Tod an der Ostsee - Anke Cibach - E-Book
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Tod an der Ostsee E-Book

Anke Cibach

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Beschreibung

Mörderische Spuren im Sand – und finstere Wogen, die tödliche Geheimnisse bergen: Der Krimi-Sammelband »Tod an der Ostsee« als eBook bei dotbooks. DER TOTE IM LEUCHTTURM: Das zurückgezogene Künstlerleben der 60-jährigen Tilde Janssen nimmt eine schockierende Wendung, als auf einmal eine Leiche vor ihrem Zuhause, einem stillgelegten Leuchtturm, angeschwemmt wird – und sie im Leichnam ihren Mäzen Professor Dykland erkennt! Wie konnte es zu diesem schrecklichen Mord kommen? Tilde beschließt, den seltsamen Fall auf eigene Faust zu klären … SPUR IN DIE DUNKELHEIT: Die junge Moldauerin Irina hofft auf ein besseres Leben im »Goldenen Westen« – und erkennt zu spät, dass sie sich den Falschen anvertraut hat: Geschunden und missbraucht wird sie in eine deutsche Hafenstadt verschleppt. Durch einen Zufall kreuzt ihr Weg den des Dozenten Frank Thervall. Er will Irina helfen, doch wer sich mit den skrupellosen Schleppern des modernen Sklavenhandels anlegt, riskiert sein Leben … MORD IN TRAVEMÜNDE – TÖDLICHE BRISE: Übersetzerin Nina Wagner braucht dringend etwas Abwechslung – und beschließt deshalb kurzerhand, ihren Großstadtalltag gegen ein Leben im Touristenparadies Travemünde zu tauschen. Statt friedlicher Ostseeidylle wird sie jedoch prompt in einen Mordfall verwickelt – und für die Polizei steht fest: Nina ist die Täterin. Um nicht unschuldig hinter Gittern zu landen, beginnt sie selbst die Ermittlungen. Doch der Mörder ist ihr näher, als sie ahnt … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Krimi-Sammelband »Tod an der Ostsee« vereint die Krimi-Highlights »Der Tote im Leuchtturm« von Anke Cibach, »Spur in die Dunkelheit« von Tilmann Schott und »Mord in Travemünde – Tödliche Brise« von Anke Gebert. Fans von Eva Almstädt und Klaus Peter-Wolf werden begeistert sein! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

DER TOTE VOM LEUCHTTURM: Das zurückgezogene Künstlerleben der 60-jährigen Tilde Janssen nimmt eine schockierende Wendung, als auf einmal eine Leiche vor ihrem Zuhause, einem stillgelegten Leuchtturm, angeschwemmt wird – und sie im Leichnam ihren Mäzen Professor Dykland erkennt! Wie konnte es zu diesem schrecklichen Mord kommen? Tilde beschließt, den seltsamen Fall auf eigene Faust zu klären …

SPUR IN DIE DUNKELHEIT: Die junge Moldauerin Irina hofft auf ein besseres Leben im »Goldenen Westen« – und erkennt zu spät, dass sie sich den Falschen anvertraut hat: Geschunden und missbraucht wird sie in eine deutsche Hafenstadt verschleppt. Durch einen Zufall kreuzt ihr Weg den des Dozenten Frank Thervall. Er will Irina helfen, doch wer sich mit den skrupellosen Schleppern des modernen Sklavenhandels anlegt, riskiert sein Leben …

MORD IN TRAVEMÜNDE – TÖDLICHE BRISE: Übersetzerin Nina Wagner braucht dringend etwas Abwechslung – und beschließt deshalb kurzerhand, ihren Großstadtalltag gegen ein Leben im Touristenparadies Travemünde zu tauschen. Statt friedlicher Ostseeidylle wird sie jedoch prompt in einen Mordfall verwickelt – und für die Polizei steht fest: Nina ist die Täterin. Um nicht unschuldig hinter Gittern zu landen, beginnt sie selbst die Ermittlungen. Doch der Mörder ist ihr näher, als sie ahnt …

Eine Übersicht über die Autorinnen und Autoren finden Sie am Ende dieses eBooks.

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Sammelband-Originalausgabe Juni 2024

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Die Originalausgabe von »Der Tote vom Leuchtturm« erschien erstmals 2009 bei Rowohlt Verlag GmbH, München; Copyright © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH; Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München.

Die Originalausgabe von »Spur in die Dunkelheit« erschien erstmals 2012 unter dem Originaltitel »Spur der Tränen« bei dotbooks GmbH, München; Copyright © 2012 by dotbooks GmbH, München; Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München.

Die Originalausgabe von »Mord in Travemünde: Tödliche Brise« erschien erstmals 2012 unter dem Originaltitel »Sturz in den Tod« im Emons Verlag, Köln; Copyright © 2012 Hermann-Josef Emons Verlag; Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Stefan Hilden, hildendesign.de unter Verwendung von Bildmotiven von © Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)

ISBN 978-3-98952-100-1

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Anke Cibach, Tilmann Schott, Anke Gebert

Tod an der Ostsee

Drei Krimis in einem eBook:

»Der Tote vom Leuchtturm«, »Spur in die Dunkelheit« und »Mord in Travemünde: Tödliche Brise«

dotbooks.

Anke CibachDer Tote vom Leuchtturm

Auf einer kleinen Insel in der Elbe steht ein stillgelegter Leuchtturm. Darin wohnt die 60-jährige Tilde Janssen. Sie verdient ihr Geld mit Skulpturen aus Schwemmholz und liebevollen Illustrationen, nachmittags besucht sie ihre Nachbarn zum Kaffee. Ihr Leben ist eigentlich ganz gemütlich, und normalerweise passiert auch nicht viel – bis nach einem Sturm diese Leiche angeschwemmt wird: Professor Dykland, ihr Mäzen! Warum ist er tot, wieso landete er ausgerechnet vor ihrem Leuchtturm – und weshalb trägt er einen Frack? Tilde will den seltsamen Fall auf eigene Faust aufklären. Doch dabei lernt sie einige kuriose Seiten ihrer Nachbarn kennen, die sie nie erwartet hätte …

Motto

»Je höher der Turm, desto stärker der Wind.«

Kapitel 1

Die Möwen schrien anders als sonst. Ruhelose Seelen, auf ewig dazu verdammt, klagend ihre Kreise über dem Wasser zu ziehen, wenn man den alten Geschichten Glauben schenken konnte. Oder lag es am plötzlichen Kälteeinbruch im April?

Tilde Janssen spürte nicht nur ihre Knochen, sondern auch, dass etwas in der Luft lag. Etwas Undefinierbares. Eine seltsame Unruhe. Es hielt sie nicht länger im Bett. Schnell zog sie sich eine Strickjacke über den Pyjama, griff nach dem Fernglas und trat auf die Plattform ihres Turms. Windstärke sechs bis sieben, schätzte sie, und die Wolkenfetzen verhießen nichts Gutes für den Tag.

Also kein Kaiserwetter an ihrem sechzigsten Geburtstag. Systematisch suchte Tilde mit dem Fernglas die kleine Elbinsel Ziegensand ab. Meine Insel, mein Turm, dachte sie trotzig.

Ziegensand lag nicht weit vom Schifffahrtsweg entfernt, die großen Pötte zogen hier vorbei, elbaufwärts nach Hamburg, elbabwärts in Richtung Nordsee und des Restes der Welt. Ziegensand hatte, soweit Tilde wusste, noch niemals Ziegen beherbergt, aber vom Umriss her diesem Tier einmal geähnelt, bis Wind und Wellen die Konturen verwischt hatten.

Der Turm mit dem angebauten Wohnhaus war früher ein Leitfeuer gewesen, hatte aber dann im Zuge von Modernisierungsmaßnahmen an Bedeutung für die Schifffahrt verloren.

Abwracken wollten sie ihn damals, ihren runden rot-weißen Turm auf dem schwarzen Sockel. Tilde hatte ihn vor fünf Jahren zum Schrott- und Spottpreis ersteigert. Der Bebauungsplan ließ zwar offiziell keine Wohnnutzung zu, aber wenn man erst mal das Hausrecht hatte ...

Als Alleinherrin der Insel konnte sie sich trotzdem nicht bezeichnen. Es gab noch eine Vogelschutzstation im Osten der Insel und in der Mitte den Kiosk des Campingplatzes, der nur im Sommer genutzt wurde. Dort wohnte sporadisch der alte Hermann. Nein, er wohnte nicht, er hauste. Ein Menschenfeind, sagten die Leute hinter dem Deich. Nicht alle Tassen im Schrank, gaga, durch den Wind. Tilde wusste es besser: Hermann wollte einfach seine Ruhe haben. Ihm genügte es, zu fischen und ihr ab und zu einen Weidenkorb mit Zander oder Aal vor den Turm zu legen. Im Austausch packte sie ein paar Konserven oder auch etwas Geld in den geleerten Korb. Dafür war kein großes Palaver mit Höflichkeitsfloskeln nötig.

Hermann kümmerte sich auch um die Fixe Flunder, wenn mal wieder der Motor streikte. Obwohl das Ufer nicht weit entfernt war, konnte sie ohne ihr geliebtes Tuckerboot nicht dorthin gelangen, selbst geübte Schwimmer fürchteten die tückische Strömung.

Ein weiteres Boot, das regelmäßig zur Insel fuhr, lag Ziegensand gegenüber unterhalb des Deichs und gehörte dem Tourismusverein. Wenn die sommersprossige Gesche mal wieder ein Trüppchen zum Picknick übersetzte, wurde der Dicke, wie Tilde ihr Wolkennest liebevoll nannte, zum Elfenbeinturm.

Es sei denn, sie war draußen so in ihre Arbeit vertieft, dass sie alles um sich herum vergaß.

Bei dem Gedanken an ihr neues Werk wurde es Tilde ganz warm ums Herz. Seit Wochen hatte sie auf ein passendes Stück Treibholz gewartet, um die Henkersmahlzeit vollenden zu können. Eine mannshohe Skulptur, ganz aus Strandfunden gearbeitet. Ein aufmerksamer Beobachter konnte darin eine Gruppe Menschen – oder eher Wesen – erkennen, augenlos, mit weit geöffneten Mündern. Sie scharten sich um ein Netz mit Fischen, das von einer gewaltigen Hand wieder ins Meer zurückgezogen wurde.

Warum Henkersmahlzeit? Das wusste Tilde selbst nicht. Es war nur so eine Intuition. Mochte der Betrachter das Werk interpretieren, wie er wollte.

Schwemmholz sah in Tildes Augen häufig nach Meeresbewohnern aus. Und die waren es schließlich auch, die Tilde den Lebensunterhalt sicherten.

Ob Quastenflosser, Heringsschwarm, Tiefseekraken oder ein norddeutscher Plattfisch wie der Butt, Tilde zeichnete sie alle. Mal mit den filigranen Strichen einer Feder, dann wieder in Acryl- oder Aquarelltechnik, je nach Auftrag.

Die Fachbuchverlage zahlten mäßig, aber immerhin regelmäßig. Tilde galt nach all den Jahren als Spezialistin für die Illustration von Angelliteratur. Und das, obwohl sie noch nie selbst eine Angel in der Hand gehalten hatte. Aber das musste ja keiner wissen.

Sie wappnete sich für ihren Ehrentag mit schwarzem Kaffee, in den sie ausnahmsweise einen Schuss Rum gab, das beste Mittel gegen Gliederreißen, aufziehende Erkältungen, Stimmungsschwankungen und dominante Töchter. Und der Anruf von Annika ließ tatsächlich nicht lange auf sich warten.

»Happy Birthday, Mom. Alles Gute zum 59.«

Konnte sie nicht ordentliches Deutsch sprechen? Mom? Tilde war keine Mom, und Anglizismen wie happy birthday passten ihr auch nicht. Aber sie wollte keinen Streit, nicht jetzt schon.

»Ich bin sechzig geworden«, merkte sie stattdessen an.

»Das weiß ich doch«, erwiderte Annika. »Aber die Zahl hört sich irgendwie nicht so nett an.«

»Ich mag sie.« Tilde schaltete auf stur.

»Mom, sei nicht so ... du weißt schon, wie.«

Und ob ich das weiß, dachte Tilde und versuchte einzulenken. »Wie sieht’s aus bei dir? Was macht Paul?«

Immerhin, sie hatte sich an den Lebensgefährten ihrer Tochter erinnert.

»Er heißt Paolo.« Kurzes Schweigen. Beleidigt? Offenbar nicht. »Er bedauert es sehr, nicht mit dir feiern zu können. Aber wir holen das nach.«

»Ganz bestimmt«, meinte Tilde friedfertig.

»Also wirst du heute mit mir vorliebnehmen müssen.«

»Du musst doch nicht extra aus Köln herkommen!«

»Ich weiß, Mom. Aber ich bin schon fast da. Kannst du mich bitte in einer Stunde mit der Fixen Flunder vom Deich abholen?«

Tilde atmete tief durch. Eine Tochter blieb eine Tochter, auch mit dreißig, zumal es die einzige war. »Natürlich. Ich freu mich schon. Allerdings bin ich nicht auf Besuch eingestellt. Bleibst du länger?«

»Höchstens ein oder zwei Nächte. Ich bringe alles mit, sogar eine Geburtstagstorte. Hat Paps sich gemeldet?« Sehnsucht in der Stimme, sie war schon immer eine Vatertochter gewesen.

»Ich glaube, er ist auf Reisen«, sagte Tilde diplomatisch. Von Spielbank zu Spielbank, solange das Geld reichte, erst dann kam er, um seine Exfrau anzupumpen. Aber das sagte sie nicht.

»Erwartest du noch andere Gäste?«

Raffiniert gefragt. In Wirklichkeit wollte Annika doch nur wissen, ob der Liebhaber ihrer Mutter aufkreuzen würde. Der, den sie, Annika, einmal als Proll bezeichnet hatte, bloß weil er von der oberen Plattform nach unten gepinkelt hatte. Ein einmaliger Verstoß gegen die guten Sitten, zurückzuführen auf den Genuss von Starkbier, aber musste man sich vor seiner Tochter rechtfertigen?

»Ralf ist bei seiner Frau.« Tilde registrierte Annikas erleichterten Stoßseufzer.

»Aber vielleicht kommen ein paar Leute von hier.«

»Du meinst den süßen, bärtigen Vogelmenschen und Hermann, den Einsiedler? Gesche nennt ihn ja den Glöckner von Ziegensand.«

»Hör nicht auf das dumme Gequatsche von Gesche«, Tilde war ernsthaft verärgert.

»Tut mir leid, Mom. Ich bin doch nur in Sorge, dir könnte was passieren. Also nichts gegen deine Insulaner-Szene.«

»Es sind meine Freunde«, betonte Tilde. »Vielleicht kommt auch noch ein neuer Bekannter vorbei, der sich für meine Kunst interessiert. Hast du schon mal was von Professor Dykland gehört?«

Warum schwieg Annika so lange?

»Ich habe morgen einen Termin bei ihm, Mom. Lass uns später darüber sprechen.«

Tilde machte in ihrem Turm Klarschiff, wie sie es nannte. Von oben nach unten. Runde Ecken beim Putzen, das war hier legitim, denn andere Ecken gab es nicht. Die Regale im Oberstübchen, das gleichzeitig Wohn-, Schlaf-, Arbeits- und Panoramazimmer war, hatte sie selbst gezimmert. Windschief, aber das wirkte fast schon wieder künstlerisch.

Der halbrunde Arbeitstisch aus Mooreiche war eine Sonderanfertigung, den ihr ein Tischler im Tausch gegen eine ihrer Skulpturen (Neptuns Rache) in Einzelteilen hochgeschleppt und dann erst zusammengebaut hatte.

Eines der wenigen Male, dass ihr eine Skulptur etwas eingebracht hatte.

Tilde ging die Wendeltreppe hinunter ins Ankleide-, Lese- und Gästezimmer. Nebst Teeküche, ihre praktische Kombietage. Statt eines Kleiderschranks gab es mit Vorhängen versehene breite Ständer und eine beachtliche Anzahl von Deckelkörben aus Sisal, die die ständig herrschende Feuchtigkeit aufsogen und einen großen Teil ihrer Habe enthielten. Wer in einem Turm lebte, musste sich auf das Nötigste beschränken, das war nun mal so.

Der rote Plüschsessel mit passendem Fußteil und die Stehlampe aus schwarz angelaufenem Messing mit schwenkbarem Arm waren Flohmarkt-Schnäppchen, das im Dschungel-Look gehaltene moderne Sofa ein Geschenk von Annika.

Zwei Nischen im Mauerwerk dienten mit Matratzenauflagen als Gästebetten. Steinhart, aber das beugt Rückenbeschwerden vor, pflegte Tilde ihrem Logierbesuch mit ernster Stimme zu erklären.

Unten, also im Erdgeschoss, wenn man es so nennen wollte, gab es das, was Architekten gerne als Nasszelle bezeichneten. Aber eine Dusche war eine Dusche, und im Sommer stieg Tilde unbekümmert in die Elbe. Das war inzwischen wieder möglich, die Wasserqualität hatte sich dank diverser Umweltauflagen stark verbessert.

Das an den Turm angebaute Gebäude war vom Zahn der Zeit und vom Hochwasser so beschädigt, dass Tilde es nur als Rumpelkammer nutzte. Eine Renovierung konnte sie sich nicht leisten. Also lagerte sie dort Werkzeug, Konserven und allerlei, das, in Planen verpackt, bei einer Sturmflut schleunigst in den Turm geschafft werden musste.

Zeit für ihren Morgenspaziergang. Tilde reckte und streckte sich, prüfte noch einmal die Windrichtung und schaute dann in den Weidenkorb. Nein, heute gab es keinen frischen Fisch, schade. Vielleicht musste sie doch noch einkaufen.

Sie ging zur Nordwestseite, an der als Schutzmaßnahme Steine aufgeschüttet waren. Auf dem schmalen Sandstreifen direkt am Wasser lag ihre Tagesbeute. Der Wind hatte ihr neues Treibholz beschert, dazu Reste eines Fischernetzes, in dem sich ein roter Ball verfangen hatte.

Tilde kniff die Augen zusammen. Nein, ein Ball war es nicht, auch kein versehentlich über Bord gegangener Fender. Vorsichtig kletterte sie über die Steine und nahm ihren Fund näher in Augenschein: einen knallroten Stöckelschuh, einen linken, anscheinend noch nicht lange dem Wasser ausgesetzt, denn das Leder war kaum aufgequollen.

Wie dumm von der Besitzerin, sich mit solchen Absätzen ans oder gar aufs Wasser zu wagen. Tilde nahm den Schuh samt Netz mit, um ihn später in eins ihrer Kunstwerke zu integrieren. Aber vielleicht gab es ja noch ein Gegenstück? Sie betrachtete aufmerksam den Spülsaum.

»Hat dir die Natur etwas zum Geburtstag beschert?«

Wie üblich hatte sie Malte nicht kommen gehört, freute sich aber, als er sie zum Gratulieren in den Arm nahm.

Ein Vogelwart, jung an Jahren, alt an Erfahrung, wie er selbst versicherte. Zunächst nur im Rahmen eines freiwilligen sozialen Jahres auf Ziegensand eingesetzt, aber dann kam er doch immer wieder hierher zurück. Zum Auftanken, um anschließend wieder der Zivilisation gewachsen zu sein, behauptete er.

Vielleicht auch, um Ruhe vor der einen oder anderen Flamme zu haben, vermutete Tilde, denn Malte war definitiv ein Frauentyp, mit seinem schwarzen lockigen Haar und den blauen Augen, die so intensiv in andere Augen eintauchen konnten.

Wenn er zehn Jahre älter und sie zwanzig Jahre jünger wäre ...

»Woran denkst du, Tilde?«

»An die Vergänglichkeit des Lebens«, sagte sie spöttisch. »Ich fühle mich noch immer nicht alt. Woran mag das liegen?«

»Diese Fregatte wird noch lange nicht abgewrackt«, zitierte er Tildes eigenen Lieblingsspruch, und dann mussten sie beide lachen und hörten erst auf, als ein Platzregen einsetzte, der sie in verschiedene Richtungen flüchten ließ.

»Kommst du heute Abend?«, rief sie ihm nach. Doch seine Antwort wurde von den kreischenden Möwen übertönt.

Und sie schreien doch anders als sonst, war sich Tilde sicher und schauderte.

Kapitel 2

»Wer hat das getan?« Tilde stand breitbeinig auf ihrem schwankenden Tuckerboot und reichte Annika zum Einsteigen die Hand. Das Gesicht ihrer Tochter war blau verfärbt und wies Schwellungen auf, die auch ein tief in die Stirn gezogenes Kopftuch nicht verbergen konnte.

»Wenn das Paul war, wird er mich kennenlernen.«

»Mom, sei nicht so theatralisch. Paolo hat nichts damit zu tun. Ich erklär es dir später.« Vorsichtig setzte Annika einen Fuß auf die Fixe Flunder, ein ehemaliges Rettungsboot, das Tilde mit viel Liebe und noch mehr hart erarbeitetem Geld restauriert hatte.

»Ich glaube, dein Kutter hat ein Leck«, sagte Annika und versuchte, den Karton mit der Torte und sich selbst in Balance zu halten.

»Alle alten Holzboote ziehen Wasser.« Tilde strich liebevoll über die geklinkerten Eichenplanken. Das Motorengeräusch, na ja, Hermann hatte kürzlich etwas von einer neuen Propellerwelle in seinen grauen Bart gemurmelt und dann mit den Schultern gezuckt. Das hieß so viel wie: »Wenn man das Geld dafür hat.«

Bitte, Professor Dykland, mach mich reich, schickte Tilde ein Stoßgebet zum Himmel.

Sie vertäute das Boot mit einem doppelten Palstek, denn der Wind hatte sich noch nicht gelegt.

»Gesche hat mir deine Post mitgegeben«, Annika kramte in ihrem Gepäck. »Es ist auch was von Paps dabei.«

Tilde legte den Stapel ungelesen beiseite und goss Tee auf.

Morgens Kaffee, tagsüber Tee mit klirrendem Kandis. Als Mahlzeit reichte ihr Bratfisch oder ein Fertiggericht. Gerne auch Käse auf die Faust. Kochen lag ihr nicht so, ihre Gäste wussten das.

»Hermann hat mir heute keinen Fisch gebracht«, wandte sie sich an Annika, die immer noch ihr Kopftuch trug. »Magst du ein Stück Käse? Oder lieber einen Pfannkuchen? Ich müsste im Schuppen noch ein paar Eier haben.«

»Schon gut, Mom, lass uns die Torte anschneiden. Sie ist vom besten Konditor in Köln.«

Tilde starrte auf das Ungetüm mit Marzipandecke und einer aus rosa Buttercreme aufgespritzten 60. An den Rändern pappten Tintenfische, Quallen und Würmer. Wattwürmer?

»Man kann sie mitessen. Sie sind aus Zucker. Paolo hat sie für dich entworfen.«

Aber unvermittelt zählte die Torte nicht mehr, nur noch das geschundene Gesicht ihrer Tochter, die endlich das Tuch abgenommen hatte und mit einer Mischung aus Trotz und Scham zu ihr hochschaute.

»Wenn Paolo es nicht war, wer war es dann?« Tilde schaffte es trotz des Schocks, mit ruhigen Händen den Tee einzuschenken.

Annika bediente sich mit Kandis und Rum aus der Karaffe und nahm dann schlürfend den ersten Schluck. Als wenn nichts wäre, saß sie im Schneidersitz auf dem Dschungelsofa und packte sich ein Kissen ins Kreuz.

»Ich hatte eine Gesichtsoperation«, begann sie sachlich. »Also keine Prügelei, wie du vermutet hast. Ich habe mir die Stirn- und Augenpartie straffen lassen, dazu noch kleine Korrekturen am Kinn und an der Nasenspitze.«

»Was stimmte denn nicht mit deiner Nase? Ich fand sie immer hübsch.« Es hörte sich blöd an, aber etwas Besseres fiel Tilde nicht ein. Ihre Tochter hatte sich mit dreißig liften lassen, sah aus wie ein Zombie, war vielleicht sogar entstellt für den Rest ihres Lebens. Wer hat das verbrochen, wollte sie fragen, aber Annika kam ihr zuvor.

»Du verstehst nichts davon, Mom. In ein paar Wochen sehe ich ganz anders aus. Aber für alle Fälle will ich morgen die Meinung von Professor Dykland einholen, er soll auf dem Gebiet der Beste sein.«

»Du meinst, er ist ein Schönheitschirurg?« Das hatte Tilde nicht gewusst. Sie kannte den Professor von einer Vernissage unter freiem Himmel als Sammler zeitgenössischer Kunst. Später hatte er sie einmal überraschend auf Ziegensand besucht und war hellauf begeistert von ihren Skulpturen gewesen. Eine kaufte er sofort, andere sollten folgen, nur die Auswahl falle ihm noch schwer, hatte er gesagt. Tilde hoffte täglich auf seinen Besuch.

»Der Mann hat sich bei mir als Künstler und Mäzen ausgegeben«, sagte sie.

»Aber das ist er doch auch«, betonte Annika. »Er vollbringt wahre Wunder. Auch du könntest zwanzig Jahre jünger aussehen, Mom. Ich bin mir sicher, er macht dir einen fairen Preis, und bezahlen kannst du ihn sogar in Raten, er hat eine soziale Ader, heißt es.«

»Noch bin ich kein Sozialfall«, erwiderte Tilde und zog dann mit Daumen und Zeigefinger ihre Gesichtshaut straff in Richtung Ohren. »Würde ich dir so besser gefallen? Oder so?« Sie zog eine Grimasse und riss dabei die Augen auf. »Schämst du dich etwa deiner greisen, ungelifteten Mutter?«

»Ach was, Mom, aber fast alle helfen heute der Natur ein bisschen nach. Am besten rechtzeitig. Glaub mir, auch für dich ist es noch nicht zu spät. Du bist schlank, hast einen kleinen Busen, vielleicht muss man nur die Augen und Halspartie machen. Soll ich dir nochmal diese tolle Kollagen-Creme schicken? Zeig mal, ich finde, man sieht schon die Wirkung.«

Mit Schrecken erinnerte sich Tilde an die Hartnäckigkeit, mit der Annika ihr eine Halscreme für 90 Euro aufgeschwatzt hatte, die sie inzwischen nur noch zur Fußpflege benutzte.

»Danke, ich stehe zu meinen Jahresringen«, beendete sie das Thema und säbelte ein großes Stück von der Torte ab.

»Du bekommst Besuch«, Annika bezog sich auf das hallende Geräusch von Schritten. Keiner konnte unbemerkt einen Turm von dieser Bauart betreten.

Malte stieß die schwere Tür auf. »Ich glaube, ich war zum Essen eingeladen.« Sein Blick streifte erst die Torte und dann Annika. »He, ich hoffe, du hast wenigstens gewonnen?«

Hastig band sie sich erneut das Tuch um.

»Was hast du da im Korb?«, lenkte sie ab.

Tilde nahm Malte den Korb ab. Es war ihr eigener, den sie gewöhnlich für ihren Tauschhandel nutzte. »Oh, Hermann hat Stinte gefangen«, sagte sie nach einem Blick auf den Inhalt erfreut. »Und was ist das?«

Sie zog einen Gegenstand aus dem Korb, der in bunte Seiten einer Illustrierten verpackt und mit einem aus Binsen geflochtenen Band verschnürt war. »Von dir, Malte?«

»Nein, von mir ist diese Kleinigkeit.« Er ging noch einmal vor die Tür und überreichte Tilde dann eine auf Holz gezogene Sammlung Vogelfedern. »Vertreter aller Vögel, die hier vorkommen oder rasten«, sagte er stolz. »Ich sammle sie seit einem Jahr für dich.«

»Ein zauberhaftes Geschenk«, bedankte sich Tilde und zeigte es stolz Annika.

»Würde mir auch gefallen«, sie strich vorsichtig über die Federn. »Und wer brät jetzt den Fisch?«

»Du kannst dir schon mal die Pfanne schnappen«, schlug Tilde vor. Im mütterlichen Befehlston von früher, der auch jetzt nicht seine Wirkung verfehlte. »Malte hilft beim Salat.«

»Du bist das Geburtstagskind«, kapitulierte Annika.

Neugierig nahm Tilde das mysteriöse Päckchen aus dem Korb und schälte das Geschenk aus der aufwendigen Verpackung.

»Es ist ein roter Stöckelschuh! Diesmal der rechte.« Sie sah Malte verdutzt an.

»Zufälle gibt es. Gleich ein komplettes Paar, und das auf Ziegensand. Wo mag die Besitzerin stecken? Ob Hermann etwas darüber weiß?«

»Warum, ist hier etwas passiert?« Annika war misstrauisch, seit sie einmal bei einem Spaziergang Hermann in langen grauen Unterhosen im Schilf begegnet war und er ihr in Panik einen halb vollen Eimer mit Fischeingeweiden entgegengeschleudert hatte.

»Nichts«, sagte Tilde beruhigend.

»Mom, es wird schon dunkel. Hast du unten abgeschlossen?«, fragte ihre hasenherzige Tochter mit weit aufgerissenen Augen.

»Warum soll ich abschließen, wenn ich doch zu Hause bin? Das mache ich nur, wenn Picknick-Gäste auf die Insel kommen und meinen Turm für einen öffentlichen Aussichtspunkt halten.«

Weitere Diskussionen zum Thema Sicherheit wurden zum Glück durchs Läuten des Telefons verhindert. Tilde sprang die Wendeltreppe zur oberen Etage hoch.

»Na, altes Mädel, hast du meine Geburtstagspost bekommen?«

Jasper Janssen, der Mann, den sie am Tag ihrer Silberhochzeit verlassen hatte. Ein frühpensionierter Kriminalbeamter, dessen Leidenschaft schon lange nur noch einarmigen Banditen galt.

Tilde hasste es, altes Mädel genannt zu werden, aber Jasper darauf hinzuweisen wäre Zeitverschwendung. Er hatte seinen vertrauten Nörgelton drauf. »Ich habe dir per Post meinen Besuch angekündigt. Ein bisschen Luftveränderung wird mir guttun. Hinter mir liegen harte Zeiten.«

Nein, ich frage ihn nicht, warum, beschloss Tilde.

»Du kannst kommen. Annika ist auch hier, sie wird sich freuen, dich zu sehen. Aber erwarte nicht, dass ich Umstände mache. Um deine Mahlzeiten musst du dich selbst kümmern.«

»Das ist ja nichts Neues. Leider bin ich momentan etwas knapp bei Kasse.« Tilde hatte nichts anderes erwartet.

»Du wirst schon nicht verhungern. Ich leih dir eine Angel.«

Es folgte ein Anruf von Gesche. Sie sagte mit Bedauern ab: eine Sitzung des Tourismusverbandes, das ging leider vor. Sie empfahl noch dringend, den Wetterbericht zu hören.

»Morgen ist mit einer schweren Sturmflut zu rechnen.«

»Ich hab’s schon in den Knochen gespürt. Sag mal, Gesche, hat sich bei euch zufällig eine Frau gemeldet, die ihre roten Stöckelschuhe vermisst?«

»Soll das ein Witz sein? Wenn überhaupt, verlieren die Leute ihre Regenschirme, aber keine Stöckelschuhe. Warum fragst du?«

»Strandgut.«

»Wart ein paar Tage ab, dann kannst du sie behalten und damit Furore machen.«

Tilde musste lachen. Sie auf solchen Schuhen! »Hast du schon mal daran gedacht, dich liften zu lassen?«, fragte sie spontan. Gesche war nur ein paar Jahre jünger als sie.

»Du meinst, damit ich vielleicht noch einen Kerl abbekomme? Ich bin doch nicht verrückt. Die im passenden Alter haben selbst keinen knackigen Arsch mehr.«

Malte und Annika saßen friedlich vereint am Küchentisch und hatten die gusseiserne Pfanne mit den Stinten zwischen sich gestellt. »Es ist besser, man isst sie heiß«, sagte Malte mit vollem Mund, und Annika wischte ihren Teller genüsslich mit einer dicken Scheibe Brot aus.

»Ab nächster Woche lebe ich dann wieder Diät«, teilte sie mit. »Eine Fettabsaugung kann ich mir finanziell nicht erlauben.«

Tilde starrte ihre gertenschlanke Tochter an. Wer setzte ihr bloß solche Flöhe ins Ohr?

Es musste Paul sein, der in Köln eine Model-Agentur leitete und aus den normalsten, hübschesten Mädchen dürre Kleiderständer zu machen wusste, bevor er sie auf den Laufsteg schickte.

Gott sei Dank war Annika nur seine persönliche Assistentin und modelte nicht selbst. Doch wie weit reichte sein Einfluss?

»Ich glaube, da kommt noch jemand«, flüsterte Annika. Ihre Gabel hielt sie wie eine Waffe umklammert.

In der Tat. Leichte Vibrationen, dann das Geräusch von Schritten. Dazwischen Pausen. Ein Gast, der nicht recht wusste ... sollte er, oder sollte er nicht?

Tilde ging ihm entgegen. »Komm rein, Hermann.«

Kapitel 3

Er sah ein bisschen anders aus als die Menschen, die Annika gewohnt war, das musste Tilde zugeben. Die schiefe Körperhaltung war keine Verwachsung, sondern nur eine linkische Muskelverkrampfung. Allzeit auf der Flucht, rühr mich nicht an, schien sie auszudrücken.

Die grauen Haare ließ er wachsen, aber heute waren sie mit einem Band ordentlich zusammengenommen. Seine Ölkleidung roch etwas streng, aber ihre eigene roch garantiert nicht besser. Die Hände hielt er hinter seinem Rücken.

»Ich danke dir für die Stinte«, sagte Tilde betont herzlich, da Annika noch immer krampfhaft ihr Besteck gezückt hielt. »Und vor allem auch für den Schuh. Jetzt habe ich ein vollständiges Paar.«

Sie holte den linken Schuh, den sie zum Trocknen in die Nähe des Radiators gestellt hatte, hervor und stellte ihn neben den rechten.

Hermann schüttelte ratlos den Kopf.

»Na los, gib ihn Tilde«, forderte Malte, der schon erspäht hatte, was der Besucher hinter dem Rücken verbarg.

Diesmal war das Geschenk nicht eingepackt. Es handelte sich um – einen weiteren roten Stöckelschuh. Einen linken.

Tilde stellte ihn zu dem anderen Paar. »Jetzt habe ich drei Stück. Zwei linke und einen rechten.«

Hermann starrte auf die rote Reihe und zählte. »Einer fehlt noch.«

»Könnten sie aus einem beschädigten Container stammen?«, vermutete Annika.

»Unwahrscheinlich, dann wären es viel mehr«, sagte Tilde. Sie beobachtete Hermann. Er musste einen weiteren Grund haben, sie aufzusuchen.

»Noch andere Strandfunde heute, Hermann?«

Er antwortete zunächst nicht, sondern fixierte Annika. »Meine Fresse«, murmelte er.

Annika sprang auf und stürmte die Treppe hoch in die obere Etage.

Tilde sah ihr kopfschüttelnd nach. »Wolltest du mit uns feiern, Hermann?«

»Das Boot muss gesichert werden. Könnte abtreiben.« War er deshalb gekommen? Inzwischen peitschte der Regen gegen den Turm, Tilde griff nach ihrem Wetterzeug, aber Malte hielt sie zurück.

»Ich mach das mit Hermann. Muss sowieso wieder zurück. Bleib du besser bei ihr.« Er wies mit dem Daumen nach oben.

»Danke«, Tilde nickte den beiden Männern zu. Verdammt, sie hatte sechzig Jahre auf dem Buckel, da war falscher Ehrgeiz unangebracht, die Fixe Flunder würde es ihr verzeihen.

»Mom, ab wann hast du angefangen, dich alt zu fühlen? Ich meine, so richtig alt?« Annika hatte sich in Tildes Bett gekuschelt und machte keine Anstalten, diesen Platz wieder aufzugeben.

»In deinem Alter war ich uralt. Dann fing ich an, mich stetig zu verjüngen. So mit fünfzig beschloss ich, alles nachzuholen, was ich bisher versäumt hatte. Nach der Trennung von deinem Vater hatte ich so viel Energie wie noch nie, und jetzt werde ich einfach nicht richtig alt. Annika?«

Sie war eingeschlafen. Mit den Lebensergüssen ihrer ungelifteten Mutter als Schlaflied.

Ein dumpfer Schlag lockte Tilde am Morgen vor die Tür. Eine Sturmmöwe war gegen den Turm geprallt und lag blutend mit gebrochenen Augen und Schwingen direkt vor dem Eingang, das Federkleid blähte sich im Wind.

Warum ihr Orientierungssinn sie verlassen hatte, blieb ein Geheimnis der Natur. Schnell räumte Tilde den Kadaver weg, um Annika den Anblick zu ersparen.

Wenig später kam ihre Tochter gut gelaunt die Treppe herunter.

»Arme Mom, hast du auf diesem harten Sarkophag schlafen müssen? Und noch nicht mal dein Geburtstagsgeschenk von mir bekommen! Ich bin eine schlechte Tochter.«

Während sie ihren Kaffee tranken, erinnerte sich Tilde mit Schrecken an die Geburtstagsgeschenke der letzten Jahre: einen Gutschein für eine Nagelmodellage, inzwischen längst verfallen, ein Epiliergerät gegen unerwünschte Härchen und als Krönung einen Bildband über Marmorengel auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Damit man sich schon zu Lebzeiten Gedanken über die eigene Grabgestaltung machen konnte, eine Einstellung, die Annikas väterliches Erbteil sein musste.

»Ich weiß, dass du dir einen Leuchtturmkalender gewünscht hast.« Annika kramte in ihrem Beutel, und Tilde schöpfte Hoffnung. Sie wünschte sich bereits seit Jahren immer wieder aufs Neue einen Leuchtturmkalender, offenbar ein zu banaler Wunsch.

»Aber dann dachte ich mir, einen Kalender kannst du dir selber kaufen.« Annika hielt plötzlich einen großformatigen goldenen Briefumschlag in der Hand.

Ein Gutschein, wieder einmal?

Hoffentlich etwas, das man gegen Bootslack oder ein vernünftiges Fernglas eintauschen konnte. Im Internet sollte es doch so eine Tauschbörse geben ...

»Der Gutschein ist auf dich persönlich ausgestellt«, betonte Annika, und Tilde meinte, einen belustigten Unterton zu vernehmen.

»Du kannst ihn nicht weiter verschenken.«

Wer hatte denn an Verschenken gedacht? Lieber verkaufen!

»Frischzellenkur, Ginsengbäder, Lomilomi-Massage, Fußsohlenstraffung, Rundumerneuerung an einem Wochenende.«

»Ich bin doch kein alter Autoreifen«, rutschte es Tilde heraus. Aber dann fügte sie schnell hinzu: »Neue Fußsohlen, das klingt gut, wirklich!«

»Es ist Freitag, wir können gleich heute einen Termin für dich machen. Planet Venus hat den allerbesten Ruf.«

»Planet Venus«, wiederholte Tilde wie ein Papagei.

»Das ist die Best-Ager-Abteilung bei Professor Dykland. Wir hatten doch gestern das kleine Gespräch über Verschönerungsmaßnahmen, du erinnerst dich, Mom?«

»Na klar. Es ging um meinen Hals.« Oder um Kopf und Kragen, ich mache diesen Best-Ager-Quatsch nicht mit, beschloss Tilde für sich.

Sie brachen früher auf als geplant. Während Tilde sich insgeheim Sorgen um das Wetter machte, hatte Annika nur ihren Termin im Ästheticum, wie die Klinik korrekt hieß, im Kopf.

Gleich hinter dem Deich wartete das bestellte Taxi. Tilde wäre lieber gelaufen, aber Annika meinte, die Spesen des Tages gehörten mit zum Geburtstagsgeschenk.

»Ich bin ein wenig aufgeregt«, gab Annika zu, als sie an der in Pastellfarben gehaltenen Rezeption standen. Im Flüsterton, denn die Empfangsdame – ebenfalls in Pastell – schien ein wichtiges Telefonat zu führen.

»Ich nicht«, tönte Tilde und lehnte sich gegen den Tresen, als ob sie in der Kneipe Zum scharfen Seehund stünde.

»Wo geht’s denn hier zur Venus?«, unterbrach sie mit Erfolg das Gespräch, was ihr einen giftigen Blick der Pastellfarbenen einbrachte.

»Sie werden gleich persönlich abgeholt«, das war für Annika bestimmt, mit professionellem Lächeln versehen.

»Und Sie«, der Blick streifte Tilde vom Scheitel bis zur Sohle, »gehen Sie bitte außen rum und melden sich bei unserer Nicole.«

»Wir sehen uns später in der Cafeteria, Mom.«

Nicole entpuppte sich als fröhliche Mittvierzigerin. Oder als geliftete Siebzigjährige, das konnte man auf dem Planeten Venus nicht so genau wissen.

Schon saß man in der Apollo-Lounge über einem Grapefruit-Karotten-Saft. Nicole studierte zunächst den Geschenkgutschein und dann Tilde.

»Sie haben einen guten Teint. Aber jede Rose wird einmal zur Hagebutte.« Freundliches Lachen.

Dem konnte Tilde nichts entgegenhalten außer ihrem berühmten »Diese Fregatte wird noch lange nicht abgewrackt«.

Nicole freute sich. »Das ist echt gut. Das muss ich mir merken.« Sie wischte sich eine Lachträne aus dem Auge. »Spaß beiseite, haben Sie einen Bademantel mitgebracht?«

Jetzt musste Tilde taktisch vorgehen. »Wissen Sie, Nicole, ich würde diesen Gutschein lieber später einlösen. Unter uns Golden Oldies, ich möchte ihn mir in bar auszahlen lassen.«

Verstoß gegen die guten Sitten. Unmoralisches Angebot. Nicole stieß zischend die Luft aus.

»Die Gepflogenheiten des Hauses erlauben mir das leider nicht.« Es folgte ein Fachvortrag über Fettabsaugung, Laserbehandlung und Profilkorrektur.

»Wie ist denn so der Chef?«, unterbrach Tilde.

»Ein Gott. Ein Zauberer mit magischen Händen. Unsere Patientinnen liegen ihm zu Füßen.«

Vielleicht konnte sie den Gott noch irgendwo abfangen, um ihn auf profane, irdische Geschäfte wie den Ankauf von Skulpturen aus Schwemmholz anzusprechen. Aber auf dem Außengelände traf Tilde nur einen alten Mann in blauem Einteiler mit Harke.

»Wissen Sie zufällig, wo ich Professor Dykland finde?«

Statt einer Antwort spuckte der Mann aus und legte dann die Hand hinter das Ohr. Ein Schwerhöriger?

»Ich suche den Chef«, sagte Tilde überlaut. Der Mann spuckte ein zweites Mal aus. Sie ging weiter.

Annika eilte ihr entgegen. »Von wegen Chefarztbehandlung. Der Professor hat nur seinen Oberarzt geschickt. Angeblich ein dringender Termin außer Haus. Die ganze Reise war umsonst.«

»Was heißt hier umsonst? Du bist mein Geburtstagsgeschenk«, warf Tilde ein.

»Tut mir leid, Mom, das war nicht so gemeint. Lass uns was trinken gehen.«

Sie musste wirklich schlecht drauf sein, wenn sie sich mit ihrer Mutter in den Scharfen Seehund wagte. Eine Kneipe, die weder »trendy« noch »hip« war.

Im Scharfen Seehund stand die Zeit still. Ein verräucherter Tresen, an dem schweigende Männer auf Hockern saßen. Unter einem zerkratzten Plastiksturz türmten sich braungraue Frikadellen und versteinert wirkende Soleier.

Birger, der Wirt, war Teil des Inventars. Schweigend zapfte er das Bier, brachte es dann an den mit verstaubten Seidenblumen geschmückten Tisch. Vor Tilde stellte er unaufgefordert einen Teller mit zwei Frikadellen und einer eingetrockneten Tube Senf. »Auf Kosten des Hauses.«

»Danke, Birger. Sind es heute Fischfrikadellen?«

Er schaute skeptisch auf den Teller. »Ich bin mir nicht sicher.«

»Ich nehm’s, wie’s kommt.« Tilde biss herzhaft in einen der Bremsklötze.

»Du wirst dich vergiften«, behauptete Annika. Sie sah heute weniger verbeult aus, vielleicht übergetüncht, ein Trick des Ästheticum-Teams?

»Und wenn! Zu vererben gibt es nichts. Bis auf die Fixe Flunder.«

Alte Boote musste man erhalten.

Der Dicke, ihr Turm, würde mit ihr gemeinsam verrotten. Bei dem Gedanken lachte sie auf. Keine Runderneuerung für Tilde oder ihren Turm, basta.

Ein zweites Bier, eine frische Tube Senf. Die Musikbox spielte »Du kannst nicht immer siebzehn sein«.

Um diese Zeit war im Scharfen Seehund nicht viel los. Erst gegen Abend tagten und zechten Vereine und Stammtische. Nicht zu vergessen die Parteien, inklusive der, die man unter der Hand als braunes Gesocks bezeichnete. Oder eben auch nicht.

Tilde drängte es plötzlich zurück auf ihre Insel.

»Annika, lass uns aufbrechen. Das Wetter.«

Ihre Tochter hörte nicht zu. Sie erhob sich abrupt von ihrem Stuhl und warf sich einem Mann in die Arme, der gerade den plüschigen Vorhang an der Eingangstür zur Seite schob.

»Paps. Du bist hier. Das finde ich großartig.«

Kapitel 4

Jasper Janssen. Mit einem Strauß Billigtulpen in der einen Hand, in der anderen den Reisekoffer, der erfahrungsgemäß Schmutzwäsche, ein zerknautschtes Sakko, zahlreiche Krawatten und Papierkram enthielt. Also fast seine gesamte Habe.

»Du hast dich sehr schnell auf den Weg gemacht«, stellte Tilde fest.

»Die Sehnsucht nach meinen beiden Mädels hat mich getrieben.«

Nur Annika fiel auf solchen verlogenen Kitsch rein.

»Weißt du was, Mom, ich bleibe noch eine Nacht. Wir setzen uns gemütlich zusammen und reden über alte Zeiten.«

Tilde und Jasper warfen sich einen einvernehmlichen Blick zu. Wir reden besser nicht über alte Zeiten. Vergeben, vergessen, vorbei.

Die Fixe Flunder nahm Kurs auf Ziegensand. Tilde konzentrierte sich aufs Manövrieren, während Annika und Jasper bei ihrer Unterhaltung gegen den Wind anschrien. Als ein Schwall Wasser von Backbord aus ins Boot schwappte, kramten die beiden nach den Rettungswesten.

Tilde lachte nur, sie fühlte sich ganz in ihrem Element. Die Spitze ihres Turms war von nebelgrauen Wolkenfetzen umhüllt, der Rest der Insel in ein schmutziges, schwefelgelbes Licht getaucht.

»Wir werden ein Gewitter bekommen. Beeilung, wenn ihr trocken bleiben wollt.«

»Zu spät!« Jasper ächzte, als er Tilde half, das Boot so hoch wie möglich auf den Sand zu ziehen. Regen peitschte von der Seite auf sie ein. Noch ehe sie den Turm erreichten, zuckten Blitze, sie schienen wie Irrlichter auf dem Wasser zu tanzen. Obwohl erst fünf Uhr, wurde es plötzlich finster.

»Das ist doch kein normales Gewitter«, meinte Annika mit besorgter Stimme. Sie stand da wie ein Häufchen Elend, Wasser tropfte aus ihrer Kleidung auf die Wendeltreppe.

»Seht zu, dass ihr aus den nassen Klamotten kommt«, befahl Tilde. »Ich muss noch ein paar Sachen in den Turm holen.«

»Ich helfe dir«, bot Jasper heroisch an.

Wenn er dachte, sie würde sein Angebot ablehnen, war er schief gewickelt.

»Nimm dir ein Paar Gummistiefel. Das Wasser steigt schneller als erwartet.«

Sie arbeitete zügig und nach ihrem eigenen System, reichte Jasper Kartons und Kisten aus dem Anbau.

»Wie kann man so viel Plunder haben«, schimpfte Jasper. Tilde verzichtete darauf, ihn über die Bedeutung all dieser Sachen aufzuklären. Was verstand ein Mann, der aus dem Koffer lebte, vom Leben auf einem Turm? Dem letzten Bollwerk vor dem auflaufenden Wasser?

Sie schickte ihn zu Annika zurück und schloss, als alles Nötige erledigt war, von innen die stählerne Schutztür.

»Mom, der Strom ist weg«, klagte ihre Tochter.

»Wir haben einen Campingkocher und Kerzen. Dazu Handys.« Tilde spürte, wie ihre Ungeduld wuchs. Jetzt hatte sie die beiden an der Backe, war für Betreuung und Versorgung zuständig, ganz wie früher. Krisenmanagement, eine Spezialität von ihr.

»Verhungern werden wir nicht. Hier steht eine halbe Torte.«

Aber was war mit dem Wasser, wie hoch würde es diesmal steigen? Schon einmal war sie achtundvierzig Stunden in ihrem Turm gefangen gewesen, während ein Hubschrauber über ihr kreiste. Die Vorgängerin der Fixen Flunder war damals auf der Elbe tänzelnd an ihr vorbeigezogen und erst Tage später auf Krautsand als Stückwerk angelandet.

»Was ist mit Malte und du weißt schon wem?«, sorgte sich Annika zur Überraschung ihrer Mutter.

»Hermann. Sein Kiosk liegt hoch genug, ihm kann nichts passieren. Malte wollte an Land, der kommt zurecht.«

»Also fahnenflüchtig«, behauptete Annika und schob ihrem Vater die wärmste Wolldecke zu.

»Wie wär’s mit einem Spielchen?« Jasper zauberte ein abgegriffenes Päckchen Karten hervor. »Mau Mau, Schafkopf, was ihr wollt. Etwas für Anfänger.«

»Piraten-Poker, falls du das kennst«, schlug Tilde vor.

»Eine Variante des normalen Pokerspiels?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass man sich dabei auszieht.«

»Strip-Poker. Mom, du bist unmöglich. In deinem Alter!« Annika lachte. »Toll, das ist ein Partyspiel aus meiner Jugend.«

»In meiner Jugendzeit haben wir es ganz ohne Karten gespielt«, erwiderte Tilde. »Und zur Schönheitspflege haben wir uns nur Gurkenscheiben aufs Gesicht gepappt.«

Jasper, harmoniesüchtig wie eh und je, versuchte abzulenken. »Ich habe auf der Zugfahrt von Hamburg einen alten Kollegen wiedergetroffen. Klaus Tetjens. Sein Sohn arbeitet hier als frischgebackener Hauptkommissar. Scheint nicht viel los zu sein.«

»Sag das nicht. Erst letzte Woche wurde eine kupferne Regenrinne abmontiert. Dann der Einbruch in die Milchbar, das Durchschnittsalter der Täter betrug vierzehn Jahre. Sie sollen auch eine alte Frau hingeschubst haben.«

»Wie alt?«, fragte Annika.

»Uralt. Mindestens sechzig.«

In diesem Moment ergriff der Turm das Wort. Er hallte, stöhnte, vibrierte. Brüllte, klagte, begehrte trotzig auf.

»Um Himmels willen, was sind das für Geräusche?« Jasper sprang auf, während Annika versuchte, ins Sofa hineinzukriechen.

»Die Sturmflut. Das Wasser hat den Turm erreicht. Wir sind eingeschlossen. Aber keine Sorge, das Wasser fließt auch wieder ab.«

Tilde probierte es mit einem munteren Tonfall. Auch, um sich selbst zu beruhigen.

Hatte sie die Fixe Flunder hoch genug gezogen? Die Skulpturen in der Mitte der Insel ausreichend gesichert?

Sollte sie sich um eine Evakuierung kümmern? Aber dann würde man sie nicht wieder auf den Turm zurücklassen.

»Wir gehen ins Oberstübchen und warten ab«, sagte sie mit falscher Fröhlichkeit. »Wie wäre es mit kaltem Stint auf Brot?«

»Das Brot ist verschimmelt. Ich schau mal deine anderen Lebensmittel durch.« Kommissar Jasper im Einsatz.

»Käsecracker oder Torte mit Rumpunsch?«, fragte er nach kurzer Suche.

Sie brachten das Essen eine Etage höher und machten es sich bei Kerzenlicht gemütlich.

»Man sagt, bei solchem Wetter steigt nachts ein Meerdrache aus den Fluten der Elbe, um sich eine schöne Jungfrau als Braut zu holen.

›Aller Mädchen Zier

Stillt des Drachen Gier.

Nur nach solcher Beute

Schont er Land und Leute‹«,

deklamierte Tilde aus der alten Sage von der Unterelbe. Die Kerzen flackerten.

»Fein, Mom. Ich liebe Märchen. Aber ob das der richtige Zeitpunkt ist?«

»Jede Sage hat einen wahren Kern«, fuhr Tilde unbeirrt fort. »Wollt ihr wissen, was aus dem Drachen geworden ist?«

»Lass mich raten. Er holt sich bei jeder Sturmflut eine frische Jungfrau.«

»O nein«, Tilde kostete die Aufmerksamkeit aus. »Er hat damals seine Braut nicht bekommen und wurde stattdessen von einem tapferen Jüngling besiegt.«

»Dann ist es ja gut«, meinte Jasper und gähnte.

Tilde goss sich Punsch nach. »Nun sollt ihr noch hören, was aus dem toten Drachen geworden ist.«

»Er war in Wahrheit unsterblich und frisst heute mangels Jungfrauen alles, was ihm vors Maul kommt, sogar Schiffe und ganze Leuchttürme«, riet Annika.

»Nicht schlecht, aber du liegst falsch.« Tilde freute sich darauf, den Schluss zu erzählen.

»Im Laufe der Zeit überzog das Wasser den toten Körper und die ausgefallenen Zähne des Drachen mit einer Schlickschicht. Noch heute sind die Überreste des Drachen als kleine Inseln in der Elbe zu sehen. So wie Krautsand, Pagensand, Lühesand ...«

»... und Ziegensand«, ergänzten Jasper und Annika gleichzeitig.

Als Gewitter und Sturm nachließen, trat Tilde auf die Plattform ihres Turms. Sterne und Mond fanden wieder den Weg durch die Wolkenschicht, spiegelten sich im nur mäßig bewegten Strom der Elbe. Morgen, im Laufe des Tages, würde der ganze Spuk vorbei sein. Wasser kam, Wasser ging. Türme trutzten, Deiche hielten. Meistens.

Kapitel 5

Wieder waren es die Schreie der Möwen, die Tilde weckten. Es wurde gerade erst hell. Von Annika und Jasper, die ihre Matratzen ins Oberstübchen gebracht hatten, um einer Nacht auf den Sarkophagen zu entgehen, war nichts zu hören.

Tilde schaute zunächst aus dem dick verglasten Fenster der Kombietage nach unten. Schlick, reichlich. Der Anbau noch mit nassen Füßen. Aber der Eingang zum Turm lag frei, sie konnte die Schutztür öffnen.

Einmal um den Dicken herumgehen, das war Standard.

Vielleicht sogar einen Rundgang in hohen Gummistiefeln über die Insel machen, soweit sie schon begehbar war. Mögliche Schäden begutachten, neues Strandgut sichten.

Sie musste nicht lange suchen. Ein dunkles Bündel hatte sich in Turmnähe verhakt und dümpelte vor sich hin. Oder trieb es noch, vom Wasser träge angestoßen? Wenn es sich um einen Fisch handelte, musste er riesig sein. Aber in der Elbe war im letzten Sommer sogar ein verirrter Schweinswal gesichtet worden.

Tilde ging näher, achtete darauf, nicht im Schlick auszurutschen. Nein, ein Fischkadaver sah anders aus. Diese ... Masse ... ähnelte eher einem menschlichen Körper. Nein, das konnte nicht wahr sein, oder doch? Hatte der Sturm ein Schiff in Seenot gebracht und einen Seemann über Bord gespült, der dann verzweifelt versucht hatte, gegen die Strömung anzugehen, um dann doch vom Fluss besiegt zu werden?

Der leblose Körper wirkte wie eine Marionette, deren Fäden durchschnitten waren. Die Gliedmaßen wurden wie in einem grotesken Tanz vom Wasser bewegt. Abgerissene Weidenzweige und Schilf hatten seine Reise vorübergehend gestoppt, das Gesicht lag, nach unten gerichtet, auf einer Planke.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Möwen zuschlagen würden, um ihre Beute mit spitzen Schnäbeln näher zu untersuchen. Ein Graureiher beobachtete das Geschehen, bezog Wartestellung auf einem Grasbüschel.

Tilde dachte nicht lange nach, holte den Bootshaken aus dem Turm und zog die Planke samt Toten zu sich heran.

Die Möwen protestierten heftig, eine Ente flatterte erschreckt auf.

Nein, so sah ein Seemann nicht aus. Der Tote trug einen Frack. Jedenfalls etwas mit Schwalbenschwänzen, wie man das früher genannt hatte. Tilde zwang sich, seinen Kopf anzuheben und in ihre Richtung zu drehen. Der Mann war für sie kein Unbekannter.

Professor Dykland war also doch noch einmal gekommen.

»Arzt, Feuerwehr, Polizei. Wasserschutzpolizei oder DLRG zur Bergung. Nichts verändern, Spurensicherung abwarten.«

Jasper hatte sein Handwerk noch nicht verlernt, Tilde überließ ihm das Feld.

»Er muss von einem Boot gefallen sein«, flüsterte Annika, als ob sie die Totenruhe nicht stören wollte.

»Bei dem Wetter gestern ist keiner freiwillig rausgefahren«, entgegnete Tilde und zog ihre Tochter zurück in den Turm. »Bald wird es hier von Menschen wimmeln. Lass uns Kaffee für alle kochen und schauen, was wir noch zu essen finden.«

»Mom, wie kannst du nur so – so profan sein. Professor Dykland liegt ertrunken am Fuße deines Leuchtturms, er wird nie wieder seine Kunst ausüben können.« Sie sagte es so, als ob dieser Mann aus Menschen Skulpturen geschaffen hätte, ähnlich wie Tilde aus Schwemmholz.

»Eine interessante Auffassung von Kunst. Kann ich dich allein lassen, um zu sehen, wie es den anderen ergangen ist?«

Malte kam ihr entgegen. »Hermann ist nicht in seiner Hütte. Wollte er an Land bleiben?«

»Keine Ahnung«, Tilde war überrascht. Sie wusste noch nicht einmal, wo Hermann hauste, wenn er Ziegensand verließ. Er hatte diverse Boote, an denen er ständig rumbastelte, vielleicht war er mit einem von ihnen noch vor dem Unwetter aufs Festland gefahren?

Sie berichtete Malte, was passiert war. Er reagierte nicht besonders geschockt. »Das liegt an unseren Strömungsverhältnissen. Was hier anlandet ...«

»Verstehst du nicht? Der Mann ist tot«, unterbrach Tilde ihn.

»Vor zwei Jahren, dieser Badeunfall, die Leute unterschätzen den Fluss immer wieder.«

»Malte, der Professor war nicht schwimmen. Er trug einen Frack.«

»In den meisten Fällen ist Alkohol mit im Spiel. Gestern soll es in der Stadthalle so eine Art Stiftungsfest gegeben haben, vielleicht wollte der Professor im Anschluss noch eine Prise Sauerstoff nehmen und ist dann angesäuselt ins Wasser gestürzt.«

Tilde hielt nichts von dieser Theorie, wurde aber von den Aktivitäten am Ufer abgelenkt.

»Es geht los« sagte Malte.

Klaas Tetjens, der Einsatzleiter der Polizei, Sohn von Jaspers Bekanntem, war höchstens so alt wie Annika.

»Sie haben nichts angefasst oder verändert?«, wandte er sich an Tilde.

»Ich habe den Toten mit dem Bootshaken herangezogen, seinen Kopf gedreht und sein Gesicht berührt.« Sie mochte den jungen Schnösel nicht. Die Kommissare aus dem Fernsehen strahlten wenigstens Kompetenz aus, zumindest die Älteren. Selbst Jasper hatte das getan, zu seinen guten Zeiten.

»Das hätten Sie nicht tun sollen.«

»Und wenn er noch gelebt hätte?« Tilde wurde lauter. »Ich habe sogar die Seevögel von seiner Leiche verscheucht. War das auch verkehrt?«

»Darf ich Sie kurz interviewen?« Dem Reporter des Elbejournals war es gelungen, von einem der Boote mitgenommen zu werden. »Leben Sie ständig hier? Stammen die verrückten Skulpturen von Ihnen? In welcher Beziehung standen Sie zu Professor Dykland?«

Ganz simpel. Er mochte meine Kunst und sollte mich reich machen. Nicht schön, nur reich. Ein bisschen reich. Sinnlos, diese Gedanken auszusprechen.

Sie zog sich ins Oberstübchen des Turms zurück und wählte Ralfs Nummer. Ralf, ihr bester Freund und Liebhaber. Den sie nur selten sah, weil er seine kostbare Freizeit damit verbrachte, am Bett seiner Frau zu sitzen, die nun schon seit über zehn Jahren im Wachkoma lag.

Ein Autounfall – Ralf hatte am Steuer gesessen. Ein kurzer, unaufmerksamer Moment, ein entgegenkommender Laster mit überhöhter Geschwindigkeit, schon war es passiert und veränderte ihrer aller Leben.

Wachkoma, das bedeutete, weder leben noch sterben zu können. Ob er immer noch Schuldgefühle hatte, wusste Tilde nicht, das gehörte zu den Tabuthemen, die sie während ihrer seltenen, aber intensiven Begegnungen nicht anschnitten.

Die Besuche bei ihr im Turm bezeichnete Ralf gerne als kleine Fluchten oder Jungbrunnen, während sie für Tilde einfach nur eine Bereicherung ihres Alltags darstellten.

Dass sie sich nur sporadisch sahen, störte Tilde nicht, denn mittlerweile zählte Unabhängigkeit für sie mehr als vertrautes Miteinander oder Erotik. Wozu eine Zukunft planen, wenn die Gegenwart sie beide ausfüllte.

Sie hielten beide nichts vom Schönreden, es war zwischen ihnen, wie es war.

»Sie wuseln um meinen Turm. Männer in weißen Schutzanzügen. Ein Bestatter in schwarzem Anzug und knallgelben Gummistiefeln. Der Kommissar ist gerade mal aus der Pubertät raus, und Annika hat sich liften lassen. Hermann ist verschwunden, vielleicht spürt er wieder Stöckelschuhe auf, einer fehlt noch.«

Kurze Atempause.

»Geht es dir gut, Tilde? Soll ich kommen?«

»Nein. Du bleibst meine eiserne Reserve.«

Er ließ jenes tiefe Lachen hören, das bei ihr immer noch ein Kribbeln auslösen konnte. Da, wo es besonders guttat.

»Bist du sicher?«

»Jasper ist da.« Es war bezeichnend für Ralf, dass er darauf nicht mit Fragen oder Eifersucht reagierte.

»Meld dich, wenn dir danach ist«, schlug er vor.

»Gut. Aber es kann dauern.«

»Spielt Zeit für uns eine Rolle?«

Vielleicht doch. »Ralf, würde ich dir besser gefallen, ich meine, fändest du mich körperlich attraktiver, wenn mein Hals und die Fußsohlen straffer wären?«

Er brauchte keine Bedenkzeit. »Nichts gegen makellose Körper, aber du weißt doch, der alte Ingwer ist der schärfste.«

»Mom, grinst du etwa?«

»Sind sie weg?«

»Gerade eben. Du warst über eine Stunde oben. Ich habe versucht, dich bei Kommissar Tetjens zu vertreten.«

Trotzdem musste Annika in der Zwischenzeit Gelegenheit gehabt haben, eine dicke Schicht Schminke auf ihr geschundenes Gesicht zu pappen.

»Wie geht es jetzt weiter?«, wollte Tilde von Jasper wissen.

»Er, dieser Professor Dykland, kommt in die Rechtsmedizin. Man wird untersuchen, ob sein Tod eine natürliche oder eine unnatürliche Ursache hat.«

»Mord? Du meinst, falls ihn jemand ins Wasser geschubst hat?«

»Möglich. Aber man könnte ihm auch in der Badewanne die Beine weggezogen haben, sodass sein Kopf unter Wasser geriet. Auf die Art hätte er Wasser eingeatmet.«

»Um ihn dann in seinen Frack zu kleiden und an die Elbe zu schaffen? Das glaube ich nicht.«

»Selbstmord«, Annika liebte von jeher Tragödien. »Er verliebte sich in eine seiner Patientinnen, eine blutjunge natürlich, modellierte ihr einen perfekten Körper und wurde dann von ihr wegen eines anderen Mannes verlassen.«

»Der noch zehn Jahre älter war als er selbst«, übertraf Tilde ihre Tochter. »Außerdem war er pleite.«

Wer sollte ihr jetzt die gelieferte Skulptur bezahlen? Sie hatte keinen offiziellen Kaufvertrag, weil der Professor erst noch weitere Werke aussuchen wollte.

»Hatte er Feinde?«, fragte Jasper.

»Ich weiß es nicht«, sagte Tilde. »Aber wenn er wirklich so eine Koryphäe auf seinem Gebiet war, hat es sicher Neider gegeben.«

»Sein Personal hat ihn vergöttert«, wusste Annika.

»Was ist mit dem Oberarzt, bei dem du warst?«

»Dr. Brehmer ist zwar auch ein Frauentyp, hält aber keinem ernsthaften Vergleich stand.«

»Frauentyp, da hätten wir ein weiteres Motiv.« Jasper zog sich trotz des Nieselregens für einen Spaziergang an.

»Die Anzahl von weiblichen Tätern bei Kapitalverbrechen ist in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen, fast um dreißig Prozent. So, ich schau mal bei Malte rein, vielleicht hat er Lust auf eine Partie Karten.«

»Ich komme mit.« Auch Annika zog es nach draußen. Oder zu Malte, aber das würde sie niemals zugeben.

Am nächsten Tag, Sonntag, erreichte neuer Besuch Tildes Turm.

»Die Gerüchteküche brodelt«, Gesche vom Tourismusbüro schüttelte sich wie ein nasser Pudel. »Ich dachte, ich überzeug mich mal selbst, ob hier alles in Ordnung ist. Du sollst den Toten gefunden haben, war es ein großer Schock für dich?«

Tilde zuckte mit den Achseln, denn darauf gab es nichts zu sagen. »Was wird in der Stadt geredet?«

»Man rätselt über den Unfall und glaubt, dass mehr dahintersteckt. Gisbert Dykland war doch gestern bei diesem Charity-Dinner ...«

»Dem Wohltätigkeitsessen«, korrigierte ihn Tilde, die es nicht lassen konnte, sich gegen Anglizismen zu wehren.

»Egal, jedenfalls sollte er dort für seine mehr als großzügigen Spenden geehrt werden, aber dazu ist es nicht mehr gekommen. Er brach vorzeitig auf. Für die Veranstalter überraschend.«

»Vielleicht konnte er den Anblick all der faltigen Dekolletés und Putenhälse nicht mehr ertragen.«

»Warum bist du so giftig?«

Tilde setzte erst einen Tee auf und berichtete dann von Annikas Schönheitsoperation und ihrem gemeinsamen Besuch im Ästheticum.

Gesche amüsierte sich. »Verkauf mir deinen Gutschein. Oder besser noch, wir gönnen uns gemeinsam einen Schönheitstag. Dann können wir gleich vor Ort ein bisschen schnüffeln.«

»Ich will die Beerdigung abwarten. Dann kläre ich, was aus meiner unbezahlten Skulptur geworden ist.«

»Welche hatte der Professor sich denn damals ausgesucht?« Gesche kannte alle ihre Kunstwerke, hatte oft genug deren Entstehungsprozess begleitet.

»Gott des Mammons. Aber er hat ihn Griff nach den Sternen genannt.«

»Wie hochtrabend.«

»Er wird sich schon was dabei gedacht haben«, meinte Tilde. Was auch immer, sie würde es nicht mehr erfahren.

»Wo könnte Hermann stecken?«, wechselte sie abrupt das Thema.

»Na, wenn er nicht hier ist, dann in seinem Hühnerstall. Das heißt, es war früher mal ein Stall. Gleich neben dem Klinikpark. Ein Schandfleck für die Gegend, wenn du mich fragst. Man sollte das Sozialamt einschalten.«

»Vielleicht denken das die Leute auch über eine Olsch, die in einem Leuchtturm haust«, sagte Tilde scharf. »Warum kann nicht jeder nach seiner Art leben?«

»Schon gut«, beschwichtigte Gesche. »Ich halt ja meinen Mund.«

Aber das war es nicht, was Tilde unter Toleranz verstand.

Kapitel 6

Jasper wollte mit Gesche zurück an Land fahren, um den Abend mit seinem alten Freund Tetjens senior zu verbringen.

»Erst hat sein Sohn ihn in eine Altenresidenz gesteckt, und nun jammert der Junior, dass er zuzahlen muss.«

Tilde sah, wie Jasper seine geliebten speckigen Karten erst kunstvoll aufblätterte, um sie dann fast zärtlich in die Jackentasche gleiten zu lassen.

»Warte nicht auf mich, ich übernachte da. Sag mal, altes Mädel«, druckste er, »kannst du mir aushelfen?«

Sie zuckte zusammen. »Mit Spesen? Höchstens zwanzig Euro!«

»Gib mir fünfzig, und du bekommst das Doppelte zurück, Ehrensache.«

»Falls du gewinnst. Schon gut. Tu mir lieber einen Gefallen und hör dich ein bisschen um.«

»Der tote Professor? Mach ich doch gerne für dich, Tildchen.«

Tildchen, das alte Mädel, brauchte jetzt erst einmal außer der Reihe einen Schnaps.

Rote Backen hatte ihre Tochter, als sie in Maltes Begleitung zurückkam. »Mal sehen, vielleicht kann ich mir noch ein paar Tage länger freinehmen, um dir zur Seite zu stehen, Mommy.«

Tilde starrte sie an, war Mommy nicht eine Mumie? Und was war mit Annikas Freund? »Das ist nett von dir, ich kann Hilfe gut gebrauchen. Die Fixe Flunder braucht einen neuen Anstrich, und im Schuppen neben dem Kiosk lagern alte Planken, aus denen die rostigen Nägel gezogen werden müssen.«

»Und ich brauche jemanden, der die Schwanzfedern der Rohrweihe zählt«, sagte Malte todernst.

»Ihr wollt mich verarschen.« Sie schaute von einem zum anderen. »Wo ist Paps?«

»Im Altengarten zum Pokern.«

Annika schaute demonstrativ zur Rumflasche, bevor sie die Wendeltreppe nach oben nahm. »Ich bin mir sicher, dass du mich brauchst.«

»Umgekehrt wird ein Schuh draus«, sagte Malte. »Sie scheint mit ihrem Freund nicht besonders glücklich zu sein.«

»Stopp! Wenn Annika dir etwas anvertraut hat, behalte es bitte für dich.«

»Schon gut.« Er hob abwehrend beide Hände. »Aber darf ich dir etwas über Hermann anvertrauen?«

»Ist er zurück?«

»Er muss kurz auf Ziegensand gewesen sein. In seiner Hütte brannte Licht.«

»Was heißt das? Ist er schon wieder weg?«

»Ich habe sein Boot tuckern hören.«

»Eigenartig. Ich kann verstehen, dass er vor dem Trubel hier geflüchtet ist, aber dass er sich so gar nicht bei einem von uns blicken lässt? Lass uns nachschauen.«

Als hätte es den Sturm und die Wasserflut nicht gegeben, lag die kleine Elbinsel ruhig in der Abenddämmerung. Von der Silbermöwenkolonie im Osten erklangen nur vereinzelt Rufe, nichts schreckte mehr die Bodenbrüter auf.

»Morgen schaue ich wieder nach Treibgut«, nahm sich Tilde vor und stoppte plötzlich. »Diese roten Stöckelschuhe, die hatte ich ganz vergessen. Meinst du, der Kommissar sollte davon wissen?«

»Schaden kann es nicht. Aber einen Zusammenhang mit dem Schönheitschirurgen halte ich für unwahrscheinlich.«

»Überlassen wir das den Fachleuten.«

Sie erreichten Tildes Skulpturenpark. Ob Henkersmahlzeit, Flussgötter oder Schläfer im Schilf, alles war unversehrt. Tilde atmete tief durch. Wenn sie bloß erst wieder richtig arbeiten könnte!

Ein sehnsüchtiger Blick streifte ihren Turm. Von hier aus wirkte er ... abweisend. Als ob er seewärts schaute und sich nicht darum kümmerte, was um ihn herum geschah. Auch der Dicke schätzte keinen Trubel, das hatten sie gemeinsam.

Hermanns Behausung sah aus wie immer. Die Kioskklappe war geschlossen, das einzige Fenster mit Zeitungspapier verklebt. Neben der Hütte in einem Unterstand: Angelzeug und ein selbstgebauter Räucherofen.

Nichts Auffälliges, bis auf den Weidenkorb für ihren »Tauschhandel«, den Hermann nur halb unter die Bank geschoben hatte, die vor dem Eingang stand.

»Bestimmt wollte er mir den Korb noch bringen und hat es nur vergessen.« Sie schnupperte an dem Fisch und entdeckte darunter ein in Plastikfolie gewickeltes Päckchen. In der Annahme, es sei ebenfalls für sie bestimmt, wickelte Tilde es aus.

Ein alter grauer Führerschein, zerfleddert und unleserlich, das Foto herausgetrennt. Das Bild einer Männergruppe, die sich zuprostete. Eine Frau mit neckischem Hut, lachend. Außerdem die Großaufnahme eines pockennarbigen Gesichts sowie ein Portrait desselben Gesichts, nur glatter. Zuunterst in dem Packen fand sie ein bedrucktes Lesezeichen. »Wer nach den Sternen greifen will, der sehe sich nicht nach Begleitung um.«

»Das könnte von Goethe sein«, Malte hatte ihr über die Schulter geschaut.

»Oder von Gisbert Dykland. Hermann hat wohl seine Brieftasche gefunden. Oder sie aus dem Wasser gefischt.«

Blauer Montag, wenn es nach dem vom Wind blank geputzten Himmel ging. Die aufgeschüttete Kupferschlacke an Ziegensands Westküste glitzerte von oben betrachtet wie ein mit Pailletten besetztes Kleid.

Annika und Tilde aßen Bratfisch und Tortenkrümel zum Frühstück. Genauer – Tilde speiste mit gesundem Appetit, während ihre Tochter nur Kaffee nahm und falsche Schlüsse zog, was Hermann anging.

»Raubmord. Da war doch bestimmt Geld in der Brieftasche.« Sie schüttelte sich. »Ich habe es geahnt. Meine Intuition täuscht mich nur selten.«

An dieser Stelle hätte Tilde gerne ein paar Gegenbeispiele gebracht, aber sie hielt es für besser, Annika zu Ende phantasieren zu lassen.

»Nur mal theoretisch. Er kann auch die Stöckelschuhträgerin getroffen haben. Und jetzt ist er auf der Flucht.«

»Hermann ist kein Dieb und schon gar kein Mörder«, erklärte Tilde bestimmt. »Es wird sich alles aufklären.«

»Wer weiß, ob wir nicht die nächsten Opfer sind«, beharrte Annika skeptisch.

»Mir reicht’s jetzt! Wenn du willst, schließ dich im Turm ein. Ich fahre jetzt rüber und mache Besorgungen.«

»Schon gut, ich will auch mal wieder unter Menschen«, lenkte Annika versöhnlich ein. »Wenn du bei der Polizei warst, könnten wir shoppen gehen. Ich finde, wir sollten beide unsere Garderobe ein wenig aufpeppen.«

Es fiel Tilde nicht leicht, aber sie musste wohl oder übel ihren Fund bei der Polizei abgeben. Die beiden Fotos hatte sie eingescannt und kopiert, für alle Fälle.

Tetjens junior war unterwegs. So ließ Tilde die Sachen bei einem seiner Mitarbeiter und gab vor, sie auf Ziegensand im Schilf gefunden zu haben.

»Vielleicht hat der Wind sie dort hingetrieben, wer weiß.«

Eine Notlüge, sicher, aber sie wollte versuchen, Hermann aus der Sache rauszuhalten, solange sie ihn noch nicht persönlich gesprochen hatte.

Die Stöckelschuhe vergaß sie ganz. Verdrängung nannten das wohl die Psychofritzen.

Annika wartete draußen, und Tilde schlug ihr vor, noch einmal ins Ästheticum zu gehen. »Ich hab darüber nachgedacht. So eine Packung oder Straffung wird mir schon nicht schaden, außerdem ist es ein lieb gemeintes Geschenk von dir.«

»Ohne Termin läuft da nichts«, zweifelte Annika.

»Ich kann es doch versuchen. Sonst gehen wir in die Cafeteria. Oder möchtest du vielleicht deinen Vater abholen?«

Der Gedanke gefiel Annika. »Weißt du, Mom, es wäre auch für dich eine gute Gelegenheit, so ein Heim, ich meine Residenz, mal von innen zu sehen. Kann doch nicht schaden, sich auf eine Warteliste setzen zu lassen. Für später. Viel später, natürlich.«

»Natürlich.«

Tilde schlenderte durch den Klinikpark. Patienten und Personal standen in Grüppchen und tuschelten. Der Tod des Chefs hatte sich inzwischen herumgesprochen.

»Was wird jetzt aus meiner Nase? Da lass ich keinen anderen ran!«, schnappte sie einen Gesprächsfetzen auf.

»Der Oberarzt ist auch nicht schlecht.«

»Na ja, für Kassenpatienten vielleicht. Aber ich hoffe doch sehr, dass ich auch weiterhin meine Ampullen bekomme.«

Als Tilde näher trat, verstummte das Gespräch.

»Wobei helfen diese Ampullen denn?«, fragte sie eine Dame mit dick verklebter Nase.

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« Sie stieß ihre Begleiterin an, die in den Augenbrauen Nähte aus schwarzem Garn trug. »Lass uns aus der Sonne gehen. Der Professor hat sie uns verboten.«

Als Nicole mit einem Stapel rosa Handtücher vorbeihastete, schloss Tilde sich ihr an.

»Erinnern Sie sich an mich?«

»Natürlich. ›Diese alte Fregatte wird noch lange nicht abgetakelt‹, das war zu komisch.« Sie lachte, schaute sich aber sofort schuldbewusst um. »Ich will lieber nicht aus der Reihe tanzen. Hier ist Trauer angesagt. Sie kennen ja den Anlass.«

»Der Chef. Was wird denn jetzt aus der Klinik?«

Ohne auf die Frage einzugehen, räumte Nicole die Handtücher weg. »Ich hatte gerade eine Absage. Wenn Sie wollen, schiebe ich Sie für eine Grundbehandlung und Algenpackung ein. Geht auf Gutschein.«