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Ein diabolischer Mord in Wien der Jahrhundertwende
Wien 1903: Die Starsängerin der Hofoper wird tot aufgefunden. Zunächst scheint es, dass sie an einer Überdosis Beruhigungsmittel gestorben ist. Doch der Pathologe stellt einen Rippenbruch fest: Jemand muss sie erstickt haben. Der Verdacht fällt auf ihre Konkurrentin in der Oper, der sie die Rolle der Senta im »Fliegenden Holländer« weggeschnappt hat. Doch dann stellt sich heraus, dass sie schwanger war vom Wiener Oberbürgermeister, der gerade eine beispiellose Kampagne gegen Juden beginnt. Inspektor Rheinhardt und sein Freund, der Psychoanalytiker Liebermann, müssen sich wappnen, um gegen die politischen Ränkeschmiede bestehen zu können.
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Seitenzahl: 433
Gustav Mahler hat es als Direktor der Wiener Hofoper wahrlich nicht leicht. Er sieht sich einer Schlangengrube von Eitelkeiten, persönlichen Animositäten und politischer Schmeichelei gegenüber. Und dann wird plötzlich seine beste Sängerin zu Hause tot aufgefunden, sie hatte eine Überdosis Opium zu sich genommen. Hat sie dem Konkurrenzdruck nicht standhalten können und sich das Leben genommen? Inspektor Rheinhardt und Max Liebermann beginnen zu ermitteln. Und müssen bald feststellen, dass der Fall sie in politische Sphären führt, denen sie nicht gewachsen sind.
»Der Tod und das Mädchen« ist das Finale der Kriminalreihe um den jungen Psychoanalytiker Max Liebermann. Frank Tallis zeichnet ein reiches, atmosphärisches Bild des traditionsbewussten und sich doch allmählich modernisierenden Wien am Anfang des 20. Jahrhunderts. Aber die politische Stimmung trübt sich zunehmend ein, der Antisemitismus hat in Gestalt des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger einen gefährlichen Propagandisten. Nur ein paar Jahre später wird der Maler Adolf Hitler in dieser Stadt sein Glück versuchen …
Frank Tallis ist Schriftsteller und praktizierender klinischer Psychologe. Für seine Romane erhielt er zahlreiche Preise, u.a. den Writers’ Award from the Arts Council of Great Britain und den New London Writers’ Award. Frank Tallis lebt in London.
Frank Tallis bei btb:
Die Liebermann-Papiere. Kriminalroman (73463)
Wiener Blut. Max Liebermanns zweiter Fall (73464)
Wiener Tod. Ein Fall für Max Liebermann (73465)
Kopflos. Ein Fall für Max Liebermann (74026)
Rendezvous mit dem Tod. Ein Fall für Max Liebermann (74048)
Der Tod
und das Mädchen
Ein Fall für Max Liebermann
Aus dem Englischen von
Lotta Rüegger und Holger Wolandt
Death and the Maiden bei Century/Arrow, London.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung August 2011
Copyright © der Originalausgabe 2010 by Frank Tallis
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlagfoto: Monsoon/Photolibrary/corbis
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
MM · Herstellung: BB
isbn 978-3-641-06502-7
www.btb-verlag.de
Der Hofmarschall und der Oberhofmeister Prinz Rudolf Liechtenstein betrachteten Kaiser Franz Joseph von der Treppe aus. Dieser erhöhte Aussichtspunkt gestattete ihnen einen guten Überblick über den gesamten Raum. Wie immer trug der Monarch Uniform: eine dunkelblaue Hose und einen burgunderroten Rock mit goldenen Manschetten. Hoch auf seiner Brust hingen drei Orden. Seine Haltung war aufrecht, wie ein Soldat bei der Parade, postiert im Mittelpunkt einer langsam rotierenden Menschenspirale, aus der ihm die verschiedenen Gruppen vorgestellt wurden. Mit jeder Drehung kamen die Hofburg-Gäste näher, angezogen von der magnetischen Kraft Seiner Majestät. Jede Gruppe wurde von einem Sprecher repräsentiert, der sich auf ein Zeichen des Grafen Paar hin dem Kaiser näherte und die Mitglieder seiner Gruppe vorstellte. Nachdem ein paar wenige Worte gewechselt worden waren, bewegte sich die Gruppe weiter und machte der nächsten Platz.
Obwohl etliche Offiziere anwesend waren – Hauptleute und Oberste, die stolz ihre Regimentsfarben zur Schau stellten –, handelte es sich überwiegend um Zivilisten in Abendgarderobe und weißen Fliegen. Die Frauen in ihrer Begleitung trugen Ballkleider, von denen einige recht gewagten Schnittes waren und die weiße Glätte des Rückens entblößten. Die Spitzenbordüren verloren sich in leichtsinniger Tiefe und enthüllten die ansprechenden Rundungen des weiblichen Körpers. Eine Brünette in einem mit Jasmin und Rosen bestickten Mieder schritt anmutig die breite Treppe hinunter. Als sie an den beiden Höflingen vorbeiging, wandte sie sich lächelnd dem Prinzen Liechtenstein zu.
»Eure Hoheit.«
Er neigte seinen Kopf und nahm einen süßen Duft wahr.
»Wer ist sie?«, fragte der Hofmarschall.
»Kennen Sie sie nicht?«, rief der Prinz, seine Stimme klang beinahe ungläubig.
Die Frau gesellte sich zu einer Gruppe Männer am Fuß der Treppe.
»Wenn ich wüsste, wer sie ist, dann hätte ich nicht gefragt«, erwiderte der Hofmarschall.
»Arianne Amsel«, sagte der Prinz. Als der Hofmarschall eine ratlose Miene machte, sah sich Liechtenstein gezwungen zu ergänzen: »Sopran an der Hofoper. Haben Sie sie noch nie singen hören? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Glauben Sie, ich hätte die Zeit, die Oper zu besuchen?«, fragte der Hofmarschall.
»Sie ist berühmt für die Rolle der Senta im ›Fliegenden Holländer‹, und in ›Euryanthe‹ war sie letztes Jahr auch sehr beeindruckend. Wie auch immer, sie wird uns vermutlich nicht mehr lange erhalten bleiben. Unglücklicherweise beklagt sie sich immer wieder über Hofkapellmeister Mahler. Ich werde Sie einander vorstellen.«
Der Hofmarschall nickte und sah sich weiter in dem Saal um.
Die mit Blattgold verzierten Doppeltüren wurden von der bosnischen Garde flankiert. Sie trugen ihr charakteristisches Gewand: Tunika, Kniebundhose, Gamaschen, einen Fez mit einer Troddel und einen Rucksack. Den Hofmarschall streifte der Gedanke, dass die Rucksäcke für das Überleben auf den Kalksteinhängen der Dinarischen Alpen sicher unerlässlich waren. In der Hochburg wirkten sie jedoch ein wenig überflüssig. Weitere Menschen strömten in den Saal und reihten sich in den langsam nach innen rotierenden Reigen ein. Der Hofmarschall wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Mitte des Saals zu.
»Was für eine Überraschung.«
Ein bärtiger Mann Ende fünfzig mit Schärpe bewegte sich auf den Kaiser zu.
»Es hieß, Bürgermeister Lueger sei erkrankt«, meinte Prinz Liechtenstein, »aber auf mich macht er einen recht gesunden Eindruck.«
»Jedenfalls gesund genug, um einen weiteren Wahlkampf durchzustehen«, meinte der Hofmarschall. Dann fügte er bedrückt hinzu: »So ein Pech.«
»Ein allgemeines Gefühl der Unzufriedenheit macht sich breit, finden Sie nicht auch?«, meinte der Prinz. »Ein allgemeiner Unmut, ein Gefühl, dass mehr getan werden könnte.«
»Mit wem haben Sie gesprochen?«, meinte der Hofmarschall unwillig.
Der Prinz wirkte betreten. »Sie haben doch wohl gegen eine aufgeklärte Diskussion unter Freunden nichts einzuwenden? Sie müssen mich nicht darauf aufmerksam machen, wie wichtig Diskretion ist.«
»Schauen Sie ihn an«, beklagte sich der Hofmarschall mit einer verächtlichen Kopfbewegung in Richtung des Oberbürgermeisters. »Er denkt, er sei unbesiegbar.«
»Wenn alles so weitergeht, dann könnte er das durchaus sein.« Prinz Liechtenstein erschauerte theatralisch. »Wenn doch nur jemand etwas unternehmen würde.« Die beiden Höflinge traten beiseite, um den Hochmeister der Ritter des Deutschen Ordens durchzulassen. Der ehrwürdige ältere Herr trug einen weißen mit einem großen schwarz-goldenen Schaufelkreuz bestickten Umhang. Als der Hochmeister den Fuß der Treppe erreicht hatte, meinte der Prinz: »Man könnte, auf diskrete Weise natürlich, verbreiten, dass energische Männer unserer Unterstützung gewiss sein können.«
»Allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt.«
»Allerdings.«
»Anschließend …«
»In der Tat. Aber Sie verfügen über die Autorität und Mittel, mit allen erdenklichen Komplikationen fertig zu werden, nicht wahr?«
Bürgermeister Lueger lächelte, aber der Kaiser erwiderte das Lächeln nicht. Die beiden Männer begrüßten sich sehr förmlich, und der Bürgermeister begann, seine Gesellschaft vorzustellen, ein halbes Dutzend Herren mittleren Alters.
»Die antisemitische Deutsch-Österreichische Schriftstellergenossenschaft«, murmelte der Prinz.
»Wie peinlich«, meinte der Hofmarschall. Sie beobachteten, wie jeder der Männer ein paar Worte zu dem Kaiser sagte und dann weiterging. Als Letzter verbeugte sich der Bürgermeister und folgte den Schriftstellern an einen Ort im Saal, an dem weniger Gedränge herrschte.
Unerwartet schaute der Kaiser in Richtung seiner beiden Höflinge. Der Hofmarschall und Prinz Liechtenstein nahmen beide eine stramme Haltung ein, aber es war deutlich zu erkennen, dass der Kaiser die Aufmerksamkeit des Hofmarschalls und nicht des Oberhofmeisters suchte. Seine Majestät wirkte sichtbar unglücklich. Der Hofmarschall begann die Treppe hinunterzugehen, aber der Kaiser schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich jedoch dem Grafen Paar und der nächsten Vorstellung zu.
»Das ist nicht gut«, sagte der Hofmarschall.
Der Prinz erwiderte mitfühlend: »Aber im Augenblick können Sie nichts unternehmen. Kommen Sie. Wo steckt diese Sängerin? Ich will sie Ihnen vorstellen. Sie ist entzückend.«
Tod einer Diva
Inspektor Oskar Rheinhardt, ein korpulenter Herr mit einem gezwirbelten Schnurrbart und einer weltverdrossenen Miene, stand auf dem Bürgersteig einer breiten Allee. Der Nebel des Vorabends lag immer noch über der Stadt, und die Häuser zu beiden Seiten waren nur undeutlich als Würfel in regelmäßigen Abständen zu erkennen. Die nicht ungefährliche Fahrt im Fiaker war langsam vonstatten gegangen, da sich die Sicht mit zunehmender Höhe verschlechtert hatte. In der Tat waren sie nahe dem Kaiser-Pavillon nur knapp einem schweren Zusammenstoß entronnen.
Rheinhardt wandte sich an seinen Assistenten.
»Suchen Sie das Gelände ab, Haussmann. Vielleicht finden Sie ja was.«
»Aber, Herr Inspektor …«
»Ja, ich weiß, die Bedingungen sind alles andere als ideal«, erwiderte Rheinhardt. »Trotzdem …« Der Inspektor zog eine Taschenlampe aus seiner Manteltasche und reichte sie seinem murrenden Untergebenen. Haussmann richtete den schwachen, gelben Lichtstrahl auf die Pflastersteine, aber es war nichts anderes zu sehen als der langsam wabernde Nebel. »Nun gut«, meinte Rheinhardt, der sich veranlasst sah, seinen Befehl noch einmal zu überdenken. »Sie können mich begleiten. Vielleicht hebt sich der Nebel ja später.«
»Danke, Herr Inspektor«, sagte Haussmann sehr erleichtert.
Eine Gestalt tauchte aus dem Nebel auf. »Wer da?«
»Kriminalinspektor Rheinhardt und mein Assistent Haussmann.«
»Guten Morgen, Herr Inspektor. Ich bin Gendarm Drasche.«
Der junge Mann knallte die Hacken zusammen. Er trug einen langen blauen Rock, eine Pickelhaube und einen Säbel.
»Wie lange sind Sie schon hier, Drasche?«, fragte Rheinhardt.
»Etwa seit drei Stunden.«
»Es tut mir leid, dass wir so spät kommen, aber der Kutscher konnte die Straße kaum erkennen. Wer ist im Haus?«
»Frau Marcus, die Haushälterin, und der Hausarzt von Fräulein Rosenkrantz, Doktor Engelberg. Frau Marcus rief ihn sofort, als sie die Leiche entdeckte. Er war noch vor mir hier. Er ist miserabler Laune, Herr Inspektor.«
»Oh? Warum das?«
»Er wollte nicht warten, er sagte, er hätte Hausbesuche bei Patienten zu machen.«
Das Pferd war unruhig, und der Kutscher sprang vom Bock und gab ihm Zucker.
»Die Tote«, sagte Rheinhardt. »Fräulein Rosenkrantz …«
Drasche hatte mit dieser Frage des Inspektors gerechnet.
»Ja. Das ist sie. Die Sängerin.«
Haussmanns scharf geschnittene Züge drückten Verständnislosigkeit aus.
»Haben Sie noch nie von Ida Rosenkrantz gehört, Haussmann?«
»Nein, Herr Inspektor. Sie ist nie im Varieté Ronacher aufgetreten.«
Rheinhardt schüttelte den Kopf. »Haussmann, nicht diese Art von Sängerin! Sie ist Opernsängerin, eine gefeierte Sopranistin. Sie werden sie erkennen, wenn Sie sie sehen. Ihre Fotografie steht in jedem Schaufenster der Kärntnerstraße.«
»Sogar mein Schneider besitzt eine signierte Fotografie von Fräulein Rosenkrantz«, sagte Drasche. »Er hat sie im ›Fliegenden Holländer‹ gesehen und war überwältigt. Ich erinnere mich noch, dass ich ihn damit geärgert habe.«
Das unruhige Pferd – immer noch nervös und gereizt – wieherte und scharrte mit den Hufen auf dem Pflaster.
Rheinhardt rieb sich das Kinn und brummte nachdenklich vor sich hin.
»Sängerinnen der Hofoper werden erst angestellt, nachdem sie von der Hofburg für gut befunden worden sind. Ich habe den starken Verdacht, dass das Hofzeremoniell vorschreibt, dass der Kaiser oder zumindest der Oberhofmeister Prinz Liechtenstein von Fräulein Rosenkrantz’ Ableben unterrichtet werden muss.«
»Sie beabsichtigen, die Hofburg aufzusuchen?«, fragte Haussmann mit vor Entsetzen geweiteten Augen.
»Nein, natürlich nicht, Haussmann«, erwiderte Rheinhardt und eine Spur von Gereiztheit schlich sich in seinen sonst so wohlklingenden Bariton ein. »Wir müssen Kommissar Brügel informieren, und er wird die Kanzlei des Oberhofmeisters unterrichten. Kommen Sie, Drasche, Sie sollten uns jetzt besser den Weg zeigen.«
Sie gingen einen langen schmiedeeisernen Zaun entlang, dessen Gitterstäbe von Lilien gekrönt wurden, und betraten einen kleinen Garten. Ein gepflasterter Weg führte zwischen zwei Buchen auf die Flügeltüren einer weißen, stuckverzierten Villa zu. Einige Fenster hatten vergoldete Sprossen, und eine Statue, ein stilisierter Engel mit eckigen, ausgebreiteten Flügeln, kauerte über dem Eingang. Alle Fenster im Erdgeschoss waren erleuchtet.
Drasche öffnete die Flügeltüre und führte Rheinhardt und Haussmann in das Entree, einen hellen Raum mit gelben Tapeten und eierschalenfarbenen Bodenfliesen. Vor ihnen lag eine Treppe mit einem Teppich, die sich nach oben hin teilte und das zweite Stockwerk an entgegengesetzten Enden des Gebäudes erreichte. In der Luft lag ein Duft, der an blühende Hyazinthen erinnerte.
»Da sind Sie ja, Herr Wachtmeister«, sagte ein Mann, der über die Schwelle eines angrenzenden Zimmers trat. Er war Ende fünfzig und trug einen Gehrock. »Ich muss protestieren.«
Bevor er noch weitersprechen konnte, deutete Drasche auf seine Begleiter und sagte: »Herr Doktor Engelberg. Das hier ist Kriminalinspektor Rheinhardt vom Sicherheitsamt.«
»Ah«, meinte der Doktor stirnrunzelnd. »Da sind Sie ja endlich.«
»Das schlechte Wetter hat mich aufgehalten.«
»Sie wollen mir verzeihen, dass ich mir die üblichen Höflichkeiten spare, Herr Inspektor, aber ich muss sofort eine Bitte an Sie richten. Ich bin bereits den ganzen Morgen hier, und viele meiner Patienten erwarten Hausbesuche. Wenn ich hier noch länger aufgehalten werde, dann wird es mir unmöglich sein, sie alle zu sehen. Könnten Sie bitte so freundlich sein, auf ihre Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen?«
»Sie wollen so schnell wie möglich aufbrechen«, sagte Rheinhardt. »Natürlich, das ist nur zu verständlich. Ich werde versuchen, unsere Aufgaben rasch abzuschließen. Wo ist Frau Marcus?«
»In der Küche. Ich kümmerte mich gerade um sie. Sie ist vollkommen außer sich.«
»Sollte man sie da überhaupt alleine lassen?«
»Vielleicht nicht.«
»Drasche«, sagte Rheinhardt. »Würden Sie so freundlich sein und sich zu Frau Marcus setzen?«
Der Gendarm nahm seinen Helm ab und kratzte sich am Kopf.
»Für solche Dinge eigne ich mich nur schlecht, Herr Inspektor, ich meine, trauernde Frauen trösten.«
Rheinhardt seufzte.
»Sie brauchen auch gar nichts zu tun, Drasche, setzen Sie sich einfach zu ihr. Gestatten Sie ihr, über ihre Gefühle zu sprechen, falls sie das wünscht. Aber wenn sie schweigt, dann respektieren Sie ihr Schweigen, und sprechen Sie nicht.« Rheinhardt hielt inne und meinte dann noch: »Und kochen Sie ihr eine Tasse Tee.«
»Und wenn sie keinen Tee haben will, Herr Inspektor?«
»Dann machen Sie ihr trotzdem einen. Ich versichere Ihnen, sie wird ihn trinken.«
»Wie belieben, Herr Inspektor.«
Drasche setzte seinen Helm wieder auf, verbeugte sich und verschwand mit auffällig wenig Begeisterung.
Als sich Rheinhardt wieder an Engelberg wandte, war dessen Feindseligkeit Überraschung und sanftmütiger Belustigung gewichen.
»Ein hervorragender Ratschlag, Herr Inspektor.«
Rheinhardt bedankte sich für das Kompliment mit einer leichten Neigung des Kopfes.
»Und die Leiche, Herr Doktor?«
»Oben.«
Sie traten den Weg nach oben an.
»Wann haben Sie den Anruf von Frau Marcus erhalten, Herr Doktor?«
»Etwa um halb acht.«
»Und wann sind Sie hier eingetroffen?«
»Spätestens um Viertel vor acht.« Rheinhardt machte ein skeptisches Gesicht. »Ich stehe sehr früh auf, müssen Sie wissen, und war bereits angekleidet. Außerdem wohne ich ganz in der Nähe.«
Oben angelangt öffnete Engelberg die erste von mehreren Türen. »Sie liegt hier.«
Sie betraten ein üppig möbliertes Schlafzimmer, in dem Gaslichter in Rauchglaskugeln flackerten. Ein Himmelbett stand in der Mitte des Zimmers, die schweren Vorhänge mit goldenen Kordeln zusammengefasst, so dass der mit einer mittelalterlichen Szene bestickte Überwurf zu sehen war: Vor einigen Pfauen und Rosenbüschen stand ein Edelfräulein mit einer Standarte mit drei Mondsicheln in der Hand. Zu ihren Füßen ruhten ein gelehrsames Einhorn und ein gutmütiger Löwe, der nichts dagegen einzuwenden hatte, dass ein weißes Häschen zwischen seinen Pranken saß. Auf dem Kissen lagen zwei violette Strümpfe. Die Tapete war gestreift, breite burgunderrote und schmale grüne Streifen sowie in silbernem Prägedruck Geigen und Lorbeerkränze.
Neben dem Fenster stand ein Toilettentisch mit einem drehbaren ovalen Spiegel. Auf dem Tisch fanden sich etliche Flaschen, eine Karaffe mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit sowie einige Perlmuttkästchen. Dazwischen lagen ein Schildpattkamm, einige Broschen sowie ein seltsamer, totemgleicher Gegenstand aus Haaren und Perlen. Rheinhardt atmete tief ein. Der Hyazinthengeruch war stärker geworden. Er sah sich um und identifizierte als Quelle ein großes Duftei aus durchbrochenem Elfenbein. Der Inspektor nahm aber außerdem einen leicht beißenden Geruch wahr. In der hinteren Ecke standen ein Kleiderschrank und daneben ein Waschtisch. Statt aus Porzellan waren Schüssel und Wasserkanne aus türkisem, mit Jaspis verziertem Milchglas.
Das Zimmer vermittelte ein Gefühl von Luxus und Überfluss. Gleichzeitig besaß das Dekor etwas Zügelloses. Die Edelsteine und prächtigen Farben wagten sich an die Grenzen des ästhetisch Ansprechenden und weckten Vorurteile. Rheinhardt streifte der Gedanke, nicht das Schlafzimmer einer Operndiva, sondern einen Serail betreten zu haben.
Engelberg begab sich auf die gegenüberliegende Seite des Zimmers und vollführte eine weit ausholende Handbewegung. Rheinhardt und Haussmann folgten ihm, und als sie das Bett umrundeten, erblickten sie Fräulein Rosenkrantz’ leblosen Körper. Die Tote lag auf dem Rücken in dem Rechteck eines Perserteppichs, ein ansprechender Effekt, der die kompositorischen Vorzüge eines Gemäldes besaß. Sie trug ein rosa Kleid mit einer Applikation aus Spitze am Dekolleté. Ihre Haut war bleich, und ihre üppigen rotbraunen Locken umrahmten ein jugendliches Gesicht von außerordentlicher Zartheit. Fräulein Rosenkrantz’ Augen waren geschlossen, und ihre perfekten, ovalen Fingernägel schimmerten bläulich. Sie trug keine Schuhe, und ihre nackten Füße schauten aus ihren gebauschten Unterröcken hervor. Neben dem Teppich auf dem Fußboden lag ein Fläschchen. Der Glaskorken war unter den Nachttisch gerollt, auf dem weitere leere Flaschen standen.
»Herr Doktor?«, fragte Rheinhardt. »Haben Sie Fräulein Rosenkrantz bewegt, als Sie sie untersuchten?«
»Nein. Sie liegt noch genauso da, wie ich sie gefunden habe.«
»Und Frau Marcus? Hat sie die Leiche von Fräulein Rosenkrantz bewegt?«
»Ich glaube nicht. Soweit ich weiß, unternahm sie keinerlei Versuch, sie wiederzubeleben.«
Rheinhardt trat näher heran.
»Wie ist Fräulein Rosenkrantz gestorben?«
»Es hat den Anschein, als habe sie sich an einer zu großen Menge Laudanum gütlich getan.«
»Absichtlich?«
»Diese Möglichkeit besteht durchaus …«
»Aber?«
»Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum sie ihrem Leben ein Ende hätte setzen wollen. Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, wie berühmt Fräulein Rosenkrantz war? Sie befand sich auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn. Nur wenige können von sich sagen, dass sie die Herzen der musikliebenden Öffentlichkeit so nachdrücklich erobert haben. Wir sind eines einzigartigen Talents beraubt worden, daran ist nicht zu zweifeln.«
»Wann hatte Fräulein Rosenkrantz zum letzten Mal einen Grund, sich bei Ihnen in Behandlung zu begeben?«
»Das liegt nur zwei Wochen zurück.«
»Und betraf …?«
»Eine leichte Anwandlung von Nostalgie, aber im Übrigen war sie ausgezeichneter Geistesverfassung. Ich erinnere mich, dass sie mir angeregt von den Rollen erzählt hat, die sie in der nächsten Saison singen wollte.«
»Was für einen Schluss sollen wir also ziehen, Herr Doktor? Dass ihr Tod ein Unfall war?«
»Das wäre meine Ansicht …« Engelbergs Satz verhallte in der Stille. Er seufzte und begann erneut: »Das wäre meine Ansicht, wäre da nicht der Umstand, dass Fräulein Rosenkrantz einmal die Dienste eines Psychiaters benötigte. Im Frühjahr habe ich ihr die Dienste von Professor Daniel Saminsky vermittelt.« Engelberg hielt inne und meinte dann: »Ein recht angesehener Kollege. Er hatte sogar die Ehre, die verstorbene Kaiserin zu behandeln.«
Rheinhardt zwirbelte seinen Schnurrbart.
»Aus welchem Grund haben Sie sie überwiesen?«
»Globus hystericus«, antwortete Engelberg.
»Könnten Sie das bitte näher erklären?«
»Es handelt sich um eine hysterische Erscheinung: Für gewöhnlich berichtet der Patient von einem Kloß im Hals, der zu Schluckbeschwerden führt. Bei einer körperlichen Untersuchung werden keine offensichtlichen Hindernisse gefunden, und der Fremdkörper, oder genauer gesagt, der eingebildete Fremdkörper, wird psychologischen Ursachen zugeschrieben. Globus hystericus ist keine Diagnose, die wir Ärzte normalerweise mit Selbstmord in Verbindung bringen. Und soweit ich weiß, war die Behandlung Professor Saminskys erfolgreich.«
Rheinhardt ging zum Nachttisch, nahm eine der Flaschen zur Hand und roch an ihrem stechend riechenden Bodensatz.
»Haben Sie diese Opiumtinkturen verschrieben?«
»Nein.«
»Wer dann?«
»Ich glaube, Professor Saminsky.«
»Sagten Sie nicht eben noch, Saminskys Behandlung sei erfolgreich gewesen?«
»Das trifft zu. Trotzdem sucht ihn Fräulein Rosenkrantz weiterhin einmal im Monat auf.« Engelberg fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Kein Arzt kann sich der Geistesverfassung seiner Patienten absolut sicher sein. Falls Fräulein Rosenkrantz an suizidaler Melancholie litt, dann ist das nicht nur mir nicht aufgefallen, sondern auch Professor Saminsky nicht.«
Rheinhardt stellte die Flasche zurück.
»Herr Doktor, Sie sagen, Fräulein Rosenkrantz sei vollkommen genesen gewesen. Warum hat sie dann Laudanum eingenommen?«
»Sie hat es genommen, um einzuschlafen. Sie litt unter Schlafstörungen. Sie nahm Paraldehyd, Sulfonal, Kaliumbromid und etliche Kräutermittel. Das Laudanum hat nichts mit ihrem Globus hystericus zu tun.« Engelberg klopfte auf seine Westentasche und zog eine Zigarre hervor. »Darf ich rauchen, Herr Inspektor?«
»Natürlich«, erwiderte Rheinhardt, nahm eine Schachtel Streichhölzer aus der Manteltasche und gab dem Arzt zuvorkommend Feuer. »Herr Doktor, wenn Sie die Leiche von Fräulein Rosenkrantz betrachten, kommt Ihnen nichts seltsam vor?«
»Ich bin mir nicht sicher, was Sie meinen, Herr Inspektor.«
»Ihre Stellung«, erwiderte Rheinhardt. »Genau in der Mitte des Teppichs.«
Engelberg zuckte mit den Achseln und hüllte sich in eine gelbliche Rauchwolke. »Herr Inspektor, dürfte ich Sie bitten, sich folgende Szene vor Augen zu führen: Fräulein Rosenkrantz zieht sich in ihr Schlafzimmer zurück. Sie kann nicht schlafen. Sie nimmt etwas Laudanum ein, aber es hat nur wenig Wirkung. Menschen nervösen Charakters, zu denen sie zweifellos zählte, sind oft weniger empfänglich für Schlafmittel.« Er nahm einen tiefen Zug und schnippte etwas Asche seiner Zigarre in eine Onyxschale. »Sie wartet, aber ist immer noch hellwach. Sie wird ungeduldig, trinkt ein weiteres Fläschchen. Obwohl sie gegenteiliger Auffassung ist, zeigt das Laudanum Wirkung. Sie ist nicht mehr vollkommen compos mentis. Sie kann sich nicht mehr erinnern, wie viel sie bereits eingenommen hat. Sie ist verwirrt. In diesem desorientierten Zustand nimmt sie weiteres Laudanum ein. Die Dosis ist inzwischen tödlich. Sie sitzt auf der Bettkante und zieht ihre Schuhe und Strümpfe aus. Als sie sich vorbeugt, wird ihr schwindelig. Sie gleitet vom Bett auf den Fußboden. Sie dreht sich auf den Rücken und rollt dabei auf den Teppich und schließt die Augen.« Engelberg zuckte erneut mit den Achseln. »So könnte es sich zugetragen haben, Herr Inspektor: Ein Unglücksfall, eine durch einen unglücklichen Umstand ausgelöste Tragödie.«
Rheinhardt hob den Überwurf an und schaute unter das Bett. Dort stand ein Paar Damenschuhe aus braunem Leder. Dann betrachtete er die Tagesdecke eingehender und suchte nach Eindrücken, die Engelbergs Szenario bestätigen konnten. Es klang sehr plausibel, aber als Rheinhardt Fräulein Rosenkrantz’ Leiche, die so akkurat innerhalb der rechteckigen Begrenzung des Perserteppichs lag, erneut in Augenschein nahm, konnte er einen nagenden Zweifel nicht unterdrücken.
»Vielen Dank, Herr Doktor«, sagte Rheinhardt. »Sie waren eine große Hilfe.«
»Darf ich mich jetzt verabschieden?«
»Ich muss Sie bitten, Haussmann erst noch Angaben zu Ihrer Person zu liefern.« Der Inspektor sah seinen Assistenten an. »Dann steht es Ihnen frei, zu gehen. Ich möchte mich noch einmal entschuldigen.«
Rheinhardt verbeugte sich und verließ das Zimmer. Er ging nach unten und in die Küche. Dort saß Gendarm Drasche neben einer Frau mittleren Alters mit rotverweinten Augen. Rheinhardt zog sich unter einem großen Holztisch einen Stuhl hervor und stellte zufrieden fest, dass auf dem Tisch eine leere Teetasse stand.
»Mein Name ist Rheinhardt«, sagte er leise. »Ich bin Kriminalinspektor.« Er nahm Platz. »Das muss ein großer Schock gewesen sein.«
Ein längeres Schweigen folgte. Die Finger der Haushälterin umkrampften ein nasses Taschentuch.
»Schrecklich.«
»Frau Marcus«, sagte Rheinhardt, »wann haben Sie Fräulein Rosenkrantz entdeckt?«
»Um halb acht.«
»Ich weiß, wie schwer es Ihnen fällt, aber ich muss Sie darum bitten, mir genau zu erzählen, was sich zugetragen hat.«
Frau Marcus nickte und holte tief Luft.
»Ich bin um sieben Uhr hierhergekommen und habe damit begonnen, das Frühstück für die gnädige Frau zuzubereiten, ein weichgekochtes Ei, Pumpernickel und Butter. Als das Ei fertig war, brachte ich es auf einem Tablett nach oben. Ich klopfte, aber es kam keine Antwort. Fräulein Rosenkrantz hatte gestern zu mir gesagt, sie wolle früh aufstehen, weil sie eine neue Rolle einstudieren musste, also trat ich ein. Ich dachte, sie sei ohnmächtig geworden … ich kniete mich neben sie auf den Fußboden.«
»Haben Sie sie angefasst?«, unterbrach sie Rheinhardt.
»Ja«, sagte Frau Marcus. »Ich habe ihr Gesicht berührt. Es war kalt. Schrecklich kalt.«
Die Haushälterin erschauderte.
»Haben Sie versucht, sie zu bewegen?«
»Nein. Ich hatte Angst und hielt es für das Beste, Doktor Engelberg zu rufen.«
»Das war auch richtig so. Sind Sie sich ganz sicher, dass Sie Fräulein Rosenkrantz nicht bewegt haben? Denken Sie bitte sorgfältig nach, Frau Marcus – es könnte wichtig sein.«
»Ich habe ihr Gesicht mit dieser Hand berührt.« Sie hob den Arm, als wollte sie einen Eid ablegen. »Dann rannte ich nach unten, um Doktor Engelberg anzurufen.«
»Was taten Sie, während Sie auf ihn warteten?«
»Ich rief auf der Gendarmerie an.«
»Und dann sind Sie wieder nach oben gegangen?«
»Nein. Als ich das Gespräch mit der Polizei beendet hatte, klopfte Doktor Engelberg bereits an der Haustür.« Frau Marcus umkrampfte ihr Taschentuch noch fester. »Ich begleitete ihn ins Schlafzimmer der gnädigen Frau. Er hielt der gnädigen Frau einen Spiegel unter die Nase, und dann sagte er: ›Sie ist tot.‹ Ich wusste es bereits. Denn niemand ist so kalt. Trotzdem war es furchtbar, diese Worte zu hören. Er berührte ihren Nacken und sagte, sie sei schon seit Stunden tot.«
Rheinhardt zog sein Notizbuch hervor und kritzelte ein paar Zeilen.
»Wo wohnen Sie, Frau Marcus?«
»Im 12. Bezirk.«
»Wie lange arbeiten Sie schon für Fräulein Rosenkrantz?«
»Seit zwei Jahren.«
»Wer arbeitet sonst noch hier?«
»Nur der Gärtner.«
»Fräulein Rosenkrantz hat keine Köchin? Keine Waschfrau?«
»Sie braucht keine Köchin. Sie speist im Imperial oder im Bristol. Ich kümmere … ich kümmerte mich um sonst alles.«
»Aber Sie schlafen nicht hier?«
»Nein.«
»Es gibt sehr viele Zimmer.«
»Ich blieb hier, wenn die gnädige Frau krank war. Im Sommer hatte sie eine Schwellung im Hals und andere«, sie errötete, »Damenprobleme. Sie musste wochenlang das Bett hüten.«
Rheinhardt schaute der Haushälterin in die rotgeweinten Augen und wurde von großem Mitleid erfüllt.
»Wann haben Sie Fräulein Rosenkrantz zuletzt gesehen?«
»Gestern Nachmittag. Sie sagte, ich könne früh Feierabend machen. Sie wollte an einer neuen Rolle arbeiten.«
»In was für einer Stimmung befand sie sich?«
Frau Marcus zögerte. »Recht gereizt – aber auch nicht mehr als sonst. Nicht wirklich.«
»War das ihre Art?«
»Gereizt zu sein? Ja, aber ihre Launen hatten nicht viel zu bedeuten. Sie konnte in einem Augenblick gereizt sein und im nächsten allerbester Laune. Ich vermute, dass das etwas mit ihrer Gabe zu tun hatte. So heißt es doch immer, dass Künstler launenhaft sind?«
»In der Tat.« Rheinhardt schrieb das Wort gereizt in sein Notizbuch und klopfte mit seinem Bleistift auf die Seite. »Sind Ihnen an Fräulein Rosenkrantz’ Verhalten irgendwelche Veränderungen aufgefallen, die sich bei näherem Nachdenken als Anzeichen innerer Qualen deuten ließen?«
Die Haushälterin schüttelte den Kopf.
»Nein.«
»Wie wirkte sie während der letzten Woche oder während des letzten Monats? Haben Sie sie beispielsweise weinen sehen?«
»Nicht mehr als sonst.« Rheinhardt bedeutete ihr, fortzufahren. »Sie brach leicht einmal in Tränen aus. Ungeachtet dessen, ob sie glücklich oder traurig war. Ich kann nicht behaupten, dass mir ein Unterschied aufgefallen wäre.«
»Hat sie Ihnen je anvertraut, was sie bekümmerte?«
»Sie war an der Hofoper nicht glücklich. Sie sprach davon, nach München zu ziehen. Unter den Sängern gab es böses Blut. Sie sagte auch, der Hofkapellmeister stelle sehr hohe Ansprüche. Sie nannte ihn immer den Tyrannen.«
»Böses Blut? Was meinen Sie damit?«
»Das kann ich auch nicht genau sagen. Aber die gnädige Frau sagte, jemand sei eifersüchtig gewesen, und jemand anderes habe bösartige Gerüchte in die Welt gesetzt. Das regte sie auf.«
»Aber sie hat niemanden namentlich genannt?«
»Ich kann mich an keine Namen erinnern, aber meist drehte es sich um eine Frau. Eine der anderen Sängerinnen.«
Rheinhardt klopfte weiterhin mit seinem Bleistift auf sein Notizbuch.
»Wissen Sie, ob Fräulein Rosenkrantz gestern noch Besuch empfangen wollte?«
»Ich glaube nicht.«
Rheinhardt lächelte: »Was war es eigentlich? Diese neue Rolle, die sie so dringend einstudieren wollte?«
»Ich kenne mich mit Opern nicht so gut aus. Aber ich glaube, die Oper hatte einen italienischen Namen. War es Lucca oder Lucia?«
»Lucia di Lammermoor.«
»Ja, genau.«
Rheinhardt erinnerte sich an die wichtigsten Elemente von Donizettis epischer Romanze.
Eine wunderschöne, junge Frau: Irrsinn, Tragödie.
Er schloss die Augen, und das fotografische Bild von Fräulein Rosenkrantz’ Leichnam tauchte in seinem Kopf auf. Wieder erfüllte ihn die Tatsache, dass sie genau in der Mitte der Umgrenzungen des Perserteppichs gelegen hatte, mit Unbehagen.
Als er seine Augen erneut öffnete, sah ihn Frau Marcus erwartungsvoll an.
»Sind Sie sich ganz sicher«, sagte Rheinhardt leise, »dass Sie nicht versucht haben, Ihre Dienstherrin zu bewegen, bevor Doktor Engelberg eintraf?«
»Ganz sicher«, erwiderte Frau Marcus.
Der Klavierspieler im Café Imperial begann den B-Moll-Walzer von Chopin vorzutragen. Liebermann erkannte ihn sofort, eine seltsame, wehmütige Melodie, deren belebter, linkshändiger Part mit staccatohafter Leichtigkeit über die Tastatur rieselte. An dem Punkt, an dem sein Ohr Stille erwartet hätte, hob die Melodie plötzlich von neuem an, was einen seltsamen Eindruck von Autonomie erzeugte, als verfüge die Musik über ihren eigenen Willen und sei fest entschlossen, fortzufahren. Diese neckische Art rief in Liebermanns Kopf das Bild eines tanzenden Paares hervor, das sich, obwohl schon erschöpft, weiterdreht, ein letztes Mal, nur um festzustellen, dass es in einem Walzer ohne Ende gefangen ist.
»Maxim, hast du mir zugehört?«
Mendel Liebermann schaute seinen Sohn mit einem Ausdruck kritischen Missvergnügens an.
»Nein, Vater … das habe ich nicht.«
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