Der Todgeweihte - Gabriella Ullberg Westin - E-Book
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Der Todgeweihte E-Book

Gabriella Ullberg Westin

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Beschreibung

Muss Johan Rokka gegen seinen eigenen Bruder ermitteln? Ein junger Mann wird in dem kleinen schwedischen Küstenstädchen Hudiksvall auf offener Straße erschossen, seine Freundin schwer verletzt. Sie begeht kurze Zeit später im Krankenhaus Selbstmord. Kriminalinspektor Johan Rokka ist für den Fall zuständig. Während er ermittelt, verschwindet Louise Hojier, die Frau seines Cousins, spurlos. Sie wollte nach Shanghai fliegen, um ein neues Patent zur Identitätserkennnung vorzustellen, doch sie kam dort nie an. Und dann taucht plötzlich nach jahrelanger Abwesenheit Rokkas Bruder Daniel unter falschem Namen wieder auf. Er ist todkrank und hat nichts mehr zu verlieren. Doch er hat eine letzte Mission. Geht er über Leichen? Für Fans von Jo Nesbø und Stefan Ahnhem Teil drei der Schwedenkrimi-Serie von Bestsellerautorin Gabriella Ullberg Westin Ist Rokkas Bruder ein Mörder?

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Seitenzahl: 473

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HarperCollins®

Copyright © 2020 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Copyright © 2020 by Gabriella Ullberg Westin, by Agreement with Enberg Agency Originaltitel: »Fixaren« erschienen bei: HarperCollins Nordic, Stockholm

Covergestaltung: zero-media.net, München Coverabbildung: Trevillion / Caras lonut, FinePic, München Lektorat: Friderike Baum E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959678674

www.harpercollins.de

Widmung

Für meine Eltern. Danke für alles!

PROLOG

Irgendwer hat einmal gesagt, dass die Augen das Fenster zur Seele seien und dass nur unsere Augen verrieten, wer wir wirklich sind.

Der Raum ist komplett abgedunkelt, aber die Lampe über dem Tisch wirft einen schmalen Lichtkegel auf mich und die Männer, die mir gegenübersitzen. Ihre Augen starren mich erwartungsvoll an. Ihre Pupillen sind klein wie Stecknadelköpfe, die Iris tiefblau.

»Wir brauchen dich«, sagt der eine, ich höre, wie sein Stuhl knarrt. »Nur du kannst das regeln.«

Sie erwarten von mir, dass ich ihr Angebot annehme, also nicke ich. In diesem Game bin ich der Joker, das ist mir vollständig klar.

»Lies dir das Dokument durch, das wir dir geschickt haben«, fährt der andere fort. »Das ist eine Art Rollenbeschreibung. Da findest du alles über den Typen, seine Kindheit, die Schulen, die er besucht hat, die Jobs, die er gemacht hat. Seine Hobbys. Lern es auswendig, und dann schlüpf in die Rolle.«

Diese Rolle zu spielen beunruhigt mich nicht, mir gehen eher andere Dinge durch den Kopf, die schiefgehen könnten.

»Wie wasserdicht ist der Plan?«, frage ich.

»Hast du etwa Schiss?«

»Ich will nur wissen, wie wasserdicht der Plan ist, mehr nicht.«

Ich schlucke. Versuche, Vor- und Nachteile abzuwägen. Will nicht den Fehler meines Lebens machen.

»Es wird keiner zu Schaden kommen, und das ist doch ein guter Deal, oder?«

Ja, das denke ich auch. Es ist ein guter Deal. Aber hätte ich eine Wahl gehabt, hätte ich ums Verrecken nicht zugesagt.

Die beiden lehnen sich zurück, wieder knarren die Stühle. Einer verschränkt die Arme.

»Aber vergiss nicht, uns Bericht zu erstatten, falls irgendwas schiefläuft.«

»Okay«, sage ich und strecke die rechte Hand aus. Ein Handschlag. Dann der zweite.

Es wird keiner zu Schaden kommen – an dieses Versprechen klammere ich mich.

Doch dann sehe ich wieder in diese vier knallblauen Augen. Und die sind alles andere als ehrlich.

1

Das Licht der Straßenlaterne spiegelt sich auf dem nassen Asphalt vor dem Kino Cinema 3 in Hudiksvall. Sebastian Svärd kommt mit seiner Freundin Lenita Käll durch den Ausgang. Er kann sich schon jetzt kaum noch erinnern, worum es in dem Film eigentlich ging. Lenitas Gejammer hat ihm die Laune verdorben. Und als er den Schirm aufspannt, um sie vor dem Schneeregen zu schützen, da geht es schon wieder los.

»Und ich hab geglaubt, du würdest alles für mich tun!«

Ein paar Kinobesucher werfen ihnen verstohlene Blicke zu, bevor sie um die Ecke biegen und verschwinden.

»Ja, aber es gibt Grenzen.«

Sebastian setzt sich in Richtung Fußgängerzone in Bewegung, während Lenita stehen bleibt. Ohne Schirm wird sie in null Komma nichts völlig durchnässt sein, doch im Moment ist ihm das ziemlich egal.

»Bitte!« Sie macht ein paar schnelle Schritte auf ihn zu und zieht die Jacke fester um den Körper. Ihre dunkelroten Haare sind vom Regen bereits patschnass und hängen in Strähnen neben ihrem Gesicht.

»Man kann für Geld nicht alles tun«, erklärt Sebastian. »Das musst du doch einsehen.«

Jetzt will er einfach nur schnell zum Bus und nach Hause. Sich im Bett verkriechen, schlafen und ihren Streit vergessen.

»Ich werde dir beweisen, dass ich es auch ohne dich hinkriege«, ruft Lenita bockig, rennt auf die andere Straßenseite und biegt an der Kreuzung ab.

»Na super«, brummt Sebastian. Der Wind schlägt ihm den Schirm um, und er fröstelt, während er durch den Schneematsch läuft.

Er versucht, den kaputten Reißverschluss seiner Bomberjacke so weit wie möglich hochzuziehen. Müsste es nicht längst wärmer sein? Es ist doch fast schon April.

Sebastian biegt nach rechts in die Storgata ab und läuft auf den Kanalpark zu. Seine Gedanken sind bei Lenita, die in den letzten Wochen wie ausgewechselt war. Aber er wird es nicht hinnehmen, dass sie ihn wie den letzten Dreck behandelt.

Er dreht sich um, hält Ausschau. Eigentlich wäre es ihm am liebsten, sie würde ihm hinterherrennen und sie könnten die Sache klären. Aber die Straßen sind menschenleer. Ihre schweren Dr.-Martens-Stiefel nicht zu hören. An dem Kanal, der die Stadt teilt, biegt Sebastian links ab. Die Bushaltestelle ist verwaist, vermutlich hat er den letzten Bus verpasst und muss jetzt zu Fuß nach Hause gehen. Am Kanal sind kleine, vereiste Schneewehen zu sehen, hier hält der Winter sich hartnäckig. Sebastian beugt sich vor und gräbt von der kalten, körnigen Masse eine Handvoll los. Er presst den Schnee fest zusammen, bis die Flocken zu einer Eiskugel werden, dann wirft er sie mit voller Kraft weit hinaus auf den Kanal. Lauscht dem Geräusch, als sie auf der schwarz-grünen Wasseroberfläche aufkommt. Langsam verzieht sich sein Ärger.

Er will sich gerade hinunterbeugen, um die nächste Kugel zu formen, als er plötzlich eine Person bemerkt, die ein paar Meter entfernt von ihm steht. Ein Mann in dunkler Kleidung. Breitbeinig, eine Sturmhaube verdeckt einen Großteil seines Gesichtes.

»Wir müssen reden«, sagt der Mann ernst und kommt näher. Sebastian hält den Schirm krampfhaft fest und spannt jeden Muskel seines Körpers an. Er weiß genau, wer der Mann ist, trotz dieser lächerlichen Verkleidung.

»Ach komm, verzieh dich«, sagt Sebastian und versucht, an ihm vorbeizugehen, doch der Mann stellt sich ihm in den Weg.

»Tu nicht so cool«, entgegnet er und schlägt ihm an die Schulter. »Ich meine es ernst.«

»Hey, ich hatte echt keinen schönen Abend«, erwidert Sebastian und fragt sich, wer hier cool spielt. »Dein Gelaber ertrag ich jetzt nicht auch noch.«

»Du weißt zu viel«, sagt der Mann.

»Na und?«

»Versprich mir, dass du die Klappe hältst.«

Sebastian schüttelt den Kopf und setzt sich wieder in Bewegung, doch der Mann lässt ihn nicht vorbei.

»Vielleicht klappt das bei anderen, aber mir jagst du keine Angst ein«, sagt Sebastian.

»Du kriegst dreißigtausend Kronen.«

Sebastian lacht verächtlich und schüttelt den Kopf.

»Das kannst du vergessen. Ich habe Nein gesagt, und dabei bleibt es.«

Die Augen in der Öffnung der Sturmhaube offenbaren blanke Wut. Der Mann fährt mit einer Hand in seine Jacke und holt einen Gegenstand heraus. Im Licht der Laterne blitzt er auf, und als der andere ihn mit beiden Händen vor den Körper hält, erkennt Sebastian, dass es ein Sturmgewehr ist. Er will den Mann anschreien, er soll es fallen lassen, aber als ihm klar wird, was sein Gegenüber gleich tun wird, bringt er vor Panik keinen Ton heraus. Es gibt kein Entkommen.

Da knallt es ohrenbetäubend laut, und mit unglaublicher Wucht treffen ihn fast zeitgleich die ersten Kugeln. Der Druck ist so heftig, dass er mehrere Meter zurückgeschleudert wird. Seine Angst wird mit dem brennenden Schmerz immer größer. Pulsierend schießt das Blut aus seinem Körper, und er starrt hinauf zu den Dächern der Häuser. Blickt zum Himmel.

Jetzt spürt er, dass alles aus ist.

***

Lenita ist ein Stück weit gelaufen, als sie innehält und lauscht.

War das ein Schuss, was sie gehört hat?

Vor ihr liegt der große Marktplatz Möljen mit den angrenzenden Bootshäusern. Der Platz ist leer. Der Schneefall ist mittlerweile immer dichter geworden, und die Jacke hängt ihr wie eine träge Last auf den Schultern.

Sie dreht sich um. Da ist das Geräusch wieder, diesmal ein heftiges Knattern, und sie erstarrt vor Schreck. Dann knallt es noch einmal.

Sebastian. Oh Gott, wenn da jemand auf ihn schießt!

»Sebastian!« Sie dreht um und beginnt zu rennen. Können das wirklich Schüsse gewesen sein? Auf einmal bereut sie es, dass sie ihn so unter Druck gesetzt hat. Wenn ihm jetzt etwas zustößt, könnte sie es sich nie verzeihen. Und Sebastian hat recht. Man kann für Geld nicht alles tun, und außerdem muss sie ihre Probleme selbst in den Griff kriegen.

Sie rennt, so schnell sie kann, der Schneematsch spritzt nur so. Ein Mal rutscht sie aus, doch sie fängt sich wieder und flitzt weiter in Richtung Fußgängerzone. Ein Stück entfernt im Kanalpark sieht sie einen Mann in dunkler Kleidung, der sich über eine Person beugt, die am Boden liegt. Neben ihnen liegt ein aufgespannter Schirm. Als sie die Bomberjacke und das weiße T-Shirt erkennt, stoppt sie abrupt. Es ist Sebastian, der da liegt. Einen Sekundenbruchteil lang kommt es ihr so vor, als würde ihr Körper jede Funktion einstellen, sie steht da wie gelähmt. Überall ist Blut. Der Mann mit den dunklen Klamotten dreht den Kopf, und sie erkennt, dass er eine Sturmhaube trägt. Irgendetwas hält er in der Hand, das er nun übers Geländer in den Kanal wirft. Dann bemerkt er sie. Durch das Loch im Stoff starrt er ihr in die Augen.

Wie in Zeitlupe sieht sie, wie der Mann sich aufrichtet und mit der Hand unter die Jacke fährt. Sie dreht sich um, rennt so schnell sie kann, wirft sich zu Boden und rollt zur Seite. Aber es ist zu spät. Ein Schuss trifft sie und explodiert in ihrer Brust.

Sie versucht zu schreien, doch es kommt kein Laut. Der Mann steht jetzt vor ihr, sie sieht die Waffenmündung. Vor dem zweiten Schuss denkt sie noch, sie hätte niemals geglaubt, dass sie so weit gehen würden.

***

Es ist fast schon halb elf Uhr abends, und Kriminalinspektor Johan Rokka sitzt im Wohnzimmer, seine Füße liegen zwischen leeren Pizzakartons auf dem Couchtisch. Er scrollt die Mitteilungen in seinem Handy durch. Nasse Schneeflocken schmelzen draußen an der Fensterscheibe und fließen in dünnen Rinnsalen am Glas hinab. Sein Freund und Kollege Pelle Almén sitzt neben ihm auf dem Sofa und zappt durch die Fernsehkanäle. Beim Lesen einer SMS muss Rokka lachen, und ihm wird ganz warm ums Herz. Almén stellt seine Coca-Cola-Flasche deutlich hörbar ab. Dann reckt er sich, schaut Rokka über die Schulter und linst auf das Handy. Sieht die Nachricht, die aus mindestens zwanzig roten Herzen und küssenden Smileys besteht.

»Hast du eine neue Flamme?«

»Yes«, antwortet Rokka und drückt die SMS weg. »Eine ganz süße Brünette.«

»Im Ernst?«

»Im Ernst.«

Rokka legt das Handy auf den Tisch, faltet die Hände hinter dem Kopf und lässt sich ins Sofa sinken. Er kann es sich nicht verkneifen, über Alméns so offensichtliches Interesse zu grinsen.

»Ja und … wie kam das?«

Rokka hebt die Augenbrauen und starrt Almén an.

»Wie meinst du das?«

»Äh … wir sind uns vermutlich einig, dass deine Beziehungen in der Regel nicht gerade von langer Dauer sind …«

Rokka muss lachen, aber er weiß genau, dass Almén recht hat. Auch in der letzten Beziehung hat er ordentlich Federn gelassen.

»Wir haben uns bei gemeinsamen Bekannten kennengelernt, so könnte man wohl sagen.«

»Könnte das was Ernstes werden?«

»Das ist es längst.«

»Das freut mich riesig für dich.« Almén trinkt den Rest aus der Flasche, aber die Skepsis in seinem Blick kann er nicht ganz verbergen.

»Danke, das tut gut«, sagt Rokka. »Es gibt nur ein kleines Problem.«

Almén seufzt. »Hab ich doch gewusst. Und was?«

»Sie ist ein bisschen jung.«

Rokka fährt sich über seinen Dreitagebart und muss innerlich grinsen, als er den entsetzten Blick seines Freundes sieht.

»Wie jung?« Pelle Almén verschränkt die Arme und runzelt die Stirn.

»Fünf.«

Jetzt kann Almén nicht an sich halten und schüttelt sich vor Lachen. »Wie meinst du das jetzt?«

»Es ist Silje. Die Tochter meines Cousins. Aus irgendeinem Grund hat sie mich ins Herz geschlossen. Ich war sogar schon zum Babysitten da.«

Rokka nimmt das Handy in die Hand, um Silje zu antworten, die vom Apparat ihrer Mama geschrieben hat. Er tippt eine lange Reihe Emojis ein, die aus einem Polizisten und ganz vielen rosa Herzen bestehen. Er weiß zwar, dass es schon spät ist, aber beschließt, die Nachricht dennoch zu senden. Silje kann sie anschauen, wenn sie am nächsten Morgen aufwacht.

»Moment mal«, sagt Almén und hebt den Zeigefinger. »Du willst sagen, das Kind gibt es wirklich?«

Rokka lacht, obwohl er weiß, dass in dieser ironischen Frage auch ein Fünkchen Ernst liegt. Er, Johan Rokka. Als Babysitter. Er, dessen Kenntnisse über Kinder sich darauf beschränken, wie sie entstehen. Wie kam es dazu?

Eigentlich begann die Geschichte an einem Tag im August letzten Jahres. Siljes Vater Frank, Rokkas Cousin, war auf dem Heimweg von der Arbeit mit einem leeren Tank liegen geblieben, und ihre Mutter Louise konnte wegen eines Kundenmeetings ihren Arbeitsplatz nicht verlassen. Keiner konnte Silje vom Kindergarten abholen, also machte sich Rokka in Uniform und Dienstwagen auf den Weg. Als er vor dem Tor der Einrichtung zum Stehen kam, drängelten sich fast alle Kinder am Zaun. Rokka ließ Silje und die anderen im Auto herumklettern, schaltete Blaulicht und Sirene ein, zeigte ihnen den Schlagstock und ließ ihre kleinen Hände in den Handschellen verschwinden. Er erklärte ihnen, warum er Pfefferspray bei sich hatte, und schimpfte mit den ganz Neugierigen, die anfingen, an seiner SIG Sauer im Holster herumzufingern. Und er zwinkerte auch den kichernden Erzieherinnen verschmitzt zu, die die Köpfe reckten, um alles mitzubekommen.

Die Kinder standen dann Spalier, die Hände am Zaun, die Augen weit aufgerissen und mit offenem Mund, als er mit einer grinsenden Silje auf dem Beifahrersitz davonfuhr. Diesen kleinen Körper vor Freude fast hüpfen zu sehen, löste in ihm etwas aus.

Seit diesem Tag ist er ihr großes Idol. Und sie seins. Denn die fünfjährige Silje ist etwas Besonderes. Und das nicht nur, weil sie das Alphabet kann, seit sie drei ist, oder weil sie besser multiplizieren kann als ein Achtjähriger. Am meisten mag er an ihr, dass sie immer sagt, was sie denkt, aber nie etwas dagegen hat, dass er mehrmals in der Woche Fast Food isst oder zu laut und zu viel redet. Und wenn sie eine Kaffeepause machen und diskutieren, denn das kommt mitunter vor, dann legt sie ihren Kopf immer ein bisschen schräg, während sich zwischen ihren Augenbrauen eine kleine Falte abzeichnet. Als analysierte sie jedes einzelne Wort aus seinem Mund, um dann ihre Theorien darzulegen, warum man nicht übers Wasser laufen kann oder ob es außerirdisches Leben im Universum gibt. Und beinahe, aber nur beinahe, hatte er plötzlich mit einem Leben mit Kindern geliebäugelt. Mit eigenen Kindern.

Als das Telefon klingelt, wird er jäh aus seinen Gedanken gerissen.

»Im Kanalpark ist ein Mann erschossen aufgefunden worden«, sagt Carl Linderoth, als Rokka abnimmt, und der neue Chef der Kripo spricht so laut, dass Rokka das Handy vom Ohr weghalten muss. »Die Spurensicherung ist bereits unterwegs. Ich möchte, dass du dir das so schnell wie möglich ansiehst.«

Rokka sitzt da und starrt sein Handy an. Er kann kaum glauben, was Carl Linderoth ihm soeben mitgeteilt hat.

Ein Mord in der Stadtmitte? In ihrem kleinen Hudik?

***

Die Kriminaltechnikerin Janna Weissmann zieht die Kapuze ihrer Steppjacke über den Kopf und schiebt sich das dunkle Haar hinein, damit der Regen sie nicht völlig durchnässt. Sie hatte mit ihrem Dobermann-Welpen Jazz die übliche Abendrunde gedreht, als Carl Linderoth anrief. Zum Glück war ihr Hund müde und schlief in seinem Körbchen ein, als Janna die Jacke zum zweiten Mal überstreifte und das Haus verließ.

Sie wohnt mitten im Zentrum von Hudiksvall, genau wie Rokka, doch ist noch vor ihm am Tatort. Sie sieht ihn mit seinem typischen Gang auf sie zukommen, leicht o-beinig. Und sie könnte schwören, dass er gerade noch auf dem Fernsehsofa gelegen hat: die Sneakers offen, die Lederjacke über dem zerknitterten T-Shirt, das aus der Jeans hängt. Er wischt sich die Regentropfen von seinem rasierten Schädel. Gemeinsam gehen sie auf die Leiche zu, die etwas entfernt auf der Straße liegt.

Das ursprünglich weiße T-Shirt, das das Opfer unter der Bomberjacke trägt, ist von Blut durchtränkt. Als Janna den Kopf des Toten betrachtet, will sie am liebsten umdrehen und gehen. Doch das darf sie nicht. Genau das ist ihr Job – sich das anzusehen, wovor andere die Augen verschließen. Jedes blutige Detail.

Das Gesicht des Mannes ist nicht zu erkennen. Alles unterhalb der Stirn ist weggeschossen. Was vor Kurzem noch ein Teil von ihm war, voller Mimik und Ausdruck, ist nur noch ein schmieriger Brei aus blutigen Fleischfetzen. Zudem haben ihn Schüsse in die Brust getroffen. Wie immer staunt Janna, wie viel Blut ein menschlicher Körper in sich birgt. Der Mann liegt mitten in einer dunkelroten Lache, die langsam vom Regen verwischt wird, sein Blut sickert in den Boden und wird eins mit der Erde. Fußabdrücke werden sie kaum finden, kommt ihr in den Sinn.

Warst du noch jung? Und mit dem Täter allein? Janna versucht, jeden Hinweis, den der Tatort bietet, wahrzunehmen. Der Drang, dieses Verbrechen aufzuklären, tritt nun in den Vordergrund, durch ihn wird sie fast manisch angetrieben. Sie will jede noch so kleine Spur des Täters sichern, alle Anhaltspunkte sichtbar machen und herausfinden, was in den letzten dramatischen Sekunden geschehen ist, bevor dieses Leben ausgelöscht wurde.

Rokka tastet die Jacke des Opfers ab und findet ein Portemonnaie. Er öffnet es und holt zwei ordentlich gefaltete Hundertkronenscheine heraus sowie eine Mastercard. Vermutlich kein Raubmord, denkt Janna.

Dem Führerschein nach zu urteilen scheint es sich bei der Leiche um Sebastian Svärd zu handeln, fünfundzwanzig Jahre alt. Aber sicher sein können sie nicht. Rokka tastet weiter, und Janna ist klar, wonach er sucht.

»Ich kann das Handy nicht finden«, sagt er, steht wieder auf und schaut sich um, ob es irgendwo in der Nähe liegt.

»Gehen wir mittlerweile davon aus, dass jeder Mensch ein Smartphone bei sich hat?« Janna weiß, dass ihre Frage rhetorisch ist. Geklaute Handys sind an der Tagesordnung, aber dieses Ausmaß an Gewalt ist extrem, und sie zweifelt, dass nur ein Handy das Motiv dafür gewesen sein könnte.

Die Sirenen, die sie von fern gehört haben, kommen näher. Der Rettungswagen. Die Schutzpolizei war zuerst vor Ort. Sie haben den Erschossenen liegen lassen, in seinem Körper pumpt kein Blut mehr, sie können nichts mehr für ihn tun. Rokka sieht sie ein paar Meter entfernt am Kanal stehen. Sie reden aufgeregt, und plötzlich springt eine von ihnen auf, Maria Nilsson.

»Kommt her«, brüllt sie. »Da liegt noch jemand, der lebt.«

Rokka rennt so schnell er kann zu den Kollegen hinüber, die am Eisengeländer neben dem Kanal stehen. Vor ihnen auf dem Boden liegt eine junge Frau mit geschlossenen Augen. Ein Bein steht unnatürlich ab und befindet sich unter dem Geländer, ihr Fuß mit einem Dr.-Martens-Stiefel hängt über dem schwarzen Wasser.

Auf die Frau ist auch geschossen worden. Einer der uniformierten Polizisten tut, was er kann, um die Blutung zu stillen. Er reißt einen Druckverband aus dem orangenen Verbandskasten und presst ihn auf das Einschussloch direkt unter ihrem Schlüsselbein.

Seine Kollegen suchen die Umgebung nach dem Täter ab. Sie bewegen sich am Kanal entlang, schauen zwischen den Holzhäusern nach, die sich am Wasser aufreihen. Der Platz muss gesichert sein, bevor die Sanitäter kommen. Die Sirenen sind schon zu hören, und es dauert nicht lange, dann sind sie vor Ort, und die Besatzung des Rettungswagens kann übernehmen.

Rokka sinkt neben dem Kopf der Frau nieder. Streicht ihr eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht und versucht, Blickkontakt aufzunehmen. Sieht in ihre Augen, die pure Angst widerspiegeln.

»Er hat es in den Kanal geworfen …«, bringt sie keuchend hervor.

»Was?«

»… in den Kanal.«

Endlich trifft die Rettungsmannschaft ein. Rokka begleitet die Trage und sieht zu, wie eine Rettungssanitäterin der verletzten Frau, die jetzt bewusstlos ist, über den Kopf streichelt.

»Sie können später mit ihr reden«, entgegnet die Sanitäterin und hält abwehrend die Hand hoch. Dann heben sie die Trage in den Rettungswagen.

»Aber wir müssen …«

»Sie wissen doch, wie das läuft«, sagt die Sanitäterin und wirft ihm einen strengen Blick zu, bevor sie die hintere Tür schließt. Der Rettungswagen fährt langsam auf die Straße, dann beschleunigt er in Richtung Krankenhaus.

Rokka weiß genau, wie das läuft. Und er weiß auch, dass die Gelegenheit, mit ihr zu reden, vielleicht nie mehr kommen wird.

2

Silje Höijer gibt ihrer Mama das Handy zurück, die laut lachend die Nachricht betrachtet, die Silje gerade verschickt hat. Unmengen von Herzen für Johan Rokka – ihren Freund, den Polizisten.

Silje trinkt ihre Joghurtflasche leer, die sie im Auto bekommen hat. Heute wird sie ihre Mutter zur Arbeit begleiten, und zu Hause hat die Zeit zum Frühstücken nicht mehr gereicht.

Das Spannendste an dem Arbeitsplatz ihrer Mama ist die durchsichtige Tür. Die schimmert bläulich, fast wie das Laserschwert, das sie neulich im Spielzeugladen entdeckt hat. Ihre Mutter öffnet die Tür, und Silje hüpft durch den Eingang. Der Teppich im Gebäude ist auch blau. Sie rückt ihre Brille gerade und zieht schnell ihre Schuhe aus, denn der Teppich fühlt sich unter ihren Füßen so herrlich weich an, wenn sie darüber läuft. An der Wand hängt ein großes silbernes Auge, es scheint, als würde es sie anschauen. Das Unternehmen heißt Biotech Iris. Ihre Mutter hat versucht, ihr zu erklären, was sie da macht, es hat irgendwas mit den Augen zu tun.

»Biotech Iris!«, schreit Silje und rennt mit ausgestreckten Armen umher: Sie spielt, sie wäre ein Flugzeug.

Silje darf sich auf einen Stuhl setzen, der sich im Kreis drehen kann. Mama sitzt neben ihr am Computer. Es klingt, als würden ihre Finger über die Tastatur rennen. Ihre Kollegen scheinen es auch ganz eilig zu haben.

»Versprich mir, dass wir nachher noch in den Spielzeugladen gehen«, sagt Silje und hebt vor dem Gesicht ihrer Mama mahnend den Zeigefinger.

»Jetzt nörgel nicht. Du hast gerade Geburtstag gehabt und eine ganze Menge Spielsachen bekommen.«

Ihre Mutter sieht sie jetzt wieder mit diesem strengen Gesichtsausdruck an. Wenn Silje nicht gehorcht, wird ihre Mama wütend werden.

»Darf ich dein Telefon haben?«

Ihre Mutter gibt ihr das Handy. Eigentlich sieht es gar nicht aus wie ein Handy, es ist wesentlich kleiner und hat eine rosafarbene Hülle, eher eine Art Schachtel. Es ist ein Handy, das genau das testet, womit ihre Mutter arbeitet. Silje spielt ein bisschen damit, doch nach kurzer Zeit hat sie wieder Hummeln im Hintern. Sie kann einfach nicht mehr still sitzen. Jetzt hat sie mindestens schon hundert Stunden gewartet, und sie weiß genau, dass ihre Mutter noch nicht fertig ist. Die hat nämlich etwas ganz Wichtiges zu tun. Aber schließlich kann Silje sich nicht länger beherrschen.

»Ich will hier nicht mehr sitzen«, nölt sie. »Ich will ins Spielzeuggeschäft gehen.«

Diesmal bewegt ihre Mutter nicht mal den Kopf. Stattdessen schnaubt sie nur kurz und tippt weiter.

»Hallo, Silje«, erklingt da eine Stimme, und Silje zuckt zusammen. Sie hat sie bei einem früheren Besuch schon einmal gehört, und sie weiß, wem sie gehört. Harald, der bei Biotech Iris das Sagen hat. Wie immer bleibt er stehen und sieht Silje an. Er sieht aus wie eine Kröte mit Anzug. Hinter der Brille hat er Glupschaugen, er hat dünne Beine, und seine großen, blitzblanken Schuhe zeigen nach außen. Er sieht wirklich unheimlich aus.

»Schön, dass du heute als Verstärkung mitgekommen bist«, sagt er und lacht so breit, dass die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen zum Vorschein kommt. »Möchtest du den vielleicht haben?« Harald reicht Silje einen blauen Ballon, der mit silberfarbenen Buchstaben bedruckt ist. Silje weiß, dass Biotech Iris draufsteht, und schüttelt den Kopf. Sie will keinen von denen mehr. Sie hat schon das ganze Zimmer voll. Sie will einfach nur, dass ihre Mama fertig wird und sie dann in den Spielzeugladen gehen.

»Louise«, sagt Harald und schaut ihre Mutter an. »Wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen wegen deiner Reise nach Shanghai. In meinem Büro.«

Er bleibt noch eine Weile stehen, bevor er weitergeht, mit diesen nach außen gerichteten Schuhspitzen.

Silje will nicht, dass ihre Mutter zu Harald ins Büro geht und mit ihm über Shanghai redet, sie will hören, dass Mama fertig ist und dass sie jetzt loskönnen.

Aber das tut sie nicht. Stattdessen starrt sie stur geradeaus und ruft Harald zu, dass sie gleich bei ihm sein wird.

Als Silje bettelt, mitkommen zu dürfen, antwortet ihre Mutter, dass das Gespräch geheim sei, nicht mal Silje darf zuhören. Aber wenn sie brav auf ihrem Stuhl sitzen bleibe, dann würden sie anschließend in diesen Spielzeugladen gehen, sagt sie. Dann wird Silje fragen, ob sie dieses Laserschwert bekommt. Das so schön blau schimmert.

Sie hört, wie Harald weiter hinten im Flur seine Bürotür schließt. Mama einsperrt. Silje kommt zu dem Schluss, dass er heute nicht wie eine Kröte aussieht. Heute ist er ein Monster.

***

Obwohl sie schon den wärmsten Besprechungsraum in der ganzen Polizeistation gewählt haben, muss Johan Rokka die Ärmel seines Pullovers nach unten ziehen. Er zittert. Es ist doch immer dasselbe: Im Sommer funktioniert die Klimaanlage nicht, im Winter ist es die Heizung. Soll wohl so sein, wir sind ja nur Bullen, denkt er.

Hinter ihnen liegt eine schlaflose Nacht. Keiner der Kollegen, die nun um den Tisch sitzen, hat ein Auge zugetan. Rokka schnappt sich einen Holzstuhl und lässt sich neben Janna Weissmann nieder. Sie hat ihre dunklen Haare zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden, sodass ihre klassischen Gesichtszüge deutlicher hervortreten. Die hat sie von ihrer Mutter geerbt, der ehemaligen jordanischen Botschafterin in Schweden. Die großen braunen Augen, die immer die Ruhe bewahren. Die schwarzen Wimpern, die sich von allein nach oben biegen. Janna ist immer ungeschminkt. Sie trägt auch keinen Schmuck. Das würde nicht zu ihr passen.

»Wie zu erwarten war, wird heute in jedem Blatt über den Mord berichtet«, sagt Carl Linderoth und hält das Handy hoch, auf dessen Display der Aufmacher einer Tageszeitung zu sehen ist. Linderoth ist Rokkas neuer Vorgesetzter und das höchste Tier innerhalb der Kripo. Er ist in etwa Rokkas Kaliber, was die Körpergröße betrifft, und hat ein ebenso kräftiges Organ. Allerdings trägt er goldbestickte Schulterklappen. Seine Haare sind raspelkurz und hellgrau, auf seiner Nasenwurzel sitzt eine Brille mit einer Metallfassung. Er kommt direkt von der Nationalen Operativen Abteilung in Stockholm. Ihn hier stehen zu sehen ist, als würde Pavarotti auf einer Dorfbühne singen. Fast. Auch Carl Linderoth räumt ein, dass die neue Aufgabe einen Abstieg auf der Karriereleiter bedeutet, aber er ist der Liebe wegen nach Hudiksvall gezogen, wohnt nun in einem Haus auf einer Schäreninsel und scheint insgesamt gesehen recht zufrieden zu sein.

Er ist bei allen beliebt. In dem halben Jahr, das sie nun zusammenarbeiten, hat er nur ein einziges Mal unwirsch reagiert, nämlich als Rokka ihn gefragt hatte, ob es okay sei, ihn Calle zu nennen.

Rokka überfliegt schnell die Internetseiten der Zeitungen und stellt fest, dass der Mord durch die private schwedische Nachrichtenagentur TT landesweit ordentlich aufgeputscht wurde. Janna rutscht näher an ihn heran, um die Überschriften lesen zu können. Mord auf offener Straße ist nicht an der Tagesordnung, schon gar nicht in Hudiksvall. Da der Pressesprecher der Polizei mit Informationen geizt, kursieren in den Medien die wildesten Spekulationen. Manche gehen von einem Einzeltäter aus, andere vermuten eine Abrechnung der Unterwelt hinter der Tat. Und sie weisen darauf hin, dass ein hochgefährlicher Mörder noch auf freiem Fuß ist.

Der Kriminaltechniker Hjalmar Albinsson tritt als Letzter in den Raum. Er schiebt sich die schwarze Hornbrille auf die Nasenwurzel und tupft sich mit einer knittrigen Serviette die tropfende Nase ab.

Carl Linderoth nickt Janna Weissmann zu, die ein Bild auf dem Computer aufruft. Das Foto eines dunkelhaarigen jungen Mannes wird auf die weiße Leinwand vor ihnen projiziert. Dann bittet er Rokka, die aktuelle Lage zusammenzufassen:

»Hier haben wir den fünfundzwanzigjährigen Sebastian Svärd, der im Kanalpark erschossen aufgefunden wurde. Der Täter ist bislang unbekannt. Gesicht und Oberkörper waren zerfetzt, doch seine Schwester, seine einzige Verwandte, hat seine Identität aufgrund seines Muttermals an der Schenkelinnenseite bestätigen können. Die Leiche befindet sich in der Pathologie, und die Patronenhülsen, die wir in Tatortnähe gefunden haben, sind ans Kriminaltechnische Institut geschickt worden. Die Kugeln sind derart deformiert, dass es schwer sein wird, sie zu identifizieren, aber man kann es immerhin versuchen.«

»Zeugen?«

»Eine junge Frau, von der wir annehmen, dass sie Sebastians Freundin ist, wurde ebenfalls von Schüssen schwer verletzt in der Nähe aufgefunden. Sie liegt im Moment auf der Intensivstation im künstlichen Koma.«

Janna klickt das nächste Foto an. Eine Frau mit dunkelroten Haaren und ernsten braunen Augen starrt sie an.

Alle betrachten das Bild. Schweigen.

»Die Frau hat noch etwas Aufschlussreiches gesagt, bevor die Sanitäter sie wegtrugen«, fährt Rokka fort. »Er hat ›es‹ in den Kanal geworfen.«

»Was kann sie damit gemeint haben?« Carl Linderoth schlägt seinen Stift in die Handfläche. »Hat der Täter etwas weggeworfen?«

Der Kanal teilt die Innenstadt und verbindet den See Lillfjärden mit dem Meer. An manchen Stellen ist er nur gut einen Meter tief, und im Wasser findet man alles von verrosteten Fahrrädern über Einkaufswagen bis zu alten Computern und jeder Menge Zeug, das die Leute einfach loswerden wollten.

»Wir haben bei keinem der Opfer ein Handy gefunden, daher könnte sie möglicherweise ein Telefon meinen.«

»Aber warum sollte der Täter ein Handy in den Kanal schmeißen?« Pelle Almén schiebt sich zwei Hustenbonbons in den Mund. »Vielleicht meint sie auch die Tatwaffe. Ob es sich lohnt, den Kanal auszubaggern?« Almén gehört zur Abteilung der Schutzpolizei und ist neben Janna Rokkas engster Mitarbeiter. Er hat den perfektesten Haarschnitt auf der ganzen Station und immer Desinfektionsmittel und Hustenbonbons in der Jackentasche. Grippeviren lauern seiner Auffassung nach überall. Wie die meisten seiner Kollegen verfügt er neben zahlreichen absolvierten Einsätzen über ein breites Kompetenzspektrum und wird bei Schwerverbrechen oft in die Ermittlungen eingebunden.

»Wir sollten den Bagger auf jeden Fall bestellen«, sagt Carl. »Ich habe zwar gehört, dass der Kanal extrem schlammig ist, aber einen Versuch ist es wert. Habt ihr schon Anwohner befragt?«

»Wir sprechen von einem ganz ruhigen Abend in Hudiksvall.« Rokka dreht sein Handy zwischen den Fingern hin und her. »Zum entsprechenden Zeitpunkt waren die meisten Menschen zu Hause, aber einige Bewohner eines Mehrfamilienhauses neben dem Park haben ausgesagt, sie hätten es kurz knallen gehört, eher so eine Art Knattern, dann sei eine kurze Pause gewesen und dann noch zweimal dieses Geräusch.«

»Vielleicht ein Sturmgewehr«, meint Almén. »Das wäre eine Erklärung für diese Beschreibung.«

Carl nickt.

»Jemand hat auch einen Schrei aus der Richtung, in der sich der Kanal befindet, gehört«, ergänzt Rokka. »Einen lauten, schrillen Schrei.«

Janna hebt die Hand. »Ich nehme an, dass Sebastian zuerst erschossen wurde und dass die Frau geschrien hat.«

Alle sehen zu Janna hinüber. Sie hat dieselbe Schlussfolgerung gezogen wie Rokka.

»Was meinst du, Rokka?« Carls Stift bewegt sich nicht mehr. Im Augenwinkel sieht Rokka Jannas Kopf ein wenig sinken, sie legt ihre Hände in den Schoß. Er fragt sich, was sie wohl denkt. Manchmal fällt es ihr schwer, sich Gehör zu verschaffen und ihre Hypothesen vorzubringen.

»Ich teile Jannas Einschätzung«, sagt er. »Die Frau wurde ungefähr fünfzig Meter von Sebastian entfernt aufgefunden. Entweder hatten sie sich gerade getrennt, als Sebastian erschossen wurde. Oder sie fing an zu rennen, als ihn der erste Schuss traf. Und kurz darauf erwischte es sie selbst.«

»Hjalmar, hast du eine Idee, mit was für einer Waffe wir es hier zu tun haben könnten?«

»Das Gesicht des Opfers ist komplett zerfetzt. Auf den Mann ist eine ganze Kaskade von Schüssen abgefeuert worden, als hätte jemand völlig besinnungslos aus nächster Nähe auf ihn gezielt. Im Körper der Frau hingegen haben wir nur zwei Einschusslöcher gefunden. Es könnte sich also um eine Waffe handeln, bei der man zwischen Automatik und Einzelschüssen umschalten kann. Ich würde mal darauf tippen, dass es eine Kalaschnikow war.«

In der gegenwärtigen Situation ist das natürlich nicht zu verifizieren, doch Rokka weiß, dass Hjalmar auch bei anderen Fällen oft richtig lag.

»Vielleicht hatte er auch nur noch zwei Schuss übrig, und das war ihre Rettung«, überlegt Janna zögernd.

»Spuren von DNS?«, fragt Carl.

Janna räuspert sich. »Es hat sowohl geregnet als auch geschneit, daher wagen wir nicht zu hoffen, dass wir irgendwelche Fußabdrücke oder DNS sichern können. Was die Fingerabdrücke an den Patronenhülsen betrifft, ist es auch nicht leicht, denn sowohl der Regen als auch die Hitze der Waffe zerstören sie.«

»Bitte veranlasst weitläufig um den Tatort auch eine Befragung der Anwohner.« Carl dreht sich zu Rokka um. »Und vernehmt alle, die den Opfern nahestehen, Freunde und Kollegen.«

»Und wir müssen mit der angeschossenen Frau sprechen.« Janna dreht ihren Stift hin und her. »Sie ist im Moment unsere wichtigste Spur.«

»Gibt es schon etwas aus dem Krankenhaus?« Carl schaut aus dem Fenster.

»Die Frau liegt im Koma, daher ist eine Kontaktaufnahme völlig unmöglich«, antwortet Rokka. »Die Ärzte können nicht sagen, wann sie aufwachen wird und ob wir sie dann vernehmen können.«

»Dann wissen wir jetzt, was zu tun ist«, sagt Carl. Und verteilt weitere Aufgaben. Die Taxiunternehmer sollen befragt werden, ebenso die Fahrer der Nachtbusse, die in der Gegend unterwegs waren. Die Computer der Opfer müssen ebenfalls durchsucht werden.

Carl zieht seine Manschettenärmel zurecht.

»Der Staatsanwalt möchte gern auf dem Laufenden gehalten werden, darum kümmere ich mich. Jetzt sollten wir alle nach Hause fahren und uns ein paar Stunden hinlegen, dann geht es hier weiter.«

Die Stühle werden zurück an den Tisch geschoben, und die Kollegen verlassen einer nach dem anderen das Zimmer. Janna bleibt noch stehen, Rokka wartet auf sie.

»Ich habe das dumme Gefühl, dass das erst der Anfang ist«, sagt sie mit düsterem Gesichtsausdruck.

***

Es wird schon gut gehen, redet sich Amanda Bruse ein und legt sich die Lederjacke über den Arm. Sie streicht sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr und zieht ihre weiße Bluse zurecht, sodass sie die Taille kaschiert. Heute ist ihr erster Arbeitstag, nachdem sie ein Jahr lang krankgeschrieben war, und obwohl sie nach ihrem Burn-out mit dem Fitnesstraining wieder begonnen hat, wölbt sich ihr Bauch noch hartnäckig über den Hosenbund, egal welche Hose sie trägt. Vielleicht ist das einfach so, wenn man auf die vierzig zugeht, denkt sie resigniert.

Bevor sie sich auf den Weg zur Rezeption macht, holt sie einmal tief Luft und wirft einen Blick auf ihre schwarzen Stiefel. Sie glänzen auf dem blauen Teppich, auf dem in silbernen Buchstaben Biotech Iris geschrieben steht.

An der Rezeption gibt es ein Panoramafenster, das vom Fußboden bis unter die Decke reicht und einen Ausblick über die Bucht von Hudiksvall bietet. Zum ersten Mal setzt Amanda ihren Fuß in den Neubau der Zentrale, und sie muss feststellen, dass hier an der Einrichtung nicht gespart worden ist. Als sie einen Blick zur Seite wirft, erkennt sie das meterbreite Bild, das die Kollegen abfotografiert und in den sozialen Netzwerken gepostet haben. Ein stilisiertes Auge mit einer Iris, die in verschiedenen Schattierungen von Silber changiert, und sie weiß, dass der Firmengründer Sten Hagelund dafür Modell gestanden hat. Unter seinem Auge ist ein Zitat von ihm notiert:

We say that the eyes are the window to the soul.

Only the eyes can tell who we really are.

Biotech Iris ist eines der führenden europäischen Unternehmen auf dem Gebiet der Biometrie, und sein Gründer, der heute Vorstandsvorsitzender ist, stammt aus Hudiksvall und hat zur Bedingung gemacht, dass die Zentrale weiterhin in Hudiksvall bleibt. Obwohl Amanda in der Oberstufe das technische Profil gewählt hatte, hegte sie für Technik nie allzu große Begeisterung, und bevor sie anfing, bei Biotech Iris zu arbeiten, hatte sie nicht die geringste Ahnung, was Biometrie eigentlich ist. Doch diese Technik, die unter anderem ermöglicht, dass man sich mithilfe der Iris des Auges in ein Handy oder einen Computer einloggen kann, ist unglaublich faszinierend. Und lukrativ dazu: In dem einen Jahr, in dem sie krankgeschrieben war, hat sich die Zahl der Mitarbeiter um fast fünfzig Prozent erhöht. Mittlerweile sind in diesem Konzern an die dreihundert Personen tätig.

Und es wird weiter investiert. Demnächst wird die Wissenschaftlerin Louise Höijer aus der Forschungs- und Entwicklungsabteilung nach Shanghai fliegen, um dort das wichtigste Produkt der Unternehmensgeschichte zu präsentieren. Sie hat einen ganz neuen Algorithmus entwickelt, der Biotech Iris einzigartig macht. Eigentlich sonderbar, denkt Amanda, dass so ein kleiner Programmierungscode, der es ermöglicht, die Iris zu scannen, von so großer Bedeutung ist. SpyEx, so heißt der Algorithmus, beschleunigt den Ablesevorgang und ist zudem sicherer als jedes Verfahren, das es bislang auf dem Markt gibt.

Eine Frau steht an den Rezeptionstresen gelehnt und streicht über das Display eines Tablets. Sie sieht aus, als sei sie ungefähr in Amandas Alter.

»Hallo«, sagt sie mit einem Mal und dreht sich zu Amanda um. »Schön, dass du wieder da bist!«

Amanda kann sich nicht erinnern, diese Frau jemals gesehen zu haben.

»Amanda Bruse«, sagt sie und hält ihr die Hand hin. »Ich arbeite im Vorzimmer von Harald Eriksson, aber war eine längere Zeit krankgeschrieben. Heute ist sozusagen mein erster Tag.«

»Ich weiß«, erwidert die Frau lachend. »Kannst du dich nicht mehr an mich erinnern?«

Amanda spürt, wie ihr das Blut ins Gesicht schießt, ihre Wangen werden heiß. »Doch …« Verzweifelt versucht Amanda, ihr Gedächtnis auf Trab zu bringen.

»Ich arbeite in der Kundenbetreuung«, erklärt die Frau, und mit einem Mal fällt bei Amanda der Groschen. Im vergangenen Jahr hat die Kollegin sich nicht nur das taillenlange Haar abschneiden lassen, sondern auch ihr Gewicht halbiert. Zumindest scheint es so, und das ist wirklich ein guter Grund dafür, warum Amanda sie nicht sofort erkannt hat.

Die Kollegin entschuldigt sich, dann tippt sie weiter auf ihrem Tablet. Amanda sieht sich um, dann steuert sie den Flur an. Holt tief Luft. Bemerkt, dass alles neu riecht. Sie schüttelt den Kopf, damit ihre Haare hinter die Schultern fallen. Sie lächelt und denkt daran, dass dies der erste Tag vom Rest ihres Lebens ist.

***

Das Licht im Café ist gedämpft, der Aktienhändler Daniel Martin sitzt an einem Tisch ganz hinten. Er schielt aus dem Fenster, sieht, wie der Regen auf die Straße peitscht. Typisch schwedischer Frühling, kommt es ihm in den Sinn. Aber wenigstens schneit es nicht.

Er nimmt den Schal ab und legt ihn vor sich auf den Tisch. Fummelt eine Weile am Etikett herum, das den Stoff als echten Kaschmir ausweist. Gähnt. Jetzt ist er also zurück in Hudiksvall.

Er zieht den Laptop zu sich und versucht, auf dem harten Stuhl eine bequeme Position zu finden. Der Bildschirmschoner zeigt ein Foto von der Copacabana, dem Strand in Brasilien. Ein unendliches Meer, das an einem orangegelben Horizont auf den Himmel trifft. Palmen, die sich im Wind wiegen, das typische Muster der Wellen auf der Strandpromenade, aus Steinen in unterschiedlichen Grautönen nachgebildet. Bevor er stirbt, will er das einmal gesehen haben. Das hat er sich selbst versprochen.

Der Barista hinter der Theke sieht etwas verschlafen aus. Er wischt die Arbeitsplatte rund um den Kaffeeautomaten ab, bevor er die Tasse mit dem schwarzen Kaffee nimmt und sie Daniel serviert.

»Unheimlich, dieser Mord«, sagt er. Das ist wohl typisch hier im kleinen Hudik. Die Nachricht ist so top of mind in allen Köpfen, dass man den Erstbesten, den man trifft, darauf anspricht.

Daniel denkt an das blau-weiße Absperrband, das er am Kanalpark gesehen hat, als er dort vorbeikam. Ein Mord mitten im Zentrum. Ein Toter und eine Verletzte. Den Informationen auf den Nachrichten-Websites nach zu urteilen, war der junge Mann, der gestorben ist, erst fünfundzwanzig. Ein bekanntes Druckgefühl macht sich in seinem Bauch bemerkbar, und Daniel sieht wieder auf den Bildschirm. Wünschte, er hätte das Leben ausgiebiger genossen, als er fünfundzwanzig war. Jetzt ist er fünfunddreißig. Auf der anderen Seite hat er schon immer gesagt, dass er jung sterben will.

»Möchten Sie noch etwas?«, fährt der Barista fort und lächelt ihn an. Wendet den Blick nicht ab. Daniel weiß nicht recht, ob das daran liegt, dass er ihn erkennt, oder ob es einen anderen Grund hat.

Aber woher sollte der Typ ihn kennen? Er sieht aus, als sei er nicht älter als zwanzig, und es ist lange her, dass Daniel in Hudik gewohnt hat.

Daniel schüttelt den Kopf, dann nimmt er seine Cap und zieht sie sich tief ins Gesicht. Ein bisschen Kaffee schwappt über, als die Tasse auf dem Tisch vor ihm landet. Der Barista holt eine Serviette und tupft damit die Flüssigkeit unbeholfen auf.

»Ich hole noch mehr Servietten.« Daniel bemerkt, wie die Wangen des Typen rot anlaufen, bevor er wegläuft.

»Kein Problem, das reicht.« Er hofft, der Kellner begreift jetzt endlich, dass er allein sein will, kein überflüssiges Geschwätz braucht. Er versucht, sich auf das zu konzentrieren, was er auf dem Bildschirm sieht. Diagramme, rote und blaue Säulen. Ankauf und Verkauf. Aber die Zahlen und die Buchstaben fließen zu einem grauen Brei zusammen. Bei seinem Job als Trader ist er ständig auf der Jagd nach vielversprechenden Aktien. Es gab eine Zeit, da saß er den lieben langen Tag vor dem PC, wenn um neun Uhr die schwedische Börse öffnete, bis sie abends um halb sechs schloss, um dann die restlichen Stunden von Tag und Nacht die Börsenentwicklungen in den USA zu verfolgen. In jeder Minute hatte er die wichtigsten Titel im Blick, um keine Chance zu verpassen, ein paar Tausender mitzunehmen. Aber das schafft er jetzt nicht mehr, die Krankheit, die ihn plagt, raubt ihm alle Energie. Stattdessen versucht er, ausgesuchte, lukrative Geschäfte zu machen. Im Moment hat er ein Biometrieunternehmen im Visier. Wie viele andere wittert er den Profit in dieser Branche.

Draußen vor dem Café bleibt ein Mann auf der Straße stehen. Stellt sich vors Fenster und stiert hinein. Daniel greift nach dem Laptop und dreht ihn von der Fensterscheibe weg. Kalter Schweiß bildet sich an seinem Haaransatz, als der Schmerz ihn wieder überkommt. Aus der Jackentasche zieht er die Schachtel Oxycodon. Liest die Verordnung des Arztes auf dem Etikett, täglich eine Tablette bei Schmerzen. Denkt an das Amphetamin, das er gestern genommen hat. Weiß, dass die Kombination nicht gut ist. Zum Glück hat er ein robustes Herz.

Seine Beine fühlen sich wie Gelee an, als er aufsteht und zur Toilette geht. Daniel Martin nimmt zwei rosafarbene Kapseln aus der Schachtel, überlegt kurz, holt dann noch eine dritte heraus. Schiebt sie sich in den Mund und hält die hohlen Hände unter das fließende Wasser. Es fällt ihm schwer, die Medikamente hinunterzubringen, er hat das Gefühl, die Kapseln werden im Mund immer größer. Er braucht noch mehr Wasser und muss mehrmals schlucken, bis er sie die Kehle hinunterbringt. Er lässt sich auf den Toilettensitz sinken. Muss sich einen Moment sammeln.

Er zuckt zusammen, als jemand am Türgriff rüttelt. Sein erster Gedanke ist, dass es nur einer sein kann, der Geld von ihm kriegt, und wieder bricht ihm der kalte Schweiß aus. Aber dann macht er sich klar, dass dies bloß eine fixe Idee von ihm ist. Es sind nur die Drogen, die ihre Spielchen mit ihm treiben.

Geld, denkt er. Auch das ist eine Droge.

Er hält die Hände vor sich in die Luft. Sieht, wie sie zittern. Er muss sich zusammenreißen, unbedingt. Sich um das bisschen kümmern, was von ihm geblieben ist.

***

Johan Rokka steuert den zivilen Toyota RAV4 der Polizei aus der Innenstadt von Hudiksvall heraus. Seine Kollegen und er haben sich ein paar Stunden ausgeruht, jetzt kann er wieder klar denken. Das ist wichtig, denn sie sind auf dem Weg zur Schwester des ermordeten Sebastian Svärd.

Die Scheibenwischer arbeiten auf höchster Stufe. An einer gelben Ampel drückt er aufs Gas, und Janna zwinkert ihm zu. Er ist froh, dass sie ihn begleitet. Sie tut das gern, denn sie sagt, es hilft ihr sehr, ihre Arbeit als Kriminaltechnikerin in einem weiteren Kontext zu sehen. Sie ergänzen einander, haben gelernt, gut zusammenzuarbeiten. Sie ist seine Handbremse und er ihr Gaspedal, und gemeinsam haben sie schon viele Ermittlungen erfolgreich abschließen können, weil sie das sehen, was der andere nicht sieht. Bei dem Personalmangel, den sie im Polizeibezirk Gävleborg ständig haben, ist dies ein Vorteil.

Im Kreisel beim großen Einkaufscenter biegen sie in Richtung Sandvilla ab. Rokka denkt an den Tod, so wie er ihnen gerade begegnet ist. Das zerfetzte Gesicht des Fünfundzwanzigjährigen war so unwirklich. Wie oft lassen Polizisten den Tod ins Leben. Wie oft werden sie gezwungen zuzuschauen, wenn andere mit ihm konfrontiert werden. So wie jetzt. Er rutscht auf seinem Sitz hin und her. Seine Hose ist unbequem. Chinos, die er erst vor ein paar Wochen gekauft hat. Er wollte mal was anderes tragen. Doch eigentlich vermisst er seine Jeans.

Sebastian Svärds Eltern leben nicht mehr. Er hat sich eine Wohnung mit seiner Schwester geteilt, dorthin sind sie nun unterwegs. Rokka kann sich denken, welche Fragen die Schwester stellen wird. Ganz besonders eine, die sie sich selber stellen:

Wer hat die Schüsse abgefeuert?

Janna zupft an der durchsichtigen Plastikmappe, die sie auf dem Schoß liegen hat. Darin befinden sich Fotos des Opfers. Auf dem einen lacht Sebastian breit in die Kamera, auf dem Bild daneben ist Lenita Käll abgebildet, so heißt die Frau mit den großen, traurigen Augen. Wie sie vermuteten, ist sie eine Freundin von Sebastian Svärd.

Rokka biegt auf eine gekieste Auffahrt ab und parkt den Wagen vor dem weißen Holzhaus. Sebastians Schwester steht schon in der Haustür, als sie die Treppe hinaufsteigen. Sie trägt einen weiten Cardigan. Ihre strohblonden Haare hat sie zu einem Knoten zusammengebunden. Ihre hellblauen Augen sind stark gerötet und angeschwollen. Sie bittet die Polizisten in den Flur und begrüßt sie höflich. Auf dem Boden stehen die Schuhe ordentlich aufgereiht. Eine Reihe mit kleinen Schuhen, eine mit großen. Sebastians Schuhe, denkt Rokka, und fragt sich, was seine Schwester mit ihnen wohl machen wird. Sie ist zweiundzwanzig und viel zu jung, um allein übrig zu bleiben.

»Wissen Sie schon, wer es war?«

Die Schwester schaut sie mit flehendem Blick von der anderen Seite des Tisches an. Sie haben sich in die Küche gesetzt, die für den Esstisch mit vier Stühlen nicht viel Platz bietet. Die Arbeitsplatte ist sauber, und ein paar Flaschen mit Öl und Essig stehen ordentlich nebeneinander aufgereiht.

»Ich wünschte, wir könnten Ihnen diese Frage mit Ja beantworten«, erwidert Rokka betreten. »Und ich hoffe, Sie können uns auf der Suche nach dem Mörder ein Stück weiterhelfen.«

»Ich möchte ihn sehen«, sagt sie und zieht sich die Strickjacke enger um den Körper. Rokka stellt sich das zierliche Geschöpf vor, wenn das Tuch von Sebastians Kopf entfernt wird.

»Das … das ist im Moment nicht möglich«, antwortet er. »Die Spurensicherung ist noch nicht fertig mit den Untersuchungen. Sie suchen noch nach weiteren Hinweisen an Kleidern und Körper, die für die Ermittlungen wichtig sein können.«

Sie sieht erst Rokka ins Gesicht, dann Janna. Die Trauer in ihren Augen wird mit einem Mal von Skepsis und Wut getrübt, als ob sie merkt, dass er ihr nicht die volle Wahrheit sagt. Doch gerade die will er ihr ersparen. Niemand hat es verdient, einen nahen Angehörigen so sehen zu müssen.

»Okay«, sagt sie und wendet den Blick ab.

»Wissen Sie, ob Sebastian irgendwelche Feinde hatte?«

»Er war der liebste Mensch auf der ganzen Welt«, antwortet sie und schluchzt. »Aber er hat immer klar und deutlich seine Meinung gesagt und manchmal konnte er etwas …«

»Was?«

»… na ja, beharrlich sein. Wenn er etwas nicht richtig fand, konnte er aufmüpfig werden und Dinge von sich geben, die nicht gerade klug waren. Ich habe ihm immer gesagt, er müsse lernen, den Mund zu halten. Besonders wenn er eine Chance haben wollte, im Herbst an der Polizeiakademie angenommen zu werden.«

Rokka nickt und denkt, sie weiß gar nicht, wie recht sie hat. Seine Zunge zu hüten war auch für ihn die größte Herausforderung beim Aufnahmeverfahren gewesen. Sebastians Schwester sieht ihm immer noch ins Gesicht.

»Wie war das Verhältnis zu Lenita Käll?«, fragt Rokka.

»Gut«, antwortet Sebastians Schwester leise. »Eine Freundin wie Lenita will wohl jeder haben.«

»Wie meinen Sie das?«

»Jemanden, der einen in- und auswendig kennt, und dem man alles erzählen kann.«

Sie zupft an einer Haarsträhne, die sich aus ihrem Knoten gelöst hat.

»Wie lange kannten sich die zwei?«

»Seit dem Kindergarten.«

Rokka ertappt sich selbst dabei, wie er die Schwester anstarrt. Ihre Augen glitzern vor Tränen. Eine Beziehung, die schon zwanzig Jahre währt.

»Leider stellen wir sehr oft fest, dass auch nahe Angehörige längst nicht alles wissen. Wenn Sie mal genau nachdenken, gibt es jemanden, der Sebastian etwas Böses wünschen würde? Ein ehemaliger Kollege? Ein entfernter Bekannter?«

Sie schüttelt den Kopf, und ihr trauriger Blick verweilt in seinem, als suche er nur ein kleines Fünkchen Hoffnung. Jetzt ist sie alleine übrig, und das kann Rokka nur allzu gut nachfühlen. Seinen Bruder hat er seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen, und in diesem Jahr ist es vier Jahre her, dass er die letzte Weihnachtskarte seiner Eltern bekommen hat. Von seiner Tante weiß er, dass sie am Leben sind. Sie wohnen an der Costa del Sol und lassen es sich mit den fünf Millionen Kronen, die sie im Lotto gewonnen haben, gut gehen.

Ob er ein Stück vom Kuchen abbekommen hat?

Nein, und das wird er auch nicht, solange sie leben. Und dann kann er sich auf das geltende Erbrecht berufen. Nur für den Fall, dass Geld übrig ist. Er hätte es vorgezogen, richtige Eltern zu haben.

Rokka schaut die Schwester wieder an. »Wie fanden Sie Lenita?«

»Sie war lieb, aber ein bisschen melancholisch. Ich habe sie nie richtig lachen sehen.«

»Dürfen wir einen Blick in Sebastians Zimmer werfen?«

Janna macht Anstalten, sich vom Stuhl zu erheben.

»Selbstverständlich«, antwortet die Schwester und steht auf. »Es ist die rechte Tür im Flur.«

Das Zimmer ist klein, aber hell. Im Türrahmen ist eine Stange montiert, an der man Klimmzüge machen kann. Das Bett sieht ordentlich aus, ein einsames Dekokissen liegt auf dem Überwurf. An der Wand darüber hängen zwei Bilder. Das eine zeigt eine Fußballmannschaft in schwarz-weißen Trikots, alle mit demselben Lächeln im Gesicht.

»Wer ist das?« Janna zeigt auf das Bild daneben. Ein Foto eines Jungen, etwa fünf Jahre alt, der ein Polizisten-T-Shirt trägt, das ihm bis zu den Oberschenkeln reicht. In der Hand hält er ein Walkie-Talkie aus Plastik.

»Sebastian«, antwortet die Schwester und fährt sich mit dem Handrücken unter die Augen, um die Tränen abzuwischen, denen sie nun freien Lauf lässt. »Sein Berufswunsch stand damals bereits fest.«

Rokka selbst hat als kleiner Junge nie davon geträumt, Polizist zu werden. Seine Motivation, in den Dreißigern die richtige Seite von Gut und Böse zu wählen, hatte andere Gründe. Und hätte er das nicht getan, wäre er jetzt nicht mehr am Leben.

»Haben Sie mal daran gedacht, dass es Sebastian an den Kragen gehen könnte, wenn er immer sagt, was er denkt?«

Die Schwester sieht ihn an. Nickt.

»Aber wer kann darüber so verärgert sein, dass er ihn gleich umbringt?«

Rokka gehen viele Dinge durch den Kopf. Doch das Wichtigste ist jetzt, mit Sebastians bester Freundin zu sprechen.

***

Amanda sinkt auf den Stuhl vor dem höhenverstellbaren Schreibtisch. Alles um sie herum ist still, bis auf das Tippen eines Kollegen auf der Tastatur hört man nichts. Amanda macht ein Foto von ihrem Großraumbüro und postet es auf Instagram mit dem Text Bin zurück bei meinen fantastischen Kollegen bei Biotech Iris.

Kaum hat sie das Handy hingelegt, plingt es auch schon. Eine Nachricht, das kann sie am Ton erkennen. Ein Kollege schielt in ihre Richtung, daraufhin ignoriert sie das Handy, obwohl sie ihre Neugier kaum im Zaum halten kann. Stattdessen legt sie die Hände auf ihren neuen Laptop. Er ist so flach, dass sie den Spalt zwischen Tastatur und Display erst suchen muss. Dann öffnet sie das Gerät, der Bildschirm strahlt sie an. Da ist der Sensor, der ihre Iris scannt und dem System mitteilt, dass sie Amanda Bruse ist, deshalb sieht sie stur geradeaus. Mithilfe des Bildes, das auf dem Bildschirm erscheint, hebt und senkt sie den Kopf, damit ihre Augen sich auf der richtigen Höhe befinden. Innerhalb von Sekunden ist sie eingeloggt. Amanda, die schon den Fingerabdruckscanner an ihrem letzten Handy als absolutes Hightech empfand, ist völlig hingerissen.

»Hallo, schön, dich hier wiederzusehen.« Amanda zuckt zusammen, als Anna Anastacia, die Leiterin der Forschungs- und Entwicklungsabteilung, ihr entgegenkommt, gefolgt von einem Grüppchen Menschen in Kostümen und Anzügen, alle Facetten von Grau. Amanda beobachtet sie, und Anna zwinkert ihr zu.

»Im Moment ist wahnsinnig viel los, aber wir haben bestimmt später Zeit zum Reden«, sagt sie und verschwindet wieder im Flur.

Amanda weiß sehr wohl, was Anna damit meint. Heute beginnt eine Kick-off-Veranstaltung mit Vertretern aus allen europäischen Büros. Sie wollen Biotech Iris’ Vision und Ziele thematisieren und gemeinsam überlegen, wie alle dazu beitragen können, das Unternehmen noch erfolgreicher und interessanter für die Aktionäre zu machen. Alles den Wünschen des Vorstands entsprechend. Harald wird beim Kick-off im Mittelpunkt stehen, und als Assistentin der Geschäftsleitung wird Amanda alle Hände voll zu tun haben. Selbst abends noch, späte Geschäftsessen und ein Drink nach dem anderen.

Amanda öffnet ihr Mailprogramm. Sie hat sich während der Zeit, in der sie krankgeschrieben war, schon über die wichtigsten Dinge auf dem Laufenden gehalten, den Ratschlägen ihres Hausarztes wie auch des Psychologen zum Trotz. Um das Burn-out zu überwinden, müsse sie Verhaltensmuster ändern und lernen, auf die Signale ihres Körpers zu achten, hieß es. Doch ihre Angst, die Kontrolle zu verlieren, war stärker.

Sie scrollt nach unten. Es werden immer mehr ungelesene Mails, egal wie weit sie scrollt. Sie liest den Betreff der jüngsten Nachricht:

Meeting für den Q1-Bericht.

Die Zahlen des ersten Quartals müssen dem Vorstand vorgelegt werden. Sie weiß, dass das luxuriöse Büro eine schöne Fassade ist. Dahinter geht es richtig zur Sache. Der Erfolg, den sie sich von dem neuen Algorithmus versprechen, ist unverzichtbar, um das Unternehmen an der Spitze halten zu können. Das ist blutiger Ernst, die Konkurrenz schläft nicht. Es kostet eine Stange Geld, so stark zu wachsen, wie es Biotech Iris getan hat, auch wenn viele der neuen Mitarbeiter Berater sind, die notfalls schnell wieder entlassen werden könnten.

Amanda versucht, die bedrückenden Gedanken abzuschütteln, sie greift nach dem Handy und klickt die Nachrichten an, eine Eilmeldung vom Schwedischen Fernsehen. Doch als sie sie liest, gerät ihr Körper schon wieder unter Anspannung:

Nach den Todesschüssen im Stadtzentrum von Hudiksvall jagt die Polizei den Täter noch immer.

Bei der Vorstellung, dass so etwas in ihrer beschaulichen Kleinstadt passiert, fährt ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Kann man sich jetzt nicht mehr abends allein auf die Straße wagen?

In dem Moment spürt sie eine Hand auf ihrer Schulter und sieht auf. Harald. Die schwarze Hornbrille ist neu, der Anzug garantiert auch. Sie steht auf, er umarmt sie. Dann schiebt er sie ein Stück von sich weg und betrachtet sie von oben bis unten.

»Ich weiß nicht, wie ich ohne dich zurechtgekommen bin«, begrüßt er sie und küsst sie erst auf die rechte Wange, dann auf die linke, und noch einmal auf die rechte.

»In fünf Minuten«, sagt er dann und setzt sich schon in Bewegung. »In meinem Büro.«

Sie holt tief Luft. Senkt die Schultern ganz bewusst. Am Anfang wird vieles für sie neu sein, doch es wird schon gut gehen, sie wird es schaffen. Und obwohl sich ihr bei diesem Gedanken schon der Magen zusammenkrampft, will sie beweisen, dass sie noch genauso gut ist wie vor ihrer Krankschreibung.

***

Beinahe wäre er Europas erfolgreichster Trader geworden. Wenn er nicht Aktien nach Gefühl gekauft, sondern sich stattdessen an den Analysetools orientiert hätte.

Daniel Martin sieht in den Spiegel über dem Waschbecken und bemerkt wieder einmal die Falte zwischen den Augenbrauen und die dunklen Ringe unter den Augen. Es sticht in seinem Bauch, genau so kündigt sich der Schmerz an.

Es ist ein halbes Jahr her, dass ihm die Diagnose gestellt wurde, und seitdem hat der Tumor in der Bauchspeicheldrüse mit ihm Verstecken gespielt. Der Schmerz kommt und geht, als hätte es ihn nie gegeben. Dann fühlt Daniel sich eine Weile wie ein MMA-Fighter, bis der Tumor mit unerträglicher Kraft zurückschlägt und dem Körper jedes Fünkchen lebenserhaltende Energie raubt.

Jetzt müsste er sich Ruhe gönnen. Entspannen. Aber das geht gerade nicht, eine Zeit lang muss er noch durchhalten. Er streicht die Augenbrauen auseinander, sodass die Haut dazwischen wieder glatt wird, doch er sieht trotzdem nicht besser aus. Er spürt die Sucht nach dem weißen Pulver, das die Schmerzen nimmt, wenn die Medikamente nicht mehr wirken, und alles irgendwie einfacher macht. Aber im Moment muss er es sich verkneifen, die Panikattacken sind unerträglich.

Er muss an seine Eltern denken. Wenn sie ihn jetzt sehen könnten. Hatte wirklich alles so kommen müssen?

Das Wohnzimmer seiner Mietwohnung ist nicht größer als zwölf Quadratmeter. Ein abgewetzter Zweisitzer aus grünem Plüsch und ein tiefer Tisch aus schwarzem Lack. Aber im Moment muss er damit vorliebnehmen, vermutlich wird er sich gar nicht lange in Hudiksvall aufhalten.

Daniel greift zum Handy und ruft das Mailprogramm auf. Die letzte Nachricht hat er schon zigmal gelesen:

Ich meine es ernst. Du hast eine Woche Zeit.

Zwei kurze Sätze, aber die sagen alles. Er weiß, was das heißt. Er hat Geld eines Kunden investiert, der nicht versteht, dass Trading eine gewisse Ausdauer erfordert. Manchmal muss man große Verluste hinnehmen, aber kann noch größere Gewinne einfahren. Später. Jetzt hat der Kunde den maßgeschneiderten Anzug offenbar in die Ecke geschmissen und angefangen, Mails von einem anonymen Konto zu schicken. Er führt sich auf wie Rambo, behauptet, Daniel schulde ihm Geld. Genauer gesagt fünfhunderttausend Kronen.