktor Crime Award und Buch des Jahres der Krimi-Couch 1634: Ein Schiff auf dem Weg von Indonesien nach Amsterdam. Eine dunkle Prophezeiung und ein Detektiv, der selbst Gefangener ist. Samuel Pipps und Arent Hayes stehen vor dem Fall ihres Lebens, denn der Teufel ist mit an Bord. Aberglaube, Hexenjagd, Machtgier – Stuart Turton führt uns ins dunkle Meer der menschlichen Abgründe. Gerade noch hat Samuel Pipps im Auftrag der mächtigen Männer der Ostindien-Kompanie einen kostbaren Schatz in der Kolonie Batavia wiedergefunden. Nun befindet er sich auf dem Weg zu seiner Hinrichtung. Sein Assistent und Freund Arent Hayes ist mit an Bord der Saardam. Genau wie der Generalgouverneur und seine Frau Sara Wessel. Doch kaum auf See, beginnt der Teufel sie heimzusuchen. Unerklärliche Morde geschehen, und ein Flüstern weht durch das Schiff, das alle an Bord dazu verführt, ihren dunkelsten Wünschen nachzugeben. Pipps muss seinem Freund Arent und Sara dabei helfen, ein Rätsel zu lösen, das alle Passagiere verbindet und weit in die Vergangenheit zurückreicht. Bevor das Schiff sinkt und sie alle in die Tiefe reißt.

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Seitenzahl: 823

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Kriminalroman

Aus dem Englischen von Dorothee Merkel

Tropen

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Devil and the Dark Water« im Verlag Raven Books, an imprint of Bloomsbury Publishing Plc, London

© 2020 by Stuart Turton

Für die deutsche Ausgabe

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München, unter Verwendung der Daten des Originalverlags, Illustration: © Emily Faccini

Handschrift: Christina Max Creative Studio, Nürnberg, www.christinamax-creativestudio.de

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-50491-0

E-Book ISBN 978-3-608-11671-7

Für Ada

Im Augenblick bist Du zwei Jahre alt und liegst

schlafend in Deinem Bettchen. Du bist ein sehr

seltsames kleines Wesen und bringst uns oft zum

Lachen. Wenn Du diese Zeilen liest, wirst Du

ein vollkommen anderer Mensch sein. Ich hoffe,

wir sind dann immer noch gute Freunde. Ich hoffe,

ich bin ein guter Vater. Ich hoffe, ich mache nicht

zu viele Fehler, und ich hoffe, die Fehler, die ich mache,

verzeihst Du mir.

Um ehrlich zu sein, habe ich nicht

die geringste Ahnung, wie das geht, das Vatersein.

Aber ich tue mein Bestes.

Ich liebe Dich, meine Kleine. Das hier ist für Dich.

Für die, die Du geworden bist, wer auch immer das

sein mag.

Im Jahr 1634 war die Vereinigte Niederländische Ostindien-Kompanie die wohlhabendste Handelsgesellschaft auf dem gesamten Globus, mit Außenposten, die sich über ganz Asien und das afrikanische Kap verteilten. Der profitabelste dieser Außenposten war Batavia. Von dort aus wurden an Bord der zur Kompanie gehörigen Flotte aus Ostindienfahrern Muskatblüten, Pfeffer, zahlreiche andere Gewürze und Seidenstoffe nach Amsterdam verschifft.

Die Fahrt dauerte acht Monate und war äußerst gefährlich. Weite Teile der Weltmeere waren noch nicht kartographiert, und man verfügte nur über die primitivsten Navigationshilfen. Zwischen Batavia und Amsterdam gab es lediglich eine einzige einigermaßen verlässliche Route, und wenn ein Schiff davon abwich, war es oft genug verloren. Selbst diejenigen, die sich innerhalb des »abgesteckten Trecks« hielten, waren auf Gedeih und Verderb den aufkommenden Stürmen, Angriffen von Piraten und an Bord ausbrechenden Krankheiten ausgeliefert.

Viele derer, die in Batavia an Bord eines Schiffs gingen, kamen nie in Amsterdam an.

Arent Hayes heulte vor Schmerz auf. Ein Stein hatte ihn mitten auf seinen gewaltigen Rücken getroffen.

Ein zweiter pfiff ihm am Ohr vorbei und ein dritter prallte von seinem Knie ab. Er stolperte, und der erbarmungslose Pöbel, der den Erdboden bereits nach weiteren Wurfgeschossen absuchte, brach in ein höhnisches Gelächter aus. Es waren Hunderte von Menschen gekommen, und der Stadtwache gelang es nur mühsam, sie in Schach zu halten. Aus den geifernden Mündern der Menge schallten unflätige Beleidigungen und ihre Augen funkelten schwarz vor Bosheit.

»Nun bring dich doch in Sicherheit, um Himmels willen«, beschwor Sammy Pipps ihn über den Lärm hinweg. Seine Handfesseln blitzten im Sonnenlicht auf, während er über den staubigen Boden wankte. »Die haben es doch nur auf mich abgesehen.«

Arent war doppelt so groß und um die Hälfte breiter als die meisten Männer von Batavia, Pipps mit eingeschlossen. Auch wenn er selbst kein Gefangener war, hatte er sich doch mit seinem gewaltigen Körper zwischen die Menschenmenge und seinen sehr viel kleineren Freund gestellt, sodass sich ihnen nun nur noch ein Bruchteil des Ziels bot, das sie zu treffen versuchten.

Der Bär und der Spatz – das waren ihre Spitznamen gewesen, bevor Sammy in Ungnade gefallen war, und wie es schien, hatten diese Namen nie so sehr der Wahrheit entsprochen wie in diesem Augenblick.

Sie waren auf dem Weg vom Kerker zum Hafen, wo ein Schiff wartete, das Pipps nach Amsterdam bringen sollte. Die vier Musketiere, die sie eskortierten, hielten sich in gebührendem Abstand, da sie nicht selbst zur Zielscheibe werden wollten.

»Du bezahlst mich dafür, dass ich dich beschütze«, knurrte Arent. Er wischte sich den staubverklebten Schweiß aus den Augen und versuchte einzuschätzen, wie weit sie noch laufen mussten, bevor sie in Sicherheit waren. »Und solange ich irgend kann, werde ich das auch tun.«

Am äußersten Ende des Boulevards, der durch die Stadtmitte führte, ragten zwei gewaltige Tore auf. Sie bildeten die Grenze zum Hafen, und sobald sich diese Tore hinter ihnen schlossen, konnte ihnen die Menge nichts mehr anhaben. Unglücklicherweise bildete ihre Gruppe jedoch das Ende einer langen Prozession, die sich unendlich langsam durch die Hitze wälzte. Sie schienen sich den Toren kaum genähert zu haben, seit sie in den feuchtschwülen Mittagsstunden den Kerker verlassen hatten.

Ein Stein schlug vor Arents Füßen auf dem Boden auf und besudelte seine Stiefel mit getrocknetem Schlamm. Ein weiterer prallte von Sammys Ketten ab. Es hatten sich eigens Händler aufgestellt, die solche Steine aus bereitgestellten Säcken verkauften und sich damit eine goldene Nase verdienten.

»Verfluchtes Batavia!«, knurrte Arent. »Diese Dreckskerle können es eben einfach nicht ertragen, wenn ihre Taschen leer sind.«

An einem normalen Tag würden diese Leute jetzt bei den Bäckern, Schneidern, Schustern, Garbenbindern und Kerzenziehern einkaufen, deren Geschäfte den Boulevard säumten. Sie würden gut gelaunt lachen oder auch über die infernalische Hitze schimpfen. Aber man brauchte einen Mann nur in Ketten zu legen und damit zum Freiwild für Misshandlungen zu erklären, und schon lief selbst die sanftmütigste Seele zum Teufel über.

»Es ist schließlich mein Blut, das sie fließen sehen wollen«, protestierte Sammy und versuchte, Arent fortzuschieben. »Nun bring dich doch endlich in Sicherheit, ich flehe dich an!«

Arent schaute auf seinen verängstigten Freund herab, der sich vergeblich zu schützen versuchte, indem er sich die Hände vor die Brust gedrückt hielt. Die dunklen, lockigen Haare klebten ihm an der Stirn und seine hohen, sonst so eleganten Wangenknochen hatten sich wegen der Prügel, die man ihm während der Gefangenschaft verpasst hatte, violett verfärbt und waren geschwollen. Seine braunen Augen, in denen sich für gewöhnlich sein trockener Humor widerspiegelte, waren weit aufgerissen und voller Verzweiflung.

Doch selbst in einer derart misshandelten Verfassung sah dieser Mistkerl immer noch geradezu unverschämt gut aus, dachte Arent.

Er selbst hatte hingegen einen kurzgeschorenen Kopf und eine platt geboxte Nase, irgendwann hatte ihm jemand bei einem Kampf ein Stück aus seinem rechten Ohr abgebissen, und seit man ihn vor ein paar Jahren auf ziemlich ungeschickte Weise ausgepeitscht hatte, zog sich eine lange Narbe über sein Kinn und seinen Hals.

»Wir müssen nur den Hafen erreichen, dann sind wir in Sicherheit«, sagte er verbissen. Er musste fast schreien, denn die Menge vor ihnen war in diesem Moment in Jubel ausgebrochen.

Die Prozession wurde von Generalgouverneur Jan Haan angeführt, der mit steif aufgerichtetem Rücken auf seinem weißen Hengst saß. Er hatte sich einen Brustharnisch über das Wams geschnallt und ein Schwert um die Taille gegürtet, das bei jedem Tritt laut klirrte.

Vor dreizehn Jahren hatte er das Dorf gekauft, das zuvor an dieser Stelle als Außenposten der Vereinigten Ostindien-Kompanie gestanden hatte. Kaum hatten die Eingeborenen den Vertrag unterzeichnet, brannte er den Ort nieder und malte in die Asche einen Plan der Straßen, Kanäle und Gebäude, die an seiner statt entstehen sollten.

Mittlerweile war Batavia zum profitabelsten Außenposten der Gesellschaft geworden, und man hatte Jan Haan zurück nach Amsterdam berufen, auf dass er dort zum Mitglied des Direktoriums der Ostindiengesellschaft und somit einer der geheimnisumwobenen Siebzehn Herren, der »Heeren XVII« wurde.

Während sein Hengst den Boulevard entlangtrabte, weinte und jubelte die Menge, streckte die Fingerspitzen nach ihm aus und versuchte, seine Beine zu berühren. Blumen wurden ihm vor die Füße geworfen und man rief ihm Segenswünsche zu.

All dies beachtete er nicht. Er saß mit hoch erhobenem Kinn und starrem Blick im Sattel. Mit seiner schnabelähnlichen Nase und seinem kahlen Kopf sah es für Arent so aus, als habe sich ein Falke auf einem Pferd niedergelassen.

Vier keuchende Sklaven mühten sich ab, um mit ihm Schritt zu halten. Sie trugen eine goldbeschlagene Sänfte, in der Frau und Tochter des Generalgouverneurs saßen und neben der eine rotgesichtige Zofe einherlief, die sich in der Hitze immer wieder Luft zufächeln musste.

Hinter ihnen hielten vier krummbeinige Musketiere die Ecken einer schweren Kiste gepackt, in deren Innern sich die Phantasterei befand. Der Schweiß lief ihnen über die Stirn und über die Hände, was das Festhalten der Kiste erheblich erschwerte. Sie stolperten immer wieder, und jedes Mal, wenn das geschah, verzerrten sich ihre Gesichter vor Angst. Sie wussten, was ihnen für eine Strafe blühte, falls der kostbarste Besitz des Gouverneurs Schaden nehmen sollte.

Hinter ihnen folgte ein unordentlicher Haufen aus Höflingen und Speichelleckern, hochrangigen Beamten und Günstlingen der Familie, deren jahrelange Intrigen nun damit belohnt wurden, dass sie einen mühseligen Nachmittag lang dabei zuschauen durften, wie der Generalgouverneur Batavia verließ.

Arent hatte sich durch seine Beobachtungen ablenken lassen und daher nicht bemerkt, dass sich zwischen ihm und seinem Schützling eine Lücke aufgetan hatte. Im nächsten Moment sauste auch schon ein Stein an ihm vorbei und traf Sammy an die Wange, die sofort zu bluten begann. Die Menge lachte höhnisch.

Arent verlor die Beherrschung. Er hob den Stein auf, schleuderte ihn mit aller Kraft auf den Mann, der gerade geworfen hatte, und traf diesen so hart an der Schulter, dass er taumelnd zu Boden stürzte. Die Menge brüllte entrüstet und drang auf die Männer der Stadtwache ein, die sie nur mit großer Mühe zurückhalten konnten.

»Guter Wurf«, murmelte Sammy anerkennend und duckte sich, als eine weitere Steinsalve auf sie herabregnete.

Als sie endlich den Hafen erreichten, bewegte Arent sich nur noch humpelnd vorwärts und sein ganzer riesiger Körper schmerzte. Sammy hatte ein paar blaue Flecken davongetragen, war aber ansonsten größtenteils unversehrt geblieben. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, einen lauten Ruf der Erleichterung auszustoßen, als sich die Tore vor ihnen öffneten.

Auf der anderen Seite erwartete sie ein Labyrinth aus Kisten und aufgerollten Tauen, hoch aufgestapelten Fässern und Weidenkörben voll krächzender Hühner sowie eine Herde von Schweinen und Kühen, die ihnen mit schwermütigem Blick entgegenstarrten. Zahlreiche Schauerleute verstauten unter lauten Zurufen die Fracht in den Booten, die am Ufer auf und ab schaukelten und darauf warteten, zu den sieben Ostindienfahrern hinübergerudert zu werden, die im glitzernden Wasser des Hafens ankerten. Mit ihren aufgerollten Segeln und nackten Masten hatten die Schiffe große Ähnlichkeit mit toten Käfern, die auf dem Rücken lagen und ihre Beine in die Luft gestreckt hatten. Doch auf jedem von ihnen würden sich bald über dreihundert Menschen befinden, und es würde vor Passagieren und Besatzungsmitgliedern nur so wimmeln.

Eine Gruppe von Leuten stand am Ufer, die mit ihren Geldbörsen rasselten, auf die Fährboote warteten, die hin- und hergerudert wurden, und sich vordrängten, sobald der Name ihres Schiffes ausgerufen wurde. Kinder spielten zwischen den Kisten Verstecken oder klammerten sich an den Rocksaum ihrer Mütter, während die Väter mit grimmigem Blick in den Himmel starrten, als könnten sie dadurch die Wolke einschüchtern, die sich keck in das weite, hell leuchtende Blau geschoben hatte.

Ein wenig abseits standen die wohlhabenderen Passagiere, umgeben von ihrer Dienerschaft und ihren teuren Gepäcktruhen. Sie murrten und nörgelten unter ihren Sonnenschirmen und versuchten vergeblich, sich Luft zuzufächeln, während ihnen der Schweiß in die spitzenbesetzten Halskrausen lief.

Die Prozession kam zum Stehen und die Tore schlossen sich langsam hinter ihr, sodass der Lärm der schreienden Menge nur noch entfernt zu hören war.

Ein paar letzte Steine prallten von den Kisten ab, und dann waren die Angriffe vorbei.

Arent stieß einen langgezogenen Seufzer aus, bückte sich und stützte die Hände auf die Knie. Der Schweiß troff ihm von der Stirn und fiel in den Staub.

»Wie schlimm bist du verletzt?«, fragte Sammy, während er eine Schnittwunde auf Arents Wange in Augenschein nahm.

»Ich fühle mich, als hätte ich einen ziemlich hässlichen Kater«, knurrte Arent. »Ansonsten ist’s nicht so schlimm.«

»Hat die Wache auch meinen Alchemiekasten beschlagnahmt?«

Es schwang echte Angst in seiner Stimme mit, denn neben seinen zahlreichen anderen Talenten war Sammy auch ein begabter Alchemist. Sein Kasten war mit lauter Tinkturen, Pulvern und Elixieren gefüllt, die er selbst zusammengebraut hatte, um sie bei seinen Ermittlungen zu benutzen. Es gab einige, deren Entwicklung Jahre gedauert hatte. Zudem bestanden sie aus Inhaltsstoffen, die von weither stammten und sich hier unmöglich ersetzen ließen.

»Nein, ich habe den Kasten aus deinem Schlafgemach stibitzt, bevor sie das Haus durchsucht haben«, antwortete Arent.

»Gut«, lobte Sammy ihn. »Es gibt da eine Salbe in einem kleinen Tiegel. Dem grünen. Die musst du jeden Morgen und Abend auf deine Wunde auftragen.«

Arent rümpfte angeekelt die Nase. »Ist das die, die nach Pisse stinkt?«

»Sie stinken alle nach Pisse. Eine Salbe, die nicht nach Pisse stinkt, ist keine gute Salbe.«

Von der Anlegestelle kam ein Musketier auf sie zu und rief Sammys Namen. Er trug einen zerknautschten Hut, dessen schlappe Krempe ihm bis tief in die Augen hing und auf dem oben eine rote Feder steckte. Seine schmutzigen blonden Haare fielen ihm wirr bis auf die Schultern herab und ein Bart verdeckte den Großteil seines Gesichts.

Arent betrachtete den Mann voller Wohlwollen.

Die meisten Musketiere, die es in Batavia gab, gehörten zur Leibgarde. Sie funkelten und salutierten und schliefen oft genug mit offenen Augen, doch die abgerissene Uniform dieses Mannes schien zu besagen, dass er tatsächlich den einen oder anderen Waffengang hinter sich hatte. Sein blauer Wams wies getrocknete Blutflecken und zahlreiche Löcher auf, die von Schwertern und Musketenkugeln stammten und die viele Male gestopft worden waren, und seine roten Kniehosen gaben den Blick auf seine braungebrannten haarigen Beine frei, die von zahlreichen Mückenstichen und Narben übersät waren. An dem Bandelier, das ihm über der Schulter hing, rasselten Kupferfläschchen, die mit Schießpulver gefüllt waren, neben Beuteln voll Salpeter-Streichhölzern.

Als der Musketier bei Arent angekommen war, stampfte er zackig mit dem Fuß auf.

»Leutnant Hayes, ich bin Hauptmann Jacobi Drecht«, sagte er, während er mit einer Handbewegung eine Fliege aus seinem Gesicht verscheuchte. »Wir werden zusammen reisen. Ich stehe der Leibwache des Generalgouverneurs vor und bin für seine Sicherheit und die seiner Familie verantwortlich.« Dann wandte Drecht sich an die Musketiere, von denen sie eskortiert worden waren. »Und jetzt rauf mit euch aufs Schiff, Burschen. Der Generalgouverneur möchte, dass Herr Pipps an Bord der Saardam festgesetzt ist, bevor die –«

»Hört mich an!«, befahl eine heisere Stimme über ihnen.

Sie legten die Köpfe zurück, schauten nach oben, dorthin, wo die Stimme herkam, und blinzelten in das grelle Sonnenlicht.

Eine in graue Lumpen gehüllte Gestalt stand auf einem Kistenstapel. Hände und Gesicht waren mit blutigen Bandagen umwickelt und nur ein schmaler Spalt gab die Augen frei.

»Ein Aussätziger«, murmelte Drecht angewidert.

Arent trat instinktiv einen Schritt zurück. Von Kindheit an hatte man ihn gelehrt, diese dahinsiechenden Menschen zu fürchten, deren Gegenwart allein schon ausreichte, um ein ganzes Dorf ins Verderben zu stürzen. Ein einziger Husten, eine kurze Berührung, und schon war man einem entsetzlichen, schleichenden Tod ausgeliefert.

»Tötet diese Kreatur und setzt sie in Brand!«, ließ sich der Befehl des Generalgouverneurs von der Spitze der Prozession vernehmen. »Das Betreten dieser Stadt ist Aussätzigen verboten.«

Es entstand ein Tumult, währenddessen sich die Musketiere ratlos anstarrten. Die Gestalt befand sich zu hoch oben, um sie mit einer Pike erreichen zu können, ihre Musketen waren bereits auf die Saardam verladen worden und keiner von ihnen hatte Pfeil und Bogen.

Der Aussätzige schien die Panik nicht zu bemerken und durchbohrte jeden der Anwesenden mit seinen Augen.

»Wisset, dass mein Herr und Meister« – sein umherschweifender Blick blieb an Arent hängen, und dem Söldner stockte das Herz – »mit an Bord der Saardam reist. Er ist Herr über alles Verborgene und gewährt euch diese Warnung, gemäß den althergebrachten Gesetzen. Die Fracht der Saardam ist Sünde, und alle, die an Bord dieses Schiffes gehen, werden einem unbarmherzigen Verderben anheimfallen. Das Schiff wird Amsterdam niemals erreichen.«

Kaum hatte er das letzte Wort gesprochen, ging der Saum seines Gewands in Flammen auf.

Kinder heulten. Die umherstehende Menge schrie entsetzt auf.

Der Aussätzige gab keinen Laut von sich. Das Feuer kroch an seinem Körper hoch, bis er gänzlich in Flammen stand.

Er bewegte sich nicht.

Stumm stand er da und brannte, den Blick starr auf Arent gerichtet.

Als würde er jetzt erst die Flammen bemerken, die ihn vertilgten, begann der Aussätzige auf sein Gewand einzuschlagen.

Er stolperte rückwärts, stürzte von den Kisten herab und schlug mit einem widerwärtig dumpfen Geräusch auf dem Boden auf.

Arent griff sich ein Bierfass, war mit wenigen Schritten bei dem Gefallenen, riss mit bloßen Händen den Deckel herunter und löschte das Feuer.

Die Lumpen zischelten und der Gestank nach Holzkohle stieg ihm in die Nase.

Der Aussätzige wand sich in schrecklichen Qualen und wühlte verzweifelt mit den Händen im Staub. Seine Unterarme waren auf das Schrecklichste verbrannt, sein Gesicht war fast vollständig verkohlt. Allein seine Augen waren noch menschlich zu nennen. Die geweiteten Pupillen pulsierten in dem sie umgebenden Blau, wahnsinnig vor Schmerzen.

Ein Schrei zwängte ihm den Mund auf, aber durch seine Kehle kam kein Laut.

»Das ist unmöglich«, murmelte Arent.

Er schaute zu Sammy hinüber, der an seinen Ketten zerrte, um besser sehen zu können. »Man hat ihm die Zunge herausgeschnitten«, brüllte Arent so laut er konnte, um sich über den Lärm der Menge hinweg Gehör zu verschaffen.

»Macht Platz, ich bin eine Heilerin«, erschallte eine gebieterische Stimme.

Eine Edelfrau drängte sich an Arent vorbei. Sie zog sich die Spitzenhaube vom Kopf und drückte sie ihm in die Hand, sodass die edelsteinbesetzten Nadeln zum Vorschein kamen, die in ihren dichten roten Locken glitzerten.

Kaum befand sich die Haube in Arents Händen, da wurde sie ihm auch schon wieder von einer übereifrigen Zofe entrissen, die versuchte, den Kopf ihrer Herrin mit einem Parasol zu beschirmen und sie gleichzeitig bedrängte, doch wieder in der Sänfte Platz zu nehmen.

Arent drehte sich um und schaute zur Sänfte hinüber.

In ihrer Hast hatte die Edelfrau den Vorhang vom Haken gerissen und zwei riesige Seidenkissen mit hinausgefegt, sodass diese nun auf der Erde lagen. Im Innern der Sänfte saß ein junges Mädchen mit ovalem Gesicht und beobachtete das Geschehen durch den zerrissenen Vorhang. Sie hatte schwarze Haare und dunkle Augen und war das reinste Spiegelbild des Generalgouverneurs, der steif auf seinem Pferd saß und seine Frau missbilligend in Augenschein nahm.

»Mama?«, rief das Mädchen.

»Einen Moment, Lia«, antwortete die Adlige. Sie kniete neben dem Aussätzigen, ohne Notiz davon zu nehmen, dass ihr braunes Kleid von Fischabfällen besudelt wurde. »Ich werde versuchen, dir zu helfen«, sagte sie freundlich zu dem Verletzten. »Dorothea?«

»Mylady?«, antwortete die Zofe.

»Meine Phiole, bitte.«

Die Zofe steckte eine Hand in ihren Ärmel, zog ein kleines Fläschchen daraus hervor, entkorkte es und reichte es der Edelfrau.

»Dies wird deine Schmerzen lindern«, sagte die Dame zu dem Leidenden, drehte das Fläschchen um und hielt es ihm über die geöffneten Lippen.

»Er trägt die Lumpen eines Aussätzigen«, warnte Arent, als der Puffärmel ihres Kleides dem Patienten gefährlich nahe kam.

»Dessen bin ich mir bewusst«, entgegnete sie brüsk, während sie beobachtete, wie sich ein zäher Tropfen der Flüssigkeit am Rand der Phiole sammelte. »Ihr seid Leutnant Hayes, nicht wahr?«

»Arent reicht vollkommen.«

»Arent.« Sie schien den Namen in ihrem Mund hin und her zu bewegen, als hätte er einen seltsamen Geschmack. »Ich bin Sara Wessel.« Sie schwieg einen Moment. »Sara reicht vollkommen«, fügte sie dann hinzu, seine schroffe Antwort nachahmend.

Sie schüttelte die Phiole kurz, wodurch sich der Tropfen löste und im Mund des Aussätzigen landete. Er schluckte ihn mühsam hinunter. Im nächsten Moment erschauderte er und wurde danach sogleich wesentlich ruhiger. Der Blick seiner zuvor noch so wild zuckenden Augen verschwamm.

»Ihr seid die Frau des Generalgouverneurs?«, fragte Arent ungläubig. Die meisten Adligen würden ihre Sänfte auch dann nicht verlassen, wenn diese in Brand stand, geschweige denn herausspringen, um einem Fremden zu helfen.

»Und Ihr seid Samuel Pipps’ Diener«, blaffte sie zurück.

»Ich –« Er verstummte. Ihr Ärger hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Weil er nicht sicher war, womit er sie gekränkt hatte, wechselte er das Thema. »Was habt Ihr ihm verabreicht?«

»Etwas, um die Schmerzen zu lindern«, antwortete sie, während sie den Korken wieder in den Hals der Phiole zwängte. »Es ist aus den hier heimischen Pflanzen hergestellt. Ich benutze es selbst von Zeit zu Zeit. Dann kann ich besser schlafen.«

»Können wir ihn retten, Mylady?«, fragte die Zofe. Sie nahm die Phiole von ihrer Herrin entgegen und steckte sie in ihren Ärmel zurück. »Soll ich Euer Kästchen mit den Heilmitteln holen?«

Nur ein Narr würde das versuchen, dachte Arent. Ein Leben im Krieg hatte ihn gelehrt, ohne welche Gliedmaßen man noch überleben konnte und welche winzigen Schrammen einen jede Nacht mit qualvollen Schmerzen aufweckten, bis sie einem dann ein ganzes Jahr nach der Schlacht still und heimlich das Leben raubten. Es war schlimm genug, dass dem Aussätzigen das Fleisch am Körper verfaulte, doch diese Brandwunden würden ihm keine Sekunde der Ruhe mehr gönnen. Bei unablässiger Fürsorge konnte er es vielleicht einen Tag aushalten oder auch eine Woche, aber das Überleben war nicht immer den Preis wert, den man dafür bezahlte.

»Nein, danke, Dorothea«, sagte Sara. »Ich denke nicht, dass das nötig sein wird.«

Sie erhob sich, ging außer Hörweite und bedeutete Arent mit einer Geste, ihr zu folgen.

»Wir können hier nichts mehr für ihn tun«, sagte sie leise. »Das Einzige, was uns noch bleibt, ist Gnade. Könntet Ihr…« Sie schluckte und es schien so, als schämte sie sich ihrer nächsten Frage. »Habt Ihr jemals einem anderen menschlichen Wesen das Leben genommen?«

Arent nickte.

»Könnt Ihr es schmerzfrei tun?«

Arent nickte erneut, was ihm ein leichtes, dankbares Lächeln eintrug.

»Zu meinem Bedauern habe ich nicht die Stärke, es selbst zu tun«, sagte sie.

Arent drängte sich durch den flüsternden Kreis der Schaulustigen zu einem der Musketiere hinüber, die Sammy bewachten, und bedeutete ihm mit einer knappen Geste, er möge ihm sein Schwert geben. Der junge Soldat, der vor Grauen wie betäubt war, zog die Waffe ohne Widerrede aus der Scheide.

»Arent«, rief Sammy ihn näher zu sich heran. »Hast du gesagt, der Aussätzige habe keine Zunge mehr?«

»Man hat sie ihm herausgeschnitten«, bestätigte Arent. »Vor einer ganzen Weile schon, denke ich.«

»Bring Sara Wessel zu mir herüber, wenn du fertig bist«, sagte Sammy besorgt. »Diese Sache erfordert dringend unsere Aufmerksamkeit.«

Als Arent mit dem Schwert zurückkehrte, hatte Sara sich neben den verwundeten Aussätzigen auf die Erde gekniet und wollte eben seine Hand nehmen, bevor sie sich gerade noch rechtzeitig seinen Zustand ins Gedächtnis rief. »Ich kann dich nicht heilen«, gestand sie mit sanfter Stimme ein. »Aber ich kann dir einen Ausweg bieten, bei dem du keine Schmerzen leiden musst, falls du dies möchtest?«

Die Lippen des Aussätzigen bewegten sich in hilfloser Qual, doch er brachte nur ein Stöhnen hervor. Er nickte, während ihm die Tränen in die Augen traten.

»Ich bleibe bei dir.« Sie schaute über ihre Schulter zu dem jungen Mädchen hinüber, das das Geschehen aus dem Innern der Sänfte beobachtete. »Lia, komm her zu mir, bitte«, sagte Sara und hielt ihr die Hand entgegen.

Lia kletterte aus der Sänfte. Sie war höchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt und hatte lange, schlaksige Arme und Beine. Ihr Kleid schien ihr nicht mehr recht zu passen – wie eine abgelegte Haut, die sie noch nicht hatte abstreifen können.

Mit einem gewaltigen Rauschen brandeten die Teilnehmer der Prozession auseinander, um sie durchzulassen. Ähnlich wie die meisten anderen sah Arent dem Mädchen neugierig entgegen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die jeden Abend die Kirche besuchte, bekam man Lia nur sehr selten draußen im Freien zu sehen, und es gab Gerüchte, ihr Vater hielte sie versteckt, weil er sich ihrer schämte. Aber während Arent zusah, wie sie zögernd zu dem Aussätzigen hinüberkam, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, worauf diese Scham beruhen sollte.

Sie war ein hübsches Mädchen, wenn auch ungewöhnlich blass, als sei sie aus Schatten und Mondlicht gesponnen.

Während Lia sich näherte, warf Sara einen nervösen Blick zu ihrem Gatten hinüber, der stocksteif auf seinem Pferd saß und dessen Kiefer sich kaum merklich bewegte, während er mit den Zähnen knirschte. Arent wusste, dass dies Wenige der einzige Ausdruck seines Ärgers war, den er in der Öffentlichkeit preisgeben würde. Das Zucken seiner Gesichtszüge verriet, dass er seine Frau und Tochter am liebsten zurück in die Sänfte beordert hätte. Doch jegliche Autorität ist mit dem Fluch behaftet, dass man es niemals zugeben darf, wenn man sie verloren hat.

Als Lia bei ihrer Mutter ankam, drückte diese ihr beruhigend die Hand.

»Dieser Mann hat furchtbare Schmerzen«, sagte sie leise. »Er leidet, und Leutnant Hayes, der hier neben uns steht, wird diesem Leiden ein Ende setzen. Kannst du das verstehen?«

Das Mädchen hatte die Augen weit aufgerissen, aber es nickte gehorsam. »Ja, Mama«, antwortete es.

»Gut«, sagte Sara. »Er hat große Angst und sollte dies nicht allein durchstehen müssen. Wir werden bei ihm wachen und ihm Mut spenden. Du darfst nicht wegschauen.«

Der Aussätzige zog sich unter qualvollen Schmerzen eine Kette vom Hals, an der ein kleines verkohltes Stück Holz mit scharf gezackten Kanten hing. Er drückte sich das Holzstück an die Brust und schloss so fest er konnte die Augen.

»Wann immer Ihr so weit seid«, sagte Sara zu Arent, der dem Aussätzigen daraufhin sofort die Klinge ins Herz bohrte. Der Mann verkrampfte sich und wölbte den Rücken. Dann wurde sein Körper schlaff und eine Blutlache sickerte darunter hervor. Das Blut glitzerte im Sonnenlicht und warf ein Spiegelbild der drei Gestalten zurück, die um den Leichnam standen.

Das Mädchen hielt die Hand seiner Mutter fest umklammert, doch sein Mut geriet keine Sekunde ins Wanken.

»Das hast du gut gemacht, mein Engel«, sagte Sara und streichelte die zarte Wange des Kindes. »Ich weiß, das war schrecklich, aber du hast dich sehr tapfer gehalten.«

Während Arent die Klinge an einem Sack voll Hafer abwischte, zog Sara sich eine ihrer edelsteinbesetzten Nadeln aus dem Haar, sodass sich eine rote Locke löste.

»Für Eure Mühe«, sagte sie und hielt ihm die Nadel hin.

»Es wäre kein Akt der Güte, wenn man sich dafür bezahlen ließe«, entgegnete er, ließ das glitzernde Ding in ihrer Hand unbeachtet und brachte dem Soldaten sein Schwert zurück.

Sie wirkte zugleich überrascht und verwirrt, und ihr Blick blieb eine ganze Weile an ihm hängen. Als wolle sie auf keinen Fall bei einer solch unverhohlenen Beobachtung erwischt werden, wandte sie sich rasch ab und rief zwei der Schauerleute herbei, die nicht weit entfernt auf einem Haufen zerfetzten Segeltuchs gesessen hatten. Die Männer sprangen auf, als seien sie gestochen worden, und lüpften unterwürfig grüßend ihre Mützen, sobald sie nahe genug herangekommen waren.

»Verkauft dies, verbrennt den Leichnam und seht zu, dass seiner Asche ein christliches Begräbnis zuteil wird«, ordnete Sara an, während sie die Haarnadel in die schwielige Hand des Mannes drückte, der ihr am nächsten stand. »Geben wir ihm im Tode den Frieden, der ihm im Leben verwehrt war.«

Die beiden Männer tauschten einen verschlagenen Blick aus.

»Dieser Edelstein wird für das Begräbnis bezahlen, und es wird noch genug übrig bleiben, damit ihr zwei das ganze restliche Jahr über euren Lastern frönen könnt – wie auch immer diese aussehen mögen. Aber ich werde euch beobachten lassen«, warnte sie freundlich. »Falls dieser arme Mann außerhalb der Stadtmauern endet, dort, wo man missliebige Personen begräbt, wird man euch hängen. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Mylady«, murmelten beide und zogen respektvoll die Mützen vom Kopf.

»Könnt Ihr eine Minute für Sammy Pipps erübrigen?«, rief Arent ihr zu. Er stand neben Hauptmann Jacobi Drecht.

Sara warf erneut einen Blick zu ihrem Gatten hinüber und versuchte dabei offenbar, den Grad seines Missfallens abzuschätzen. Arent konnte es ihr nachempfinden. Jan Haan war dafür bekannt, dass ihn sogar eine kühn gestaltete Tischordnung empören konnte. Dabei zuzuschauen, wie sich seine Frau im Staub herumtrollte, als wäre sie eine Dirne, die einer davonrollenden Münze hinterherjagte, musste unerträglich für ihn gewesen sein.

Er sah sie nicht einmal an. Stattdessen beobachtete er Arent.

»Lia, bitte setz dich wieder in die Sänfte«, sagte Sara.

»Aber Mama!«, beschwerte sich Lia, senkte dabei jedoch die Stimme. »Das ist Samuel Pipps!«

»Ja«, stimmte ihre Mutter ihr zu.

»Der Samuel Pipps!«

»In der Tat.«

»Der Spatz!«

»Ein Spitzname, den er garantiert großartig findet«, entgegnete sie trocken.

»Du könntest mich ihm vorstellen.«

»Er wird kaum passend gekleidet sein, um Besuch zu empfangen, Lia.«

»Mama –«

»Ein Aussätziger ist zweifellos genügend Aufregung für einen Tag«, sagte Sara in einem Ton, der keinen Widerspruch mehr duldete, und rief Dorothea mit einem Nicken zu sich.

Als ihre Tochter dennoch Beschwerde einlegen zu wollen schien, streichelte die Zofe beschwichtigend ihren Arm und überredete sie, zur Sänfte zurückzukehren.

Die Menge teilte sich bereitwillig, als Sara auf sie zutrat. Sie ging zu dem Gefangenen hinüber, der hastig versuchte, sein beschmutztes Wams gerade zu ziehen.

»Euer legendärer Ruf eilt Euch voraus, Herr Pipps«, sagte sie und machte einen Hofknicks.

Nach den Demütigungen, die ihm eben erst widerfahren waren, schien dieses Kompliment Sammy vollkommen zu verblüffen, sodass er seine Begrüßung nur stotternd hervorbrachte. Und als er versuchte, sich zu verbeugen, wurde diese höfische Geste durch die Ketten ad absurdum geführt.

»Warum wolltet Ihr mich sprechen?«, fragte Sara.

»Ich flehe Euch an, die Abreise der Saardam zu verschieben«, antwortete er. »Bitte, Ihr müsst die Warnung des Aussätzigen beherzigen!«

»Ich hielt den Mann für einen Wahnsinnigen«, gestand sie überrascht ein.

»Oh, er war gewiss dem Wahnsinn verfallen«, stimmte Sammy ihr zu. »Aber er vermochte es, ohne Zunge zu sprechen und mit einem lahmen Fuß einen Stapel Kisten zu erklimmen.«

»Die fehlende Zunge ist mir durchaus aufgefallen, aber nicht der lahme Fuß.« Sie warf einen Blick zu dem Leichnam hinüber. »Seid Ihr sicher?«

»Man kann die Behinderung unter seinen Bandagen trotz seines verbrannten Zustandes deutlich erkennen. Er wird eine Krücke gebraucht haben, um gehen zu können, und das bedeutet, dass er unmöglich ohne fremde Hilfe auf diese Kisten geklettert sein kann.«

»Dann glaubt Ihr also, dass er nicht allein gehandelt hat?«

»Das glaube ich in der Tat nicht. Und es gibt noch einen weiteren Grund zur Sorge.«

»Natürlich gibt es den«, seufzte sie. »Eine Sorge kommt niemals allein.«

»Seht Ihr seine Hände?«, fuhr Sammy fort, ohne ihre Bemerkung zu beachten. »Eine von ihnen weist schlimme Verbrennungen auf, doch die andere scheint nahezu unversehrt. Wenn Ihr genau hinseht, so werdet Ihr einen Bluterguss unter seinem Daumennagel bemerken sowie den Umstand, dass sein Daumen in der Vergangenheit mindestens drei Mal gebrochen war und deshalb gekrümmt ist. Zimmerleute ziehen sich solche Verletzungen andauernd zu, insbesondere diejenigen, die ihre Arbeit auf See verrichten, weil sie immer mit dem unregelmäßigen Schwanken des Schiffes zu kämpfen haben. Zudem ist mir aufgefallen, dass er krummbeinig ist – ein weiteres Merkmal, das all diejenigen gemeinsam haben, die zur See fahren.«

»Glaubst du, er war Zimmermann auf einem der Schiffe der Flotte?«, mischte Arent sich ein, während er einen prüfenden Blick zu den sieben Schiffen hinüberwarf, die im Hafer vor Anker lagen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Sammy. »Jeder Zimmermann in Batavia hat höchstwahrscheinlich irgendwann einmal auf einem Ostindienfahrer gedient. Hätte ich die Hände frei, um den Leichnam zu untersuchen, so könnte ich diese Frage vielleicht genauer beantworten, aber –«

»Mein Gatte wird Euch niemals freigeben, Herr Pipps«, entgegnete Sara scharf. »Falls das Eure nächste Forderung sein sollte.«

»Das ist es nicht«, sagte er, wobei ihm die Röte in die Wangen stieg. »Ich kenne die Meinung Eures Gatten und ich weiß auch, dass er meinen Bedenken niemals Gehör schenken wird. Aber von Euch würde er sie anhören.«

Sara trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und starrte auf den Hafen hinaus. Delphine spielten im Wasser. Die Tiere sprangen und drehten sich in der Luft und verschwanden wieder unter der Wasseroberfläche, nahezu ohne einen Spritzer zu verursachen.

»Bitte, Mylady. Ihr müsst Euren Gatten überzeugen, den Aufbruch der Flotte zu verzögern, während Arent dieser Sache auf den Grund geht.«

Arent schaute überrascht auf. Das letzte Mal, dass er in einem Fall selbst ermittelt hatte, war drei Jahre her. Heutzutage hielt er sich von solcherlei Dingen fern. Seine Aufgabe bestand darin, Sammy zu beschützen und alle Schurken in Grund und Boden zu stampfen, auf die er anklagend mit dem Finger wies.

»Fragen sind Schwerter und Antworten sind Schilde«, beharrte Sammy, während er Sara immer noch unverwandt anstarrte. »Ich flehe Euch an: Rüstet Euch. Hat die Saardam erst einmal Segel gesetzt, wird es dafür zu spät sein.«

Unter dem glühenden Himmel Batavias schritt Sara Wessel an der gesamten Prozession entlang. Sie konnte die Blicke der Höflinge, Soldaten und Speichellecker spüren und ging wie eine zum Tode Verurteilte: mit geraden Schultern, gesenkten Augen und geballten Fäusten. Die Schamröte war ihr ins Gesicht gestiegen, auch wenn die meisten das irrtümlich für eine Folge der Hitze hielten.

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schaute sie über die Schulter zu Arent zurück. Er war nicht schwer zu erkennen, denn er war mehr als einen ganzen Kopf größer als alle anderen. Sammy hatte ihn bereits losgeschickt, um den Leichnam zu untersuchen, und er war soeben damit beschäftigt, die Gewänder des Aussätzigen mit einem der langen Stöcke auseinanderzuschieben, die zuvor zum Tragen der Körbe benutzt worden waren.

Als er Saras Augen auf sich spürte, schaute er auf, und ihre Blicke trafen sich. Verlegen riss sie den Kopf herum und schaute wieder nach vorne.

Das abscheuliche Pferd ihres Gatten schnaubte und stampfte wütend mit den Hufen in den Staub, als sie sich ihm näherte. Sie würde sich mit dieser Bestie niemals verstehen. Im Gegensatz zu ihr selbst schien es das Tier zu genießen, von ihm bestiegen zu werden.

Dieser Gedanke entlockte ihr ein höhnisches Grinsen, das sie nur mit Mühe aus ihrem Gesicht verbannen konnte, bevor sie vor ihn trat. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und den Kopf gebeugt, um sich leise mit Cornelius Vos zu besprechen.

Vos war der Kammerherr ihres Gatten, sein wichtigster Berater und einer der mächtigsten Männer der Stadt. Doch das hätte man nie vermutet, wenn man ihn ansah, denn trotz all der Macht, die er ausübte, verfügte er nicht über den geringsten Anflug von Charisma oder Vitalität. Er war weder groß noch klein, weder dick noch dünn, hatte schlammfarbene Haare und ein wettergegerbtes Gesicht, das über keinerlei herausragende, nennenswerte Eigenschaften verfügte – abgesehen von einem Paar leuchtend grüner Augen, die unweigerlich immer über die Schultern desjenigen starrten, mit dem er sich gerade unterhielt.

Seine Kleidung war schäbig, ohne abgerissen zu sein, und es umwehte ihn eine derartige Hoffnungslosigkeit, dass man hätte meinen können, die Blumen würden verwelken, wenn er an ihnen vorüberging.

»Befindet sich meine persönliche Fracht an Bord?«, fragte ihr Gatte, ohne Sara zu beachten.

»Der Oberste Handelsoffizier hat das bereits erledigt, Euer Exzellenz.«

Weder unterbrachen die beiden Männer ihre Unterhaltung, noch ließen sie sonst in irgendeiner Weise erkennen, dass sie Saras Gegenwart wahrgenommen hatten. Ihr Gatte ertrug es nicht, wenn man ihn unterbrach, und Vos hatte ihm lange genug gedient, um das zu wissen.

»Und es wurde alles unternommen, um die Geheimhaltung der Fracht zu gewährleisten?«, fragte ihr Gatte.

»Hauptmann Drecht hat sich dieser Sache persönlich angenommen.« Vos’ Finger tanzten an seinen Oberschenkeln entlang – ein sicheres Zeichen dafür, dass er in Gedanken gerade etwas ausrechnete. »Und das bringt uns zu unserem zweiten wichtigen Frachtgut, Euer Exzellenz. Darf ich fragen, wo Ihr die Phantasterei während unserer Reise lagern möchtet?«

»Mein Quartier scheint mir ein durchaus passender Ort zu sein«, erklärte der Generalgouverneur.

»Unglücklicherweise ist die Phantasterei zu groß dafür«, sagte Vos und rang die Hände. »Dürfte ich den Laderaum vorschlagen?«

»Ich werde nicht zulassen, dass die Zukunft der Kompanie wie ein unerwünschtes Möbelstück weggepackt wird.«

»Nur wenige wissen, worum es sich bei der Phantasterei handelt, Euer Exzellenz«, fuhr Vos fort, der sich einen Moment lang von den ins Wasser klatschenden Rudern eines näherkommenden Fährbootes hatte ablenken lassen. »Und sogar noch weniger wissen, dass wir sie an Bord der Saardam bringen. Die beste Methode, sie zu beschützen, besteht vielleicht darin, so zu tun, als sei sie tatsächlich ein unerwünschtes Möbelstück.«

»Ein kluger Gedanke. Dennoch ist mir der Laderaum zu ungeschützt«, entgegnete ihr Gatte.

Die beiden Männer schwiegen und ließen sich die Sache durch den Kopf gehen.

Die Sonne brannte ihr in den Rücken, und dicke Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn, rollten an ihrem Gesicht herab und verklumpten das weiße Puder, das Dorothea immer so freizügig darauf verteilte, um ihre Sommersprossen zu verdecken. Sie sehnte sich danach, ihre Kleidung zu wechseln, sich die Krause vom Hals zu reißen und sich aus dem feuchten Stoff zu schälen, aber genauso sehr, wie unterbrochen zu werden, hasste ihr Gatte es, wenn man in seiner Gegenwart herumzappelte.

»Wie wäre es mit der Pulverkammer, Euer Exzellenz?«, fragte Vos nun. »Sie ist verschlossen und wird bewacht, aber es würde niemand damit rechnen, dass etwas so Wertvolles wie die Phantasterei darin aufbewahrt wird.«

»Hervorragend. Ordnet das an.«

Als Vos zur Prozession hinüberging, drehte sich der Generalgouverneur endlich zu seiner Frau um.

Er war zwanzig Jahre älter als Sara, und sein tropfenförmiger Kopf war fast gänzlich kahl, abgesehen von einem dunklen Haarkranz am Hinterkopf, der sich vom einen seiner riesigen Ohren zum anderen zog. Die meisten Leute trugen Hüte, um sich vor dem grellen Sonnenlicht Batavias zu schützen, doch ihr Gatte war der Überzeugung, dass er mit einer solchen Kopfbedeckung albern aussah. Infolgedessen leuchtete seine Kopfhaut in einem heftigen, entzündeten Purpurrot, seine Haut schälte sich und ihre Fetzen sammelten sich in den Falten seiner Halskrause.

Seine dunklen Augen unter den niedrigen Augenbrauen musterten sie abschätzig, während er sich mit den Fingern an der langen Nase kratzte. Er war ein überaus hässlicher Mann, ganz gleich, wie man es betrachtete, doch im Gegensatz zu Kammerherr Vos war er von einer Aura gewaltiger Macht umgeben. Jedes Wort, das aus seinem Mund kam, schien sich in die Weltgeschichte einätzen zu wollen, jeder Blick aus seinen Augen schien einen unterschwelligen Vorwurf zu enthalten oder schien andere dazu einzuladen, sich an ihm zu messen und auf diese Weise zu entdecken, wie unzulänglich sie waren.

Er war der Überzeugung, allein durch seine schiere Existenz eine Art Musterbeispiel für Wohlerzogenheit, Disziplin und Tugendhaftigkeit abzugeben.

»Meine Frau«, sagte er in einem Tonfall, den man irrtümlicherweise für freundlich hätte halten können.

Als er die Hand nach ihrem Kopf ausstreckte, fuhr sie zusammen, doch er presste nur seinen Daumen auf ihre Wange und wischte ihr grob einen Puderklumpen aus dem Gesicht. »Wie sehr die Hitze doch Eurem Aussehen schadet.«

Sie schluckte die Beleidigung hinunter und senkte die Augen.

Seit fünfzehn Jahren waren sie nun verheiratet, und sie konnte es an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft sie es geschafft hatte, seinem Blick standzuhalten.

Es lag an diesen tintenschwarzen Augen. Sie glichen den Augen ihrer Tochter wie ein Ei dem anderen, nur dass Lias Augen glitzerten und voller Leben waren. Die Augen ihres Gatten jedoch waren leer, wie zwei dunkle Löcher, aus denen seine Seele schon vor langer Zeit geflohen war.

Diese Leere hatte sie schon das erste Mal gespürt, als sie ihm begegnet war. Damals waren sie und ihre vier Schwestern während der Nacht in seinem Salon in Rotterdam abgeliefert worden, als wären sie Fleisch, das er sich eigens auf dem Marktplatz bestellt hatte. Er hatte sie eine nach der anderen verhört und sich dann noch an Ort und Stelle für Sara entschieden. Sein Antrag war sehr ausführlich ausgefallen, denn er hatte ihrem Vater darin sämtliche Vorteile ihrer Verbindung aufgezählt. Kurz gesagt: Sie würde einen prächtigen Käfig ihr eigen nennen und alle Zeit der Welt haben, um sich selbst hinter Gittern zu bewundern.

Sara hatte auf dem gesamten Heimweg geweint und ihren Vater angefleht, sie nicht fortzuschicken.

Es hatte nichts genutzt. Der Brautpreis war zu hoch gewesen. Ohne es zu wissen, war sie zum Verkauf herangezüchtet und wie ein Kalb mit Umgangsformen und Bildung gemästet worden.

Sie hatte sich verraten gefühlt, aber sie war damals noch sehr jung gewesen. Jetzt verstand sie die Welt besser. Das Fleisch hatte kein Mitspracherecht dabei, an wessen Haken es gehängt wurde.

»Ihr habt Euch auf unziemliche Weise zur Schau gestellt«, maßregelte er sie mit unterdrückter Stimme, während er gleichzeitig lächelte, um seine Höflinge zu täuschen. Letztere waren dem Paar immer näher gerückt, weil sie auf keinen Fall irgendetwas verpassen wollten.

»Ich habe mich nicht zur Schau gestellt«, entgegnete sie trotzig. »Der Aussätzige hat furchtbar gelitten.«

»Er lag im Sterben. Habt Ihr geglaubt, auch dagegen eine Salbe zu haben?« Seine Stimme war leise und so schneidend, dass sie die Ameisen zu ihren Füßen hätte zerstückeln können. »Ihr seid unbesonnen, leichtsinnig, dickköpfig und weichherzig.« Er warf ihr die Beleidigungen an den Kopf wie die Steine, die Samuel Pipps getroffen hatten. »Solcherlei Eigenschaften habe ich mit Nachsicht betrachtet, als Ihr noch ein junges Mädchen wart, aber Eure Jugend liegt weit hinter Euch.«

Dem Rest seiner Rede hörte sie nicht mehr zu. Das brauchte sie gar nicht. Es waren lauter altvertraute Vorwürfe. Und es waren auch nur die ersten Regentropfen, bevor der Sturm seiner Wut über sie hinwegtobte. Nichts, was sie jetzt sagte, würde daran irgendetwas ändern. Ihre Bestrafung würde später folgen, wenn sie mit ihm allein war.

»Samuel Pipps glaubt, dass unserem Schiff Gefahr droht«, platzte es aus ihr heraus.

Ihr Gatte runzelte die Stirn. Er war es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden.

»Pipps liegt in Ketten«, wandte er ein.

»Nur seine Hände«, widersprach sie. »Seine Augen, sein Verstand und seine übrigen Sinne sind frei geblieben. Er glaubt, dass der Aussätzige früher einmal ein Schiffszimmermann war und möglicherweise auf einem Schiff ebender Flotte beschäftigt war, mit der wir nach Amsterdam zurückkehren.«

»Aussätzige dürfen nicht an Bord eines Ostindienfahrers dienen.«

»Vielleicht zeigte sich die Fäulnis ja erst, als das Schiff in Batavia anlangte?«

»Auf meine Anordnung hin werden sämtliche Leprakranke sofort hingerichtet und sodann verbrannt. Es wird kein einziger in der Stadt geduldet.« Er schüttelte verärgert den Kopf. »Ihr habt Euch von den Schwafeleien eines Irren und denen eines Verbrechers fehlleiten lassen. Es droht uns nicht die geringste Gefahr. Die Saardam ist ein ausgezeichnetes Schiff, mit einem ebenso ausgezeichneten Kapitän. Kein Schiff der Flotte ist so robust und solide wie dieses. Deshalb habe ich es auch ausgewählt.«

»Pipps macht sich ja auch keine Sorgen, es könnte sich womöglich eine Planke lösen«, warf sie ihm an den Kopf, senkte jedoch dann rasch die Stimme. »Er befürchtet einen Racheakt oder etwas Derartiges. Alle, die heute an Bord gehen, sind in Gefahr, einschließlich unserer Tochter. Wir haben bereits unsere Söhne verloren. Könntet Ihr es tatsächlich ertragen, wenn auch sie …« Sie holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. »Wäre es nicht klüger, mit sämtlichen Kapitänen der Flotte zu sprechen, bevor wir in See stechen? Der Aussätzige hatte keine Zunge mehr und einen verkrüppelten Fuß. Falls er unter einem von ihnen gedient hat, würden sie sich gewiss an ihn erinnern.«

»Und was glaubt Ihr soll ich in der Zwischenzeit unternehmen?«, verlangte er von ihr zu wissen, während er mit dem Kinn zu den Hunderten von Menschen hinüberwies, die in der glühenden Hitze fast vergingen. Irgendwie war es den umstehenden Höflingen gelungen, sich bis auf Hörweite heranzuschleichen, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. »Soll ich diese Prozession in die Burg zurückbeordern? Auf das Wort eines Verbrechers hin?«

»Ihr habt Pipps immerhin genug Vertrauen entgegengebracht, um ihn von Amsterdam hierher zu beordern, damit er die gestohlene Phantasterei wiederfindet.«

Seine Augen verengten sich zu bedrohlichen, schmalen Schlitzen.

»Um Lias willen«, fuhr sie kühn fort. »Könnten wir nicht wenigstens auf einem anderen Schiff Quartier beziehen?«

»Nein, wir reisen an Bord der Saardam.«

»Dann eben nur Lia allein.«

»Nein.«

»Warum nicht?« Sie fand seine Halsstarrigkeit derart verwirrend, dass sie gar nicht bemerkte, wie wütend er geworden war. »Ein anderes Schiff wäre doch genauso gut. Warum seid Ihr so fest entschlossen, auf der –«

Ihr Gatte schlug sie mit dem Handrücken so brutal ins Gesicht, dass ein brennender Striemen auf ihrer Wange zurückblieb. In den Reihen der Höflinge keuchten einige entsetzt auf, andere kicherten.

Saras wütender Blick hätte jedes einzelne Schiff im Hafen versenken können, aber der Generalgouverneur hielt ihm seelenruhig stand und zog ein seidenes Tuch aus seiner Tasche.

Sämtliche in ihm angestaute Wut war sofort verraucht.

»Holt unsere Tochter, auf dass wir gemeinsam als Familie an Bord gehen können«, sagte er und tupfte sich das weiße Puder von der Hand. »Unser Aufenthalt in Batavia ist zu Ende.«

Sara biss die Zähne zusammen und drehte sich zu der Prozession um.

Alle starrten sie an, kicherten und flüsterten, doch sie hatte nur Augen für die Sänfte.

Lia starrte zwischen den zerrissenen Vorhängen hindurch. Ihre Gesichtszüge verrieten nichts von dem, was in ihr vorging.

Verflucht sei er, dachte Sara. Verflucht und verdammt.

Die Ruder hoben und senkten sich, und das Sonnenlicht glitzerte in den herabfallenden Wassertropfen, während sich das Fährboot seinen Weg durch die unruhigen blauen Wellen des Hafens hinüber zur Saardam bahnte.

Der Hauptmann der Leibwache Jacobi Drecht saß rittlings auf der Bank in der Mitte des Bootes und zupfte sich mit den Fingern geistesabwesend ein paar Krumen gepökelten Fisch aus dem blonden Bart.

Den Säbel hatte er abgeschnallt und sich über die Knie gelegt. Es war eine prächtige Waffe, deren Griff von einem fein ziselierten Korb geschützt wurde. Die meisten Musketiere waren mit Piken und Musketen bewaffnet oder allenfalls mit rostigen Schwertern, die sie auf dem Schlachtfeld einer Leiche gestohlen hatten. Doch dies war die Waffe eines Edelmanns, viel zu vornehm für einen einfachen Soldaten, und Arent fragte sich, wie und wo sie dem Hauptmann in die Hände gefallen war und warum er sie noch nicht verkauft hatte.

Drechts Hand ruhte leicht auf der Scheide seines Säbels, und hier und da warf er einen argwöhnischen Blick zu seinem Gefangenen hinüber. Da er jedoch aus demselben Dorf wie der Fährmann stammte, führten die beiden Männer eine herzliche Unterhaltung über den Keiler, den sie in benachbarten Wäldern gejagt hatten, und die Tavernen, in die sie dort eingekehrt waren.

Im Bug des Bootes saß Sammy, von Ketten umwunden wie von einer Horde Schlangen, und nestelte mit elender Miene an seinen rostigen Handfesseln. Arent hatte seinen Freund noch nie so niedergeschlagen erlebt. In den fünf Jahren, die sie nun schon zusammenarbeiteten, war Sammy abwechselnd irritierend, unbeherrscht, freundlich oder auch faul gewesen, doch niemals so resigniert. Es war, als hinge die Sonne welk im Himmel.

»Sobald wir an Bord sind, werde ich mit dem Generalgouverneur reden«, versprach Arent. »Ich werde ihn schon zur Vernunft bringen.«

Sammy schüttelte den Kopf.

»Er wird dir nicht zuhören«, entgegnete er mit dumpfer Stimme. »Und je mehr du mich verteidigst, desto schwieriger wird es für dich werden, dich von mir loszusagen, wenn man mich hingerichtet hat.«

»Hingerichtet!«, rief Arent.

»Genau das hat der Generalgouverneur vor, sobald wir in Amsterdam eintreffen.« Er schnaubte verächtlich. »Immer gesetzt den Fall, wir schaffen es bis dorthin.«

Unwillkürlich suchte Arents Blick das Fährboot, in dem der Gouverneur saß. Es fuhr ihnen ein paar Ruderschläge voraus und war mit einem Baldachin samt Vorhängen ausgestattet, durch den er und seine Familie vor der Sonne geschützt wurden. Just in diesem Moment lupfte ein Windhauch den leichten Stoff und gab den Blick auf Lias Kopf frei, der im Schoß ihrer Mutter ruhte. Der Generalgouverneur saß ein wenig abseits.

»Die Siebzehn Herren werden das niemals zulassen«, wandte Arent ein, als er daran dachte, welch hoher Wertschätzung sich Sammy bei den Direktoren der Ostindien-Kompanie erfreute. »Du bist viel zu wertvoll für sie.«

»Der Generalgouverneur unternimmt diese Reise, um seinen Platz in ihren Reihen einzunehmen. Er ist fest davon überzeugt, die übrigen Herren auf seine Seite ziehen zu können.«

Ihr Fährboot fuhr zwischen zwei Schiffen hindurch. Matrosen hingen in den Tauen der Takelage und riefen sich übers Wasser derbe Scherze zu. Jemand pinkelte über die Bordwand, und die gelbe Sturzflut verfehlte sie nur knapp.

»Wie konnte es dazu kommen, Sammy?«, verlangte Arent zu wissen. »Du hast die Phantasterei sichergestellt, genau, wie man es von dir verlangt hat. Man hat ein Festmahl zu deinen Ehren abgehalten. Wie konnte es da geschehen, dass du an einem einzigen Tag erst als Held in das Büro des Generalgouverneurs stolziert bist, aber in Ketten wieder herausgeschleift wurdest?«

»Ich habe immer und immer wieder darüber nachgedacht, aber ich weiß es nicht«, antwortete Sammy verzweifelt. »Der Generalgouverneur hat von mir verlangt, dass ich ein Geständnis ablege, aber als ich ihm sagte, ich wisse nicht, für welches Verbrechen ich dieses Geständnis ablegen soll, geriet er fürchterlich in Wut und ließ mich in den Kerker werfen, damit ich mich dort eines Besseren besann. Deshalb flehe ich dich an: Halte dich von mir fern.«

»Sammy –«

»Ich muss etwas während dieses Auftrags getan habe, wodurch ich mir seinen Zorn zugezogen habe, und solange ich nicht weiß, was das war, kann ich dich auch nicht davor beschützen«, unterbrach ihn Sammy. »Aber ich schwöre dir, wenn er erst einmal mit mir fertig ist, werden all unsere guten Taten nichts mehr wert und unser Ansehen bei der Vereinigten Ostindien-Kompanie wird zerstört sein. Ich bin Gift für dich, Arent Hayes. Ich bin leichtsinnig und hochmütig gewesen, und dafür werde ich nun bestraft. Und ich werde mein Scheitern nicht auch noch dadurch verschlimmern, dass ich dich mit ins Verderben ziehe.« Er lehnte sich vor und starrte Arent eindringlich an. »Geh zurück nach Batavia. Lass mich dein Leben retten, dieses eine Mal.«

»Ich habe dein Geld genommen und im Gegenzug versprochen, dich vor jedem Schaden zu bewahren«, entgegnete Arent. »Mir bleiben immerhin noch acht Monate, um zu verhindern, dass du als Festmahl für ein paar Krähen endest. Und ich habe fest vor, das auch zu erreichen.«

Sammy schüttelte den Kopf, ließ die Schultern hängen und verfiel in ein niedergeschlagenes Schweigen.

Ihr Ruderboot näherte sich dem gewaltigen knarrenden Rumpf der Saardam, der wie eine riesige hölzerne Wand aus dem Wasser ragte. Es waren erst zehn Monate vergangen, seit das Schiff Amsterdam verlassen hatte, aber es machte bereits den Eindruck, als sei es uralt. An allen Ecken und Enden blätterte die rote und grüne Farbe ab, und aufgrund der Reise von den eiskalten Gewässern des Atlantiks in die feuchtheißen Tropen hatten sich die hölzernen Planken verzogen.

Dass etwas derart Gewaltiges überhaupt auf dem Wasser schwimmen konnte, war eine so unglaubliche bauliche Meisterleistung, dass es einer Teufelei gleichkam, und Arent hatte das Gefühl, in der Gegenwart des Schiffes in sich zusammenzuschrumpfen. Er streckte die Hand aus und ließ die Fingerspitzen über die rauen Planken gleiten. Im Holz war ein dumpfes Vibrieren zu spüren. Er versuchte sich vorzustellen, was sich auf der anderen Seite befand: jenes Labyrinth aus Decks und Treppenaufgängen, in das hier und da vereinzelte Sonnenstrahlen fielen. Es bedurfte Hunderter von Mannschaftsmitgliedern, um ein Schiff dieser Größe zu segeln, und es würden noch einmal so viele Passagiere mitreisen. All diese Menschen waren in Gefahr. Und selbst in seinem in Ketten geschlagenen, zerschundenen und misshandelten Zustand war Sammy der Einzige, der ihnen helfen konnte.

Arent versuchte, ihm diesen Gedanken so beredt er konnte zu vermitteln. »Jemand will dieses Schiff versenken, und ich kann in etwa so gut schwimmen wie ein Sack voll Steine. Ob du wohl mal aufhören könntest, Trübsal zu blasen? Reiß dich gefälligst am Riemen und unternimm etwas dagegen!«

Sammy grinste ihn an. »Du könntest mit deinen Überredungskünsten ein ganzes Heer in den Abgrund führen«, sagte er sarkastisch. »Hast du irgendetwas herausgefunden, als du den Leichnam des Aussätzigen untersucht hast?«

Arent zog ein Stück Hanfstoff hervor, das er von einem der Säcke am Kai abgeschnitten hatte. Darin eingeschlagen lag der Talisman, den der Leprakranke umklammert hatte, als Arent ihm den Gnadenstoß gab. Er war zu verkohlt, um Einzelheiten erkennen zu können.

Sammy lehnte sich vor und betrachtete ihn eingehend. »Er wurde in zwei Stücke gebrochen«, sagte er. »Man kann immer noch die gezackten Ränder erkennen.«

Er dachte einen Moment nach und drehte sich dann abrupt zu Hauptmann Drecht um. Seine Stimme war von großer Autorität erfüllt, trotz der Ketten, mit denen er gefesselt war. »Habt Ihr jemals an Bord eines Ostindienfahrers gedient?«

Drecht betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen, als sei diese Frage eine dunkle Höhle, die zu betreten er sich weigerte.

»Ja, habe ich«, antwortete er schließlich.

»Was wäre die schnellste Methode, ein solches Schiff zu versenken?«

Drecht hob eine seiner buschigen blonden Augenbrauen und nickte dann zu Arent hinüber. »Euren Freund hier dazu aufzufordern, mit seiner Faust ein Loch in den Rumpf zu rammen.«

»Ich meine es ernst, Hauptmann«, sagte Sammy.

»Warum wollt Ihr das wissen?«, fragte dieser argwöhnisch. »Gewiss, es ist nicht gerade erfreulich, was Euch bevorsteht, aber ich werde nicht zulassen, dass Ihr den Generalgouverneur mit Euch ins Verderben reißt.«

»Meine Zukunft liegt in Arents Händen, und deshalb ist mir auch nicht weiter bange darum«, antwortete Sammy. »Doch gegen dieses Schiff wurde eine Drohung ausgesprochen, und ich würde gerne verhindern, dass sie in die Tat umgesetzt wird.«

Drecht schaute an Sammy vorbei zu Arent hinüber. »Ist das wirklich und wahrhaftig seine Absicht, Leutnant? Bei Eurer Ehre.«

Arent nickte, woraufhin Drecht die sie umgebenden Schiffe anstarrte. Er runzelte die Stirn und rückte das Bandelier zurecht, das ihm über die Schulter hing, sodass die Kupferfläschchen rasselten.

»Einen Funken an die Pulverkammer legen«, sagte er nach einer langen Pause. »So würde ich es machen.«

»Wer bewacht die Pulverkammer?«

»Ein Konstabler, hinter einer vergitterten Tür«, antwortete Drecht.

»Arent, du musst herausfinden, wer Zugang zu dieser Kammer hat und ob unser Konstabler irgendeinen Groll hegt«, sagte Sammy.

Der neue Eifer in der Stimme seines Freundes ermutigte Arent. Bisher hatten sie zumeist Fälle von Diebstahl und Mord untersucht – also Verbrechen, die längst geschehen waren und deren Beweggründe sich leicht nachvollziehen ließen. Ein solcher Fall war ganz so, als träfe man nach dem Ende der Vorstellung im Theater ein und würde nun aufgefordert, die im Stück erzählte Geschichte anhand von ein paar weggeworfenen Textseiten und den auf der Bühne verbliebenen Requisiten nachzuvollziehen. Doch nun hatten sie es mit einem Verbrechen zu tun, das noch gar nicht begangen worden war. Eine Chance, Leben zu retten statt nur ihren Raub zu rächen. Hier bot sich ihnen endlich ein Fall, der Sammys Talent würdig war. Hoffentlich konnten die Ermittlungen Sammy so lange ablenken, bis Arent dafür gesorgt hatte, dass er wieder freikam.

»Ihr bedürft dazu der Erlaubnis von Kapitän Crauwels«, gab Drecht zu bedenken, während er sich einen Tropfen Salzwasser von den Wimpern schnipste. »Ihr braucht seine Zustimmung, um in die Kammer zu gelangen. Und seine Zustimmung ist wahrhaftig nicht leicht zu bekommen.«

»Dann musst du damit anfangen«, sagte Sammy zu Arent. »Und wenn du erst einmal mit dem Konstabler gesprochen hast, dann versuch doch als Nächstes, den Namen des Aussätzigen herauszufinden. Ich gehe davon aus, dass er bei dieser Sache selbst ein Opfer ist.«

»Ein Opfer?«, schnaubte Drecht verächtlich. »Er war es doch, der lauter Verwünschungen auf uns herabregnen ließ.«

»Aber wie? Man hatte ihm die Zunge herausgeschnitten. Letztendlich hat er uns nur etwas zum Anstarren gegeben, während eine ganz andere Stimme die Drohung ausgesprochen hat. Wir können unmöglich wissen, ob der Aussätzige eine ähnliche böswillige Absicht hegte oder nicht, aber ich bin mir sicher, dass er nicht aus eigener Kraft auf diese Kisten gestiegen ist und dass er auch sein Gewand nicht selbst in Flammen gesetzt hat. Er hielt die Hände die ganze Zeit an seinen Körper gepresst, bis zu dem Moment, als er sich von dem Kistenstapel herabstürzte. Und wir haben alle gesehen, von welch panischer Angst er erfüllt war, als ihn die Flammen verzehrten. Er wusste nicht, wie ihm geschah, und das macht seinen Tod zum Mord – und zwar zu einem besonders verabscheuungswürdigen.« Eine winzige Spinne huschte über Sammys Ketten. Er baute mit seiner Hand eine Brücke, sodass sie auf die Bank krabbeln konnte. »Deshalb wird Arent auch herausfinden, wie der Aussätzige hieß, wird sich mit etwaigen Freunden von ihm unterhalten und die letzten Wochen seines Lebens rekonstruieren. Aus diesen Bruchstücken können wir dann vielleicht schließen, wie es dazu kam, dass er auf diesen Kisten stand, wessen Stimme wir gehört haben und warum der Sprecher einen solchen Hass auf diejenigen hegt, die sich an Bord der Saardam befinden.«

Arent rückte verlegen auf seinem Sitz hin und her. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich auch nur eine einzige dieser Aufgaben zuwege bringen werde, Sammy. Vielleicht finden wir ja –«

»Vor drei Jahren hast du mich gebeten, dich in meiner Kunst zu unterrichten, und ich habe dich zu meinem Lehrling gemacht«, sagte Sammy, den Arents Skepsis offenbar verärgerte. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass du dich auch dementsprechend verhältst.«

Alte Streitigkeiten brodelten zwischen ihnen auf wie die übelriechenden Blasen eines Sumpfgewässers.

»Diesen Versuch haben wir doch längst aufgegeben«, sagte Arent hitzig. »Wir wissen nur zu gut, dass ich nicht in der Lage bin, das zu tun, was du tust.«

»Was in Lille geschehen ist, lag nicht an mangelndem Verstand, Arent. Du bist an deinem Temperament gescheitert. Deine Stärke hat dich ungeduldig gemacht.«

»Ich bin in Frankreich nicht daran gescheitert, dass ich zu stark war.«

»Das war ein einziger Fall. Ich verstehe ja, dass diese Geschichte dein Selbstvertrauen erschüttert hat –«

»Es wäre beinahe ein Unschuldiger gestorben.«

»Das tun Unschuldige oft«, sagte Sammy mit einer Bestimmtheit, die der Diskussion ein Ende setzen sollte. »Denk doch nur, wie viele Sprachen du sprechen kannst. Und wie leicht du sie dir aneignest! Ich habe dich während dieser letzten Jahre beobachtet. Ich weiß genau, dass es kaum etwas gibt, was dir entgeht. Ich weiß, wie viel du in Erinnerung behältst. Wie war Sara Wessel während unserer Zusammenkunft heute früh gekleidet? Von ihren Stiefeln bis zu ihrer Kopfbedeckung. Sag es mir.«

»Ich weiß es nicht.«

»Natürlich weißt du es«, sagte er und lachte über die Lüge, die Arent unwillkürlich ausgesprochen hatte. »Du bist ein starrsinniger Mensch. Ich könnte dich fragen, wie viele Beine ein Pferd hat, und du würdest abstreiten, jemals eins gesehen zu haben. All diese Informationen – und was fängst du damit an?«

»Ich sorge dafür, dass du am Leben bleibst.«

»Du tust es schon wieder. Du verlässt dich auf deine Stärke, während wir doch deinen Verstand brauchen.« Er hob seine schweren Ketten in die Höhe. »Ich verfüge nur über sehr beschränkte Mittel, Arent, und solange ich nicht frei bin, um meine eigenen Nachforschungen anzustellen, erwarte ich von dir, dass du dieses Schiff beschützt.« Ihr Boot stieß gegen den Rumpf der Saardam, und der Fährmann brachte es längsseits. »Ich werde nicht zulassen, dass irgendein Mistkerl mich ersaufen lässt, bevor der Generalgouverneur mich hängen kann.«

Zahllose Fährboote umschwärmten die Saardam. Sie durchquerten das Wasser in einer langgezogenen Kette, wie Ameisen, die über einen toten Ochsen herfallen. Auf jedem von ihnen wimmelte es von Passagieren, die sich an das eine Gepäckstück festklammerten, das sie mit an Bord bringen durften. Wenn sie dann zum Deck hinaufriefen, man möge ihnen die Strickleiter hinunterlassen, wurden sie oft genug von den Matrosen verspottet, die hoch über ihren Köpfen standen und die so taten, als könnten sie keine Leiter finden oder als hätten sie ihre Bitte ganz einfach nicht gehört.

Die Offiziere der Saardam sahen es ihnen nach, denn sie waren vollauf damit beschäftigt, das Einsteigen des Generalgouverneurs Haan und seiner Familie zu überwachen, das gerade am Heck des Schiffes stattfand. Erst wenn diese auf das Bequemste untergebracht waren, würde man andere Passagiere an Bord gehen lassen.

Lia schwebte gerade seelenruhig auf einer an vier Seilen befestigten Planke nach oben, während Sara händeringend unten stand und zusah, voller Angst, ihre Tochter könne herabfallen oder die Seile könnten reißen. Ihr Gatte war bereits nach oben gezogen worden, und sie sollte als Letzte folgen.

Wie bei allen anderen Dingen in ihrem Leben verlangte es die Etikette auch beim Besteigen eines Schiffes, dass sie sich selbst als die Unwichtigste von allen zurückstellte.

Als die Reihe an Sara kam, setzte sie sich auf die Planke, hielt sich am Seil fest und lachte begeistert, als sie in die Luft hinaufgezogen wurde und der Wind an ihren Kleidern zerrte.

Es war ein aufregendes Gefühl.

Sie baumelte mit den Beinen und starrte über das Wasser des Hafens nach Batavia hinüber.

Während der letzten dreizehn Jahre hatte sie vom Fort aus zugesehen, wie die Stadt sich um sie herum ausbreitete wie zerlaufende Butter. Von jenem Aussichtspunkt hatte Batavia riesig gewirkt. Ein wirres Gefängnis aus Gassen, Geschäften, Märkten und Festungsmauern.

Aber jetzt, aus dieser Entfernung, kam ihr der Ort irgendwie abgeschieden und einsam vor. Die Straßen und Kanäle schienen sich eng aneinander zu klammern und kehrten der Küste den Rücken zu, als schauten sie ängstlich dem wild heranwuchernden Urwald entgegen. Über den Dächern hing der Rauch der Torffeuer, und in der Luft kreisten bunt leuchtende Vögel, die auf die Nahrungsabfälle lauerten, die zurückblieben, wenn die Markthändler ihre Stände zusammenpackten.