Die Kunst zu leben - Frank Tallis - E-Book

Die Kunst zu leben E-Book

Frank Tallis

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Beschreibung

»Eine packende und fundierte Tour durch Geschichte und Gegenwart der Psychotherapie.« Times Literary Supplement

In diesem spannenden Buch werden die herausragenden Persönlichkeiten, die mit der Praxis der Psychotherapie verbunden sind, und ihre wichtigsten Ansätze vorgestellt – von Freud bis Fromm, von Jung bis Laing. Frank Tallis, erfolgreicher Autor und klinischer Psychologe mit langjähriger Erfahrung, ist überzeugt: Das psychotherapeutische Denken ist eine immens wertvolle und zu wenig genutzte Ressource, um Antworten auf die relevanten Fragen unserer Zeit zu finden.

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Seitenzahl: 411

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Im Vergleich zu früheren Generationen verfügen wir über einen nie dagewesenen Zugang zu Informationen, mehr persönliche Freiheit, mehr materiellen Komfort und mehr Besitztümer. Doch schon vor dem Schock von Covid-19 berichteten mehr Menschen als je zuvor, dass sie depressiv, ängstlich oder unzufrieden sind. Während unsere materiellen Lebensumstände sich stetig verbessert haben, scheint das Leben schwieriger zu werden. Warum ist das so? Es gibt eine wahre Flut von Selbsthilfebüchern, und das Internet ist voll mit den Ratschlägen von Influencern und vermeintlichen Experten. Doch inwieweit kann man von diesen Quellen wirklich sinnvolle Antworten erwarten – die Art von Antworten, die für uns in der heutigen Welt wirklich relevant sind.

Seit mehr als hundert Jahren bemühen sich Psychoanalytiker und Psychotherapeuten, Leiden zu lindern und Menschen zu helfen, ihr Leben besser zu gestalten. Obwohl der klinische Aspekt der Psychotherapie evident ist, hat sie doch auch eine viele universellere Bedeutung. Sie kann ganz eigene Perspektiven auf die großen Fragen bieten: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Wie sollte ich leben?

Frank Tallis ist Schriftsteller und praktizierender klinischer Psychologe. Neben einer Vielzahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist er vor allem für seine Erfolgsserie um den Wiener Psychoanalytiker Max Liebermann bekannt, die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Tallis lebt in London.

Frank Tallis

Die Kunst zu leben

Was wir von großen Psychologen lernen können

Aus dem Englischen von Henning Dedekind

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Act of Living« bei Little Brown, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe Oktober 2024

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Frank Tallis

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

nach einem Entwurf von Hachette UK

Covermotiv: © Heirs of Josephine Hopper / London 2019/

Compartment C, Car 293, 1938 (oil on canvas), Hopper,

Edward (1882 – 1967) / Private Collection / Bridgeman Images/

VG Bildkunst 2023

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

MK · Herstellung: han

ISBN 978-3-641-28091-8V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Compartment C, Car 293, 1938 (Öl auf Leinwand), Hopper, Edward (1882–1967) © Heirs of Josephine N. Hopper / VAGA at ARS, NY / VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Zum Gedenken an Professor Walter Wells: Wissenschaftler, Schriftsteller, Lehrer, Redakteur, Erzähler, Vorbild, Preisträger, Talentförderer, Universalgelehrter, Genießer, unfreiwilliger Faustkämpfer, Gentleman, Freund und Amerikaner

Inhalt

Einleitung

1 Sprechen: Raus aus dem Stummfilmkino

2 Sicherheit: Urbedürfnisse

3 Einsicht: Das Herz hat seine Gründe

4 Verfälschte Wahrnehmung: Zerrspiegel

5 Identität: Das geteilte Selbst

6 Narrative: Lebensgeschichten

7 Narzissmus: Der Blick ins Wasser

8 Sex: Sterbliche Vehikel

9 Minderwertigkeit: Der Trost der Unzulänglichkeit

10 Bedürfnisse:

11 Unglück: Tief wurzelndes Leid

12 Sinn: Daseinsgründe

13 Akzeptanz: Eine Blume,

Schlussbemerkungen

Dank

Anmerkungen

Bildnachweis

Register

Einleitung

»Das Leben hat nur den einen Sinn: den Vollzug des Lebens selbst.«

Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit (1941)

Die meisten Menschen können ohne Schwierigkeiten fünf Philosophen aufzählen. Platon, Aristoteles, Descartes, Nietzsche und Sartre kommen in unserer täglichen Lektüre so häufig vor, dass sie vielen von uns bestens vertraut sind. Würde man hingegen darum bitten, fünf berühmte Psychotherapeuten zu nennen, fiele dies denselben Personen vermutlich schwerer – vielleicht wäre es ihnen sogar unmöglich. Freud und Jung kämen ihnen vielleicht in den Sinn, aber weitere Namen würden nur langsam folgen. Ältere Befragte würden sich vielleicht an R. D. Laing erinnern, der in den 1960er Jahren zu einer Art Berühmtheit wurde. Damit wären es aber gerade einmal drei. Von Größen wie Fritz Perls, Wilhelm Reich, Donald Winnicott oder Albert Ellis haben die meisten Menschen noch nie gehört, ganz zu schweigen von zeitgenössischen Psychotherapeuten wie Francine Shapiro oder Steve Hayes.

Dabei hatten die großen Denker der Psychotherapie viel über das menschliche Dasein zu sagen. Betrachtet man die Psychotherapie als zusammenhängenden Wissensbestand, so ist sie in Anspruch, Umfang und Nutzen jeder anderen wissenschaftlichen Tradition ebenbürtig. Dennoch wird sie selten so wahrgenommen. Stattdessen denken wir an die Psychotherapie nur in ihrem engsten Sinne: als Behandlung psychischer Krankheiten. Obwohl die Psychotherapie tatsächlich aus der klinischen Praxis entstanden ist, hat sie in intellektueller Hinsicht doch eine weitaus größere Tragweite. Sie bietet originäre Perspektiven auf die »großen Fragen«, die normalerweise Philosophen und Glaubensvertretern anvertraut werden: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Wie sollte ich leben?

Zwar gibt es die Psychotherapie (in eingeschränktem Sinne) schon so lange, wie Ärzte ihre Patienten trösten und beraten, doch begünstigten erst die kulturellen und wissenschaftlichen Bedingungen des 19. Jahrhunderts das Aufkommen der Psychoanalyse, der ersten wirklich modernen Form der Psychotherapie.

Sigmund Freud begann seine Karriere mit der Untersuchung von Nervenzellen in einem Labor, bevor er Neurologe wurde und die Psychoanalyse entwickelte. Im Vergleich zu seinen Zeitgenossen war Freud – vielleicht mit Ausnahme des Philosophen und Psychologen Pierre Janet  – der mit Abstand ehrgeizigste Theoretiker. Er verschmolz die französische Psychopathologie, die deutsche Psychophysik und die Sexualwissenschaft zu einem flexiblen Modell des Geistes, das enormes Erklärungspotenzial besaß. Im Laufe der Zeit erweiterte sich der Horizont der Psychoanalyse und ging nunmehr über rein medizinische Überlegungen hinaus. Freuds neue »Wissenschaft« ermöglichte frische Einblicke in Kunst, spekulative Vorgeschichte und Religion. In den 1920er Jahren erklärte Freud, die Psychoanalyse sei »keine medizinische Spezialität«. Er befürchtete, dass die Psychoanalyse nur als Behandlungsmethode angesehen würde, wohingegen er selbst davon überzeugt war, auf eine Art »Weltanschauung« gestoßen zu sein.

Seine klinische Arbeit war lediglich ein Einstieg, ein Weg in die Psyche, der schließlich zu bedeutenden nicht medizinischen Entdeckungen führte. Die Psychoanalyse konnte viel mehr erklären als Hysterie und Neurosen. Sie konnte Liebe, Begehren, Träume, Gespenster, Gewalt, Literatur und Massenverhalten gleichermaßen verständlich machen. Mit Hilfe der Psychoanalyse konnte man sogar in den Geist längst verstorbener kreativer Genies wie Leonardo da Vinci und Michelangelo blicken.

Freud verglich die Psychoanalyse mit elektrischem Strom. Strom wird zwar auch in Krankenhäusern verwendet – zum Beispiel, um Röntgenaufnahmen zu machen –, aber Strom ist nicht grundsätzlich »medizinisch«. Radios, Straßenbahnen und Straßenlaternen werden ebenfalls mit Strom betrieben. Die Versorgung von Krankenhäusern ist nur eine von zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten. Freuds Analogie zur Elektrizität passt nicht nur für die Psychoanalyse, sondern für die gesamte Psychotherapie. Die von Psychotherapeuten entwickelten Konzepte können zur Behandlung von Geisteskrankheiten eingesetzt werden. Sie können aber auch zeigen, wie Psyche und Geist funktionieren, wie sich Menschen mit bestimmten psychischen Merkmalen zueinander verhalten und wie sie innerhalb von Kulturen agieren. Außerdem lassen sich damit Fragen nach einer idealen Lebensweise (dem sogenannten »guten Leben« oder der Eudaimonie) beantworten, die seit der Antike diskutiert werden.

Die Psychotherapie ist also eine Tradition, die über den medizinischen Bereich hinaus Orientierung und Anleitung bieten kann. Warum konsultieren wir als Gesellschaft dann nicht häufiger die psychotherapeutische Literatur, wenn wir uns mit den Problemen des Lebens herumschlagen? Schließlich sind die Probleme des Lebens das zentrale Anliegen der Psychotherapie. Der Hauptgrund ist, dass der interessierte Laie sofort mit einer undurchdringlichen Sprache konfrontiert wird. Weshalb sollte man sich mit den Grundzügen der Gestalttherapie oder der Logotherapie vertraut machen? Was ein Fachgebiet wie die Herzchirurgie beinhaltet, kann man sich leicht denken, denn alle wissen, was ein Herz ist. Was aber ist so primär an der Primärtherapie, und welche Art von Transaktion findet in der Transaktionsanalyse statt? Die Nomenklatur der Psychotherapie ist so undurchsichtig, dass sie in der Regel von weiteren Nachforschungen abhält.

Selbst das Wort Psychotherapie wird oft in missverständlicher Weise gebraucht. In manchen Krankenhäusern bietet die Abteilung für Psychotherapie beispielsweise Behandlungen an, die eng mit Freud und der Psychoanalyse verbunden sind. Anderswo im selben Krankenhaus werden möglicherweise psychologische Behandlungen angeboten, die nichts mit der Freud’schen Tradition zu tun haben. Dies erweckt den Eindruck, dass bestimmte Formen der psychologischen Behandlung als Psychotherapie bezeichnet werden und andere nicht. Alle Formen psychologischer (im Gegensatz zu pharmakologischer) Behandlung können jedoch korrekterweise als Psychotherapie bezeichnet werden.

Gemeinsame Merkmale fast aller Psychotherapien sind das Gespräch und eine vertrauensvolle Beziehung.* Sie haben auch ein gemeinsames Ziel: seelische Notlagen zu lindern, auch wenn dies bedeutet, dass man sich kurzfristig mit schwierigen Wahrheiten und Realitäten auseinandersetzen muss. Die Techniken variieren je nachdem, an welcher Theorie der Behandlungsprozess ausgerichtet ist. Manche Ansätze sind explorativ, andere direktiv; bei manchen geht es darum, verschüttete Erinnerungen wiederzuerlangen, bei anderen darum, schädliche Überzeugungen zu ändern; manche fördern ein tieferes Selbstverständnis, andere zielen auf den Erwerb von Bewältigungskompetenzen ab. Und so weiter. Die Freud’sche Psychoanalyse ist die bekannteste und etablierteste Form der Psychotherapie. Wir alle kennen das Klischee: ein bärtiger Therapeut, der hinter einem ruhenden Patienten sitzt. Dieses populäre Bild der Freud’schen Psychotherapie ist jedoch irreführend. Es suggeriert, dass die Psychoanalyse einheitlich und starr ist. Tatsächlich hat Freud die Psychoanalyse laufend überarbeitet, und sie hat sich auch nach seinem Tod weiterentwickelt.

*Es gibt Ausnahmen: Manche Therapieformen sind automatisiert und werden per Telefon oder über das Internet durchgeführt. Es gibt auch Apps, die Menschen bei der Bewältigung von Problemen wie Angst, Depression und posttraumatischer Belastungsstörung helfen. Nichtsdestotrotz beinhaltet die Psychotherapie mehrheitlich den Dialog und den persönlichen Kontakt, und die Art dieser Gespräche sowie die therapeutische Bedeutung der Beziehung unterscheiden sich je nach Art der praktizierten Psychotherapie.

Die zahlreichen Formen der Psychotherapie, die es heute gibt, lassen sich in drei Hauptgruppen einteilen: die psychoanalytische, die humanistisch-existenzielle und die kognitiv-behaviorale Therapie. Die Psychoanalyse legt den Schwerpunkt auf die Wiederherstellung unbewusster Erinnerungen und die Bewältigung von Spannungen, die entstehen, wenn primitive Sehnsüchte mit moralischen und gesellschaftlichen Erwartungen in Konflikt geraten. Die humanistisch-existenzielle Schule legt den Schwerpunkt auf Autonomie und Authentizität: darauf, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen, einen Sinn zu erkennen und persönliches Wachstum zu erreichen. Die kognitiv-behaviorale Schule wiederum bringt psychische Notlagen mit aversiven Lernerfahrungen, ungenauem Denken und der Bildung dysfunktionaler Überzeugungen in Verbindung. Diese drei Beschreibungen sind stark verkürzend und werden in den folgenden Kapiteln noch näher erläutert.

Seit Freuds Zeiten ist die Geschichte der Psychotherapie von ständigem Disput geprägt. Von Beginn an gab es Animositäten innerhalb und zwischen den einzelnen Schulen, was den Eindruck der Zersplitterung erweckt. Es scheint keine »Tradition« im eigentlichen Sinne zu geben, an die man sich halten könnte. Bei allen Unterschieden finden sich aber auch sehr viele Übereinstimmungen. Die verschiedenen psychotherapeutischen Schulen gleichen einem Archipel: Über dem Wasser sind unzusammenhängende Inseln zu sehen, aber wenn man unter die Oberfläche taucht, stellt man fest, dass diese einzelnen Felssäulen in derselben Landmasse gründen. Je tiefer man geht, desto deutlicher wird, dass alle Inseln von ähnlichem (oder sogar demselben) Grundgestein getragen werden.

Abgesehen von Freud und der Psychoanalyse bleibt das geistige Vermächtnis der Psychotherapie relativ unzugänglich. Tatsächlich kommt man fast ausschließlich in Sprechzimmern und in der akademischen Welt damit in Berührung. In Zeitschriften und auf Websites findet sich eine Unmenge an Populärpsychologie, doch typischerweise werden die zentralen Gedanken bedeutender Psychotherapeuten entweder falsch dargestellt oder zu stark vereinfacht. Das ist bedauerlich, denn noch nie haben wir echtes psychologisches Wissen so dringend benötigt wie heute.

Im Vergleich zu früheren Generationen haben wir einen hervorragenden Zugang zu Informationen, größere persönliche Freiheit, mehr materielle Annehmlichkeiten, mehr Besitz und eine höhere Lebenserwartung. Dennoch sind viele Menschen depressiv, ängstlich oder unzufrieden. Statistiken zur geistigen »Gesundheit« zeigen, dass wir (und unsere Kinder) immer trauriger, besorgter und einsamer werden, obwohl das Leben immer besser wird. Wir müssen davon ausgehen, dass der entsetzliche Schock durch die Covid-19-Pandemie diese Zahlen sowohl kurz- als auch langfristig weiter in die Höhe treiben wird.

Die Zahl der Menschen, die derzeit an psychischen Erkrankungen leiden, ist so hoch wie nie zuvor. Laut Weltgesundheitsorganisation sterben weltweit mehr Menschen durch Suizid als durch Kriege, Morde, staatliche Hinrichtungen und Terroranschläge zusammen. Die Zahl der Betroffenen beläuft sich auf etwa eine Million Menschen pro Jahr.[1] Alle vierzig Sekunden entscheidet sich irgendwo irgendjemand für einen – oft gewaltsamen – Tod. Für diese Menschen ist allein schon das Bewusstsein unerträglich schmerzvoll geworden. In den Industrieländern ist Selbstverletzung die Haupttodesursache für Menschen im Alter zwischen fünfzehn und neunundvierzig Jahren. Damit liegt sie vor Herzkrankheiten und Krebs.

Die Inzidenz psychischer Erkrankungen ist so hoch, dass eine angemessene Behandlung und Versorgung aller Betroffenen nicht mehr möglich ist. Erst seit Kurzem nimmt die Politik die finanziellen Auswirkungen dieser fortschreitenden Krise ernst. »Subjektives Wohlbefinden« wird nun als Form des Kapitals interpretiert und der psychischen Gesundheit im Rahmen der »Glücksökonomie« eine besondere Bedeutung beigemessen. Diese neue volkswirtschaftliche Sichtweise beruht auf der Vorstellung, dass alle unglücklichen Länder früher oder später zu armen Ländern werden. Psychische Erkrankungen sind kostspielig. Psychische Probleme sind der häufigste Grund, warum sich Menschen von der Arbeit freistellen lassen; der Verlust an produktiven Arbeitstagen in modernen Volkswirtschaften wird auf Hunderte von Milliarden geschätzt. Die wirtschaftliche Belastung durch Depressionen liegt für die US-Wirtschaft schätzungsweise bei 210 Milliarden Dollar pro Jahr – eine Zahl, die das BIP mehrerer kleinerer Länder zusammengenommen übersteigt. Es gibt direkte oder »sichtbare Kosten« (wie Medikamente, Psychotherapie, Krankenhausaufenthalte usw.) und indirekte oder »unsichtbare Kosten« (wie verringerte Produktivität und Frührente). Auf Grundlage von Daten aus dem Jahr 2010 veröffentlichte die Europäische Organisation für Molekularbiologie 2016 einen Bericht, in dem die weltweiten direkten und indirekten wirtschaftlichen Kosten psychischer Erkrankungen mit 2,5 Billionen US-Dollar beziffert wurden.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation weist die Hälfte aller von psychischen Erkrankungen Betroffenen bereits vor dem vierzehnten Lebensjahr Symptome auf. Verschiedene Indizes für den Schweregrad haben sich in den letzten Jahren verdoppelt oder sogar vervierfacht. Beispielsweise stellte der National Health Service in einer Erhebung zur psychiatrischen Morbidität von Erwachsenen fest, dass sich die Selbstverletzungsrate unter englischen Erwachsenen zwischen 2000 und 2014 verdoppelt hat. Eine kürzlich in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte Studie von 2019 über nicht suizidale Selbstverletzungen in England zeigte einen Anstieg der Prävalenz bei Frauen und Mädchen im Alter von sechs bis vierundzwanzig Jahren von 6,5 Prozent im Jahr 2000 auf 19,7 Prozent im Jahr 2014. Der Konsum von verschreibungspflichtigen Medikamenten bei psychischen Problemen stieg gleichzeitig etwa proportional an. Digitale Daten des National Health Service verzeichneten für das Jahr 2018 in England 70,9 Millionen Verordnungen für Antidepressiva (fast doppelt so viele wie 2008). Gäbe es keine pharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten, die relativ kostengünstig und leicht anwendbar sind, wäre die Situation vermutlich noch viel schlimmer. Weltweit leidet jedes Jahr einer von neun Menschen an einer Angststörung. Sieben Millionen dieser Menschen leben in Großbritannien und 35 Millionen in den USA.[2]

Es wurde darauf hingewiesen, dass aktuelle Statistiken zur psychischen Gesundheit mit Vorsicht zu genießen seien, da sie keinen »echten« Trend widerspiegelten. Die geringere Stigmatisierung habe mehr Menschen dazu ermutigt, über Symptome zu berichten, die Diagnosehandbücher seien in den letzten fünfzig Jahren umfangreicher geworden, und eine bessere fachliche Ausbildung habe die Erkennungsquoten verbessert. Argumente dieser Art sind jedoch wenig überzeugend: Ganz gleich, wie wir Statistiken zur psychischen Gesundheit einordnen, bleibt doch die Tatsache, dass sie eine Gesellschaft in der Krise beschreiben.

Es ist schwer festzulegen, wann gewöhnliche Traurigkeit zu einem klinischen Zustand wird. Die diagnostischen Kriterien stellen einen Versuch dar, normale Traurigkeit von abnormaler Traurigkeit zu unterscheiden, doch fast alle Diagnosesysteme sind unvollkommen und mehr oder weniger willkürlich. Für psychische Erkrankungen gibt es keine definitiven biologischen Tests – wie etwa einen Bluttest. Aktuelle Statistiken zur psychischen Gesundheit legen nahe, dass inzwischen derart viele Menschen von psychischen Problemen betroffen sind, dass das, was bisher als abnormal bezeichnet wurde, zunehmend typisch wird. Die Zahl der Fälle, in denen bestimmte Diagnosekriterien erfüllt sind, ist erschreckend hoch. Hinzu kommen noch diejenigen, die zwar nicht »krank« sind, bei denen es aber trotzdem nicht optimal läuft. Das Leben fühlt sich nicht richtig an – es fehlt etwas. Sie quälen sich mit Zweifeln am Sinn ihres Daseins und wollen mehr. »Ist das wirklich schon alles?« Der relative Einfluss biologischer und psychischer Faktoren auf psychische Erkrankungen ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Da sich das Gehirn in den letzten zehntausend Jahren aber nicht verändert hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Zunahme psychischer Erkrankungen und die wachsende Unzufriedenheit weitgehend auf das moderne Leben zurückzuführen sind.

Die Moderne, wie wir sie heute verstehen, bezieht sich auf die technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen nach der industriellen Revolution. Der amerikanische Arzt George Beard führte 1869 auf der Basis einer Reihe von Symptomen die psychiatrische Diagnose der Neurasthenie ein – eine Erkrankung, die durch nervöse Erschöpfung und Unwohlsein gekennzeichnet ist und die er dem schnellen Tempo des städtischen Lebens zuschrieb. Die Beziehung zwischen Moderne und Geisteskrankheit wurde von Freud in Das Unbehagen in der Kultur erneut untersucht. Die 1930 veröffentlichte Abhandlung ist wahrscheinlich die berühmteste Darstellung einer immer wiederkehrenden These: Das Leben in der modernen Welt erzeugt Stress und Belastungen, die sich nachteilig auf die psychische Gesundheit des Menschen auswirken. Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim hat in seinem Werk Freud und die Seele des Menschen darauf hingewiesen, dass der englische Titel Civilization and its Discontents eine irreführende Übersetzung von Freuds Das Unbehagen in der Kultur sei. Im deutschem Originaltitel kommt das Wort »und« nicht vor. In der englischen Übersetzung impliziert diese Konjunktion, dass es so etwas wie eine »Zivilisation« gibt und manche der Zivilisierten »unzufrieden« sind. (Freud mochte »Unzufriedenheit« nicht; er bevorzugte »Malaise« oder »Unbehagen«.) Bettelheim betont, dass im deutschen Titel »Unbehagen« und »Kultur« untrennbar miteinander verbunden seien. Wenn man in der modernen Welt lebe, fühle man sich – zumindest bis zu einem gewissen Grad – unwohl und unglücklich. Das sei unvermeidlich.

Freuds Standpunkt stimmt mit dem der Evolutionspsychologie vollständig überein. Wir haben uns entwickelt, damit wir in einer bestimmten Umgebung leben können, aber tatsächlich leben wir in einer anderen, und je schneller sich unsere Umgebung verändert, desto mehr bleibt unser Gehirn zurück und ist nicht mehr in der Lage, sich den neuen Anforderungen zu stellen und anzupassen. Mittlerweile verbringen wir sehr viel Lebenszeit in einer völlig neuen Umgebung: dem Cyberspace. Das Internet ist an sich nichts Schlechtes, aber ein Großteil des Unbehagens und des Unwohlseins ist offenbar darauf zurückzuführen, dass wir nur begrenzt in der Lage sind, uns schnell und in gesunder Weise anzupassen – das gilt insbesondere für die sozialen Medien. Psychische Erkrankungen, vor allem bei jungen Menschen, werden mit der Bildschirmzeit in Verbindung gebracht. Die bisherige Forschung ist mit erheblichen Problemen behaftet: schlecht definierte Variablen, kaum direkte Kausaldaten und eine selektive Darstellung, die kritische Argumente untermauern soll.[3] Jährlich in den USA durchgeführte Umfragen unter mehr als einer Million junger Teilnehmer belegen jedoch einen plötzlichen Rückgang des psychischen Wohlbefindens (Selbstwertgefühl, Lebenszufriedenheit, Glück) nach 2012. Experten sind zu dem Schluss gekommen, dass die plausibelste Erklärung für diesen Rückgang die rasche Verbreitung von Smartphones unter Jugendlichen ist.[4] Es ist leicht, Kritiker des Internets als Technikfeinde oder Panikmacher abzustempeln, doch zählt zu diesen Kritikern auch Tim Berners-Lee  – der Mann, der das Internet erfunden hat.[5]

Die durch Technologie über das Internet verbundene Menschheit funktioniere in einer dystopischen Art und Weise, sagt Berners-Lee.

Der erste Selbsthilfe-Bestseller trug den ebenso passenden wie vielsagenden Titel Selbsthilfe. Verfasst wurde er von Samuel Smiles und 1859 veröffentlicht, im selben Jahr wie Darwins Über die Entstehung der Arten. Seitdem ist die Selbsthilfeindustrie stetig gewachsen – und sie wächst immer weiter. Allein in Großbritannien stiegen die Verkäufe von Selbsthilfebüchern 2018 um 20 Prozent.[6] Die Regale biegen sich unter der Last dieser Bücher. Viele bieten Denkanstöße, die aus alternativen kulturellen Perspektiven, den Werken berühmter Schriftsteller und historischer Persönlichkeiten, aus philosophischen Schulen oder der Populärpsychologie stammen. Andere fassen die Gedanken und Überlegungen prominenter Gurus zusammen. Bisweilen finden sich Anleitungen zur Selbsthilfe in unerwarteten Kontexten. Ein kürzlich erschienener und hochgelobter Bestseller wurde als Werk vermarktet, das dem Leser vermitteln sollte, wie sich durch Hacken, Stapeln und Trocknen von Holz ein tieferes Verständnis für das Leben erlangen lässt. In dem Buch entdeckten die Rezensenten (wahrscheinlich entgegen der Absicht des Autors) Wegweiser zu Transzendenz und Wohlbefinden. Offensichtlich sind die Menschen verzweifelt auf der Suche nach Antworten. Charismatische Persönlichkeiten können zwar beruhigend wirken und inspirierende Slogans die Stimmung heben oder für Motivation sorgen, doch die positiven Auswirkungen solcher Behelfe sind in der Regel kurzlebig. Der erneute Abgleich mit der Realität wird von der schmerzlichen Erkenntnis begleitet, dass sich im Grunde nichts geändert hat. Wenn wir mitten in der Nacht erwachen und in die Dunkelheit starren, lasten die existenziellen Gegebenheiten immer noch schwer auf uns.

Das Level an frenetischer Aktivität, das für das moderne Leben kennzeichnend ist, lässt vermuten, dass sich viele Menschen auf einer ständigen und erfolglosen Suche befinden. Wir eilen von einer Sache zur nächsten, scheinbar gefangen in endlosen Schleifen von Befriedigung und Frustration: Geld, Diäten, Kosmetika, soziale Medien, Autos, Spiele, Smartphones – Trends, Moden, Marotten. Sind all diese Dinge Ersatz für etwas Wesentlicheres, etwas Unsichtbares, aber dennoch Reales und Erreichbares – oder sind sie einfach nur Ablenkungen, ein Mittel, um Gefühle der Leere zu vermeiden, die uns sonst überwältigen würden?

Wenn wir uns große Fragen stellen, wollen wir Antworten mit glaubwürdigen Begründungen, Antworten, die aus einem kohärenten intellektuellen Rahmen hervorgehen oder durch Beobachtung bestätigt werden können.

Freud und die Post-Freudianer haben das Unglücklichsein hinterfragt und auf der Suche nach den Ursachen den menschlichen Geist erforscht. Religiöse Dogmen und philosophische Abstraktionen lehnten sie ab und entwickelten ihre Theorien stattdessen auf der Basis zahlreicher und systematischer Studien. Sie begriffen, dass menschliche Fragen nach menschlichen Antworten verlangen und dass es ohne ein Verständnis des menschlichen Daseins keine Antworten gibt.

Seit über hundert Jahren entwickeln und verfeinern Psychotherapeuten Modelle des menschlichen Geistes. Ihre Bemühungen zielten und zielen darauf ab, psychische Notlagen zu lindern und Menschen zu helfen, die bessere Lebensentscheidungen treffen wollen. Gemeinsam haben sie ein umfangreiches Werk geschaffen, das Freuds hochgesteckten Zielen für die Psychoanalyse treu geblieben ist – seiner Hoffnung, dass die Psychoanalyse eines Tages nicht nur als medizinisches Teilgebiet anerkannt würde, sondern vielmehr als allgemeiner Bezugsrahmen, als etwas, das über die Behandlung psychischer Erkrankungen hinaus relevant und anwendbar ist.

Wenn Psychotherapeuten einen Menschen betrachten, sehen sie ein ganz anderes Geschöpf als beispielsweise ein Philosoph oder ein Geistlicher. Bestimmten Aspekten der menschlichen Erfahrung, die für andere Disziplinen trivial, irrelevant oder abstoßend erscheinen, wird von Psychotherapeuten oft eine besondere Bedeutung beigemessen. Freud war bereit, sich mit Aspekten des Menschseins zu befassen, die man vor seiner Zeit kaum beachtet hatte, beispielsweise dem Bewusstsein für die eigene Verdauung, frühen Erinnerungen, primitiven Trieben oder unserer Neigung, Witze zu erzählen. Die Psychotherapie hatte in dieser Hinsicht vergleichsweise geringe Berührungsängste. Sie widerstand der Verherrlichung der Conditio humana und akzeptierte stets die derben Realitäten der Körperlichkeit.

Leonardo da Vincis berühmte Federzeichnung, mit der er die Proportionen des menschlichen Körpers nach Maßgabe des römischen Baumeisters Vitruv darstellte, wird häufig reproduziert, um die Macht des menschlichen Intellekts und die Vorrangstellung des Menschen zu unterstreichen. Die Symmetrien und die mathematische Perfektion der menschlichen Gestalt werden als Zeichen unserer kosmologischen Bedeutung interpretiert. Freud und andere große Persönlichkeiten der Psychotherapie stellen die vitruvianische Sonderstellung des Menschen infrage. Sie bremsen unsere narzisstischen Anwandlungen und raten uns, uns selbst so zu sehen, wie wir wirklich sind, weder im Mittelpunkt des Geschehens noch durch eine ausladende Symbolik hervorgehoben.

Die menschliche Natur wurde durch das Zusammenspiel evolutionärer Gegebenheiten geprägt. Wir haben identische Nervensysteme, erleben alle dieselben grundlegenden Emotionen und werden von denselben »Trieben« gesteuert. Genetiker erinnern uns häufig daran, dass unsere DNA zu 96 Prozent mit der von Schimpansen übereinstimmt. Wenn wir schon so eng mit unseren tierischen Vettern verwandt sind, dann können die wesentlichen Unterschiede, die uns voneinander abgrenzen, in der Tat nur sehr gering sein. Selbst zwischen Menschen aus weit entfernten Teilen der Welt gibt es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, und wenn Menschen im selben Kulturkreis aufwachsen, gleichen sich ihre Bedürfnisse, Wünsche und Träume.

Wie wir leben wollen, ist höchst individuell, und was für einen Menschen richtig ist, kann für einen anderen falsch sein. Schmerz ist jedoch immer schmerzhaft, und Freude ist immer angenehm. Wir können aus unterschiedlichen Gründen unzufrieden sein, aber die Qualität dieser Unzufriedenheit, ihre gefühlte Essenz, ist eine verlässliche Konstante.

Wenn wir also alle mit denselben Lebensproblemen zu kämpfen haben, warum ziehen wir dann so selten die Psychotherapie als Ideenfundus zurate? Die unverständliche Nomenklatur ist ein Hindernis. Streitigkeiten zwischen den Psychotherapieschulen sind ein weiteres. Die Psychotherapie wird außerdem der intellektuellen Verarmung, der Absurdität und der Scharlatanerie bezichtigt. Als Alfred Adler, einer der frühen Weggefährten Freuds, dafür verspottet wurde, dass er Gedanken vertrat, die eigentlich nur dem gesunden Menschenverstand entsprachen, entgegnete er: »Und was ist falsch am gesunden Menschenverstand?« Wenn die aus der Psychotherapie abgeleiteten Lebensempfehlungen bisweilen recht einfach sind und mit der Lebenserfahrung in Einklang stehen, dann ist das sicher wünschenswert.

© Bridgeman Images

Der Vorwurf der Absurdität wird meist im Zusammenhang mit der Psychoanalyse erhoben. Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung etwa, die von frühreifen sexuellen Gefühlen und inzestuösen Trieben ausgeht, hat von Anfang an für Entrüstung gesorgt. Dennoch hat Freuds Theorie in den letzten dreißig Jahren zumindest teilweise eine Untermauerung durch mehrere seriöse Quellen erfahren, vor allem durch die Neurowissenschaften und die Evolutionsbiologie, und viele bedeutende Wissenschaftler haben ganz allgemein ihre Bewunderung für Freuds Errungenschaften zum Ausdruck gebracht. In seinem 2012 erschienenen Buch Das Zeitalter der Erkenntnis schrieb Eric Kandel (der für seine »Entdeckungen betreffend der Signalübertragung im Nervensystem« im Jahr 2000 den Nobelpreis erhielt), dass »[…] Freuds Theorie des Geistes nach allgemeiner Überzeugung das moderne Denken einen gewaltigen Schritt nach vorn gebracht hat. Trotz ihres offensichtlichen Mankos, nicht empirisch zu sein, ist sie auch nach einem Jahrhundert immer noch die vielleicht einflussreichste und kohärenteste Theorie geistiger Aktivität, die uns zur Verfügung steht.« In den 1990er Jahren entstand eine neue Disziplin, die Neuropsychoanalyse, die sich mit den biologischen Grundlagen der Freud’schen Konzepte befasst. Inzwischen gibt es eine Internationale Gesellschaft für Neuropsychoanalyse, die sogar eine eigene wissenschaftliche Zeitschrift herausgibt.

Leider waren viele große Denker der Psychotherapie außerordentlich schlechte Vorbilder. Persönlichkeiten wie Otto Gross und Wilhelm Reich beendeten ihr Leben auf unrühmliche Weise – Ersterer mittellos, Letzterer in einem Zuchthaus. Über das unorthodoxe Verhalten von Helden der Gegenkultur wie Fritz Perls und R. D. Laing kursieren zahlreiche unerfreuliche Geschichten. Angesichts ihres fragwürdigen Benehmens ist man versucht, ihre Theorien vorschnell als nutzlos zu verwerfen. Viele dieser Persönlichkeiten waren jedoch nicht nur Pioniere, sondern auch Opfer ihrer eigenen Forschungen und Erfolge. Sie überprüften ihre Theorien, indem sie mit alternativen Lebensformen und veränderten Bewusstseinszuständen experimentierten; sie folgten ihren Patienten in den Wahnsinn; sie waren wie Entdecker, die sich ins Unbekannte wagten. Zwangsläufig zahlten einige von ihnen dafür einen sehr hohen Preis. Gross und Reich bezahlten mit ihrem Verstand.

Die Psychotherapie als Quelle von Lebenslehren ist am besten als Gesamtheit zu verstehen. Die Kritik an Adler war nicht ganz unberechtigt. Bestimmte psychotherapeutische Ansätze erscheinen, aus ihrem Kontext herausgelöst, vereinfachend oder sogar banal. Andere hingegen wirken weit hergeholt. Wenn man jedoch einen Schritt zurücktritt, um das Gesamtbild zu betrachten, wenn man die Psychotherapie nicht als Gruppe konkurrierender Schulen, sondern als eine einzige Tradition sieht, dann bekommt man ein Gefühl dafür, wie viel erforderlich ist, um Erfüllung zu erreichen. Die Dimension der Aufgabe ist beängstigend, denn unsere Bedürfnisse sind zahlreich und komplex. Wir haben das Bedürfnis, zu sprechen und verstanden zu werden, wir brauchen ein einheitliches Selbstempfinden, wollen Erkenntnisse gewinnen, geliebt werden, uns sicher fühlen, biologische Bedürfnisse befriedigen, innere Konflikte lösen, wollen akzeptiert werden, Unglück überwinden, ein Ziel haben, einen Sinn finden und unsere eigene Sterblichkeit akzeptieren. So gesehen ist es keineswegs verwunderlich, dass so viele Menschen unglücklich und unzufrieden sind.

Das Leben ist eine lebenslange Aufgabe. Die Ziele der Psychotherapie unterscheiden sich nicht so sehr von den Zielen des täglichen Lebens. Menschen wollen glücklich sein und Ergebnisse optimieren. Die Psychotherapie lehnt schnelle Lösungen strikt ab. Die Probleme des Lebens lassen sich nicht einfach durch eine positive Einstellung, das Aufsagen von Mottos oder Holzhacken lösen. Erfüllung ist eine gewaltige Herausforderung, die von einer unüberschaubaren Zahl von Prozessen und Zufällen abhängt. Deshalb ist es notwendig, Prioritäten zu setzen. Wo soll man anfangen? Meiner Meinung nach hat die Psychotherapie, im Sinne einer geistig-intellektuellen Tradition, genau das erreicht. Sie hat erkannt, was wichtig ist. Die wichtigsten Persönlichkeiten der Psychotherapie, ihre größten Denker, haben jeden Arbeitstag ihres Lebens damit verbracht, sich mit den Problemen der menschlichen Existenz in ihren intensivsten und erschütterndsten Formen auseinanderzusetzen. Die Psychotherapie ist realitätsbezogen, unbeirrt und pragmatisch. Sie stellt Fragen, die für das Leben bewusster, körperlicher Wesen, deren Psyche durch die Evolution, die eigene Kindheit und den gesellschaftlichen Kontext geprägt wurde, besonders relevant sind. Sie vermeidet stereotype Antworten und lehrt uns, dass eine gut aufgebaute und präzise gestellte Frage fast immer zielführender ist als ein Brocken überlieferter Weisheit.

Meine Ausbildung zum klinischen Psychotherapeuten absolvierte ich am damaligen Institute of Psychiatry (heute Institute of Psychiatry, Psychology and Neuroscience) in London. Es handelte sich im Wesentlichen um eine Forschungseinrichtung, die den Bethlem Royal and Maudsley Hospitals angegliedert war. Bethlem, eine Kurzform von Bethlehem, bildet den etymologischen Ursprung des englischen Wortes »bedlam«, das gemeinhin für Wahnsinn, Aufruhr und Chaos verwendet wird. Das Bethlem Hospital wurde zwar schon 1247 gegründet, doch die Wahnsinnigen kamen erst rund zwanzig Jahre später, als Richard II. ein kleines Krankenhaus namens Stone House schloss, weil die lärmenden Bewohner seine Falken störten.[7] Die Abteilung für Klinische Psychologie am Institute of Psychiatry (mit seinen obskuren Verbindungen zum mittelalterlichen London) blickt auf ein eigenes (wenngleich etwas kürzeres) historisches Erbe zurück: Am Institute of Psychiatry richtete Hans Eysenck (gemeinsam mit einer kleinen Schar von Kollegen) den ersten Studiengang für Klinische Psychologie in Großbritannien ein. Eysenck war ein Verfechter der Verhaltenstherapie und lehnte die Psychoanalyse vehement ab. Er vertrat die Ansicht, dass psychische Probleme am ehesten als Fälle von »schlechtem« Lernen zu verstehen seien und dass diese Probleme durch kurze, einfache Verfahren »verlernt« werden könnten.

Eysenck war eine enorm einflussreiche Persönlichkeit, die durch kämpferisches Eintreten für die wissenschaftliche Psychologie bekannt wurde. Als ich in der klinischen Ausbildung war, galt er immer noch als bedeutender Psychologe. Bevor ich als Student am Institute of Psychiatry angenommen wurde, hatte ich an der St. George’s Hospital Medical School und am Royal Holloway and Bedford New College promoviert. Einer meiner Doktorväter war der berühmte Kognitionspsychologe Andrew Mathews. Der andere war der Sohn von Hans Eysenck, Michael, dessen entspannte Art im ständigen Widerspruch zum genetischen Determinismus seines Vaters zu stehen schien.

Letztlich lag es an Hans Eysenck, weshalb ich meine klinische Ausbildung in einem Umfeld absolvierte, in dem alle Behandlungsmethoden außer der Verhaltenstherapie beziehungsweise der kognitiven Verhaltenstherapie als unwissenschaftlich, unwirksam und potenziell schädlich galten. Dennoch stand ich damals, auch ohne den Vorteil einer mittlerweile zwanzigjährigen klinischen Erfahrung, dem therapeutischen Fundamentalismus zutiefst misstrauisch gegenüber. Warum nicht für alles offen bleiben? Ich schloss mich einer kleinen Supervisionsgruppe an, die von Dr. Nicholas Temple geleitet wurde, einem der späteren Präsidenten der British Psychoanalytic Society, und fand diese Erfahrung sowohl anregend als auch bereichernd. Mir war immer beigebracht worden, dass Psychoanalyse und Verhaltenstherapie einander widersprächen, doch nun begann ich, Gemeinsamkeiten zu erkennen.

Ich empfand Revierkämpfe zunehmend als lästig und hielt es für wesentlich lohnender, darüber nachzudenken, welche Gemeinsamkeiten die scheinbar gegensätzlichen Schulen der Psychotherapie besaßen. Darüber hinaus wurde mir klar, dass viele Unterschiede zwischen den drei Hauptrichtungen der Psychotherapie durch die Verwendung von Fachvokabular noch betont wurden. Der Verzicht auf einen exklusiven Jargon löste zahlreiche Widersprüche sofort auf.

Der Eklektizismus hat seine Tücken: Es mangelt ihm an Reinheit, er ist manchmal unscharf und kann, wenn man ihn auf die Spitze treibt, leicht zusammenhanglos werden. Dennoch bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass die Vorteile eines maßvollen Eklektizismus die potenziellen Nachteile bei Weitem überwiegen.

Ein Buch dieser Art – im Wesentlichen eine persönliche Synthese – ist notwendigerweise selektiv. Dennoch habe ich versucht, die meisten großen Persönlichkeiten der Psychotherapie und ihre wichtigsten Beiträge zu erwähnen. Es gibt einige bemerkenswerte Auslassungen: Franz Alexander, Ludwig Binswanger, Erik Erikson, Karen Horney, Harry Stack Sullivan, Rollo May, Jacques Lacan, William Glasser, Anthony Ryle, Emmy van Deurzen, Marsha Linehan. Diese Aufzählung ließe sich mehr oder weniger unendlich fortsetzen. Meine Auswahl an großen Denkern wurde nicht nur durch ihren Bekanntheitsgrad eingegrenzt, sondern auch durch die von mir gewählten Themen (etwa Identität, Einsicht oder Narzissmus). Dieser Ansatz hat das Spektrum begrenzt. Es gibt auch eine geschlechtsspezifische Gewichtung in meinem Pantheon, die Männern den Vorzug gibt, was jedoch weitgehend auf die gesellschaftlichen Ungleichheiten und Vorurteile zurückzuführen ist, die Frauen über weite Strecken des 20. Jahrhunderts daran hinderten, Ärztinnen – und dann Psychotherapeutinnen – zu werden. Der nicht anerkannte intellektuelle Beitrag von Frauen zur Psychotherapie (insbesondere zu Freuds Lebzeiten), der von Patientinnen, Familienmitgliedern, Korrespondentinnen, anderen Fachleuten und Freundinnen geleistet wurde, sollte keinesfalls unterschätzt werden.[8] Gelegentlich illustriere ich meine Ausführungen mit Schilderungen von Männern und Frauen in der Therapie. Es handelt sich um reale Personen, alles ehemalige Patienten, deshalb habe ich klinisch irrelevante Details geändert, um ihre Anonymität zu wahren.

Ein Leben in Ordnung zu bringen, ist schwer. Die Psychotherapie hat die Größe dieser Aufgabe stets erkannt und macht keine übertriebenen Versprechungen. Freud sagte bekanntlich einmal, dass seine Methode darin bestehe, »Elend« in »gemeines Unglück« zu verwandeln. Es ist unmöglich, das der Zivilisation innewohnende »Unbehagen« zu überwinden, und es gibt keine einfachen Antworten. Man wird nicht wiedergeboren, wenn man einen Slogan auf einem Geschirrtuch liest. Oberflächlich betrachtet, ist Freuds Realismus unattraktiv. Es scheint, dass er nur einen schwachen Trost anbietet – das »gemeine Unglück«. Doch bescheidene Zusicherungen lassen viel Raum für Überraschungen. Wenn wir unsere Erwartungen zügeln, trifft uns das Glück vielleicht öfter unvorbereitet.

1Sprechen:

Raus aus dem Stummfilmkino

Vor einigen Jahren besuchte ich in London eine herausragende Edward-Hopper -Ausstellung. Während ich von Leinwand zu Leinwand schlenderte, wurde mir immer wieder bewusst, auf welch geniale Weise es der Künstler verstanden hatte, private Augenblicke festzuhalten. Hoppers Werke zeigen oft gewöhnliche Männer und Frauen in spärlich eingerichteten Innenräumen, die aus dem Fenster starren oder ausdruckslos ins Leere blicken. Selbst wenn er mehrere Figuren darstellt, sind sie voneinander getrennt und leben in unterschiedlichen Welten.

Eine von Hoppers eindrucksvollsten Erkundungen des Alleinseins ist das Gemälde Automat. Der Bildtitel bezieht sich auf eine frühe Kette von Selbstbedienungsrestaurants, in denen die Mahlzeiten nicht von Menschen serviert, sondern von Automaten ausgegeben wurden. Hoppers Gemälde zeigt eine junge Frau, die in einem solchen Lokal an einem Tisch sitzt und gerade im Begriff ist, eine Tasse Kaffee an die Lippen zu führen. Das Selbstbedienungsrestaurant hebt ihre Einsamkeit unmittelbar hervor. Obwohl ihr Mantel mit Pelzbesatz versehen ist und sie in der Nähe eines Heizkörpers sitzt, braucht sie noch mehr Wärme. Sie hat einen ihrer Handschuhe ausgezogen, um die heiße Kaffeetasse zu spüren. Das Bild ist äußerst realistisch, aber ein Detail wirkt unpassend: Auf einem Regal hinter der jungen Frau steht eine Schale voller Früchte. Woher kommt das Obst? Wir befinden uns in New York, es herrscht eine kalte Jahreszeit, und es sind die 1920er Jahre. Damals war Obst außerhalb der Saison nicht erhältlich. Solche Früchte gehören eigentlich nicht dorthin. Hopper will dies symbolisch verstanden wissen. Er fordert uns auf, darüber nachzudenken, inwiefern die üppigen, gerundeten Formen in der Schale mit dem korrespondieren, was Freud »die größeren Hemisphären des weiblichen Körpers« nannte.

Der Mantel der jungen Frau ist grün (die Farbe der Unschuld), aufgeknöpft und offen, und man sieht, dass sie darunter ein rotes Kleidungsstück (die Farbe der Leidenschaft) trägt. Ihr Ausschnitt ist tief, ihr Rock ist nach oben gerutscht und gibt den Blick auf ein Paar wohlgeformte Beine frei. Diese erotischen Elemente lassen erahnen, woran sie möglicherweise gerade denkt. Über ihrem Kopf verschwinden die im Fensterglas reflektierten Deckenlichter des Schnellrestaurants in der Dunkelheit; sie ähneln den »Gedankenblasen« eines Comics. Es gibt zwei Reihen solcher Blasen, was bedeutet, dass sie mit zwei Gedanken beschäftigt sein muss. Soll sie? Soll sie nicht? Der Stuhl, den sie vor sich hat, ist augenfällig leer. Sie kämpft mit einem Dilemma, das sie ohne Begleitung oder Unterstützung lösen muss. Ihre Einsamkeit wird durch das unendliche Nichts draußen noch verstärkt, welches die Doppelreihe reflektierter Lichter nur begrenzt mildern kann. Ein gerade noch sichtbares Stückchen Geländer deutet eine absteigende Treppe an. Es scheint der einzige Weg für sie nach draußen zu sein. Wie wir alle hat sie nur begrenzte Optionen.

Edward Hopper Automat © Heirs of Josephine Hopper/Licensed by Artis’s Rights Society (ARS)NY/DCS London 2019/Bridgeman Images

Die Männer und Frauen in Hoppers Gemälden sind fast immer stumm; selbst, wenn sie im Gespräch dargestellt werden, sind sie in sich zurückgezogen, durch eine zusätzliche Barriere von uns getrennt, wie durch das Glas eines Fensters. Die Lautlosigkeit in Hoppers Gemälden (und insbesondere das Fehlen gedachter Stimmen) ist beunruhigend. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und wir sehnen uns nach Konversation. Wenn wir miteinander reden, fühlen wir uns nicht mehr so allein, und das schwarze Nichts hinter dem Fenster des Automat wirkt nicht mehr ganz so bedrohlich.

Ich würde gern behaupten, diese Beobachtungen selbst gemacht zu haben, aber ich zitiere hier Professor Walter Wells, einen amerikanischen Wissenschaftler, der ein bemerkenswertes Buch mit dem Titel Silent Theater: The Art of Edward Hopper geschrieben hat. Ich lernte Walter bei einer Dinnerparty in London kennen, und wir wurden Freunde. Wir trafen uns gelegentlich, nur um zu plaudern. Er war ein hervorragender Gesprächspartner, unersättlich neugierig, und er verfügte über ein beeindruckendes Wissen zu einer Vielzahl von Themen, wie der Sprache der Geschäftswelt, Aspekten der Medizin, Mark Twain oder dem Hollywood-Roman, um nur einige zu nennen. Wir konnten über so ziemlich alles reden. Ich erinnere mich an die Frage, ob die Superhelden von Marvel und DC das amerikanische Äquivalent zu den griechischen Göttern seien. Walter bemerkte höflich, dass, wenn ich Amerika psychologisch auf den Grund gehen wolle, Genreliteratur vermutlich erhellender wäre. Amerika habe seine Vergangenheit mit Hilfe des Westerns aufgearbeitet, setze sich mit der Gegenwart mittels Kriminalromanen auseinander und erforsche eine mögliche Zukunft anhand von Science-Fiction. Wie so viele scharfsinnige Beobachtungen ist auch diese völlig offensichtlich – aber nur im Nachhinein, wenn sie einmal ausgesprochen wurde. Walter und ich schwiegen nie, nicht einmal ein paar Sekunden lang.

Das letzte Mal, dass ich mich mit Walter zum Mittagessen traf, war zu einem traurigen Anlass. Seine Frau, einige Jahre jünger als er, lag im Sterben. Ich tat mein Bestes, um Plattitüden zu vermeiden, denn er war kein Mensch, der vor harten Wahrheiten zurückschreckte. In seiner intellektuellen Aufrichtigkeit war er unerschütterlich, und er besaß das, was ein existenzialistischer Schriftsteller einmal als die Bereitschaft bezeichnet hat, »nackt im tobenden Ungewitter des Lebens [zu] stehen«.[1] Da er bereits eine Frau durch Krebs verloren hatte, wusste er, dass schlimme Dinge passieren und dass wir ihnen, wenn sie passieren, nicht entkommen können. Als die Rechnung kam, griff Walter nach seiner Brieftasche und sagte: »Nächstes Mal zahlst du.« Aber es gab kein nächstes Mal. Ein paar Monate später starb seine Frau, er reiste eine Weile, dann starb auch er. Seine Krebsdiagnose konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Ende durch den persönlichen Verlust beschleunigt worden war. Emotionaler Schmerz bricht tatsächlich Herzen. Die sogenannte »Takotsubo-« oder »Stress-Kardiomyopathie« (auch bekannt als »Broken-Heart-Syndrom«) ist ein anerkannter Krankheitszustand.

Wenn Walter und ich uns trafen, sprachen wir eher über bestimmte Themen als über persönliche Erlebnisse. Daher war ich zum Teil etwas überrascht, vielleicht sogar erstaunt, als ich hörte, was bei seiner Gedenkfeier alles über ihn gesagt wurde. Dieser witzige, charmante, stilvolle Mann war in sehr bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, und gelegentlich zeigten sich die Spuren seiner bewegten Jugend. Einmal schlug er einen französischen Restaurantbesitzer nieder, dessen unangemessenes Verhalten (und es war unangemessen) Walters Fähigkeit, Provokationen hinzunehmen, auf eine harte Probe gestellt hatte. Jemand sagte: »Man kann den Jungen aus Queens herausholen, aber man kann Queens nicht aus dem Jungen herausholen.« Ich musste lachen, als ich mir vorstellte, wie sich mein sanftmütiger Freund durch Südfrankreich prügelte.

Ich vermisse Walter. Mehr, als ich je erwartet hätte. Ich bedaure zutiefst, dass ich nicht mehr Zeit mit ihm verbracht habe. Natürlich hatte ich meine Gründe. Es gab immer irgendetwas, das zuerst erledigt werden musste. Jetzt kann ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, was diese dringenden Angelegenheiten waren. Ich möchte unsere Gespräche fortsetzen. Wir waren noch nicht fertig, es gab noch so viel zu sagen.

Vor ein paar Jahren besuchte ich das Whitney Museum of American Art in New York City, Walters Heimatstadt. Ich wollte unbedingt die Arbeiten von Hopper sehen. Beim Stöbern in der Museumsbuchhandlung stieß ich auf ein Exemplar von Silent Theater. Ich nahm es aus dem Regal und seufzte. Hätte ein vorbeigehender Fremder in diesem Augenblick ein Foto von mir gemacht, hätte es einem Bild von Edward Hopper geglichen: ein Mann, der abseits steht, isoliert und den Blick nach innen gerichtet. Ich stellte das Buch zurück an seinen Platz und ging zu meiner Frau und meinem Sohn.

»Ich habe gerade Walters Buch gefunden.« Mit diesen Worten brach ich das Schweigen, und dadurch knüpfte ich wieder Kontakt. Manche Kritiker haben Hoppers Schweigen als tödlich bezeichnet. Das ist keine Übertreibung. Es ist eine wissenschaftliche Tatsache.

*

Bertha Pappenheim, die als Anna O. in die Annalen der Psychiatrie einging, litt an Hysterie. In den 1880er Jahren wurde sie von Josef Breuer mit einer Methode behandelt, die später von Breuers jüngerem Kollegen, Sigmund Freud, weiterentwickelt wurde. Die endgültige Form dieser Therapie wird heute als Psychoanalyse bezeichnet und ist das erste wichtige Beispiel für eine formalisierte Psychotherapie. Die Behandlung von Anna O. wird in Studien über Hysterie beschrieben, einem Pionierwerk, das Breuer und Freud 1895 veröffentlichten. Wenn die Psychoanalyse die erste Form der Psychotherapie im modernen Sinne ist, dann war Pappenheim wohl die erste Psychotherapie-Patientin. Sie erfand einen Begriff, um ihre Behandlung zu beschreiben: die »Redekur«. Damit hat sie den wichtigsten Bestandteil der Psychotherapie benannt, das entscheidende Mittel, durch das die Psychotherapie ihre positiven Wirkungen erzielt.

Der Evolutionspsychologe Robin Dunbar vermutet, dass sich das Sprechen aus der gegenseitigen Fellpflege entwickelt hat, die unsere affenähnlichen Vorfahren praktizierten. Diese Theorie hat in der Wissenschaft zwar wenig Anklang gefunden, aber sie besitzt einen gewissen intuitiven Reiz. Die Körperpflege hat nicht nur positive Auswirkungen auf die Gesundheit, sondern stärkt – bei Affen – auch die sozialen Bindungen. Wenn wir ernsthaft miteinander kommunizieren, erleben wir in gewisser Weise etwas, das sich wie eine Form ursprünglicher Intimität anfühlt. Durch Worte können sich Seelen berühren. Die evolutionäre Bedeutung des Sprechens spiegelt sich in unserer neuronalen Entwicklung wider: Wir sind zum Spracherwerb disponiert, und der Lernprozess beginnt bei frühester Gelegenheit.[2] Neugeborene saugen stärker (ein Zeichen von Wiedererkennung und Interesse), wenn sie ihre Muttersprache statt einer Fremdsprache hören. Sie haben schon im Mutterleib mitgehört. Dieses schnelle Lernen ist umso bemerkenswerter, als der Fötus nur im letzten Schwangerschaftsdrittel wach ist – und dann auch nur zwei oder drei Stunden pro Tag. Das erste Aufflackern des Bewusstseins wird sehr wahrscheinlich von Sprache begleitet. Wir werden uns unserer selbst bewusst, indem wir anderen zuhören.

Beim Sprechen geht es nicht nur um Worte. Wir nehmen bestimmte Körperhaltungen ein, wir lächeln, runzeln die Stirn, gestikulieren und stellen Blickkontakt her; wir lesen die Mimik und wissen genau, wann wir innehalten müssen, um unser Gegenüber antworten zu lassen. Auch hier handelt es sich um Fähigkeiten, die wir früh erwerben. Sobald ein Neugeborenes in die Arme seiner Mutter gelegt wird, gibt die Mutter Laute von sich, kitzelt es, schaut es an und fordert es zu einfachen Wechselspielen auf. Diese »Dialoge« dienen als Muster für komplexere Kommunikationsfähigkeiten. Mutter und Kind entwickeln eine Bindung, und die Stärke dieser Bindung ist ein Indikator für die künftige soziale Anpassungsfähigkeit, emotionale Reife und Widerstandsfähigkeit.[3]

Die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ist eines der grundlegendsten und ältesten menschlichen Bedürfnisse, und doch leben wir in einer Welt, in der sie immer seltener wird. Mütter verbringen mehr Zeit mit ihren elektronischen Geräten als mit ihren Kindern. Eine 2014 in der Zeitschrift Paediatrics veröffentlichte Beobachtungsstudie zeigte, dass 40 von 55 Betreuungspersonen während der Mahlzeit in einem Restaurant elektronische Geräte benutzten. Sechzehn dieser Betreuungspersonen nutzten ihre Geräte ununterbrochen und schauten auf die Monitore, anstatt auf ihre Kinder zu achten. Das soziale Leben hat sich in den Cyberspace verlagert. E-Mails, Textnachrichten und Kommunikation über soziale Medien werden dem Telefonat vorgezogen. Für viele ist die direkte Kommunikation mühsam, anstrengend oder sogar abschreckend. Diese Trends werden unweigerlich Folgen haben. In Japan beispielsweise wurde die Informationstechnologie mit einem Verlust von Intimität und einem dramatischen Rückgang der nationalen Geburtenrate in Verbindung gebracht. Pessimisten gehen davon aus, dass die Bevölkerung Japans bis 2060 um bis zu 30 Prozent schrumpfen könnte.[4]

Eine Studie aus dem Jahr 2019, in der drei auf das Vereinigte Königreich beschränkte Umfragen zu Sexualverhalten und Lebensstil ausgewertet wurden, gelangte zu dem Schluss, dass die Beischlafhäufigkeit bei britischen Paaren rückläufig sei. Ähnliche Rückgänge hat man auch in Australien, Finnland und Amerika festgestellt. Als ursächliche Faktoren wurden die Anforderungen des modernen Lebens und der Informationstechnologie genannt: »Das Leben im digitalen Zeitalter ist wesentlich komplexer als in früheren Epochen, die Grenzen zwischen Privatsphäre und öffentlicher Außenwelt sind fließend, und das Internet bietet vielfältige Möglichkeiten der Zerstreuung.«[5]

Die Harvard Longitudinal Study (Längsschnittstudie), die älteste und umfangreichste ihrer Art, begann 1938 mit der Erhebung von Daten zur körperlichen und geistigen Gesundheit und wird bis heute fortgesetzt. Die ursprüngliche Kohorte bestand aus 268 jungen Männern, doch im Laufe der Zeit wurden auch deren Kinder (etwa 1300) einbezogen. Die Ergebnisse zeigen, dass enge Beziehungen (also solche, in denen Menschen miteinander kommunizieren) die Menschen ein Leben lang glücklich machen (viel mehr als etwa Wohlstand oder Ruhm). Außerdem werden enge Beziehungen mit Langlebigkeit in Verbindung gebracht. Sie sind ein besserer Prädiktor für dauerhafte Gesundheit als die soziale Schicht, der IQ oder die Gene. Nicht alle Formen von Kommunikation sind gleichwertig. Führen manche Gesprächsformen mit größerer Wahrscheinlichkeit zu Wohlbefinden als andere? Und wenn ja, kann uns die Psychotherapie – die Redekur  – brauchbare Hinweise darauf geben, welches die Merkmale einer optimalen Konversation sein könnten?

Viele Menschen blicken gern auf ihre Teenager- und frühen Erwachsenenjahre zurück. Das ist ein interessantes Phänomen, fast ein Paradoxon, denn diese Jahre sind auch mit großen Herausforderungen verbunden – erste Liebe, wichtige Entscheidungen, die sich auf die Zukunftsaussichten auswirken, Aufbau eines Identitätsbewusstseins. Geht man dieser Art von Verklärung auf den Grund, lässt sich vieles davon auf die Bildung enger Freundschaften zurückführen, die in einem Umfeld gediehen, in dem häufige und lange Gespräche möglich waren. Sobald wir ins Berufsleben eintreten, Verantwortung übernehmen und den Anforderungen des modernen Lebens gerecht werden müssen, verringern sich die Möglichkeiten für lange, offene Gespräche. In manchen Fällen verschwinden sie sogar gänzlich.

Ein interessantes Merkmal der Konversation von Teenagern ist ihre Ziel- und Zwanglosigkeit. Das ist keine neue Entwicklung. In einem Zitat, das Sokrates von Platon zugeschrieben wird, kritisiert der große Philosoph die Neigung der Jugend, zu »schwatzen«. Teenager plaudern einfach drauflos, eines führt zum anderen, ihr Geschwätz treibt die Unterhaltung voran: zufällige Beobachtungen, Geheimnisse, Klatsch und Tratsch, Popkultur. Doch gerade durch solche ziellosen Gespräche festigen sie ihre Persönlichkeit, knüpfen emotional bedeutungsvolle Verbindungen zu Gleichaltrigen und entdecken ihre Werte. Während sie über nichts Bestimmtes reden, reifen sie irgendwie zu Erwachsenen heran. Dieser Prozess ist so bereichernd, dass sich die meisten Menschen für den Rest ihres Lebens an die Atmosphäre, wenn auch nicht an den genauen Inhalt solcher Unterhaltungen erinnern.

Ein fließender, improvisierter Gesprächsstil hat viel mit Freuds Technik der »freien Assoziation« gemein. Zu Beginn der Konsultationen bat er seine Patienten, das Erste zu sagen, was ihnen in den Sinn kam, und dann ohne Hemmung oder Selbstzensur weiterzureden. Freud stellte fest, dass bei diesen Patienten zufällige Assoziationen zu interessanten Entdeckungen über ihre Persönlichkeit führten. Aus verborgenen Tiefen schienen wichtige und ansonsten unzugängliche Erinnerungen aufzusteigen. Indem wir einfach reden, entdecken wir häufig, was wir wirklich zu sagen haben.

Der Dichter John Keats sprach von »negativer Fähigkeit«, um die gedankliche Lockerheit und geistige Offenheit zu beschreiben, die große Künstler und Schriftsteller innovativ machen. Diese Sichtweise der Kreativität hat viel mit der Behauptung von Aristoteles gemein, dass die Schaffung genialer Werke ein wenig Wahnsinn erfordere (einen geistigen Zustand, der durch eine extreme Lockerung von Assoziationen gekennzeichnet ist). Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie vollkommen neuartige Gedanken unter Bedingungen entstehen, in denen das Bewusstsein gänzlich ungebunden ist, zum Beispiel, wenn man schläft. Albert Einstein gewann wertvolle Einsichten in die Relativitätstheorie, und Mary Shelley wurde zu Frankenstein inspiriert, während sie schliefen. Auch andere Persönlichkeiten wie etwa Beethoven, Salvador Dalí, Charlotte Brontë, Dmitri Mendelejew (Periodensystem), August Kekulé (Struktur des Benzols) und Niels Bohr (Quantentheorie) hatten erhellende Träume.[6], [7] In seinem 2017 erschienenen Werk Das große Buch vom Schlaf berichtet der Neurowissenschaftler und Psychologe Matthew Walker, dass der Traumzustand des Gehirns kurze Zeit anhält, wenn jemand aus einem Traum erwacht, und dass er oder sie bei Problemlösungen, die kreatives Denken erfordern, dann besser abschneidet als sonst.

Studien zur Problemlösung legen nahe, dass die besten Ergebnisse erreicht werden, wenn dem konzentrierten Denken eine »Brainstorming« -Phase vorausgeht, in der Ideen generiert, aber noch nicht bewertet werden. Kontraintuitive Lösungen, die andernfalls möglicherweise vorschnell verworfen würden, können so zu einem späteren Zeitpunkt angemessen berücksichtigt werden. Diese Vorgehensweise hat viel mit der freien Assoziation gemein. Neben der Psychoanalyse befürworten auch bestimmte Schulen der Existenziellen und Humanistischen Psychotherapie ein ungehemmtes, freies Sprechen. Vor etwa zweieinhalbtausend Jahren bemerkte der chinesische Philosoph und Begründer des Taoismus Laotse: »Wer gut zuhört, erspart sich die Bürde, Ratschläge zu erteilen.« In diesem Sinne sollte ein Therapeut seinen Patienten keine bestimmten Antworten geben, da die Patienten schließlich ihre eigenen Antworten finden müssen.

Das Brainstorming hat einen historischen Vorgänger: Michel de Montaigne, ein Schriftsteller des 16. Jahrhunderts, verfasste ausschweifende und abschweifende Essays, die auf Umwegen zu Antworten auf die Fragen des Lebens führen. Es sind vielleicht keine ultimativen Antworten, aber Antworten, die für Montaignes Zeit und sogar für unsere Gegenwart durchaus von Bedeutung sind. Seine Schreibtechnik, die im Wesentlichen darin bestand, dass er seinen Gedanken freien Lauf ließ, war äußerst produktiv, und seine klugen Worte werden seit Generationen geschätzt. Montaigne zu lesen, ist ein bisschen so, als würde man einem Mann zuhören, der auf Freuds Couch liegt und frei assoziiert, um aufschlussreiche Erkenntnisse zu gewinnen.