Der Tod und der Dicke - Reginald Hill - E-Book

Der Tod und der Dicke E-Book

Reginald Hill

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Weil er wieder mal auf seine große Klappe und die Überzeugungskraft seiner zwei Zentner Lebendgewicht vertraut, statt Vorsicht walten zu lassen, fliegt Superintendent Andy Dalziel eine Bombe um die Ohren. Schwerverletzt liegt der Dicke nun im Koma und schlägt sich mit dem Sensenmann herum. Chief Inspector Peter Pascoe will die Schuldigen dingfest machen und stößt auf vermeintliche Islamisten, einen merkwürdigen Tempelritter-Orden und eine Antiterroreinheit, die ihn mit allen Tricks kaltstellen will. Wäre doch bloß der Dicke mit von der Partie …

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Seitenzahl: 642

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Reginald Hill

Der Tod und der Dicke

Roman

Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

MottoErster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelZweiter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelDritter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelVierter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. KapitelFünfter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. KapitelSechster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelSiebter Teil1. Kapitel2. Kapitel

Wie, alter Freund? Konnt’ all dies Fleisch denn nicht

Ein bißchen Leben halten? Armer Hans, leb wohl …

Heut hat der Tod manch edles Wild umstellt,

Doch kein so feistes Wild, als dies, gefällt.

 

Shakespeare, Heinrich IV.,Teil I, 5. Akt, 4. Szene

 

 

 

Ein Tempelritter, welcher einen Gottlosen tötet,

sollte nicht wegen Mordes gerichtet,

sondern gepriesen werden für die Vertilgung des Üblen.

 

St. Bernard de Clairvaux,Liber ad milites Templi

[home]

Erster Teil

Some talk of ALEXANDER

And some of HERKULES;

of HECTOR …

 

Anonym,The British Grenadiers

1

Mill Street

Sie machte nie viel her

 

Westseite – die alte Wollspinnerei ein Gefängnisblock aus Backsteinen rot wie geronnenes Blut ihre stierenden Fenster mittlerweile mit Brettern verblendet das Klappern und Plappern nur noch ein ferner Widerhall in weißhaarigen Köpfen

 

Ostseite – sechs schmale Häuser unter einem müden Dach zusammengekauert vor dem hohen Bahndamm der die Züge nach Süden ins nördliche Herz der City lotst

 

nur wenige Passagiere nehmen von der Mill Street je Notiz

 

sie machte nie viel her

 

im tiefsten Winter eine kalte Gletscherspalte

im Frühjahr und Herbst kaum anders

 

gelegentlich aber

an einem stillen Sommertag

wenn am wolkenlosen Himmel hoch die Sonne gleißt

wandelt die Mill Street sich

zu einem Wüstencanyon in dem die Hitzeschwaden flirren

2

Zwei Hammelpasteten undeine Mandelschnitte

Wenigstens hatte er eine Entschuldigung, wenn er schwitzte, dachte sich Peter Pascoe, als er hinter dem ersten der beiden Wagen gegenüber der Hausnummer 3 in Deckung ging.

»Hast du’s im Rücken?«, fragte Detective Superintendent Andy Dalziel, als sein DCI neben ihn auf den Teer plumpste.

»Wie bitte?«, rief Pascoe aus.

»Du bewegst dich so komisch.«

»Reine Vorsorge.«

»Ach was! Ich nehm lieber Pillen. Außerdem, was zum Teufel hast du hier überhaupt verloren? Hat man den Feiertag abgesagt? Oder bist du nur getürmt, damit du nicht Unkraut zupfen musst?«

»Eigentlich hab ich ein Sonnenbad genommen. Bevor Paddy Ireland anrief und was von einer Belagerung erzählte. Dass dir ein paar Spezialisten fehlen und ob ich nicht aushelfen könnte.«

»Spezialisten? Wusste nicht, dass du ein Scharfschütze bist.«

Pascoe holte tief Luft. Welch feixender Gott, fragte er sich, negierte seine eigenen Gesetze und erlaubte, dass Dalziels in einen dreiteiligen Anzug gequetschten Fettwülste so kühl aussahen, während sein eigenes spindeliges Gestell, das lediglich in einer Baumwolljeans und einem Leeds-United-T-Shirt steckte, mehr Dampf abgab als alle Beteiligten in der Fragestunde des Premierministers.

»Ich habe an einem Kurs über psychologische Verhandlungsführung teilgenommen, du erinnerst dich?«, sagte er.

»Dachte, das hättest du gemacht, um mit Ellie besser zurechtzukommen. Was hat dieser Umstandskrämer gefaselt?«

Dalziel war kein großer Fan von Inspector Ireland, der, wie der Dicke nicht müde wurde zu beteuern, pflichteifrig mit drei f schrieb. Und ließ man sich darauf ein und erklärte ihm, dass das Wort nur zwei f aufweise, erzählte er einem, wofür das dritte stand.

Ließ man sich nicht darauf ein, erzählte er es einem trotzdem.

Pascoe dagegen war ein Meister der diplomatischen Zurückhaltung.

»Nicht viel«, sagte er.

 

»Tut mir leid, Sie an Ihrem freien Tag zu stören, Pete«, hatte Ireland in Wirklichkeit gesagt. »Aber ich dachte mir, Sie sollten es lieber mal erfahren. Wir haben eine Meldung über einen bewaffneten Täter in der Mill Street, Hausnummer drei.«

Dann eine Pause, als wartete er auf eine Erwiderung.

Die einzige Erwiderung, zu der Pascoe sich hätte aufraffen können, lautete: Warum zum Teufel müssen Sie mich deshalb aus meiner Hängematte scheuchen?

»Paddy«, sagte er, »ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben, aber ich bin heute nicht im Dienst. Ein Feiertag, Sie erinnern sich? Andy hat in den sauren Apfel beißen müssen. Ist doch nicht seine Idee, dass Sie anrufen, oder?«

»Ganz und gar nicht. Nur, Mill Street drei ist ein Videoverleih. Oroc Video, hauptsächlich südasiatische und arabische Sachen …«

Leise begann es bei Pascoe zu klingeln.

»Einen Moment. Hat da nicht die CAT ein Auge drauf?«

»Hurra. Es gibt noch jemanden im CID, der die Dienstanweisungen liest«, sagte Ireland vor Sarkasmus triefend.

CAT stand für Combined Anti-Terrorism, eine Anti-Terror-Einheit, in der Beamte aus den Sondereinheiten der Polizei mit MI5-Agenten zusammenarbeiteten. Verdächtige Personen und Wohnungen wurden auf einer gleitenden Skala eingeordnet, auf deren niedrigster Stufe Objekte standen, die sich eine Überwachung rund um die Uhr nicht verdienten, in deren Umfeld aber ungewöhnliche Aktivitäten registriert und gemeldet werden sollten.

Mill Street Nr. 3 befand sich auf dieser niedrigsten Stufe.

Pascoe, dem jeglicher Tadel missfiel, erwiderte: »Wollen Sie mir sagen, in der Mill Street braut sich eine Art Intifada zusammen?«

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Ireland. »Nur, als ich die Meldung an Andy weitergab …«

»O Gott. Sie haben es ihm also doch gesagt. Und, was hat er unternommen – außer dass er es nicht für notwendig erachtet hat, mich aufzuscheuchen?«

Er war nicht sonderlich bemüht, seine Verärgerung zu verbergen.

»Er sagte«, antwortete Ireland gekränkt, »er würde sich die Sache mal ansehen, sobald er seine Fleischpastete verdrückt hätte. Ich erinnerte ihn daran, dass Mill Street drei auf der Liste steht, falls ihm das entgangen sein sollte. Daraufhin gähnte er, kein hübscher Anblick, wenn er gerade eine Fleischpastete zwischen den Zähnen hat. Aber als ich ihm sagte, dass ich gemäß den Vorschriften die Meldung bereits weitergeleitet habe, wurde er ausfallend. Ich hab ihn darauf in Ruhe gelassen.«

»Sehr klug«, sagte Pascoe und gähnte ebenfalls hörbar. »Also, wo ist das Problem?«

»Das Problem ist, dass er gerade an meinem Büro vorbeigestürmt ist und gebrüllt hat, er wäre zur Mill Street unterwegs und ob ich jetzt zufrieden sei, ihm den Tag versaut zu haben.«

»Und das sind Sie nicht?«

Ein tiefes Einatmen; dann mit ruhiger, kontrollierter Stimme: »Ich kann nicht zufrieden sein, wenn der Superintendent eine möglicherweise ernste Situation ernst nimmt. Aber das überlasse ich natürlich gern den Experten vom CID. Tut mir leid, Sie gestört zu haben.«

Der Hörer wurde aufgeknallt.

Aufgeblasener Trottel, dachte sich Pascoe und begab sich wieder in den Garten, um seine Verärgerung mit seiner Frau zu teilen. Zu seiner Überraschung sagte diese nachdenklich: »Das letzte Mal, als ich Andy getroffen habe, brabbelte er was von nutzlosen Stümpern und wie sehr ihm deren Arbeitsweise auf den Keks gehe. Er klang ganz danach, als wäre er reif für ein paar Dummheiten. Vielleicht solltest du mal nachsehen, Liebling, bevor er ganz allein den nächsten Golfkrieg anzettelt. Eine halbe Stunde, kann doch nicht schaden.«

 

Er hatte keine Lust, irgendwas davon Dalziel auf die Nase zu binden.

»Nicht viel«, wiederholte er. »Vielleicht willst du mich aufklären.«

»Warum nicht? Dann kannst du wieder nach Hause wackeln. Du bist doch ein cleverer Bursche, dann weißt du wahrscheinlich, dass Nummer drei auf der CAT-Liste steht. Oder hat dir das Ireland auch erzählen müssen?«

»Nein, aber er hat mich in die Richtung geschubst«, gestand Pascoe.

»Na, siehst du«, kam es triumphierend von Dalziel. »Seit den Anschlägen in London haben die bornierten Blödmänner mehr Fähnchen auf ihre Karten gesteckt, als wir am Krönungstag aufhängen. Beim geringsten Anzeichen einer Verbindung in den Nahen Osten gehen sie in die Hocke und setzen ihre Markierung ab.«

»Ja, hab gehört, sie wollten sogar den alten Mecca-Ballsaal in Mirely auf die Liste nehmen!«

Ein gedankenverlorenes Lächeln erhellte Dalziels Gesicht wie Mondlicht über einem Berg.

»Das Mirely Mecca«, sagte er verträumt. »Das waren noch Zeiten damals. Es gab da so ein Mädel aus Doncaster. Tottie Truman. Deren Tango hätte als Erregung öffentlichen Ärgernisses durchgehen können …«

»Ja, ja«, unterbrach Pascoe. »Ich bin mir sicher, sie war ein reizendes Mädchen, in der Vertikalen wie der Horizontalen …«

»Jetzt aber mal halblang!«, unterbrach nun wiederum der Dicke. »Steck die Leute nicht vorschnell in Schubladen. Das ist eine schlechte Angewohnheit von dir. Tottie, die hatte nicht nur weiches Fleisch, sondern auch Muskeln. Bei Gott, wenn Frauen beim Hammerwerfen teilnehmen dürften, hätte sie die Goldmedaille gewonnen! Ich hab mal gesehen, wie sie bei einem Grillfest des Rugby-Clubs von der Mitte des Platzes einen Gummistiefel geschleudert hat, der war immer noch im Steigen begriffen, als er über die Torpfosten ging. Dachte daran, sie zu heiraten, aber dann ist sie religiös geworden. Denk nur, was hätten wir für eine erste Reihe zeugen können!«

Es war an der Zeit, dieser Reise in die Vergangenheit ein Ende zu setzen.

»Sehr interessant«, sagte Pascoe, »aber vielleicht sollten wir uns auf die Lage hier konzentrieren. Die ist …?«

»Das ist das Problem mit euch Jungspunden«, sagte Dalziel traurig. »Nie habt ihr Zeit, den Duft der Blumen am Wegesrand zu schnuppern. Also gut, Lagebericht: Streifenbeamter meldet, in Nummer drei einen Mann mit einer Waffe gesehen zu haben. Gibt die Information an einen Streifenwagen weiter, der in der Zentrale um weitere Anweisungen nachfragt. Hier sind wir also. Was hältst du davon?«

Dem Dicken war nach Spielen zumute. Ratestunde, dachte sich Pascoe. Ein Raubüberfall, in den sie hineingeplatzt waren? Lohnte sich in der Mill Street kaum, wenn man nicht ein ausgesucht dämlicher Schurke war. Hier lag nicht das wirtschaftliche Zentrum der Stadt, eher der letzte Ausläufer eines heruntergekommenen Randbezirks. Die Wollspinnerei stand unter Denkmalschutz, es gab Gespräche, sie zu renovieren und als Industriedenkmal zu erhalten, aber noch nicht einmal die Victorian Society hatte etwas gegen den vorgeschlagenen Abriss der baufälligen Häuserreihe einzuwenden gehabt, um eine Fläche für einen Parkplatz zu schaffen.

Das Spinnerei-Projekt allerdings war wegen politischer Querelen um die Gelder aus dem Lotterie-Topf in Schwierigkeiten geraten. Ursache des Zwists war, so die Rechten, weil man sich geweigert hätte, benachteiligte lesbische Asylbewerberinnen zu fördern; nein, behaupteten die Linken, weil man der Staatskasse keinen größeren Anteil aus den Lottogeldern zugestehen wollte.

Wie auch immer, die Pläne zum Abriss der Häuserzeile waren vorerst aufgeschoben.

Die noch verbliebenen Anwohner waren längst umgesiedelt. Da sich die Stadtverwaltung nicht mit einem heruntergekommenen Slum herumschlagen wollte, wurden Kleinunternehmen auf der Suche nach einem neuen Geschäftssitz dazu ermutigt, sich hier niederzulassen, um damit zumindest den Anschein von bewohnter Geschäftigkeit aufrechtzuerhalten. Die meisten Firmen stellten sich als ebenso kurzlebig heraus wie die vorzeitig erblühende Primel, die einsam stirbt, so dass mittlerweile als einzige Crofts & Wills, Patentanwälte, in Hausnummer 6 und Oroc Video, Nummer 3, übrig geblieben waren.

Dieser alles in allem interessante historische Abriss aber brachte Pascoe dem Verständnis ihres Treibens um keinen Deut näher.

Und da er allmählich die Geduld verlor, sagte er: »Okay, da drin hält sich also vielleicht ein bewaffneter Täter auf. Ich nehme an, du hast dir eine Strategie zurechtgelegt. Oder willst du ganz allein über ihn herfallen?«

»Jetzt nicht mehr, jetzt sind wir ja zu zweit. Aber du warst ja schon immer mehr für die subtilere Methode, also fangen wir damit mal an.«

Mit diesen Worten erhob sich der Dicke, griff sich von der Motorhaube seines Wagens ein Megaphon, hielt es sich an die Lippen und bellte: »Gut, wir wissen, dass ihr da drin seid. Wir haben euch umstellt. Kommt mit erhobenen Händen raus, und keinem wird was passieren.«

Er kratzte sich unter der Achsel, dann setzte er sich wieder hin.

Nach einem Augenblick des Schweigens sagte Pascoe: »Ich kann einfach nicht glauben, was du da gesagt hast, Sir.«

»Warum nicht? Das hab ich früher auch immer gesagt, bevor dieser ganze Verhandlungsscheiß in Mode gekommen ist.«

»Ist jemals einer rausgekommen?«

»Nicht, so weit ich mich erinnern kann.«

Pascoe ließ sich das durch den Kopf gehen, dann sagte er: »Du hast vergessen, dass er die Waffe rauswerfen soll, bevor er mit erhobenen Händen heraustritt.«

»Nein, hab ich nicht«, sagte Dalziel. »Vielleicht hat er gar keine Waffe, und wenn er keine hat, will ich nicht, dass er denkt, wir glauben, er hätte eine. Nicht wahr?«

»Ich dachte, der Streifenbeamte hätte eine Waffe gesehen. Was war es? Ein Gewehr? Eine Handfeuerwaffe? Und was hat der vermeintliche Bewaffnete überhaupt getan? Komm schon, Andy. Ich hab auf einen Krug selbstgemachter Limonade und meine Hängematte verzichtet. Wo liegt das verdammte Problem?«

Selbst diplomatische Zurückhaltung hatte ihre Grenzen.

»Das verdammte Problem?«, sagte der Dicke. »Dort liegt das verdammte Problem.«

Er wies mit dem Finger auf den Streifenwagen, der ein Stück weiter geparkt war. Pascoes Blick folgte dem Finger.

Und alles wurde klar.

Fast außer Sichtweite lag, um den Hinterreifen gewickelt, eine vertraute schlaksige Gestalt, die die latente Bedrohung einer Speckschwarte ausstrahlte.

»Mein Gott. Du willst doch nicht sagen …?«

»Genau. Der einzige Kontakt zu unserem bewaffneten Täter war bislang Constable Hector.«

 

Police Constable Hector ist der Mühlstein am Hals der Mid-Yorkshire Constabulary, die langbeinige Fliege in der Suppe, die Wollemi Pine in ihrem Outback, der Quastenflosser in seinen Meerestiefen. Seine seligmachende Tolpatschigkeit sorgt dafür, dass er nie ganz nach unten fällt. Unterhalb der tiefsten Tiefe gibt es stets etwas noch Tieferes, und er überlebt auf diese verschrobene Art und Weise, weil die Polizei in Mid-Yorkshire, die wie die wahren Briten ihren Triumph in der Katastrophe findet, mittlerweile stolz auf ihn ist. Wenn das Gespräch im Black Bull mal wieder stockt, muss nur jemand sagen: »Erinnert ihr euch noch, als Hector …«, und einige Stunden heiterer Erinnerungen sind garantiert.

Als Dalziel daher sagte: »Dort liegt das verdammte Problem«, war damit einiges erklärt. Aber nicht alles. Bei weitem nicht alles.

 

»So«, fuhr Dalziel fort, »die Frage lautet: Wie finden wir heraus, ob Hector wirklich eine Waffe gesehen hat?«

»Na ja«, sinnierte Pascoe, »wir könnten ihn aufstehen lassen und warten, ob er erschossen wird.«

»Brillant!«, sagte Dalziel. »Was bin ich froh, so viel in deine Ausbildung investiert zu haben. Hector!«

»Um Gottes willen, das war nur Spaß!«, rief Pascoe aus, während sich die schlaksige Gestalt vom Reifen löste und auf sie zugerobbt kam.

»Schadet nichts, wenn man was zu lachen hat«, sagte Dalziel und lächelte wie ein verrosteter Kühlergrill. »Hector, Bursche, bist du in Form? Ich hab eine Aufgabe für dich, falls du dich ihr gewachsen fühlst.«

»Sir?«, kam es zögernd von Hector.

Pascoe wünschte sich, Hectors Zögern demonstriere einen gewissen Argwohn gegenüber den Absichten des Dicken, er wusste aber aus Erfahrung, dass dies nur die natürliche Reaktion des Constable auf jegliche Form der Ansprache war, von »Hallo« bis zu »Hilfe! Ich ertrinke!«. Man mochte ihn noch so sehr vorglühen lassen, Hectors gewaltiger Denkapparat legte immer einen Kaltstart hin, selbst wenn wie jetzt sein unbedeckter Kopf augenscheinlich äußerst erhitzt war. Einige Wochen zuvor war er mit einem derart kahlrasierten Schädel aufgetaucht, dass Bruce Willis dagegen wie Esau aussah, was Dalziel zu der Bemerkung veranlasst hatte: »Ich hab immer gedacht, du bringst mich noch mal ins Grab, Hec, aber das ist noch lange kein Grund, wie der Knochenmann höchstpersönlich rumzulaufen!«

Jetzt betrachtete er den glatten weißen, mit Schweiß lackierten Schädel, den die strahlende Sonne blankwedelte, schüttelte traurig den Kopf und sagte: »Bursche, Folgendes will ich dir auftragen. Ich verschmachte noch, wenn ich weiter hier rumhänge. Du kennst Pat’s Pantry am Station Square? Der, der nie zuhat? Spring kurz rüber und hol mir zwei Hammelpasteten und eine Mandelschnitte. Und eine Cremetarte für Mr. Pascoe. Sein Lieblingsteilchen. Kannst du dir das alles merken?«

»Ja, Sir«, sagte Hector, machte aber keinerlei Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.

»Worauf wartest du noch?«, fragte Dalziel. »Ach so, das Geld, darum geht’s? Gibt es denn gar kein Vertrauen mehr? Gut, Mr. Pascoe wird zahlen. Ich kann nicht jedes Mal was springen lassen.«

Jedes zehnte Mal wäre schon nett, dachte sich Pascoe, als er Hector zwei Ein-Pfund-Münzen auf die verschwitzte Handfläche klatschte, wo sie wie die Augen eines Toten liegen blieben.

»Wenn’s nicht reicht, wird Mr. Dalziel den Rest drauflegen«, sagte er.

»Ja, Sir … aber was ist mit … ihm?«, murmelte Hector, während er einen schnellen Blick zur Hausnummer 3 warf.

Der arme Scheißer hat Angst, erschossen zu werden, dachte sich Pascoe.

»Er?«, sagte Dalziel. »Das liebe ich an dir, Hector. Denkst immer auch an die anderen.«

Erneut erhob er sich mit dem Megaphon.

»Du da im Haus. Wir schicken jemanden zu Pat’s Pantry, um was zum Futtern zu holen, und mein Bursche möchte wissen, ob du auch was willst. Eine Pastete vielleicht? Sie haben auch große Eccles-Cakes.«

Er hielt inne, lauschte, dann setzte er sich wieder.

»Glaub nicht, dass er was will. Aber ein netter Gedanke. Muss man dir zugutehalten. Ich werd’s mir merken.«

»Nein, Sir«, sagte Hector. Die Angst verlieh ihm Mut. »Ich meine, wenn er sieht, dass ich mich bewege, dann fühlt er sich vielleicht bedroht …«

»Wie? Ach, jetzt versteh ich. Dann schießt er vielleicht auf dich. Wenn er sich bedroht fühlt.«

Gedankenverloren kratzte sich Dalziel die Nase. Pascoe vermied es, ihm in die Augen zu schauen.

»Das Beste«, sagte der Dicke schließlich, »wäre es, wenn du nicht bedrohlich aussiehst. Halt dich einfach gerade, Brust raus, Schultern zurück, und marschier hübsch langsam, als hättest du ein festes Ziel vor Augen. Und wenn der Kerl dann trotzdem auf dich schießt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Kugel sauber durch dich durchgeht und kaum Schaden anrichtet. So, los jetzt.«

Bis zu diesem Zeitpunkt war Pascoe überzeugt, der blinde Gehorsam gegenüber wahnsinnigen Befehlen, der das schreckliche Abschlachten im Ersten Weltkrieg ermöglicht hatte, sei mit den Millionen Toten damals dahingeschieden. Aber als er jetzt Hector sah, der langsam durch die Straße ging, als watete er durch Wasser, hatte er so seine Zweifel.

Erst als Hector außer Sichtweite war, lehnte er sich entspannt an den Wagen und sagte: »Okay, Sir. Entweder sagst du mir jetzt, was genau hier los ist, oder ich verzieh mich wieder in meine Hängematte.«

»Du meinst, du willst Hectors Geschichte hören? Warum nicht? Es war einmal …«

 

Hector ist in der modernen Polizei eine Rarität, ein Streifenbeamter, der permanent zu Fuß unterwegs ist und damit in einer Zeit, in der besorgte Gemeinden die Rückkehr des guten alten Bobby einfordern, der Statistik nützliche Dienste erweist. Denn in Wahrheit, ob hinter dem Steuer oder als ein den Fahrer unweigerlich ablenkender Beifahrer, stellt ein motorisierter Hector eine tödliche Gefahr dar. Auf einem Fahrrad erreicht er zwar nie die Geschwindigkeit, die ihn zu einer Gefahr werden lassen könnte, seine Ähnlichkeit mit einer betrunkenen Giraffe allerdings trägt zwar viel zur Heiterkeit in Mid-Yorkshire, aber wenig zum Ansehen der Polizei bei.

Also trottet Hector; und als er an jenem Tag durch die Mill Street trottete, hörte er, während er Hausnummer 3 passierte, ein Geräusch. »Wie ein Husten«, sagte er. »Oder wie ein morscher Stecken, der bricht. Oder wie ein Tennisball, der von einer Wand abprallt. Oder wie ein Schuss.«

Das Höchste an Präzision, die Hector je erreicht, sind Multiple-Choice-Antworten.

Er probierte die Tür. Sie ließ sich öffnen. Er trat in den kühlen Schatten eines Videoladens. Hinter dem Ladentisch sah er zwei Männer. Um deren Beschreibung gebeten, dachte er eine Weile lang nach, bevor er antwortete, dass es schwer gewesen sei, überhaupt etwas klar zu erkennen, schließlich sei er vom hellen Sonnenlicht ins Dunkel gekommen, dennoch sei er der ziemlich festen Meinung, einer der Männer sei »so ein irgendwie Schwarzer« gewesen.

Der politisch korrekte Zeitgenosse mochte darin eine rassistische Gesinnung heraushören und Hectors Untauglichkeit für seine Arbeit ableiten. Für jene aber, die seine Beschreibung eines Ladendiebs gehört hatten, der sich zur Weihnachtszeit als Nikolaus verkleidet hatte – »ein kleiner Typ, ich glaube mit Vollbart« –, musste »so ein irgendwie Schwarzer« nahezu eidetisch anmuten.

Der Zweite im Laden (»irgendwie komisch, aber wahrscheinlich nicht so ein Schwarzer«, lautete in dem Fall Hectors bester Versuch) schien etwas in der rechten Hand gehalten zu haben, was vielleicht eine Waffe gewesen sein könnte. Aber es war schwer, sich dessen sicher zu sein, da er ja im tiefsten Schatten stand, während der andere die Hände hinter dem Ladentisch nach unten und außer Sichtweite brachte, als er Hector sah.

Da Hector das Gefühl hatte, die Situation müsse geklärt werden, sagte er: »Alles in Ordnung?«

Es folgte eine kurze Pause, in der sich die beiden im Laden ansahen.

Dann erwiderte der so irgendwie Schwarze: »Ja, alles in Ordnung.«

Und Hector beendete den erhellenden Wortwechsel, indem er mit einer fast schon schönen Knappheit und Symmetrie sagte: »Alles in Ordnung.«

Und ging.

Daraufhin quälte ihn ein philosophisches Problem. Hatte es nun einen Vorfall gegeben, den er melden sollte? Es braucht keine Ewigkeit, um Hector von seinen Gedankengängen fortzulocken; der Zeitraum zwischen jetzt und der Teatime reicht dazu vollends. So war er, als er zur gegenüberliegenden Straßenseite wechselte, mehr als blind für seine Umgebung, was zur Folge hatte, dass er von einem vorbeikommenden Streifenwagen beinahe überfahren worden wäre. Der Fahrer, PC Joker Jennison, legte eine Vollbremsung hin und beugte sich aus dem offenen Fenster, um seinen Zweifeln an Hectors geistiger Gesundheit Ausdruck zu verleihen.

Hector hörte höflich zu – schließlich hatte er das alles schon zur Genüge vernommen – und lud dann, als Jennison kurz innehielt, um Atem zu schöpfen, sein Problem auf den sehr breiten Schultern des Constable ab.

Jennisons erster Gedanke war, dass eine Geschichte wie diese aus solcher Quelle mit ziemlicher Sicherheit ziemlicher Stuss sei. Außerdem waren es nur noch fünf Minuten bis zum Ende seiner Schicht, was auch der Grund gewesen war, überhaupt mit erhöhter Geschwindigkeit durch die Mill Street gefahren zu sein.

»Am besten, du erstattest Meldung«, sagte er. »Aber warte, bis wir außer Sichtweite sind.«

»Ich glaube, mein Akku ist leer«, sagte Hector.

»Was du nicht sagst«, antwortete Jennison und ließ den Motor an.

Unglücklicherweise stammte sein Partner, PC Alan Maycock, aus Hebden Bridge, das nahe genug an der Grenze zu Lancaster liegt, damit die Einheimischen dort nach den Maßstäben von Mid-Yorkshire in jeder Hinsicht als ein wenig verweichlicht und bekloppt galten. Hectors Notlage stimmte ihn milde.

»Ich stell dich auf unserem Funkgerät durch«, sagte er.

Und als Jennison ihm einen harten Schlag in die Magengrube verpasste, murmelte er: »Na, dauert doch nicht länger als eine Minute, und wenn sie hören, dass es Hec ist, werden sich alle anpinkeln vor Lachen.«

Als Polizist hätte er wissen müssen, dass der Lohn der Tugend sich sparsam und mit großer Verzögerung einstellt. Wer auf schnellen Profit aus ist, sollte sich für das Laster entscheiden.

Statt des erwarteten Constable nahm in der Zentrale der diensthabende Inspector Paddy Ireland den Anruf entgegen. Sobald er hörte, dass es sich um Mill Street 3 handelte, gab er den Befehl aus, mit dem Wagen an Ort und Stelle zu verbleiben und weitere Anweisungen abzuwarten.

 

»Und dann fällt der Typ über mich her, als hätte er gerade die ersten Bomben auf Pearl Harbour niedergehen sehen«, schloss Dalziel seinen Bericht. »Was mich ein wenig in Fahrt brachte, bis er Hector erwähnte. Das hat die Sache doch sehr entschärft! Und als er sagte, er habe die Meldung bereits weitergeleitet, hätte ich ihm am liebsten den Hals umgedreht!«

»Und dann …?«, wollte Pascoe wissen.

»Hab ich meine Pastete zu Ende gegessen. Paar Minuten später klingelt das Telefon. So ein Dampfplauderer von der CAT. Ich versuche ihm zu erklären, dass das wahrscheinlich alles ein Irrtum sei, aber der sagt, schon möglich, aber das soll ich doch lieber die Experten entscheiden lassen. Ich sage, sind das vielleicht die gleichen Experten, die so viele Steuergelder verschwendet haben, als sie die Carradice-Gang hochgehen ließen?«

Pascoe, der Diplomat, stöhnte.

 

Ein halbes Jahr zuvor hatte die CAT einen großen Erfolg für sich reklamiert, nachdem sie in Nottingham fünfzehn Terrorverdächtige verhaftet hatte, denen vorgeworfen wurde, die örtliche Trinkwasserversorgung mit Rizin vergiften zu wollen. Seitdem war die Staatsanwaltschaft allerdings gezwungen gewesen, die Anklagen gegen die einzelnen Verdächtigen der Reihe nach fallenzulassen, bis, als das Verfahren endlich eröffnet wurde, von der Gruppe nur noch der mutmaßliche Rädelsführer, Michael Carradice, übrig geblieben war. Pascoe hatte seine eigenen, privaten Gründe, warum er hoffte, auch das Verfahren gegen ihn würde eingestellt werden – eine Hoffnung, die von den zugunsten der CAT abgegebenen Aussagen des Innenministeriums genährt wurden, die zunehmend gereizt und defensiv klangen.

 

»Was ist los mit dir? Plagen dich die Winde?«, sagte Dalziel als Reaktion auf Pascoes Stöhnen. »Na, jedenfalls, der Trottel meint noch, wichtig sei es, sich versteckt zu halten, damit die drinnen nicht alarmiert werden, außer Sichtweite Straßensperren zu errichten und die Beobachtung aufrechtzuerhalten, bis ihr Typ auftaucht, um die Lage abzuschätzen. Warum mahlst du so mit den Zähnen?«

»Vielleicht, weil ich nicht die geringste Spur von Straßensperren sehe, nur Maycock, der an einem Ende der Straße eine Kippe raucht, Jennison, der sich am anderen an den Eiern kratzt. Außerdem kauere ich hinter deinem Wagen gleich neben dem Streifenwagen, genau gegenüber der Nummer drei.«

»Wer braucht schon Straßensperren, wenn er zwei Dickwanste wie Maycock und Jennison hat? Und warum die Wagen wegfahren, wenn jeder dort drin sowieso weiß, dass wir hier sind? Egal, du und ich, wir wissen schließlich, dass das alles höchstwahrscheinlich nichts weiter als ein typischer Hector-Unfug ist.«

Er schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf.

»In dem Fall«, sagte Pascoe, des Geplänkels zunehmend überdrüssig, »musst du doch nur rüberschlendern und nachschauen, ob alles in Ordnung ist, dann für den CAT-Typen einen Zettel an die Ladentür heften, auf dem du ihm mitteilst, dass du alles geregelt hast und ob er nicht auf eine Tasse Tee in die Dienststelle kommen möchte. In der Zwischenzeit …«

Er wollte seiner ironischen Aufzählung noch anfügen, dass er sich dann verabschieden könne, um nach Hause zu seiner Hängematte zurückzukehren, als der Dicke sich auf die Beine mühte.

»Du hast vollkommen recht«, sagte er. »Du fummelst immer gern ein bisschen rum, aber letztendlich schiebst du deinen weißen Stecken immer genau in die richtige Stelle, wie die Schauspielerin dem kurzsichtigen Kabinettsminister sagte. Zeit zum Handeln. Man wird sich totlachen über uns, wenn herauskommt, dass wir wegen Hector den Feiertag auf allen vieren verbracht haben. Außerdem, wo bleibt der Kerl nur mit meinen Hammelpasteten? Wir müssen verrückt gewesen sein, ihm unser Geld anzuvertrauen.«

»Mein Geld«, korrigierte Pascoe. »Und du hast mich missverstanden, ich habe nicht vorgeschlagen, dass wir wirklich was unternehmen …«

»Nein, Bursche. Spar dir deine Bescheidenheit«, sagte Dalziel, der sich mittlerweile erhoben hatte. »Wenn du schon mal eine gute Idee hast, dann gib ruhig damit an.«

»Sir«, sagte Pascoe. »Ist das klug? Ich weiß, Hector ist nicht unbedingt vertrauenswürdig, aber er erkennt eine Waffe, wenn er eine sieht …«

Als Plädoyer für mehr Vorsicht erwies sich diese Aussage als kontraproduktiv.

»Lass den Blödsinn«, lachte Dalziel. »Wir reden von jemandem, der sich nicht an die eigene Nase greifen kann, wenn man ihm nicht ein Kreuz draufmalt und einen Spiegel vors Gesicht hält. Wenn er was gehört hat, dann wahrscheinlich seinen eigenen Furz, und der Typ drinnen hat wahrscheinlich einen Kebab in der Hand gehalten. Komm schon, Pete. Regeln wir die Sache, und dann kannst du mich auf ein Pint einladen.«

Er staubte seinen Anzug ab, richtete die Krawatte und machte sich auf den Weg über die Straße mit den selbstsicheren Schritten eines Mannes, der mit Königen einherschreiten, mit Präsidenten parlieren, mit Philosophen diskutieren, mit Propheten weissagen konnte und nicht im Geringsten daran zweifelte, dass er recht hatte.

Kaum etwas in ihrer langen Beziehung hatte Pascoe wirklich einen Grund gegeben, diese Mutmaßung in Frage zu stellen, doch als er sich erhob und in den Fußstapfen seines großen Meisters diesem nachfolgte, kam ihm interessanterweise der Gedanke, dass es für alles ein erstes Mal geben müsse, und wie ironisch es doch sei, wenn Ellies weiches Herz ihn dazu veranlasst hätte, an Ort und Stelle zu sein, wenn der Mythos von Dalziels Unfehlbarkeit in die Luft gesprengt würde …

 

Genau in diesem Augenblick, als hätte sein Geist telekinetische Fähigkeiten erworben, explodierte die Mill Street.

3

Fingerzeige

Ellie Pascoe schlief in der von ihrem Gatten so widerstrebend geräumten Hängematte, als sich die Explosion ereignete.

Das Haus der Pascoes in den nördlichen Vororten lag von der Mill Street so weit entfernt, dass hier nur der leiseste Hauch des Knalls zu hören war. Was Ellie aufwachen ließ, war das anhaltende Gebelfer des Mischlingsterriers ihrer Tochter.

»Was ist mit Tig los?«, fragte Ellie gähnend.

»Weiß nicht«, sagte Rosie. »Wir haben mit dem Ball gespielt, und auf einmal hat er angefangen.«

Ein plötzlicher Verdacht bewegte Ellie dazu, eingehend den hohen Apfelbaum im nachbarlichen Garten ins Auge zu fassen. Die Pubertät beschenkte den Nachbarssohn mit ihren groben Veränderungen, und erst kürzlich, als sie von der sommerlichen Hitze in ihrem Bikini ins Freie gelockt worden war, hatte sie ihn einige Male dabei ertappt, wie er im Laub auf sie herabgestarrt hatte. Aber von ihm war nichts zu sehen, außerdem zeigte Tigs Nase nach Süden in Richtung Stadtzentrum. Als sie seinem starren Blick folgte, entdeckte sie weit entfernt eine dünne Rauchwolke, die das vollkommene Blau des Sommerhimmels beschmutzte.

Wer konnte an einem Tag wie diesem nur ein Feuer entzünden?

Tig bellte immer noch.

»Kannst du ihn nicht zum Schweigen bringen?«, blaffte Ellie.

Ihre Tochter sah sie überrascht an, nahm sich dann von einem Teller einen Keks und warf ihn über den Rasen. Tig stieß ein Abschiedskläffen aus und machte sich mit der selbstzufriedenen Miene dessen, der seine Pflicht erfüllt hatte, auf die Suche nach der Belohnung.

Ellie hatte ein schlechtes Gewissen, ihre Tochter angeschnauzt zu haben. Ihre Reizbarkeit hatte nichts mit dem Hund zu tun, etwas anderes musste dahinterstecken.

Sie rollte sich aus der Hängematte. »Mir ist zu heiß«, sagte sie. »Ich werde mich unter der Dusche abkühlen. Du kommst allein zurecht?«

Rosie warf ihr einen Blick zu, der ihr zu verstehen gab, dass sie ihr bislang sowieso kaum Gesellschaft geleistet hatte, was sollte daran nun also anders sein?

Ellie ging ins Haus, stellte die Dusche an und trat darunter.

Das kühle Wasser wusch den Schweiß fort, hatte sonst aber keinen Einfluss auf ihr Gefühl der Unruhe.

Noch immer nichts Bestimmtes. Oder nichts, was sie näher bestimmen wollte. Zwecklos, darüber nachzudenken. Zwecklos deshalb, weil sie dann vielleicht zu dem albernen Schluss gelangt wäre, dass sie – das war nämlich der wahre Grund für ihre Dusche – keinen Bikini tragen wollte, wenn schlechte Neuigkeiten eintrafen …

 

Amanda Marvell, Andy Dalziels Lebensgefährtin und von ihren Freunden nur Cap genannt, war zu dem Zeitpunkt, als die Mill Street in die Luft flog, noch weiter entfernt.

Da ihr Mann Dienst hatte, war sie den Volksmassen auf deren traditionellen Zug zur Küste gefolgt, allerdings nicht, um sich dort am Strand durchbraten zu lassen, sondern um die Kranken zu besuchen.

Die Kranken waren in diesem Fall ihre alte Schulleiterin, Freifrau Kitty Bagnold, die fast vierzig Jahre lang über die berühmte St. Dorothy’s Academy for Catholic Girls bei Bakewell in Derbyshire geherrscht hatte. Cap Marvell hatte ihre Lebensentscheidungen getroffen, die allem widersprachen, wofür St. Dot’s stand. Insbesondere war sie aus ihrer Kirche ausgetreten, hatte sich scheiden lassen und sich für verschiedene Tierrechtsgruppen engagiert, deren Aktivitäten hart am Rand der Legalität waren.

Trotz allem aber waren sie und die Freifrau Kitty immer in Verbindung geblieben, bis sie zu ihrer eigenen Überraschung feststellen mussten, dass sie Freundinnen geworden waren. Nicht dass diese Freundschaft Cap, dem eigenen Gefühl nach, erlaubt hätte, ihre ehemalige Schulleiterin mit deren altem Spitznamen Kitbag anzusprechen, und auch die Freifrau hätte sich eher zu einem gotteslästerlichen Fluch hinreißen lassen, als ihre Ex-Schülerin anders zu nennen als Amanda.

Lange und überaus aktiv verbrachte Pensionsjahre hatten die Freifrau Kitty entkräftet, bis ihre angegriffene Gesundheit sie schließlich dazu zwang, sich in das Unvermeidliche zu fügen: Zwei Jahre zuvor war sie in ein privates Pflegeheim umgesiedelt, das zum Avalon-Klinik-Komplex in Sandytown an der Küste von Yorkshire gehörte.

In ihren besten Momenten war die Freifrau so aufgeweckt und scharfsinnig wie eh und je, aber sie ermüdete schnell, weshalb sich Cap daran gewöhnt hatte, auf die ersten Anzeichen von Erschöpfung zu achten, damit sie ihren Besuch beenden konnte, ohne als Grund dafür den Zustand ihrer Freundin angeben zu müssen.

Diesmal aber war es die ältere Frau, die sagte: »Stimmt etwas nicht, Amanda?«

»Was?«

»Sie scheinen in Gedanken ganz woanders zu sein. Vielleicht sollten Sie sich in diesen lächerlichen Rollstuhl setzen, während ich reingehe und noch etwas Tee bestelle.«

»Nein, nein, alles bestens. Tut mir leid. Wo waren wir stehengeblieben …?«

»Wir haben über die Vorzüge der in Teilen doch sehr rudimentären Bildungspolitik der Regierung gesprochen, eine Diskussion, die ich Ihrem plötzlichen Schweigen zufolge für mich entschieden haben dürfte. Aber ich fürchte, ich schulde meinen Sieg eher Ihrer Ablenkung als meiner Argumentation. Sind Sie sich sicher, dass alles in Ordnung ist? Keine Probleme mit Ihrem Polizisten, den ich eines Tages hoffentlich kennenlernen werde?«

»Nein, alles wunderbar, wirklich …«

Plötzlich zog Cap Marvell ihr Handy heraus.

»Entschuldigung, was dagegen?«

Bevor Kitty darauf antworten konnte, hatte sie bereits die eingespeicherte Nummer gewählt.

Es klingelte zweimal, darauf kam die Einladung, eine Nachricht zu hinterlassen.

Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, schloss ihn, beendete die Verbindung und stand auf.

»Tut mir leid, Kitty, ich muss los. Bevor die Massen vom Strand aufbrechen …«

Dieser Versuch einer rationalen Erklärung führte nur zum gleichen traurigen Seufzen und leichten Augenverdrehen, mit dem einst am St. Dot’s die lahmen Entschuldigungen für schlechtes Betragen bedacht worden waren.

»Gut, das ist nicht der Grund. Tut mir leid, ich weiß nicht, warum«, sagte Cap. »Aber ich muss wirklich los.«

»Dann gehen Sie, meine Liebe. Und möge Gott mit Ihnen sein.«

Diese traditionellen Abschiedsworte hätte Cap normalerweise mit einer dem Leidensausdruck ihrer ehemaligen Schulleiterin entsprechenden Miene quittiert, diesmal aber nickte sie nur, beugte sich vor, um ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange zu drücken, und eilte daraufhin über den Rasen zum Parkplatz.

Die Freifrau sah ihr nach, bis sie außer Sichtweite war. Probleme standen an. Trotz der strahlenden Sonne und des wolkenlosen Himmels spürte sie sie in der Luft liegen.

Sie erhob sich aus dem Rollstuhl, den sie auf Verlangen des Personals bei ihren Exkursionen in den Garten benutzen sollte, verpasste ihm einen Schlag mit dem Stock und begab sich auf ihren langsamen Weg zurück zum Haus.

4

Schutt und Asche

Dalziel, reimte sich Peter Pascoe später zusammen, hatte ihm wahrscheinlich zweimal das Leben gerettet.

Der Wagen des Dicken, hinter dem sie Deckung gesucht hatten, war in die Luft geschleudert und umgedreht auf dem Bürgersteig wieder abgesetzt worden.

Hätte er nicht dem Befehl des Dicken gehorcht, ihm zu folgen, wäre er daruntergelegen.

Und hätte er sich nicht im Lee des korpulenten Körpers aufgehalten, als es zur Explosion kam …

Jetzt aber, als ein geringfügiges Maß an Bewusstsein wieder in sein Gehirn sickerte, fühlte er sich, als wäre jedes Körperteil ordentlich durchgewalkt worden. Er versuchte aufzustehen, musste aber feststellen, dass er nur auf alle viere kam, zu mehr reichte es nicht.

In der Luft hing Staub und Rauch. Wie ein Vorstehhund, der auf der Suche nach dem erlegten Vogel seines Herrchen durch den Nebel äugte, spähte er angestrengt durch die wirbelnden Dunst- und Staubschleier. Ein amorpher orange-roter Bereich mit einem scheinbar festen Sockel verschaffte ihm so etwas wie eine Perspektive. Davor, gekennzeichnet durch seine Reglosigkeit in der sich bewegenden Luft, konnte er einen verschwommenen, undefinierbaren Haufen ausmachen, ähnlich einem Erdhügel, der neben einem Grab aufgeschüttet worden war.

Er kroch darauf zu, nach einigen Metern gelang es ihm dann tatsächlich, sich mit den Händen vom Boden zu lösen und eine halb aufrechte, geduckte Haltung einzunehmen. Die sich schlängelnde, wabernde Farbe, wurde ihm jetzt bewusst, war Feuer. Er spürte die Hitze, die ganz anders war als die sanfte Wärme der Sonne, die er nur eine Stunde zuvor in der grünen Abgeschiedenheit seines Gartens genossen hatte. Der kleine Bereich seines Gehirns, der noch Verbindung mit der Normalität hatte, legte ihm nahe, Ellie anzurufen und ihr zu sagen, dass es ihm gutgehe, bevor die lokalen Radiosender die verstümmelte Version der Ereignisse brachten.

Wobei er sich nicht sicher war, wie gut es ihm wirklich ging. Jedenfalls sehr viel besser als diesem reglosen, undefinierbaren Haufen, dem er mittlerweile nahe genug gekommen war, um ihn zur Gänze als Andy Dalziel identifizieren zu können.

Er war auf die linke Seite gefallen, Arme und Beine waren ausgestreckt wie die mit Kapok gefüllten Glieder eines riesigen, von einem verzogenen Kind weggeworfenen Teddybären. Sein Gesicht war von Glas- und Backsteinsplittern zerschnetzelt, der feine graue Staub, der an den blutenden Wunden haftete, ließ ihn aussehen, als trüge er eine Kabuki-Maske.

Keinerlei Lebenszeichen. Aber nicht eine Sekunde lang gestand sich Pascoe die Möglichkeit ein, er könnte tot sein. Dalziel war unzerstörbar. Dalziel ist, war und wird immer sein, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen. Jeder wusste das. Darin lag ein Großteil seiner Macht. Chief Constables mochten kommen, und Chief Constables mochten gehen, der dicke Andy war für immer da.

Er rollte ihn auf den Rücken. Das war nicht leicht, aber er schaffte es. Er wischte ihm den Staub von Mund und Nase. Der Dicke atmete nicht, definitiv nicht. Er fühlte den Puls an der Halsschlagader und glaubte ein Flattern zu spüren, seine tauben Finger und Dalziels monolithischer Hals allerdings ließen ihn im Zweifel. Er öffnete ihm den Mund und sah, dass er voll war mit Trümmern. Sorgfältig räumte er ihn aus und entdeckte dabei, dass Dalziel eine Zahnprothese trug. Diese steckte er sich vorsichtig in die Tasche. Er vergewisserte sich, dass Dalziel seine Zunge nicht verschluckt hatte. Dann reinigte er die Nase, knöpfte den Hemdkragen auf und legte das Ohr auf den mächtigen Brustkorb.

Keine Regung, kein Geräusch.

Er legte die Hände übereinander, setzte sie auf der Brust auf und presste hart dagegen, fünfmal, während er dazwischen ein zweites Intervall abzählte.

Mit der rechten Hand hielt er daraufhin Dalziels Kinn umfasst und streckte ihm den Kopf nach hinten, so dass sich der Mund weit öffnete. Mit Daumen und Zeigefinger der Linken drückte er die Nase zu. Atmete dann tief ein, dachte sich, er werde nie hören, wann es unten ankommt, presste seinen Mund auf die mächtigen Lippen und blies.

Fünfmal tat er dies. Dann wiederholte er die Herzmassage und ging das gesamte Prozedere erneut durch. Und noch einmal.

Wieder fühlte er den Puls. Diesmal war er überzeugt, etwas zu spüren. Und als er das nächste Mal in den Mund blies, begann der Brustkorb sich von allein zu heben und zu senken.

Jetzt machte er sich daran, Dalziel in die stabile Seitenlage zu bringen. Eine beängstigende Aufgabe, die einen Bauarbeiter mit einem Flaschenzug erfordert hätte, aber es gelang ihm schließlich. Erschöpft sank er zurück.

All dies schien Stunden zu beanspruchen, musste aber nur wenige Minuten gedauert haben. Vage war er sich der Gestalten bewusst, die sich durch das Miasma bewegten. Vermutlich gab es auch Geräusche, die zunächst allerdings vom weißen Rauschen, das nach der Explosion seinen Gehörgang füllte, einfach verschluckt wurden. Eine weitere Stunde verstrich. Oder ein paar Sekunden. Er spürte, wie etwas seine Schulter berührte. Es tat weh. Er sah auf. PC Maycock stand über ihm und bewegte wie ein Fisch in einem Glastank den Mund. Er versuchte ihm von den Lippen abzulesen und verstand »Alles in Ordnung?«, was die Mühe kaum wert war. Er deutete auf Dalziel und sagte »Holen Sie Hilfe«, ohne die Gewissheit zu haben, dass er die Worte auch herausgebracht hatte. Maycock wollte ihm auf die Beine helfen, aber er schüttelte den Kopf und deutete wieder auf den Dicken. Er fuhr sich mit dem kleinen Finger in die Ohren und schälte die Trümmer heraus, die sich dort eingenistet zu haben schienen. Das oder einfach nur die Zeit, die verstrich, schien es ein wenig besser zu machen. Er hörte nun einen höheren Ton, den er versuchsweise als sich nähernde Sirenen einordnete.

Die Zeit führte noch immer ihren Quickstep auf. Langsam, langsam, schnell, schnell, langsam. In den langsamen Abschnitten hatte er das Gefühl, er habe nie etwas anderes getan, als hier im Nachexplosionssmog zu sitzen und über den dicken Andy zu wachen, und er würde auch nie etwas anderes tun. Dann schloss er für den Bruchteil einer Sekunde die Augen, und als er sie wieder aufschlug, hatte sich der Smog ein wenig gelichtet, und Sanitäter standen über Dalziels Körper gebeugt, und Feuerwehrleute machten sich vor der in Schutt und Asche gelegten Häuserzeile an ihre Arbeit.

Wo Nummer 3 gewesen war, gab es nur noch eine von Flammen gefüllte Lücke, fast wie der Eingang zur Hölle in einer Moralität. Die minderwertigen Baumaterialien der viktorianischen Unternehmer hatten der Explosion wenig Widerstand entgegenzusetzen. Wahrscheinlich handelte es sich hierbei um eines der Ereignisse, bei denen sich das Schlechte letztendlich als das Gute herausstellte und aus dessen bereits Jahrzehnte zuvor angelegter Bestimmung sich ein Zeugnis für Gottes rätselhafte Wege ableiten ließe. Wären die Mauern der Hausnummer 3 von ebenso solider Festigkeit gewesen wie der Bahndamm, an dem die Häuser sich abstützten, hätte sich die Detonation mit aller Wucht direkt nach vorne erstreckt. So aber waren die Hausnummern 2 und 4 vollständig eingestürzt, und die übrige Häuserzeile sah ernstlich in Mitleidenschaft gezogen aus.

Man brachte alles Mögliche am Dicken an, aber nicht, soweit Pascoe sehen konnte, einen Kran. Sie würden einen Kran brauchen. Und eine Schlinge. Schließlich versorgten sie hier einen gestrandeten Wal, und es bedurfte schon mehr als der kümmerlichen Anstrengungen eines halben Dutzends Männer, um ihn ins lebenserhaltende Meer zurückzuschaffen. Das wollte er sagen, aber er brachte die Worte nicht heraus. Spielte keine Rolle. Seine Voraussage stellte sich als falsch heraus. Irgendwie gelang es diesen Supermännern, Dalziel auf eine Trage zu schaffen. Erleichtert schloss Pascoe die Augen. Als er sie wieder öffnete, war sein Blick in den Himmel gerichtet, und er bewegte sich. Eine Sekunde lang glaubte er, er sei wieder auf seiner Hängematte im Garten. Dann wurde ihm bewusst, dass auch er sich auf einer Trage befand.

Er hob den Kopf und wollte dagegen protestieren; es sei doch unnötig. Die Anstrengung machte ihm klar, dass es wahrscheinlich doch nötig sei. Vor sich konnte er den Krankenwagen erkennen. Daneben stand eine nur allzu vertraute Gestalt.

Hector, der Verursacher all ihres Leids; seine Miene verständnisloser Bestürzung war der Traum jedes Karikaturisten.

Während die Sanitäter die Trage in den Wagen schoben, streckte er beide Arme nach Pascoe aus. In den Händen hielt er zwei Papiertüten, teilweise geöffnet, so dass die beiden Hammelpasteten und eine Mandelschnitte zu sehen waren.

»Tut mir leid, Sir, aber Cremetarte gab es nicht mehr …«, stotterte er.

»Ist nicht mein Glückstag«, murmelte Peter Pascoe. »Nicht mein Glückstag.«

5

Die beiden Geoffroys

André de Montbard, Tempelritter und rechte Hand von Hugues de Payens, dem Großmeister des Ordens, angelte im trüben Kanal am entfernten Ende von Charter Parker. Er saß auf einem Leinwandhocker, den Rücken an eine Platane gelehnt, die Rute vor sich auf einer Gabel, die aus einem Drahtkleiderbügel zurechtgebogen worden war. Die Sonne war hinter den Lagerhäusern am gegenüberliegenden Ufer verschwunden, aber die Luft war noch warm und der Himmel noch blau, auch wenn sich das Azur des Nachmittags mittlerweile zu einem Indigo verdunkelte. Sein Schwimmer hüpfte im Fahrwasser eines vorüberfahrenden Hausbootes, dessen Steuermann ihm halb entschuldigend zuwinkte.

Ein Mann, der seinen Hund ausführte, blieb stehen und fragte: »Beißt was an?«

»Ich glaub, ich hab eine Mücke gespürt.«

»Ach? Noch eine halbe Stunde, und man braucht eine Maske. Adios.«

»Adios.«

Der Mann entfernte sich und kam an den beiden Geoffroys vorbei, die den Treidelpfad entlangschlenderten. Geoffroy O. bückte sich und streichelte den Hund, Geoffroy B. schien nicht zum Plaudern aufgelegt zu sein. Neben ihrem gemeinsamen Namen trugen sie beide schwarze Hosen, Turnschuhe und T-Shirts. Damit aber hatte es sich mit den Gemeinsamkeiten, dachte sich André. Verwandte der eher sonderbaren Sorte. Seelenklempner hätten einen Mordsspaß an ihnen. Diese nutzlosen Arschlöcher. Wie nennt man einen Seelenklempner, der auf eine Landmine tritt? Einen Schritt in die richtige Richtung. Er selbst war immer jemand gewesen, dem es auf die Wirkung ankam, Scheiß auf die Ursachen. Und die Wirkung hier zielte darauf ab, sie reif für die Ritterschaft zu machen.

Leistung war eine andere Sache. Sobald er gehört hatte, es sei ein bisschen schiefgelaufen, hatte er vorherzusehen versucht, wie sie darauf reagieren würden.

Seine Mutmaßung: Geoff B., das kopflose Huhn, Geoff O., der grausame Wolf.

Er wusste, dass er damit richtiglag, noch bevor Geoff B. den Mund aufmachte.

Als sie bei ihm anlangten, blieben sie stehen, als wollten sie ihn fragen, ob die Fische anbissen. Zumindest Geoff O. vermittelte, freundlich lächelnd, diesen Eindruck. Geoff B. brachte kein Lächeln zustande. Er legte den kleinen Rucksack ab, den er über die Schulter geschlungen hatte, und warf ihn neben den leeren Korb für den Fang. Dabei schob er sein Gesicht ganz nah an das von André und zischte vor kaum verhohlener Wut: »Was zum Teufel soll das alles? Eine Kommunikationsstelle, hieß es, ein bisschen Ausrüstung vielleicht, aber kein verdammtes Sprengstofflager.«

André sah ihn unverwandt an, bis er sich aufrichtete.

Dann sagte er: »Schlechte Aufklärung. Kommt vor. Hugues entschuldigt sich. Aber sehen Sie das Positive. Es gab einen ziemlich großen Knall.«

»Großer Gott!«, rief Geoff B. aus. »Zwei Polizisten liegen im Krankenhaus. Einer im kritischen Zustand, heißt es in den Nachrichten.«

André zuckte mit den Achseln. »Meinen Infos zufolge sollten die Trottel sich das von der Seitenlinie aus ansehen. Hätten sie die Anweisungen befolgt und sich ferngehalten …«

»Soll es mir deswegen bessergehen? Wenn einer von ihnen stirbt, bin ich raus, verstanden?«

Junge, du bist sowieso raus, dachte sich André. Ein Einsatz, und aus. Zurück zur Einheit.

Geoff O. ergriff das Wort, bevor er etwas erwidern konnte.

»Gehört der Polizist, der in den Laden kam, zu den Verletzten?«

Um Andrés Mundwinkel zuckte ein anerkennendes Lächeln. Ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Erste Regel bei Kampfeinsätzen: Mit Kollateralschäden ist zu rechnen. Wer das nicht akzeptieren konnte, sollte gleich zu Hause bleiben.

»Wäre die sauberste Lösung gewesen«, sagte er, »aber, nein, er gehört nicht dazu. Scheint aber, als konnte er keine besonders gute Beschreibung abliefern, ich denke mir also, wir müssen uns um ihn keine allzu großen Sorgen machen.«

»Um Himmels willen!«, rief Geoff B. aus, entschlossen, weiter den Wütenden zu spielen. »Ist das alles, was Sie interessiert? Ob es einen Zeugen gibt?«

André sah ihn kalt an.

»Vielleicht würde es Sie interessieren, wenn Sie es wären, den er erkannt hat.«

Das brachte den Scheißer zum Schweigen. »Wie auch immer«, fuhr er fort, »der Polizist, der aufgetaucht ist, hat Sie doch nicht davon abgehalten, die Sache durchzuziehen, oder?«

Bei den Vorbereitungen hatte der Scheißer das Gefühl haben müssen, als hätte er die Leitung des Ganzen, mal sehen, ob er dem gewachsen war.

Geoff O. kam ihm zu Hilfe. »Ich hab aufgepasst, dass er mich nicht richtig zu Gesicht bekommt.«

»Klar. Cleverer Schachzug. Aber manchmal reicht das nicht. Man braucht auch Glück. Constable Hector, der in den Laden gestolpert kam, ist angeblich so unterbelichtet, dass er noch nicht mal von sich selbst eine passable Beschreibung abgeben könnte. In der Hinsicht stellt er also kein Problem dar. Tatsächlich hätte es sehr viel schlimmer kommen können. Auftrag ausgeführt, also drücken wir die Daumen und hoffen, dass die Bullen nicht abkratzen.«

»Ich nehme an, Sie halten die Presseverlautbarung zurück«, sagte Geoff O.

André nickte zustimmend über diesen Themenwechsel, weg von den persönlichen Gefühlen hin zu den praktischen Auswirkungen.

»Ja. Hugues meint ebenfalls, dass wir mit einem Polizisten im kritischen Zustand nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Eine Schande. Ein großer Knall zur Eröffnung, das wäre es gewesen. Trotzdem, was ich und Archambault geplant haben, wird sie vom Hocker reißen, das werden sie nicht übersehen.«

»Hilfe gefällig?«, fragte Geoff O.

Ist wohl auf den Geschmack gekommen, dachte sich André. Enthusiasmus war nicht zu verachten. Ungeduld könnte sich als Problem erweisen. Musste er da ein Auge draufhaben?

»Nein«, antwortete er, »alles schon geregelt. Aber keine Sorge. Wir sind erst am Anfang. Es wird noch viel zu tun geben für tatkräftige Neulinge. Nur Geduld. Gute Aufklärungsarbeit, sorgfältige Planung, das macht eine erfolgreiche Operation aus.«

Geoff B. schnaubte ungläubig, aber das war zu erwarten gewesen. Worauf sich André konzentrierte, war Geoff O.s enttäuschtes Stirnrunzeln.

»Krieg ist wie Angeln«, sagte er. »Stunden beschissener leerer Langeweile, dazwischen Augenblicke, die so aufgeladen sind, dass sie aus allen Nähten platzen. Lernen Sie, die Leere zu genießen. So, jetzt werde ich zusammenpacken, bevor mir diese beschissenen Mücken das Gesicht wegfressen. Wir bleiben in Kontakt.«

Er erhob sich und holte die Leine ein.

Geoff B. sagte: »Sagen Sie Hugues, wenn der Polizist stirbt, bin ich draußen. Ich meine es ernst.«

»Dann wollen wir doch mal hoffen, dass es der arme Scheißer übersteht«, erwiderte André gleichgültig. »Wir sehen uns.«

Die beiden entfernten sich. Geoffroy O. sah zurück. André zwinkerte verschwörerisch, sonst nichts.

Interessierte ihn nicht.

Was ihn interessierte und besorgte, war das Gewicht des abgelegten Rucksacks.

Er sah sich um, ob jemand in der Nähe war, dann öffnete er ihn.

Wie er sich gedacht hatte: Eine Waffe fehlte.

Er sah den beiden Geoffroys hinterher. War nicht schwer zu erraten, wer von den beiden sich nicht davon hatte trennen können.

Er erinnerte sich an einen Ausbildungs-Sergeant, der ihm einmal gesagt hatte: »Du verdienst einen dicken Schmatz für deinen Eifer und eine gehörige Tracht Prügel für deine Dummheit. Was davon willst du zuerst, Junge?«

Er lächelte, ließ den Rucksack in seinen Korb fallen, warf ihn sich über die Schulter, sammelte die übrigen Sachen ein und machte sich auf dem Treidelpfad auf den Weg.

6

Blaues Smartie

Peter Pascoe hatte noch immer Probleme mit der Zeit.

Er schlug die Augen auf, und Ellie war da.

»Hallo«, sagte er.

»Hallo«, sagte sie. »Pete, wie geht es dir?«

»Gut, gut«, sagte er.

Er blinzelte einmal, und ihr Haar färbte sich rötlich blond, und ihm war, als wäre sie um zehn Jahre gealtert und hätte sich einen schottischen Akzent zugelegt.

»Mr. Pascoe. Sandy Glenister. Schon bereit zu einem klitzekleinen Plausch?«

»Nicht mit Ihnen«, sagte Pascoe. »Verpissen Sie sich.«

Erneut zwinkerte er, und das Gesicht verwandelte sich zu etwas wie einem Toby Jug, dessen Keramikglanz stumpf geworden war.

»Wieldy«, sagte Pascoe. »Wo ist Ellie?«

»Zu Hause, macht Rosie ihren Tee, nehme ich an. Sie wird später wiederkommen. Wie geht es dir?«

»Gut. Was mache ich hier? O Scheiße.«

Pascoe verzog das Gesicht, als er sich wieder an die Schmerzen erinnerte und sich die Frage selbst beantwortete.

»Andy. Wie geht es Andy?«, wollte er wissen und versuchte sich aufzurichten.

Wield drückte auf den Knopf, worauf sich das Kopfteil des Bettes im Dreißig-Grad-Winkel hob.

»Intensivstation«, sagte er. »Ist noch immer nicht bei Bewusstsein.«

»Na ja, was erwarten die denn?«, erwiderte Pascoe. »Es ist doch erst … ein paar Stunden her?«

Seine Feststellung wurde zu einer Frage, als ihm bewusst wurde, dass ihm jegliches Zeitgefühl abhandengekommen war.

»Vierundzwanzig«, sagte Wield. »Etwas mehr. Es ist vier Uhr, Dienstagnachmittag.«

»So spät schon? Was fehlt ihm?«

»Andy? Gebrochenes Bein, gebrochener Arm, mehrere angeknackste Rippen, Verbrennungen zweiten Grades, vielfältige Quetschungen und Fleischwunden aufgrund der Detonation, Blutverlust, Milzriss, weitere innere Verletzungen, deren Ausmaß noch nicht klar ist …«

»Also nichts Ernsthaftes«, unterbrach Pascoe.

Wield lächelte schwach. »Nein, nicht für Andy. Aber bis er aufwacht …«

Er beendete den Satz nicht.

»Vierundzwanzig Stunden sind nichts. Sieh mich an.«

»Du bist schon viel länger wieder bei Bewusstsein«, sagte Wield. »Vielleicht ein wenig schummrig von dem ganzen Zeug, das sie dir reingepumpt haben, aber meistens bei klarem Verstand. Du glaubst doch nicht, dass Ellie sich davongemacht hätte, wenn du noch im Koma liegen würdest.«

»Ich hab mit Ellie gesprochen?«

»Aye. Erinnerst du dich nicht?«

»Ich glaube, ich habe ›hallo‹ gesagt.«

»Das war alles? Hoff mal lieber, dass sie dir keine Totenbettbeichte abgenommen hat«, sagte Wield.

»Und da war noch was – rötlich blondes Haar, schottischer Akzent, vielleicht die Oberschwester. Oder habe ich das geträumt?«

»Nein. Das müsste Chief Superintendent Glenister von der CAT sein. Ich war da, als sie auftauchte.«

»Ja? Hab ich ihr was erzählt?«

»Abgesehen von ›verpissen Sie sich‹, meinst du? Nein. Das war alles.«

»O Gott«, sagte Pascoe.

»Keine Sorge. Sie hat’s dir nicht übelgenommen. Sie sitzt noch draußen im Wartezimmer. Du hast noch gar nicht gefragt, was dir fehlt.«

»Mir?«, sagte Pascoe. »Gute Frage. Warum bin ich hier? Mir geht’s wunderbar.«

»Warte mal, bis die Wirkung von dem Zeug nachlässt«, sagte Wield. »Aber du kannst dich glücklich schätzen. Quetschungen, Abschürfungen, einige Muskelfaserrisse, verdrehtes Knie, einige gebrochene Rippen, Gehirnerschütterung. Hätte viel schlimmer kommen können.«

»Wäre es auch gewesen, hätte sich Andy nicht direkt vor mir befunden«, sagte Pascoe. »Was ist mit Jennison und Maycock?«

»Joker meint, er sei taub geworden, seine Kumpel aber sagen, er hat schon immer schlecht gehört, wenn man was von ihm wollte. Ihren Wagen allerdings muss man abschreiben. Andys auch.«

»Was ist mit dem Haus? War jemand drin?«

»Leider ja. Drei Leichen, soweit man weiß. Mindestens. Sie werden noch zusammengesetzt. Mehr ist nicht zu erfahren. Die CAT-Typen durchkämmen die Ruinen, lassen aber kaum was verlauten – auch uns gegenüber nicht. Natürlich haben sie einen Schlüsselzeugen.«

»Ja? O Gott. Du meinst Hector?«

»Genau. Glenister hat mit ihm mehr als eine Stunde verbracht. Kam dann völlig benommen raus.«

»Hector?«

»Nein. Der sieht immer völlig benommen aus. Ich meine Glenister. Ich sag ihr mal lieber Bescheid, dass du wach und ansprechbar bist.«

»Gut. Wieldy, sieh bei Andy nach. Du weißt doch, wie es in solchen Einrichtungen ist, gute Informationen zu bekommen ist schwieriger als zum Essen einen anständig temperierten Wein.«

»Mal sehen, was ich tun kann«, sagte Wield. »Pass auf dich auf.«

Er ging. Pascoe machte es sich im Bett bequem und versuchte einzuschätzen, wie er sich wirklich fühlte. Es schien nicht viele Körperteile zu geben, die, falls beansprucht, nicht mit einem stechenden Zwicken antworteten. Doch von den Rippen einmal abgesehen, gab es nichts, was ihn über ein leichtes Unbehagen hinaus sonderlich behindert hätte. Er fragte sich, ob er ohne Unterstützung aufstehen konnte. Er hatte sich in eine aufrechte Position gebracht und schob die Bettdecke von den Füßen, bevor er diese herumschwingen wollte, als die Tür aufging und die Frau mit dem rötlich blonden Haar eintrat.

»Schön zu sehen, dass es Ihnen bessergeht, Peter«, sagte sie. »Aber ich glaube, Sie sollten noch eine klitzekleine Weile liegen bleiben. Oder wollten Sie die Bettpfanne?«

»Nein, alles in Ordnung«, sagte Pascoe und zog die Decke wieder hoch.

»Gut. Glenister. Chief Superintendent, Combined Anti-Terrorism. Wir haben uns schon kurz getroffen, wahrscheinlich werden Sie sich nicht daran erinnern.«

»Dunkel, Ma’am«, sagte Pascoe. »Ich glaube mich sogar erinnern zu können, dass ich etwas ausfallend …«

»Vergessen Sie’s«, erwiderte Glenister. »Ausfallend zu sein ist gut, dafür braucht es einen funktionierenden Verstand. Ich habe gerade zum zweiten Mal Constable Hector befragt. Das erste Mal konnte ich es kaum glauben, aber beim zweiten Mal wurde es auch nicht besser. Liegt das nur am Schock, oder ist der arme Junge womöglich immer so zugeknöpft?«

»Verbale Ausdrucksfähigkeit gehört nicht unbedingt zu seinen Stärken«, sagte Pascoe.

»Sie meinen also, was ich aus ihm rausgequetscht habe, ist alles, was ich wahrscheinlich bekommen werde?«, fragte Glenister. »Seine Beschreibungen der Männer sind, gelinde gesagt, etwas skizzenhaft.«

»Er tut sein Bestes«, wehrte Pascoe ab. »Wie auch immer, aber es muss doch DNA-Spuren, Fingerabdrücke, Zahnaufzeichnungen geben, mit denen sich die armen Teufel in dem Gebäude identifizieren lassen?«

»Aye, davon sollten wir genug finden«, sagte Glenister.

Sie war Mitte bis Ende vierzig, schätzte Pascoe, vollschlank, so dass sie ihren Tweed-Anzug bequem ausfüllte, aber wenn sie ihre frittierten Mars-Riegel nicht zurückschraubte, würde sie sich bald nach der nächsten Kleidergröße umtun müssen. Sie hatte ein angenehmes Lächeln, das ihr rundes, leicht wettergegerbtes Gesicht zum Strahlen und ihre weichen braunen Augen zum Funkeln brachte. Wäre sie eine Ärztin gewesen, hätte er sich ungemein beruhigt gefühlt.

»Sie wollen mich debriefen, Ma’am?«

Glenister lächelte.

»Debriefen? Ich sehe, Sie sind hier in Mid-Yorkshire auf der Höhe der Zeit. Was mich betrifft, ich bin ein zu alter Papagei, um mir noch einen neuen Jargon anzueignen. Ein schriftlicher Bericht, das wäre nett, wenn Sie wieder auf den Beinen sind. Jetzt würde ich mit Ihnen gern nur ein klitzekleines Vorgespräch führen.«

Sie zog einen Stuhl ans Bett heran, setzte sich, holte einen Minidisc-Rekorder aus der Schultertasche, die sie dabeihatte, und schaltete ihn an.

»Mit Ihren eigenen Worten, Peter. In Ordnung, wenn ich Sie Peter nenne? Meine Freunde nennen mich Sandy.«

War das eine Einladung oder Warnung?, ging Pascoe durch den Kopf, während er einen Abriss der Ereignisse lieferte, nicht ohne wohlüberlegte Auslassungen, die er, wie er sich versicherte, im Interesse der Kürze und Klarheit vornahm.

»Sehr gut«, sagte Glenister und nickte zustimmend. »Prägnant, auf den Punkt. Genau, was ich für die Akten brauche.«

Sie schaltete den Rekorder aus, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und holte aus der Tasche eine Smarties-Röhre.

»Greifen Sie zu«, sagte sie. »Solange Sie kein blaues erwischen.«

»Nein danke«, sagte Pascoe.

»Kluger Mann«, sagte sie. »Ich hab mit den Süßigkeiten angefangen, als ich mit dem Rauchen aufgehört habe. Als mir bewusst wurde, dass fünf Nuss-Früchteriegel am Tag mich genauso umbringen wie vierzig Kippen, versuchte ich es mit einem radikalen Entzug, der mich fast wieder auf Nikotin brachte. Jetzt belohne ich mich mit einem Smartie, wenn mir danach ist. Nur eines. Außer es ist ein blaues. Dann bekomme ich noch eins. Weiß der Himmel, was ich mache, wenn sie die blauen einstellen.«

Wieder ihr attraktives Lächeln, mit dem sie sich über sich selbst lustig machte. Sie hätte wirklich Ärztin werden sollen, dachte sich Pascoe. Mit ihrer Art hätte sie Urinproben für eine Guinea pro Flasche verkaufen können.

»So, Peter, lassen wir das Offizielle mal beiseite«, sagte sie, warf sich eine der kleinen Schokolinsen in den Mund (eine gelbe, wie er bemerkte) und machte es sich auf dem Stuhl bequem. »Nur Sie und ich. Ihre Gedanken und Eindrücke diesmal. Und wenn Sie dabei vielleicht ein klitzekleines bisschen mehr ins Detail gehen. Warum, so für den Anfang, waren Sie wirklich vor Ort?«

»Das hab ich Ihnen gesagt. Inspector Ireland hat mich angerufen, worauf ich hingefahren bin, um zu helfen.«

»Und warum hat Paddy Ireland Sie angerufen?«

»Wegen meiner Verhandlungserfahrung, nehme ich an«, sagte Pascoe. Aber noch während er es aussprach, wurde ihm bewusst, dass dieses Paddy ihn sacht daran erinnern sollte, dass Glenister den Inspector bereits befragt hatte.

»Und weil er wahrscheinlich dachte, Mr. Dalziel würde froh um Unterstützung sein, da der Videoladen von Ihren Leuten ja auf die Liste gesetzt worden war«, fügte er hinzu.

»Und war er das?«

»Ich denke doch.«

»Aber er hat Ihnen nicht selbst Bescheid gesagt?«

»Er würde mich an meinem freien Tag nicht stören wollen«, sagte Pascoe.

»Ein sehr rücksichtsvoller Mensch. Mir ist zu Ohren gekommen, er habe sogar angeboten, für die Leute im Haus Erfrischungen zu besorgen.«

Also wusste sie vom Klamauk mit dem Megaphon. Hector. Oder Jennison. Oder Maycock. Warum wollten sie nicht einfach beschreiben, was geschehen war? Auch wenn sie versucht hätten, die Sache herunterzuspielen, wären sie ihrem Oberärztinnen-Charme wahrscheinlich sofort erlegen.

»Ja«, sagte er. »Mr. Dalziel hat versucht, mit den Leuten, die sich möglicherweise im Haus aufgehalten haben, Kontakt aufzunehmen.«

»Die sich ›möglicherweise‹ dort aufgehalten haben? Sie zweifelten daran?«

»Unsere Informationen waren etwas vage.«

»Vage? Jetzt kann ich Ihnen nicht ganz folgen. Ein Streifenbeamter sieht einen bewaffneten Mann in Hausnummer drei. Er meldet es den Beamten in einem Streifenwagen, die es an den diensthabenden Inspector weiterleiten, der den Leiter der Dienststelle alarmiert. Ich weiß nicht, was daran vage sein soll. Bis dahin lief alles gemäß den Vorschriften.«

»Ja, und so ging es auch weiter«, antwortete Pascoe entschieden. »Mr. Dalziel, der wusste, dass das Anwesen auf der CAT-Liste steht, sorgte dafür, dass Ihre Leute informiert wurden, bevor er sich wie angewiesen zur Mill Street begab.«

»Wie angewiesen?« Glenister gluckste.

Glucksen war eine aussterbende Kunst, dachte sich Pascoe; richtiges Glucksen, das nicht nur unterdrückte Heiterkeit vortäuschte, wie Politiker es tun, wenn sie ein Argument betonen oder, noch häufiger, vermeiden wollten. Glenisters Glucksen war das einzig wahre.

»Meines Wissens bestanden seine Anweisungen darin«, fuhr die Superintendent fort, »alle Polizeifahrzeuge aus der Mill Street abzuziehen, an beiden Enden Straßenblockaden zu errichten, die Observierung von sicherer Entfernung aus aufrechtzuerhalten und keinerlei Versuche zu unternehmen, sich dem Haus zu nähern. Welchen Punkten, würden Sie sagen, ist Mr. Dalziel nachgekommen, Peter?«