Der Tote vom Leuchtturm - Anke Cibach - E-Book
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Der Tote vom Leuchtturm E-Book

Anke Cibach

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Beschreibung

Wenn die Flut das Chaos in dein Leben spült: Der Kriminalroman „Der Tote vom Leuchtturm“ von Anke Cibach jetzt als eBook bei dotbooks. Auf einer kleinen Insel in der Elbe steht ein stillgelegter Leuchtturm. Darin wohnt die 60-jährige Tilde Janssen. Sie verdient ihr Geld mit Skulpturen aus Schwemmholz und liebevollen Illustrationen, nachmittags besucht sie ihre Nachbarn zum Kaffee. Ihr Leben ist eigentlich ganz gemütlich, und normalerweise passiert auch nicht viel – bis nach einem Sturm diese Leiche angeschwemmt wird: Professor Dykland, ihr Mäzen! Warum ist er tot, wieso landete er ausgerechnet vor ihrem Leuchtturm – und weshalb trägt er einen Frack? Tilde will den seltsamen Fall auf eigene Faust aufklären. Doch dabei lernt sie einige kuriose Seiten ihrer Nachbarn kennen, die sie nie erwartet hätte … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Der Tote vom Leuchtturm“ von Anke Cibach – so spannend wir Klaus-Peter Wolf, so hanseatisch wie Eva Almstädt!. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 249

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Über dieses Buch:

Auf einer kleinen Insel in der Elbe steht ein stillgelegter Leuchtturm. Darin wohnt die 60-jährige Tilde Janssen. Sie verdient ihr Geld mit Skulpturen aus Schwemmholz und liebevollen Illustrationen. Nachmittags besucht sie ihre Nachbarn zum Kaffee. Ihr Leben ist eigentlich ganz gemütlich, und normalerweise passiert auch nicht viel – bis nach einem Sturm eine Leiche angeschwemmt wird: Professor Dykland, ihr Mäzen! Warum ist er tot, wieso landete er ausgerechnet vor ihrem Leuchtturm – und weshalb trägt er einen Frack? Tilde will den seltsamen Fall auf eigene Faust aufklären. Doch dabei lernt sie einige kuriose Seiten ihrer Nachbarn kennen, die sie nie erwartet hätte …

Über die Autorin:

Anke Cibach (1949 – 2012) studierte Psychologie und Anthropologie in Hamburg. Als Diplom-Psychologin interessierte sie sich nicht nur für die Schokoladenseiten der Menschen, sondern auch für die geheimen, psychopathischen Anteile eines jeden. Sie liebte schwarzen Humor, Vogelspinnen und das Meer. Ihr Motto: Bücher sind Schokolade für die Seele!

Anke Cibach veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Romane »Das Haus hinter dem Deich« und »Das Haus auf der Insel« und ihre Krimis »Die Toten vom Hafen« und »Mörderische Kaffeefahrt«.

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2015

Copyright © der Originalausgabe 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de, unter Verwendung eines Bildmotivs von biloba/photocase.de

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95520-766-3

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Anke Cibach

Der Tote vom Leuchtturm

Roman

dotbooks.

»Je höher der Turm, desto stärker der Wind.«

1. Kapitel

Die Möwen schrien anders als sonst. Ruhelose Seelen, auf ewig dazu verdammt, klagend ihre Kreise über dem Wasser zu ziehen, wenn man den alten Geschichten Glauben schenken konnte. Oder lag es am plötzlichen Kälteeinbruch im April?

Tilde Janssen spürte nicht nur ihre Knochen, sondern auch, dass etwas in der Luft lag. Etwas Undefinierbares. Eine seltsame Unruhe. Es hielt sie nicht länger im Bett. Schnell zog sie sich eine Strickjacke über den Pyjama, griff nach dem Fernglas und trat auf die Plattform ihres Turms. Windstärke sechs bis sieben, schätzte sie, und die Wolkenfetzen verhießen nichts Gutes für den Tag.

Also kein Kaiserwetter an ihrem sechzigsten Geburtstag. Systematisch suchte Tilde mit dem Fernglas die kleine Elbinsel Ziegensand ab. Meine Insel, mein Turm, dachte sie trotzig.

Ziegensand lag nicht weit vom Schifffahrtsweg entfernt, die großen Pötte zogen hier vorbei, elbaufwärts nach Hamburg, elbabwärts in Richtung Nordsee und des Restes der Welt. Ziegensand hatte, soweit Tilde wusste, noch niemals Ziegen beherbergt, aber vom Umriss her diesem Tier einmal geähnelt, bis Wind und Wellen die Konturen verwischt hatten.

Der Turm mit dem angebauten Wohnhaus war früher ein Leitfeuer gewesen, hatte aber dann im Zuge von Modernisierungsmaßnahmen an Bedeutung für die Schifffahrt verloren.

Abwracken wollten sie ihn damals, ihren runden rot-weißen Turm auf dem schwarzen Sockel. Tilde hatte ihn vor fünf Jahren zum Schrott- und Spottpreis ersteigert. Der Bebauungsplan ließ zwar offiziell keine Wohnnutzung zu, aber wenn man erst mal das Hausrecht hatte ...

Als Alleinherrin der Insel konnte sie sich trotzdem nicht bezeichnen. Es gab noch eine Vogelschutzstation im Osten der Insel und in der Mitte den Kiosk des Campingplatzes, der nur im Sommer genutzt wurde. Dort wohnte sporadisch der alte Hermann. Nein, er wohnte nicht, er hauste. Ein Menschenfeind, sagten die Leute hinter dem Deich. Nicht alle Tassen im Schrank, gaga, durch den Wind. Tilde wusste es besser: Hermann wollte einfach seine Ruhe haben. Ihm genügte es, zu fischen und ihr ab und zu einen Weidenkorb mit Zander oder Aal vor den Turm zu legen. Im Austausch packte sie ein paar Konserven oder auch etwas Geld in den geleerten Korb. Dafür war kein großes Palaver mit Höflichkeitsfloskeln nötig.

Hermann kümmerte sich auch um die Fixe Flunder, wenn mal wieder der Motor streikte. Obwohl das Ufer nicht weit entfernt war, konnte sie ohne ihr geliebtes Tuckerboot nicht dorthin gelangen, selbst geübte Schwimmer fürchteten die tückische Strömung.

Ein weiteres Boot, das regelmäßig zur Insel fuhr, lag Ziegensand gegenüber unterhalb des Deichs und gehörte dem Tourismusverein. Wenn die sommersprossige Gesche mal wieder ein Trüppchen zum Picknick übersetzte, wurde der Dicke, wie Tilde ihr Wolkennest liebevoll nannte, zum Elfenbeinturm.

Es sei denn, sie war draußen so in ihre Arbeit vertieft, dass sie alles um sich herum vergaß.

Bei dem Gedanken an ihr neues Werk wurde es Tilde ganz warm ums Herz. Seit Wochen hatte sie auf ein passendes Stück Treibholz gewartet, um die Henkersmahlzeit vollenden zu können. Eine mannshohe Skulptur, ganz aus Strandfunden gearbeitet. Ein aufmerksamer Beobachter konnte darin eine Gruppe Menschen – oder eher Wesen – erkennen, augenlos, mit weit geöffneten Mündern. Sie scharten sich um ein Netz mit Fischen, das von einer gewaltigen Hand wieder ins Meer zurückgezogen wurde.

Warum Henkersmahlzeit? Das wusste Tilde selbst nicht. Es war nur so eine Intuition. Mochte der Betrachter das Werk interpretieren, wie er wollte.

Schwemmholz sah in Tildes Augen häufig nach Meeresbewohnern aus. Und die waren es schließlich auch, die Tilde den Lebensunterhalt sicherten.

Ob Quastenflosser, Heringsschwarm, Tiefseekraken oder ein norddeutscher Plattfisch wie der Butt, Tilde zeichnete sie alle. Mal mit den filigranen Strichen einer Feder, dann wieder in Acryl- oder Aquarelltechnik, je nach Auftrag.

Die Fachbuchverlage zahlten mäßig, aber immerhin regelmäßig. Tilde galt nach all den Jahren als Spezialistin für die Illustration von Angelliteratur. Und das, obwohl sie noch nie selbst eine Angel in der Hand gehalten hatte. Aber das musste ja keiner wissen.

Sie wappnete sich für ihren Ehrentag mit schwarzem Kaffee, in den sie ausnahmsweise einen Schuss Rum gab, das beste Mittel gegen Gliederreißen, aufziehende Erkältungen, Stimmungsschwankungen und dominante Töchter. Und der Anruf von Annika ließ tatsächlich nicht lange auf sich warten.

»Happy Birthday, Mom. Alles Gute zum 59.«

Konnte sie nicht ordentliches Deutsch sprechen? Mom? Tilde war keine Mom, und Anglizismen wie happy birthday passten ihr auch nicht. Aber sie wollte keinen Streit, nicht jetzt schon.

»Ich bin sechzig geworden«, merkte sie stattdessen an.

»Das weiß ich doch«, erwiderte Annika. »Aber die Zahl hört sich irgendwie nicht so nett an.«

»Ich mag sie.« Tilde schaltete auf stur.

»Mom, sei nicht so ... du weißt schon, wie.«

Und ob ich das weiß, dachte Tilde und versuchte einzulenken. »Wie sieht’s aus bei dir? Was macht Paul?«

Immerhin, sie hatte sich an den Lebensgefährten ihrer Tochter erinnert.

»Er heißt Paolo.« Kurzes Schweigen. Beleidigt? Offenbar nicht. »Er bedauert es sehr, nicht mit dir feiern zu können. Aber wir holen das nach.«

»Ganz bestimmt«, meinte Tilde friedfertig.

»Also wirst du heute mit mir vorliebnehmen müssen.«

»Du musst doch nicht extra aus Köln herkommen!«

»Ich weiß, Mom. Aber ich bin schon fast da. Kannst du mich bitte in einer Stunde mit der Fixen Flunder vom Deich abholen?«

Tilde atmete tief durch. Eine Tochter blieb eine Tochter, auch mit dreißig, zumal es die einzige war. »Natürlich. Ich freu mich schon. Allerdings bin ich nicht auf Besuch eingestellt. Bleibst du länger?«

»Höchstens ein oder zwei Nächte. Ich bringe alles mit, sogar eine Geburtstagstorte. Hat Paps sich gemeldet?« Sehnsucht in der Stimme, sie war schon immer eine Vatertochter gewesen.

»Ich glaube, er ist auf Reisen«, sagte Tilde diplomatisch. Von Spielbank zu Spielbank, solange das Geld reichte, erst dann kam er, um seine Exfrau anzupumpen. Aber das sagte sie nicht.

»Erwartest du noch andere Gäste?«

Raffiniert gefragt. In Wirklichkeit wollte Annika doch nur wissen, ob der Liebhaber ihrer Mutter aufkreuzen würde. Der, den sie, Annika, einmal als Proll bezeichnet hatte, bloß weil er von der oberen Plattform nach unten gepinkelt hatte. Ein einmaliger Verstoß gegen die guten Sitten, zurückzuführen auf den Genuss von Starkbier, aber musste man sich vor seiner Tochter rechtfertigen?

»Ralf ist bei seiner Frau.« Tilde registrierte Annikas erleichterten Stoßseufzer.

»Aber vielleicht kommen ein paar Leute von hier.«

»Du meinst den süßen, bärtigen Vogelmenschen und Hermann, den Einsiedler? Gesche nennt ihn ja den Glöckner von Ziegensand.«

»Hör nicht auf das dumme Gequatsche von Gesche«, Tilde war ernsthaft verärgert.

»Tut mir leid, Mom. Ich bin doch nur in Sorge, dir könnte was passieren. Also nichts gegen deine Insulaner-Szene.«

»Es sind meine Freunde«, betonte Tilde. »Vielleicht kommt auch noch ein neuer Bekannter vorbei, der sich für meine Kunst interessiert. Hast du schon mal was von Professor Dykland gehört?«

Warum schwieg Annika so lange?

»Ich habe morgen einen Termin bei ihm, Mom. Lass uns später darüber sprechen.«

Tilde machte in ihrem Turm Klarschiff, wie sie es nannte. Von oben nach unten. Runde Ecken beim Putzen, das war hier legitim, denn andere Ecken gab es nicht. Die Regale im Oberstübchen, das gleichzeitig Wohn-, Schlaf-, Arbeits- und Panoramazimmer war, hatte sie selbst gezimmert. Windschief, aber das wirkte fast schon wieder künstlerisch.

Der halbrunde Arbeitstisch aus Mooreiche war eine Sonderanfertigung, den ihr ein Tischler im Tausch gegen eine ihrer Skulpturen (Neptuns Rache) in Einzelteilen hochgeschleppt und dann erst zusammengebaut hatte.

Eines der wenigen Male, dass ihr eine Skulptur etwas eingebracht hatte.

Tilde ging die Wendeltreppe hinunter ins Ankleide-, Lese- und Gästezimmer. Nebst Teeküche, ihre praktische Kombietage. Statt eines Kleiderschranks gab es mit Vorhängen versehene breite Ständer und eine beachtliche Anzahl von Deckelkörben aus Sisal, die die ständig herrschende Feuchtigkeit aufsogen und einen großen Teil ihrer Habe enthielten. Wer in einem Turm lebte, musste sich auf das Nötigste beschränken, das war nun mal so.

Der rote Plüschsessel mit passendem Fußteil und die Stehlampe aus schwarz angelaufenem Messing mit schwenkbarem Arm waren Flohmarkt-Schnäppchen, das im Dschungel-Look gehaltene moderne Sofa ein Geschenk von Annika.

Zwei Nischen im Mauerwerk dienten mit Matratzenauflagen als Gästebetten. Steinhart, aber das beugt Rückenbeschwerden vor, pflegte Tilde ihrem Logierbesuch mit ernster Stimme zu erklären.

Unten, also im Erdgeschoss, wenn man es so nennen wollte, gab es das, was Architekten gerne als Nasszelle bezeichneten. Aber eine Dusche war eine Dusche, und im Sommer stieg Tilde unbekümmert in die Elbe. Das war inzwischen wieder möglich, die Wasserqualität hatte sich dank diverser Umweltauflagen stark verbessert.

Das an den Turm angebaute Gebäude war vom Zahn der Zeit und vom Hochwasser so beschädigt, dass Tilde es nur als Rumpelkammer nutzte. Eine Renovierung konnte sie sich nicht leisten. Also lagerte sie dort Werkzeug, Konserven und allerlei, das, in Planen verpackt, bei einer Sturmflut schleunigst in den Turm geschafft werden musste.

Zeit für ihren Morgenspaziergang. Tilde reckte und streckte sich, prüfte noch einmal die Windrichtung und schaute dann in den Weidenkorb. Nein, heute gab es keinen frischen Fisch, schade. Vielleicht musste sie doch noch einkaufen.

Sie ging zur Nordwestseite, an der als Schutzmaßnahme Steine aufgeschüttet waren. Auf dem schmalen Sandstreifen direkt am Wasser lag ihre Tagesbeute. Der Wind hatte ihr neues Treibholz beschert, dazu Reste eines Fischernetzes, in dem sich ein roter Ball verfangen hatte.

Tilde kniff die Augen zusammen. Nein, ein Ball war es nicht, auch kein versehentlich über Bord gegangener Fender. Vorsichtig kletterte sie über die Steine und nahm ihren Fund näher in Augenschein: einen knallroten Stöckelschuh, einen linken, anscheinend noch nicht lange dem Wasser ausgesetzt, denn das Leder war kaum aufgequollen.

Wie dumm von der Besitzerin, sich mit solchen Absätzen ans oder gar aufs Wasser zu wagen. Tilde nahm den Schuh samt Netz mit, um ihn später in eins ihrer Kunstwerke zu integrieren. Aber vielleicht gab es ja noch ein Gegenstück? Sie betrachtete aufmerksam den Spülsaum.

»Hat dir die Natur etwas zum Geburtstag beschert?«

Wie üblich hatte sie Malte nicht kommen gehört, freute sich aber, als er sie zum Gratulieren in den Arm nahm.

Ein Vogelwart, jung an Jahren, alt an Erfahrung, wie er selbst versicherte. Zunächst nur im Rahmen eines freiwilligen sozialen Jahres auf Ziegensand eingesetzt, aber dann kam er doch immer wieder hierher zurück. Zum Auftanken, um anschließend wieder der Zivilisation gewachsen zu sein, behauptete er.

Vielleicht auch, um Ruhe vor der einen oder anderen Flamme zu haben, vermutete Tilde, denn Malte war definitiv ein Frauentyp, mit seinem schwarzen lockigen Haar und den blauen Augen, die so intensiv in andere Augen eintauchen konnten.

Wenn er zehn Jahre älter und sie zwanzig Jahre jünger wäre ...

»Woran denkst du, Tilde?«

»An die Vergänglichkeit des Lebens«, sagte sie spöttisch. »Ich fühle mich noch immer nicht alt. Woran mag das liegen?«

»Diese Fregatte wird noch lange nicht abgewrackt«, zitierte er Tildes eigenen Lieblingsspruch, und dann mussten sie beide lachen und hörten erst auf, als ein Platzregen einsetzte, der sie in verschiedene Richtungen flüchten ließ.

»Kommst du heute Abend?«, rief sie ihm nach. Doch seine Antwort wurde von den kreischenden Möwen übertönt.

Und sie schreien doch anders als sonst, war sich Tilde sicher und schauderte.

2. Kapitel

»Wer hat das getan?« Tilde stand breitbeinig auf ihrem schwankenden Tuckerboot und reichte Annika zum Einsteigen die Hand. Das Gesicht ihrer Tochter war blau verfärbt und wies Schwellungen auf, die auch ein tief in die Stirn gezogenes Kopftuch nicht verbergen konnte.

»Wenn das Paul war, wird er mich kennenlernen.«

»Mom, sei nicht so theatralisch. Paolo hat nichts damit zu tun. Ich erklär es dir später.« Vorsichtig setzte Annika einen Fuß auf die Fixe Flunder, ein ehemaliges Rettungsboot, das Tilde mit viel Liebe und noch mehr hart erarbeitetem Geld restauriert hatte.

»Ich glaube, dein Kutter hat ein Leck«, sagte Annika und versuchte, den Karton mit der Torte und sich selbst in Balance zu halten.

»Alle alten Holzboote ziehen Wasser.« Tilde strich liebevoll über die geklinkerten Eichenplanken. Das Motorengeräusch, na ja, Hermann hatte kürzlich etwas von einer neuen Propellerwelle in seinen grauen Bart gemurmelt und dann mit den Schultern gezuckt. Das hieß so viel wie: »Wenn man das Geld dafür hat.«

Bitte, Professor Dykland, mach mich reich, schickte Tilde ein Stoßgebet zum Himmel.

Sie vertäute das Boot mit einem doppelten Palstek, denn der Wind hatte sich noch nicht gelegt.

»Gesche hat mir deine Post mitgegeben«, Annika kramte in ihrem Gepäck. »Es ist auch was von Paps dabei.«

Tilde legte den Stapel ungelesen beiseite und goss Tee auf.

Morgens Kaffee, tagsüber Tee mit klirrendem Kandis. Als Mahlzeit reichte ihr Bratfisch oder ein Fertiggericht. Gerne auch Käse auf die Faust. Kochen lag ihr nicht so, ihre Gäste wussten das.

»Hermann hat mir heute keinen Fisch gebracht«, wandte sie sich an Annika, die immer noch ihr Kopftuch trug. »Magst du ein Stück Käse? Oder lieber einen Pfannkuchen? Ich müsste im Schuppen noch ein paar Eier haben.«

»Schon gut, Mom, lass uns die Torte anschneiden. Sie ist vom besten Konditor in Köln.«

Tilde starrte auf das Ungetüm mit Marzipandecke und einer aus rosa Buttercreme aufgespritzten 60. An den Rändern pappten Tintenfische, Quallen und Würmer. Wattwürmer?

»Man kann sie mitessen. Sie sind aus Zucker. Paolo hat sie für dich entworfen.«

Aber unvermittelt zählte die Torte nicht mehr, nur noch das geschundene Gesicht ihrer Tochter, die endlich das Tuch abgenommen hatte und mit einer Mischung aus Trotz und Scham zu ihr hochschaute.

»Wenn Paolo es nicht war, wer war es dann?« Tilde schaffte es trotz des Schocks, mit ruhigen Händen den Tee einzuschenken.

Annika bediente sich mit Kandis und Rum aus der Karaffe und nahm dann schlürfend den ersten Schluck. Als wenn nichts wäre, saß sie im Schneidersitz auf dem Dschungelsofa und packte sich ein Kissen ins Kreuz.

»Ich hatte eine Gesichtsoperation«, begann sie sachlich. »Also keine Prügelei, wie du vermutet hast. Ich habe mir die Stirn- und Augenpartie straffen lassen, dazu noch kleine Korrekturen am Kinn und an der Nasenspitze.«

»Was stimmte denn nicht mit deiner Nase? Ich fand sie immer hübsch.« Es hörte sich blöd an, aber etwas Besseres fiel Tilde nicht ein. Ihre Tochter hatte sich mit dreißig liften lassen, sah aus wie ein Zombie, war vielleicht sogar entstellt für den Rest ihres Lebens. Wer hat das verbrochen, wollte sie fragen, aber Annika kam ihr zuvor.

»Du verstehst nichts davon, Mom. In ein paar Wochen sehe ich ganz anders aus. Aber für alle Fälle will ich morgen die Meinung von Professor Dykland einholen, er soll auf dem Gebiet der Beste sein.«

»Du meinst, er ist ein Schönheitschirurg?« Das hatte Tilde nicht gewusst. Sie kannte den Professor von einer Vernissage unter freiem Himmel als Sammler zeitgenössischer Kunst. Später hatte er sie einmal überraschend auf Ziegensand besucht und war hellauf begeistert von ihren Skulpturen gewesen. Eine kaufte er sofort, andere sollten folgen, nur die Auswahl falle ihm noch schwer, hatte er gesagt. Tilde hoffte täglich auf seinen Besuch.

»Der Mann hat sich bei mir als Künstler und Mäzen ausgegeben«, sagte sie.

»Aber das ist er doch auch«, betonte Annika. »Er vollbringt wahre Wunder. Auch du könntest zwanzig Jahre jünger aussehen, Mom. Ich bin mir sicher, er macht dir einen fairen Preis, und bezahlen kannst du ihn sogar in Raten, er hat eine soziale Ader, heißt es.«

»Noch bin ich kein Sozialfall«, erwiderte Tilde und zog dann mit Daumen und Zeigefinger ihre Gesichtshaut straff in Richtung Ohren. »Würde ich dir so besser gefallen? Oder so?« Sie zog eine Grimasse und riss dabei die Augen auf. »Schämst du dich etwa deiner greisen, ungelifteten Mutter?«

»Ach was, Mom, aber fast alle helfen heute der Natur ein bisschen nach. Am besten rechtzeitig. Glaub mir, auch für dich ist es noch nicht zu spät. Du bist schlank, hast einen kleinen Busen, vielleicht muss man nur die Augen und Halspartie machen. Soll ich dir nochmal diese tolle Kollagen-Creme schicken? Zeig mal, ich finde, man sieht schon die Wirkung.«

Mit Schrecken erinnerte sich Tilde an die Hartnäckigkeit, mit der Annika ihr eine Halscreme für 90 Euro aufgeschwatzt hatte, die sie inzwischen nur noch zur Fußpflege benutzte.

»Danke, ich stehe zu meinen Jahresringen«, beendete sie das Thema und säbelte ein großes Stück von der Torte ab.

»Du bekommst Besuch«, Annika bezog sich auf das hallende Geräusch von Schritten. Keiner konnte unbemerkt einen Turm von dieser Bauart betreten.

Malte stieß die schwere Tür auf. »Ich glaube, ich war zum Essen eingeladen.« Sein Blick streifte erst die Torte und dann Annika. »He, ich hoffe, du hast wenigstens gewonnen?«

Hastig band sie sich erneut das Tuch um.

»Was hast du da im Korb?«, lenkte sie ab.

Tilde nahm Malte den Korb ab. Es war ihr eigener, den sie gewöhnlich für ihren Tauschhandel nutzte. »Oh, Hermann hat Stinte gefangen«, sagte sie nach einem Blick auf den Inhalt erfreut. »Und was ist das?«

Sie zog einen Gegenstand aus dem Korb, der in bunte Seiten einer Illustrierten verpackt und mit einem aus Binsen geflochtenen Band verschnürt war. »Von dir, Malte?«

»Nein, von mir ist diese Kleinigkeit.« Er ging noch einmal vor die Tür und überreichte Tilde dann eine auf Holz gezogene Sammlung Vogelfedern. »Vertreter aller Vögel, die hier vorkommen oder rasten«, sagte er stolz. »Ich sammle sie seit einem Jahr für dich.«

»Ein zauberhaftes Geschenk«, bedankte sich Tilde und zeigte es stolz Annika.

»Würde mir auch gefallen«, sie strich vorsichtig über die Federn. »Und wer brät jetzt den Fisch?«

»Du kannst dir schon mal die Pfanne schnappen«, schlug Tilde vor. Im mütterlichen Befehlston von früher, der auch jetzt nicht seine Wirkung verfehlte. »Malte hilft beim Salat.«

»Du bist das Geburtstagskind«, kapitulierte Annika.

Neugierig nahm Tilde das mysteriöse Päckchen aus dem Korb und schälte das Geschenk aus der aufwendigen Verpackung.

»Es ist ein roter Stöckelschuh! Diesmal der rechte.« Sie sah Malte verdutzt an.

»Zufälle gibt es. Gleich ein komplettes Paar, und das auf Ziegensand. Wo mag die Besitzerin stecken? Ob Hermann etwas darüber weiß?«

»Warum, ist hier etwas passiert?« Annika war misstrauisch, seit sie einmal bei einem Spaziergang Hermann in langen grauen Unterhosen im Schilf begegnet war und er ihr in Panik einen halb vollen Eimer mit Fischeingeweiden entgegengeschleudert hatte.

»Nichts«, sagte Tilde beruhigend.

»Mom, es wird schon dunkel. Hast du unten abgeschlossen?«, fragte ihre hasenherzige Tochter mit weit aufgerissenen Augen.

»Warum soll ich abschließen, wenn ich doch zu Hause bin? Das mache ich nur, wenn Picknick-Gäste auf die Insel kommen und meinen Turm für einen öffentlichen Aussichtspunkt halten.«

Weitere Diskussionen zum Thema Sicherheit wurden zum Glück durchs Läuten des Telefons verhindert. Tilde sprang die Wendeltreppe zur oberen Etage hoch.

»Na, altes Mädel, hast du meine Geburtstagspost bekommen?«

Jasper Janssen, der Mann, den sie am Tag ihrer Silberhochzeit verlassen hatte. Ein frühpensionierter Kriminalbeamter, dessen Leidenschaft schon lange nur noch einarmigen Banditen galt.

Tilde hasste es, altes Mädel genannt zu werden, aber Jasper darauf hinzuweisen wäre Zeitverschwendung. Er hatte seinen vertrauten Nörgelton drauf. »Ich habe dir per Post meinen Besuch angekündigt. Ein bisschen Luftveränderung wird mir guttun. Hinter mir liegen harte Zeiten.«

Nein, ich frage ihn nicht, warum, beschloss Tilde.

»Du kannst kommen. Annika ist auch hier, sie wird sich freuen, dich zu sehen. Aber erwarte nicht, dass ich Umstände mache. Um deine Mahlzeiten musst du dich selbst kümmern.«

»Das ist ja nichts Neues. Leider bin ich momentan etwas knapp bei Kasse.« Tilde hatte nichts anderes erwartet.

»Du wirst schon nicht verhungern. Ich leih dir eine Angel.«

Es folgte ein Anruf von Gesche. Sie sagte mit Bedauern ab: eine Sitzung des Tourismusverbandes, das ging leider vor. Sie empfahl noch dringend, den Wetterbericht zu hören.

»Morgen ist mit einer schweren Sturmflut zu rechnen.«

»Ich hab’s schon in den Knochen gespürt. Sag mal, Gesche, hat sich bei euch zufällig eine Frau gemeldet, die ihre roten Stöckelschuhe vermisst?«

»Soll das ein Witz sein? Wenn überhaupt, verlieren die Leute ihre Regenschirme, aber keine Stöckelschuhe. Warum fragst du?«

»Strandgut.«

»Wart ein paar Tage ab, dann kannst du sie behalten und damit Furore machen.«

Tilde musste lachen. Sie auf solchen Schuhen! »Hast du schon mal daran gedacht, dich liften zu lassen?«, fragte sie spontan. Gesche war nur ein paar Jahre jünger als sie.

»Du meinst, damit ich vielleicht noch einen Kerl abbekomme? Ich bin doch nicht verrückt. Die im passenden Alter haben selbst keinen knackigen Arsch mehr.«

Malte und Annika saßen friedlich vereint am Küchentisch und hatten die gusseiserne Pfanne mit den Stinten zwischen sich gestellt. »Es ist besser, man isst sie heiß«, sagte Malte mit vollem Mund, und Annika wischte ihren Teller genüsslich mit einer dicken Scheibe Brot aus.

»Ab nächster Woche lebe ich dann wieder Diät«, teilte sie mit. »Eine Fettabsaugung kann ich mir finanziell nicht erlauben.«

Tilde starrte ihre gertenschlanke Tochter an. Wer setzte ihr bloß solche Flöhe ins Ohr?

Es musste Paul sein, der in Köln eine Model-Agentur leitete und aus den normalsten, hübschesten Mädchen dürre Kleiderständer zu machen wusste, bevor er sie auf den Laufsteg schickte.

Gott sei Dank war Annika nur seine persönliche Assistentin und modelte nicht selbst. Doch wie weit reichte sein Einfluss?

»Ich glaube, da kommt noch jemand«, flüsterte Annika. Ihre Gabel hielt sie wie eine Waffe umklammert.

In der Tat. Leichte Vibrationen, dann das Geräusch von Schritten. Dazwischen Pausen. Ein Gast, der nicht recht wusste ... sollte er, oder sollte er nicht?

Tilde ging ihm entgegen. »Komm rein, Hermann.«

3. Kapitel

Er sah ein bisschen anders aus als die Menschen, die Annika gewohnt war, das musste Tilde zugeben. Die schiefe Körperhaltung war keine Verwachsung, sondern nur eine linkische Muskelverkrampfung. Allzeit auf der Flucht, rühr mich nicht an, schien sie auszudrücken.

Die grauen Haare ließ er wachsen, aber heute waren sie mit einem Band ordentlich zusammengenommen. Seine Ölkleidung roch etwas streng, aber ihre eigene roch garantiert nicht besser. Die Hände hielt er hinter seinem Rücken.

»Ich danke dir für die Stinte«, sagte Tilde betont herzlich, da Annika noch immer krampfhaft ihr Besteck gezückt hielt. »Und vor allem auch für den Schuh. Jetzt habe ich ein vollständiges Paar.«

Sie holte den linken Schuh, den sie zum Trocknen in die Nähe des Radiators gestellt hatte, hervor und stellte ihn neben den rechten.

Hermann schüttelte ratlos den Kopf.

»Na los, gib ihn Tilde«, forderte Malte, der schon erspäht hatte, was der Besucher hinter dem Rücken verbarg.

Diesmal war das Geschenk nicht eingepackt. Es handelte sich um – einen weiteren roten Stöckelschuh. Einen linken.

Tilde stellte ihn zu dem anderen Paar. »Jetzt habe ich drei Stück. Zwei linke und einen rechten.«

Hermann starrte auf die rote Reihe und zählte. »Einer fehlt noch.«

»Könnten sie aus einem beschädigten Container stammen?«, vermutete Annika.

»Unwahrscheinlich, dann wären es viel mehr«, sagte Tilde. Sie beobachtete Hermann. Er musste einen weiteren Grund haben, sie aufzusuchen.

»Noch andere Strandfunde heute, Hermann?«

Er antwortete zunächst nicht, sondern fixierte Annika. »Meine Fresse«, murmelte er.

Annika sprang auf und stürmte die Treppe hoch in die obere Etage.

Tilde sah ihr kopfschüttelnd nach. »Wolltest du mit uns feiern, Hermann?«

»Das Boot muss gesichert werden. Könnte abtreiben.« War er deshalb gekommen? Inzwischen peitschte der Regen gegen den Turm, Tilde griff nach ihrem Wetterzeug, aber Malte hielt sie zurück.

»Ich mach das mit Hermann. Muss sowieso wieder zurück. Bleib du besser bei ihr.« Er wies mit dem Daumen nach oben.

»Danke«, Tilde nickte den beiden Männern zu. Verdammt, sie hatte sechzig Jahre auf dem Buckel, da war falscher Ehrgeiz unangebracht, die Fixe Flunder würde es ihr verzeihen.

»Mom, ab wann hast du angefangen, dich alt zu fühlen? Ich meine, so richtig alt?« Annika hatte sich in Tildes Bett gekuschelt und machte keine Anstalten, diesen Platz wieder aufzugeben.

»In deinem Alter war ich uralt. Dann fing ich an, mich stetig zu verjüngen. So mit fünfzig beschloss ich, alles nachzuholen, was ich bisher versäumt hatte. Nach der Trennung von deinem Vater hatte ich so viel Energie wie noch nie, und jetzt werde ich einfach nicht richtig alt. Annika?«

Sie war eingeschlafen. Mit den Lebensergüssen ihrer ungelifteten Mutter als Schlaflied.

Ein dumpfer Schlag lockte Tilde am Morgen vor die Tür. Eine Sturmmöwe war gegen den Turm geprallt und lag blutend mit gebrochenen Augen und Schwingen direkt vor dem Eingang, das Federkleid blähte sich im Wind.

Warum ihr Orientierungssinn sie verlassen hatte, blieb ein Geheimnis der Natur. Schnell räumte Tilde den Kadaver weg, um Annika den Anblick zu ersparen.

Wenig später kam ihre Tochter gut gelaunt die Treppe herunter.

»Arme Mom, hast du auf diesem harten Sarkophag schlafen müssen? Und noch nicht mal dein Geburtstagsgeschenk von mir bekommen! Ich bin eine schlechte Tochter.«

Während sie ihren Kaffee tranken, erinnerte sich Tilde mit Schrecken an die Geburtstagsgeschenke der letzten Jahre: einen Gutschein für eine Nagelmodellage, inzwischen längst verfallen, ein Epiliergerät gegen unerwünschte Härchen und als Krönung einen Bildband über Marmorengel auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Damit man sich schon zu Lebzeiten Gedanken über die eigene Grabgestaltung machen konnte, eine Einstellung, die Annikas väterliches Erbteil sein musste.

»Ich weiß, dass du dir einen Leuchtturmkalender gewünscht hast.« Annika kramte in ihrem Beutel, und Tilde schöpfte Hoffnung. Sie wünschte sich bereits seit Jahren immer wieder aufs Neue einen Leuchtturmkalender, offenbar ein zu banaler Wunsch.

»Aber dann dachte ich mir, einen Kalender kannst du dir selber kaufen.« Annika hielt plötzlich einen großformatigen goldenen Briefumschlag in der Hand.

Ein Gutschein, wieder einmal?

Hoffentlich etwas, das man gegen Bootslack oder ein vernünftiges Fernglas eintauschen konnte. Im Internet sollte es doch so eine Tauschbörse geben ...

»Der Gutschein ist auf dich persönlich ausgestellt«, betonte Annika, und Tilde meinte, einen belustigten Unterton zu vernehmen.

»Du kannst ihn nicht weiter verschenken.«

Wer hatte denn an Verschenken gedacht? Lieber verkaufen!

»Frischzellenkur, Ginsengbäder, Lomilomi-Massage, Fußsohlenstraffung, Rundumerneuerung an einem Wochenende.«

»Ich bin doch kein alter Autoreifen«, rutschte es Tilde heraus. Aber dann fügte sie schnell hinzu: »Neue Fußsohlen, das klingt gut, wirklich!«

»Es ist Freitag, wir können gleich heute einen Termin für dich machen. Planet Venus hat den allerbesten Ruf.«

»Planet Venus«, wiederholte Tilde wie ein Papagei.

»Das ist die Best-Ager-Abteilung bei Professor Dykland. Wir hatten doch gestern das kleine Gespräch über Verschönerungsmaßnahmen, du erinnerst dich, Mom?«

»Na klar. Es ging um meinen Hals.« Oder um Kopf und Kragen, ich mache diesen Best-Ager-Quatsch nicht mit, beschloss Tilde für sich.

Sie brachen früher auf als geplant. Während Tilde sich insgeheim Sorgen um das Wetter machte, hatte Annika nur ihren Termin im Ästheticum, wie die Klinik korrekt hieß, im Kopf.

Gleich hinter dem Deich wartete das bestellte Taxi. Tilde wäre lieber gelaufen, aber Annika meinte, die Spesen des Tages gehörten mit zum Geburtstagsgeschenk.

»Ich bin ein wenig aufgeregt«, gab Annika zu, als sie an der in Pastellfarben gehaltenen Rezeption standen. Im Flüsterton, denn die Empfangsdame – ebenfalls in Pastell – schien ein wichtiges Telefonat zu führen.

»Ich nicht«, tönte Tilde und lehnte sich gegen den Tresen, als ob sie in der Kneipe Zum scharfen Seehund stünde.

»Wo geht’s denn hier zur Venus?«, unterbrach sie mit Erfolg das Gespräch, was ihr einen giftigen Blick der Pastellfarbenen einbrachte.

»Sie werden gleich persönlich abgeholt«, das war für Annika bestimmt, mit professionellem Lächeln versehen.

»Und Sie«, der Blick streifte Tilde vom Scheitel bis zur Sohle, »gehen Sie bitte außen rum und melden sich bei unserer Nicole.«

»Wir sehen uns später in der Cafeteria, Mom.«

Nicole entpuppte sich als fröhliche Mittvierzigerin. Oder als geliftete Siebzigjährige, das konnte man auf dem Planeten Venus nicht so genau wissen.

Schon saß man in der Apollo-Lounge über einem Grapefruit-Karotten-Saft. Nicole studierte zunächst den Geschenkgutschein und dann Tilde.

»Sie haben einen guten Teint. Aber jede Rose wird einmal zur Hagebutte.« Freundliches Lachen.

Dem konnte Tilde nichts entgegenhalten außer ihrem berühmten »Diese Fregatte wird noch lange nicht abgewrackt«.

Nicole freute sich. »Das ist echt gut. Das muss ich mir merken.« Sie wischte sich eine Lachträne aus dem Auge. »Spaß beiseite, haben Sie einen Bademantel mitgebracht?«

Jetzt musste Tilde taktisch vorgehen. »Wissen Sie, Nicole, ich würde diesen Gutschein lieber später einlösen. Unter uns Golden Oldies, ich möchte ihn mir in bar auszahlen lassen.«